31 Oktober 2014

Die Bildungsgrundsätze des Edukationsrates

»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, ist es mein Grundsatz, die mir anvertrauten Zöglinge auf dem kürzesten Wege zu Menschen, welche dem wirklichen Leben angehören, auszubilden«, erwiderte der Edukationsrat. »Ich wünsche sie ohne Umschweife zu dem zu machen, wozu man nach der alten Manier nur infolge der schmerzlichsten Pilgerschaft wurde, nämlich zu Bürgern. Deshalb ist in meinen Lehrplan nur das aufgenommen, was sie in ihrem künftigen Berufe unmittelbar brauchen: Länder-und Völkerkunde, Gewerbe, Naturwissenschaft, Geschichte der neuesten Zeit. Von Sprachen, namentlich von den toten, nur das Notdürftigste. Ich leugne die Würde des Gelehrten nicht, aber die Menschen so erziehen, als ob sie alle Gelehrte werden sollen, heißt das Bette des Prokrustes von neuem in Anwendung bringen. Am günstigsten steht die Aufgabe des Jugendbildners, wenn früh sich entschiedne Neigungen zeigen, die den künftigen Stand vorbedeuten. Denn der Stand ist eigentlich der Mensch. Dieses Glück hatte ich bei meinen Söhnen. Sobald die beiden ältesten nur auf ihren Füßen stehn konnten, schleppten sie an Steinen, Pflanzen, toten Tieren herbei, dessen sie habhaft wurden. Ich bemerkte indessen, daß der eine sich mehr mit dem Erbeuten, der andre mehr mit dem Trocknen und Aufbewahren abgab. Auch verließ den ersten bald die Lust am Mineralreiche; er wandte sich ganz zum Vegetabilischen und Animalischen. Steckte nun also nicht in jenem der geborne Jäger, und in diesem der Naturforscher? Der Kleine dort, der Baumeister, schnitt, seitdem er die Hände zu regen vermochte, Figuren in Papier und Pappe aus, und der Pastor, über den ich am längsten unklar gewesen bin, hat mich endlich dadurch von seiner Anlage überzeugt, daß er stundenlang still sitzen, und dann plötzlich aus dem Stegreife anfangen kann, Verse zu deklamieren. Anfangs gaben wir die Namen, welche Ihre Aufmerksamkeit erregt haben, den Knaben zum Scherz, nach und nach ist bei uns und ihnen, ja in der ganzen Anstalt daraus Ernst geworden, und sie werden nun in jeder Hinsicht so behandelt, als seien sie das schon, was sie werden sollen.«

Immermann: Die Epigonen


Mein Eindruck ist, dass Immermann hier die pädagogische Provinz aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren parodiert und zwar in durchaus kritischer Absicht gegenüber dem selbstgerechten Ton, der dort von den Erziehern angeschlagen wird. 


Unserm Wanderer fiel der Ernst auf, die wunderbare Strenge, mit welcher sowohl Anfänger als Fortschreitende behandelt wurden; es schien, als wenn keiner aus eigner Macht und Gewalt etwas leistete, sondern als wenn ein geheimer Geist sie alle durch und durch belebte, nach einem einzigen großen Ziele hinleitend. Nirgends erblickte man Entwurf und Skizze, jeder Strich war mit Bedacht gezogen, und als sich der Wanderer von dem Führer eine Erklärung des ganzen Verfahrens erbat, äußerte dieser: die Einbildungskraft sei ohnehin ein vages, unstätes Vermögen, während das ganze Verdienst des bildenden Künstlers darin bestehe, daß er sie immer mehr bestimmen, festhalten, ja endlich bis zur Gegenwart erhöhen lerne.
Man erinnerte an die Notwendigkeit sicherer Grundsätze in andern Künsten. »Würde der Musiker einem Schüler[249] vergönnen, wild auf den Saiten herumzugreifen oder sich gar Intervalle nach eigner Lust und Belieben zu erfinden? Hier wird auffallend, daß nichts der Willkür des Lernenden zu überlassen sei; das Element, worin er wirken soll, ist entschieden gegeben, das Werkzeug, das er zu handhaben hat, ist ihm eingehändigt, sogar die Art und Weise, wie er sich dessen bedienen soll, ich meine den Fingerwechsel, findet er vorgeschrieben, damit ein Glied dem andern aus dem Wege gehe und seinem Nachfolger den rechten Weg bereite; durch welches gesetzliche Zusammenwirken denn zuletzt allein das Unmögliche möglich wird.
Was uns aber zu strengen Forderungen, zu entschiedenen Gesetzen am meisten berechtigt, ist: daß gerade das Genie, das angeborne Talent sie am ersten begreift, ihnen den willigsten Gehorsam leistet. Nur das Halbvermögen wünschte gern seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe, unter Vorwand einer unbezwinglichen Originalität und Selbstständigkeit, zu beschönigen. Das lassen wir aber nicht gelten, sondern hüten unsere Schüler vor allen Mißtritten, wodurch ein großer Teil des Lebens, ja manchmal das ganze Leben verwirrt und zerpflückt wird. (Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 8. Kapitel)

Der Adel als Ruine

Aber diese sogenannte Kultur scheint mir nur eine andre Barbarei zu sein, der wir entgegengehn, oder vielleicht schon verfallen sind. Denn, wenn die frühere darin bestand, daß niemand oder wenige etwas wußten, so ist die jetzige wohl nicht minder beklagenswürdig, wo alle zu verstehn glauben, was kaum einer oder der andre überwältigt. Das ist eben das traurige Gefühl, was man gar nicht los wird, daß man die Nichtsnutzigkeit der Gegenwart immer empfinden muß und mit seinem Verstande sich doch vorhält, wie schwierig eine Restauration dessen sein möchte, was vor der Welt freilich zur Ruine geworden ist.« »Auch der Adel ist so eine Ruine«, sagte Hermann. »Ich muß immer lächeln, wenn ich sie noch mit ihren Titeln und Würden sich brüsten sehe. Was macht den Adel? Die Abgeschlossenheit, das Kastenmäßige. Nun aber haben die Bessern sich längst mit dem gebildeten Mittelstande vermischt. Nirgends finden Sie noch in der guten Gesellschaft den Unterschied der Stände. Leben wir hier auf unserm Schlosse anders, als in einer anständigen Bürgerfamilie? Erinnert irgendeine Etikette daran, daß wir mit Gliedern eines der ältesten Häuser unsres Vaterlandes Umgang pflegen?«

(Hervorhebung von mir)

Immermann: Die Epigonen, 

Ein Seliger an die Seinen in der Welt


Hier ist alles heilig, alles hehr!
Und die kleinen Erdenfreuden,
Und die kleinen Erdenleiden
Kümmern uns nicht mehr.
Doch wir denken hier an die da drüben,
Denken hier an sie, und lieben.

(Matthias Claudius)

30 Oktober 2014

Auf O – – o R – – s Grab


Aus einer Welt voll Angst und Not,
Voll Ungerechtigkeit, und Blut und Tod
Flüchtete die fromme reine Seele
Sich ins bessre Land zu Gott;
Und der Leib in diese dunkle Höhle,
Auszuruhen bis zum Wiedersehn.
O der Christ ist immer groß und schön,
Doch im Tod in seiner größten Schöne.
Wandrer, bleib am Grabe stehn,
Lerne hier, was eitel ist, verschmähn;
Weine eine stille Träne!
Und denn kannst du weitergehn.
Matthias Claudius

29 Oktober 2014

Welt des Adels

[...] weiße Meubles mit goldnen Leisten standen umher, von Konsolen herab sahen die Büsten der großen Dichter. Heitre und doch ernsthafte italienische Landschaften füllten die Zwischenräume aus; auf einem runden Tische lagen rote vergoldete Bände. Der Advokat schlug einige derselben auf, und fand »Hermann und Dorothea«, »Tasso«, »Iphigenia«, Homer, die Gesänge unsres Schiller. Die Herzogin hatte dieses Zimmer vor kurzem erst einrichten lassen; man brachte dort den Abend zu, wenn es draußen zu schwül war, und genoß der Aussicht auf die neuen Anlagen, welche in stetiger Folge die Blüten jeder Jahreszeit spendeten. Alle Hausgenossen, welche zum Zirkel gehörten, besaßen den Schlüssel zu diesem Gemache, um nach Bequemlichkeit dort verweilen zu können. Er war eine geraume Zeit lang allein, und seine Empfindungen wurden immer trüber, je länger er diese gewölbten Marmorstirnen, diese Prospekte auf Felsen und Palmen, Himmel und Meer betrachtete, oder in die gelbrot glühenden Georginenbeete der holden Fürstin schaute. Der junge Mann hatte nichts von dem, was man heutzutage ästhetische Bildung nennt, aber er folgte einem natürlichen Gefühle. Seine erste Empfindung war stets, andre Menschen für edler und klüger zu halten als sich, und das Lied eines Dichters konnte ihn bis zu Tränen rühren. In diesem, der geistigen Erholung gewidmeten Orte, drängten sich ihm nun alle Anregungen der vergangnen Tage zusammen. Schon erblickte er hier, wo das Schöne gute Menschen beseligt hatte, ein ödes rechnendes Comptoir, schon sah er dort, draußen, quer über die armen Blumen, über den samtnen Rasen einen Weg für Karren und Schleifen zu irgendeiner trostlosen Fabrikhütte führen. Er kam sich selber hassenswürdig und niedrig vor, daß er zu solchem Beginnen die mithelfende Hand bieten wollte. Mit dem Buchstaben eines ungerechten Rechts den geheiligten Zustand so verehrungswerter Personen zu zerstören, es erschien ihm gemein und ruchlos. Aber was sollte er tun? Wie durfte er eine Treulosigkeit begehn, gegen welche sich alle seine Begriffe sträubten? Im heftigen Kampfe mit sich selbst ging er auf und nieder, und blickte bald diese bald jene Büste an, als fragte er die Helden des Gesangs um Rat in seiner Not. Denkverse standen mit goldnen Buchstaben unter jeder Konsole. Er las den Spruch unter Schillers Haupt:   Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!   Und plötzlich kam ihm, wie durch innre Erleuchtung der Entschluß. »Ja«, rief er, »es gibt etwas Höheres, als die Form, und das ist der Gehalt. Über alle Worte und Satzungen hinaus liegen die Quellen des Wahren und Guten. Kein Kontrakt kann uns zu einer Schlechtigkeit verpflichten. Mein Machtgeber kennt den ganzen Stand der Sache, ausführlich will ich ihm melden, was ich hier verhandelt habe, aber dann rühre ich keine Feder mehr für ihn an!«

Immermann: Epigonen,  

Flämmchen

Flämmchens Fluchtgeschichte war einfach genug. Das Mädchen war die Tochter eines polnischen Offiziers, der, unter den Fahnen des Eroberers dienend, Mutter und Kind auf den Kriegszügen durch Deutschland mit sich umhergeführt hatte. Er blieb in einer großen Schlacht, bald nachher starb auch seine Geliebte, eine Spanierin, von Klima und Mangel aufgezehrt. Aus den Händen armer Leute empfing der Komödiant das elternlose Geschöpf. Er war ein gutmütiger Mensch und spielte schon damals edle Väter. Der Anblick des kleinen Wesens, dem die Augen wie Kohlen im Kopfe brannten, und welches aus seinen Lumpen so keck hervorsah, als sei es eine Prinzessin, rührte ihn. Er ließ das Kind sich abtreten, und beschloß, es zu seinem Gewerbe anzuführen. Indessen brachte ihm diese wohltätige Handlung keinen Segen, sondern nur Herzeleid. Fiametta, die lieber Flämmchen heißen wollte, war das eigensinnigste, widerspenstigste Ding, was polnisches und spanisches Blut, vereinigt erzeugen können. Die sogenannte Erziehung, welche ihr in jener Komödiantenwirtschaft zuteil wurde, fruchtete nichts, und unmöglich war es, sie zum Auftreten zu bewegen. Sie begreife nicht, sagte sie, wozu das dumme Zeug, wie sie das Schauspiel nannte, diene? der falsche Vater lüge ja den ganzen Tag über, warum er denn des Abends zu seinen Lügen die fremden Kleider anziehe?

Immermann: Epigonen, 

28 Oktober 2014

Wir sind Epigonen

Man muß noch zum Teil einer andern Periode angehört haben, um den Gegensatz der beiden Zeiten, deren jüngste die Revolution in ihrem Anfangspunkte bezeichnet, ganz empfinden zu können. Unsre Tagesschwätzer sehen mit großer Verachtung auf jenen Zustand Deutschlands, wie er gegen das letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts sich gebildet hatte, und noch eine Reihe von Jahren nachwirkte, herab. Er kommt ihnen schal und dürftig vor; aber sie irren sich. Freilich wußten und trieben die Menschen damals nicht so vielerlei als jetzt; die Kreise, in denen sie sich bewegten, waren kleiner, aber man war mehr in seinem Kreise zu Hause, man trieb die Sache um der Sache willen, und, daß ich bei der Schutzrede für die Beschränkung mit einem recht beschränkten Sprüchlein argumentiere: der Schuster blieb bei seinem Leisten. 

Jetzt ist jedem Schuster der Leisten zu gering, woher es auch rührt, daß kein Schuh mehr uns bequem sitzen will. Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen, und tragen an der Last, die jeder Erb-und Nachgeborenschaft anzukleben pflegt. Die große Bewegung im Reiche des Geistes, welche unsre Väter von ihren Hütten und Hüttchen aus unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zugeführt, welche nun auf allen Markttischen ausliegen. Ohne sonderliche Anstrengung vermag auch die geringe Fähigkeit wenigstens die Scheidemünze jeder Kunst und Wissenschaft zu erwerben. Aber es geht mit geborgten Ideen, wie mit geborgtem Gelde, wie mit fremdem Gute leichtfertig wirtschaftet, wird immer ärmer. Aus dieser Bereitwilligkeit der himmlischen Göttin gegen jeden Dummkopf ist eine ganz eigentümliche Verderbnis des Worts entstanden. Man hat dieses Palladium der Menschheit, dieses Taufzeugnis unsres göttlichen Ursprungs, zur Lüge gemacht, man hat seine Jungfräulichkeit entehrt. Für den windigsten Schein, für die hohlsten Meinungen, für das leerste Herz findet man überall mit leichter Mühe die geistreichsten, gehaltvollsten, kräftigsten Redensarten. Das alte schlichte: Überzeugung, ist deshalb auch aus der Mode gekommen, und man beliebt, von Ansichten zu reden. Aber auch damit sagt man noch meistenteils eine Unwahrheit, denn in der Regel hat man nicht einmal die Dinge angesehn, von denen man redet, und womit beschäftigt zu sein, man vorgibt.«


Immermann: Die Epigonen, 2. Buch, 10. Kapitel
(Hervorhebungen von mir)

 Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen


Will sagen: Wir sind keine Originalgenies wie die Stürmer und Dränger Goethe und Schiller, die dann zu den Klassikern wurden. 

Ohne sonderliche Anstrengung vermag auch die geringe Fähigkeit wenigstens die Scheidemünze jeder Kunst und Wissenschaft zu erwerben.

Will sagen: Das 19. Jahrhundert mit seiner Entwicklung von Germanistik, den verschiedenen Philologien, Geschichte ... hat nicht nur geniale Dilettanten wie Goethe, von Arnim und Brentano beim Sammeln von Liedern, Märchen, Sagen ... gesehen wie das Ende des 18. Jahrhunderts, sondern - nicht zuletzt aufgrund des Wirkens der Brüder Grimm (und ihrer heute weitgehend vergessenen Konkurrenten) - die Entwicklung von Geisteswissenschaften und wissenschaftlichem Positivismus, die ihre Erkenntnisse der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellten. 
Diese freilich sind nicht wirklich wertloses Kleingeld. Scheidemünze waren die ständigen Goethe- und Schillerzitate, mit denen den eigenen beschränkten Vorstellungen der Anschein von Größe gegeben werden sollte ("für das leerste Herz findet man überall mit leichter Mühe die geistreichsten, gehaltvollsten, kräftigsten Redensarten").

Immermann kritisiert sich damit selbst, freilich nicht ohne, den Sprecher dieser Kritik seines Zeitalters, den Gelehrten Wilhelmi, seiner eigenen ironischen Kritik zu unterwerfen. 


Freilich, irgendwie kommt uns die Aussage doch sehr aktuell vor:
"Ohne sonderliche Anstrengung vermag auch die geringe Fähigkeit wenigstens die Scheidemünze jeder Kunst und Wissenschaft zu erwerben."
Haben wir nicht schon hundertmal gehört und gelesen: "Heute erarbeitet sich niemand mehr etwas selbst. Alles wird nur noch gegoogelt oder aus der  Wikipedia abgeschrieben."


An Frau Rebekka


bei der silbernen Hochzeit, den 15. März 1797
Ich habe Dich geliebet und ich will Dich lieben,
Solang Du goldner Engel bist;
In diesem wüsten Lande hier, und drüben
Im Lande wo es besser ist.
Ich will nicht von Dir sagen, will nicht von Dir singen;
Was soll uns Loblied und Gedicht?
Doch muss ich heut der Wahrheit Zeugnis bringen,
Denn unerkenntlich bin ich nicht.
Ich danke Dir mein Wohl, mein Glück in diesem Leben.
Ich war wohl klug, dass ich Dich fand;
Doch ich fand nicht. GOTT hat Dich mir gegeben;
So segnet keine andre Hand.
Sein Tun ist je und je großmütig und verborgen;
Und darum hoff ich, fromm und blind,
Er werde auch für unsre Kinder sorgen,
Die unser Schatz und Reichtum sind.
Und werde sie regieren, werde für sie wachen,
Sie an sich halten Tag und Nacht,
Dass sie wert werden, und auch glücklich machen,
Wie ihre Mutter glücklich macht.
Uns hat gewogt die Freude, wie es wogt und flutet
Im Meer, so weit und breit und hoch! –
Doch, manchmal auch hat uns das Herz geblutet,
Geblutet ... Ach, und blutet noch.
Es gibt in dieser Welt nicht lauter gute Tage,
Wir kommen hier zu leiden her;
Und jeder Mensch hat seine eigne Plage,
Und noch sein heimlich Crève-coeur.
Heut aber schlag ich aus dem Sinn mir alles Trübe,
Vergesse allen meinen Schmerz;
Und drücke fröhlich Dich, mit voller Liebe,
Vor Gottes Antlitz an mein Herz.

Matthias Claudius

27 Oktober 2014

Tod und Liebe

Der Tod
Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
         Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
         Und die Stunde schlägt.

Die Liebe
Die Liebe hemmet nichts; sie kennt nicht Tür noch Riegel,
         Und dringt durch alles sich;
Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel,
         Und schlägt sie ewiglich.

Matthias Claudius 


Matthias Claudius setzt den Ton darauf, dass das Reich des Todes beschränkt ist. Er spricht nur von der engen räumlichen Begrenzung, doch damit ist angedeutet, dass es auch zeitlich begrenzt sein könnte.
Diese Interpretation legt sich freilich erst in der Kombination mit dem Gedicht Liebe nahe, in dem das Überzeitliche der Liebe und ihre Überwindung aller Erdenschwere deutlich hervorgehoben wird. 

In seinem Claudius Roman Freund Hain stellt Hans-Peter Krause im 43. Kapitel eine intensive Beziehung zwischen beiden Gedichten her, indem er Claudius seinem Freund Hain, dem Tod, eine Abschrift beider Gedichte als Ausdruck seiner Freundschaft schenken lässt.
In diesem Roman wird das Leben des Matthias Claudius aus der Sicht des Todes und der intensiven Beziehung, die Claudius zu ihm entwickelt, dargestellt. Besondere Qualität gewinnt der Roman dadurch, dass die - in der Literaturgeschichte wohl einmalige - Freundschaft, die Claudius mit dem Tod schließt, immer wieder gefährdet erscheint, weil Claudius mitnichten den Tod der ihm nahe Stehenden mit Gleichmut hinnehmen kann. 



Krankheit als Glück

Eine bedeutende Krankheit kann bisweilen ein Glück sein. Unser Leben wird zur größeren Hälfte von Gewohnheiten, und nur zur kleineren von Freiheit und Entschluß genährt. Gewohnheiten aber sind meistens die Polster, welche die schwachen Seiten unsrer Natur sich unterlegen. Eine Krankheit unterbricht nun den einschläfernden Gang dieser Nachgiebigkeiten, und macht es dem Genesenden möglich, sich nicht bloß im körperlichen, sondern auch in einem höheren Sinne, wie neugeboren zu fühlen.

Immermann: Die Epigonen

26 Oktober 2014

Zitate aus Immermanns "Epigonen"

»Traurig für mich, wenn ich in Deutschland etwas wollte«, erwiderte sein Freund. »Als ob in unsrer mit Dünsten geschwängerten Atmosphäre ein Entschluß nur entstehn, geschweige denn ausgeführt werden könnte. Aber eben, weil ich nichts mehr will, tauge ich auch nirgend mehr hin, als nach Deutschland. Ich habe abgeschlossen mit dem Leben. Seit ich das getan, bin ich ruhig. Ich wünsche nichts, ich verlange nichts; die Zeit der Täuschungen ist für mich vorüber. [...]
O gäbe mir ein Gott die glückliche Dunkelheit, die hoffnungsreiche Nacht, statt des kalten Lichtes, welches Verstand und Erfahrung uns Spätlingen unwiderstehlich anzünden.«
Immermann: Die Epigonen
Nach der Erstlektüre 1994, einer Zweitlektüre 2011, finde ich gerade die Zeit, noch einmal in dies Buch hineinzusehen, dessen Titel lange den Literaturgeschichten die Möglichkeit gab, eine Reihe von Schriftstellern der Nach-Goethezeit unter einem einfachen Stichwort einzuordnen.

Christiane

(Claudius auf den Tod seiner Tochter)
Es stand ein Sternlein am Himmel,
   Ein Sternlein guter Art;
Das tät so lieblich scheinen,
   So lieblich und so zart!
Ich wusste seine Stelle
   Am Himmel, wo es stand;
Trat abends vor die Schwelle,
   Und suchte, bis ich's fand;
Und blieb denn lange stehen,
   Hatt große Freud in mir:
Das Sternlein anzusehen;
   Und dankte Gott dafür.
Das Sternlein ist verschwunden;
   Ich suche hin und her
Wo ich es sonst gefunden,
   Und find es nun nicht mehr.


Wenn man das - völlig gerechtfertigte - Pathos seiner Ode auf den Tod, der einen Freund betraf,  mit dem schlichten, fast kindlichen Ton vergleicht, den Claudius beim Tod der eigenen Tochter findet, merkt man, wie viel Kunstwille im Pathos wie im schlichten Ton steckt. Die Schlichtheit war eine bewusste Entscheidung. Vermutlich - aber das ist nicht bewiesen -, um einen möglichst großen Personenkreis anzusprechen.
Wie sagte doch Lessing: 
"Wer wird nicht einen Klopstock loben
Doch wird ihn jeder lesen? - Nein.
Wir wollen weniger erhoben
und fleißiger gelesen sein."

25 Oktober 2014

An – als ihm die – starb

Der Säemann säet den Samen,
Die Erd empfängt ihn, und über ein kleines
Keimet die Blume herauf –
Du liebtest sie. Was auch dies Leben
Sonst für Gewinn hat, war klein Dir geachtet,
Und sie entschlummerte Dir!
Was weinest Du neben dem Grabe
Und hebst die Hände zur Wolke des Todes
Und der Verwesung empor?
Wie Gras auf dem Felde sind Menschen
Dahin, wie Blätter! Nur wenige Tage
Gehn wir verkleidet einher!
Der Adler besuchet die Erde,
Doch säumt nicht, schüttelt vom Flügel den Staub, und
Kehret zur Sonne zurück!

Kriegslied


‘s ist Krieg! ‘s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
         Und rede du darein!
‘s ist leider Krieg – und ich begehre
         Nicht schuld daran zu sein!
Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
         Und blutig, bleich und blass,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
         Und vor mir weinten, was?
Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
         Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten
         In ihrer Todesnot?
Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
         So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
         Wehklagten über mich?
Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
         Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammleten, und mir zu Ehren krähten
         Von einer Leich herab?
Was hülf mir Kron und Land und Gold und Ehre?
         Die könnten mich nicht freun!
‘s ist leider Krieg – und ich begehre
         Nicht schuld daran zu sein!

24 Oktober 2014

Frau Rebekka

Wo war ich doch vor dreißig Jahr, 
Als deine Mutter dich gebar?
Wär ich doch da gewesen! –
Gelauert hätt ich an der Tür
Auf dein Geschrei, und für und für
Gebetet und gelesen.
Und kam's Geschrei – nun marsch hinein
»Du kleines liebes Mägdelein,
Mein Reisgefährt , willkommen!«
Und hätte dich denn weich und warm
Zum ersten Mal in meinen Arm
Mit Leib und Seel genommen.
Und hätte dich denn weich und warm
Mit Leib und Seel in meinen Arm
Zum ersten Mal genommen ...
»Du frommes liebes Mägdelein,
Ich hab dich sonst noch nicht gesehn,
Willkommen, bis willkommen! –
Wie bist du lieber Reisgefährt
In deinen Windeln mir so wert!
O werde nicht geringer!
Du Mutter, lehr das Mägdlein wohl!
Und wenn ich wiederkommen soll,
So pfeif nur auf dem Finger.«

12 Oktober 2014

Dass du mich liebst, macht mich mir wert

The Spring is not acquainted with my Dove and me, as the Winter was;—how then can we expect her to be kindly to us? We really must continue to walk out and meet her, and make friends with her; then she will salute your cheek with her balmiest kiss, whenever she gets a chance. As to the east wind, if ever the imaginative portion of my brain recover from its torpor, I mean to personify it as a wicked, spiteful, blustering, treacherous—in short, altogether devilish sort of body, whose principle of life it is to make as much mischief as he can. The west wind—or whatever is the gentlest wind of heaven—shall assume your aspect, and be humanised and angelicised with your traits of character, and the sweet West shall finally triumph over the fiendlike East, and rescue the world from his miserable tyranny; and if I tell the story well, I am sure my loving and beloved West Wind will kiss me for it. [...]
How did I live before I knew you—before I possessed your affection! I reckon upon your love as something that is to endure when everything that can perish has perished—though my trust is sometimes mingled with fear, because I feel myself unworthy of your love. But if I am worthy of if you will always love me; and if there be anything good and pure in me, it will be proved by my always loving you.
Love Letters of Nathaniel Hawthorne, Volume I 

Liebesfrühling
Du meine Seele, du mein Herz,
Du meine Wonn, o du mein Schmerz,
Du meine Welt, in der ich lebe,
Mein Himmel du, darein ich schwebe,
O du mein Grab, in das hinab
Ich ewig meinen Kummer gab.
Du bist die Ruh, du bist der Frieden,
Du bist der Himmel mir beschieden.
Daß du mich liebst, macht mich mir wert,
Dein Blick hat mich vor mir verklärt,
Du hebst mich liebend über mich,
Mein guter Geist, mein bessres Ich!
Friedrich Rückert (1788-1866)

11 Oktober 2014

Aus Hawthornes Liebesbriefen

My dear Sophie, your letters are no small portion of my spiritual food, and help to keep my soul alive, when otherwise it might languish unto death, or else become hardened and earth-incrusted, as seems to be the case with almost all the souls with whom I am in daily intercourse. [...]
It almost seems to me, now, as if beautiful days were wasted and thrown away, when we do not feel their beauty and heavenliness through one another. [...]
When we shall be endowed with our spiritual bodies, I think they will be so constituted, that we may send thoughts and feelings any distance, in no time at all, and transfuse them warm and fresh into the consciousness of those whom we love. Oh what a bliss it would be, at this moment; if I could be conscious of some purer feeling, some more delicate sentiment, some lovelier fantasy, than could possibly have had its birth in my own nature, and therefore be aware that my Dove was thinking through my mind and feeling through my heart!
Love Letters of Nathaniel Hawthorne, Volume I 


Wäre er imstande gewesen, sich seiner eigenen Empfindungen klar bewußt zu werden, so würde er gefunden haben, daß die wichtigste Grundlage, auf der seine feste, zärtliche, stolze Liebe zu seiner Frau ruhte, immer dieses Gefühl der Bewunderung für ihr Seelenleben war, für diese hohe sittliche Welt, in der seine Frau stets lebte und die ihm selbst beinah unzugänglich war.

Er war stolz darauf, daß sie so klug und gut war, sah ein, daß er auf geistigem Gebiet hinter ihr zurückstand, und freute sich um so mehr darüber, daß sie mit ihrer Seele nicht nur ihm gehörte, sondern sogar einen Teil seines eigenen Ich bildete.
(Leo Tolstoi: Krieg und Frieden, Epilog, Kapitel 15, S.447-448)

06 Oktober 2014

Inwiefern es ägyptischen Fellachen vergleichsweise gut ging

Hier arbeiteten eine große Menge Fellahs, Männer, Weiber und Kinder, deren Lohn der Vizekönig bei allen öffentlichen Arbeiten eben um einen halben Piaster erhöht hatte. Da ich in den meisten Relationen über Ägypten die kläglichsten Jeremiaden über das Elend dieser unglücklichen Klasse gelesen hatte, so war ich nicht wenig verwundert, meistens kräftige, gesund aussehende und lustige Menschen zu finden, die singend und lachend ihre Arbeit verrichteten, von den Aufsehern höchst nachsichtig behandelt wurden und selbst das Bakschis (Trinkgeld), um das sie uns ansprachen, nur im Scherz zu verlangen schienen. Ihr Ansehen war allerdings zerlumpt, aber wo sieht man es im Orient wie auch in Griechenland anders? Das Klima verlangt so wenig, und Ordnung und Reinlichkeit gehört noch nicht zu den Tugenden dieser Länder. Ich habe später diesem Gegenstand fortwährende Aufmerksamkeit geschenkt und die feste Überzeugung gewonnen, daß die hiesigen Fellahs im Vergleich mit manchen andern ihrer Kameraden in Europa, zum Beispiel den irländischen Bauern, welche doch Untertanen des erleuchtetsten Gouvernements in der zivilisierten Welt sind, oder den armen Webern im Vogtlande, von denen ich erst heute, im Jahre 1843, in den Zeitungen las, daß sie ihren täglichen Verdienst höchstens auf zwei Gröschel bringen könnten, und wenn ihre einzige Nahrung, die Kartoffeln, fehlschlugen, dem Hungertode nahe kämen – daß, sage ich, diese Fellahs sich, obgleich mancher Härte und Willkür ausgesetzt, die ich nicht ableugnen will, doch immer noch in einer Lage befinden, welche viele unsrer Proletarier oft beneiden könnten. (Pückler-Muskau: Aus Mehemed Alis Reich)
Da heißt es sorgfältig zwischen angemessener Differenzierung und gekonnter Verschleierung zu unterscheiden, so weit man es kann.

04 Oktober 2014

Der seltsame Fall des Benjamin Button

Eine merkwürdige Wiederbegegnung mit einer Erzählidee:
Der seltsame Fall des Benjamin Button sehen, die Erzählidee kennen und in den Werbepausen die short story lesen, die ich in meiner Schulzeit kennen gelernt hatte. Darauf während weiterer Werbepausen in der deutschen Wikipedia nach ihr suchen und nur den Film finden, der in einer völlig anderen Zeit spielt, was ich beim Film erst langsam ahnte, aber in der ersten Werbepause wusste, als ich las: "Noch 1860 war es üblich, zu Hause geboren zu werden ..."
Brad Pitt, von dem ich jahrelang gehört und gelesen hatte, erstmals als Schauspieler zu erleben, älter und jünger, als er damals war, und bei Cate Blanchett zu rätseln, von welcher Szene an und bis zu welcher Szene sie Daisy spielte, was also Computersimulation alles vermag.

Im Film von 2009 spielen - naheliegenderweise -  zeitlose Liebesgeschichten die Hauptrolle. In der Kurzgeschichte von 1922 durchlebt die Hauptperson das heute höchst aktuelle Problem, dass sie sich als ein anderer fühlt, als sie von außen wahrgenommen wird. Nur während heute die Gesellschaft mehr und mehr das Selbstgefühl akzeptiert und nicht selten die biologischen Gegebenheiten an das Selbstgefühl anzupassen sucht, wird bei Fitzgerald der Greis brutal in die Kinderrolle gezwängt und der Jugendliche um die Anerkennung gebracht, die er sich im Erwachsenenalter verdient hat.
Dagegen ist Benjamin Buttons Liebesleben bei Fitzgerald nur dadurch gekennzeichnet, dass er schon nach wenigen Jahren Ehe nicht mehr recht weiß, was ihn zuvor an seiner Frau fasziniert hat. Das soll auch vorkommen, wenn der Mann nicht jünger wird, während die Frau älter wird.

Fitzgerald hält an der Perspektive Benjamins fest, auch als er als Baby nichts mehr von seiner Vorgeschichte mehr weiß. Der Film wechselt zur Perspektive der Frau, die binnen kurzem von der Geliebten zur fürsorglichen Oma des Partners wird.

Faszinierend ist an der Erzählung die radikale Umsetzung der Erzählidee, am Film die optische Realisierung, die freilich trotz aller Kunst vor allem im Anfangsteil aus meiner Sicht versagte.




Claudius stellt seinen "Freund Hain" vor

Er widmet ihm die erste Sammlung seiner Werke:

Das erste Kupfer ist Freund Hain. Ihm dedizier ich mein Buch, und er soll als Schutzheiliger und Hausgott vorn an der Haustüre des Buchs stehen.DedikationIch habe die Ehr Ihren Herrn Bruder zu kennen, und er ist mein guter Freund und Gönner. Hätt auch wohl noch andre Adresse an Sie; ich denk aber, man geht am besten gradezu. Sie sind nicht für Adressen, und pflegen ja nicht viele Komplimente zu machen.’s soll Leute geben, heißen starke Geister, die sich in ihrem Leben den Hain nichts anfechten lassen, und hinter seinem Rücken wohl gar über ihn und seine dünnen Beine spotten. Bin nicht starker Geist; ’s läuft mir, die Wahrheit zu sagen, jedesmal kalt übern Rücken wenn ich Sie ansehe. Und doch will ich glauben, dass Sie ’n guter Mann sind wenn man Sie genug kennt; und doch ist’s mir als hätt ich eine Art Heimweh und Mut zu dir, du alter Ruprecht Pförtner! dass du auch einmal kommen wirst, meinen Schmachtriemen aufzulösen, und mich auf bessre Zeiten sicher an Ort und Stelle zur Ruhe hinzulegen.Ich hab da ’n Büchel geschrieben, und bring’s Ihnen her. Sind Gedichte und Prosa. Weiß nicht, ob Sie 'n Liebhaber von Gedichten sind; sollt’s aber kaum denken, da Sie überhaupt keinen Spaß verstehen, und die Zeiten vorbei sein sollen wo Gedichte mehr waren. Einiges im Büchel soll Ihnen, hoff ich, nicht ganz missfallen; das meiste ist Einfassung und kleines Spielewerk: machen Sie 'mit was Sie wollen.Die Hand, lieber Hain! und, wenn Ihr ’nmal kommt, fallt mir und meinen Freunden nicht hart.Die Alten solln ihn anders gebildet haben: als ’n Jäger im Mantel der Nacht, und die Griechen; als ’n „Jüngling der in ruhiger Stellung mit gesenktem trüben Blicke die Fackel des Lebens neben dem Leichname auslöscht“. Ist ’n schönes Bild, und erinnert einen so tröstlich an Hain seine Familie und namentlich an seinen Bruder: wenn man sich da so den Tag über müde und matt gelaufen hat und kommt nun den Abend endlich so weit dass man’s Licht auslöschen will – hat man doch nun die Nacht vor sich wo man ausruhen kann! und wenn’s denn gar den andern Morgen Feiertag ist!! ’s ist das wirklich ein gutes Bild vom Hain; bin aber doch lieber beim Knochenmann geblieben. So steht er in unsrer Kirch, und so hab ich 'n mir immer von klein auf vorgestellt, dass er auf’m Kirchhof über die Gräber hinschreite, wenn eins von uns Kindern ’s Abends zusammenschauern tat, und die Mutter denn sagte: der Tod sei übers Grab gangen. Er ist auch so, dünkt mich, recht schön, und wenn man ihn lange ansieht wird er zuletzt ganz freundlich aussehen. (Matthias Claudius, zitiert nach dem Roman "Freund Hain" von Hans-Peter Kraus)
Schiller hat - wenig später - mit einer gewissen Nostalgie zurückgeblickt auf die Zeit, die auch Claudius hier beschwört:


Da ihr noch die schöne Welt regieret,

An der Freude leichtem Gängelband
Selige Geschlechter noch geführet,
Schöne Wesen aus dem Fabelland!

Als Gegenbild zu seiner Gegenwart hatte Schiller auf den griechischen Genius hingewiesen, der zum Menschen kommt, wo Claudius von seinem Freund andeutend vom Bruder des Schlafes spricht, aber einen harten Knochenmann zeigt. 

Damals trat kein gräßliches Gerippe

Vor das Bett des Sterbenden. Ein Kuß
Nahm das letzte Leben von der Lippe,
Seine Fackel senkt’ ein Genius.


Claudius erwähnt zwar das schöne Bild dieses Bruders vom  

„Jüngling der in ruhiger Stellung mit gesenktem trüben Blicke die Fackel des Lebens neben dem Leichname auslöscht“ 
doch zieht er dann doch als Bild seines Freundes Hain als Sensen- und Knochenmann vor: "und wenn man ihn lange ansieht wird er zuletzt ganz freundlich aussehen".

Ob es schon ausreicht, den Text noch einmal zu lesen oder ob man sich nicht doch den Roman Freund Hain einmal vornehmen sollte?