26 Juni 2016

Don Quijote lässt sich einreden, seine Dulcinea wäre in eine hässliche Bäuerin verzaubert worden

Sancho Pansa bekommt von Don Quijote den Auftrag, in Toboso Dulcinea zu finden. Da er - entgegen seiner früheren Behauptung Dulcinea noch nie gesehen hat, ist er zunächst besorgt, dass Don Quijote das jetzt herausfinden könnte, doch dann überlegt er, dass er gute Chancen hat, dem Dilemma zu entkommen.
"[...] Dieser mein Herr hat durch tausend Proben bewiesen, daß er toll ist zum Anbinden, und ich lasse mich auch darin nicht lumpen; denn ich bin noch dummköpfiger wie er, weil ich ihm folge und ihm diene, wenn das Sprichwort nämlich recht hat: Sage mir, mit wem du umgehst, so will ich dir sagen, wer du bist; und noch ein anderes: Nicht mit wem du geboren, sondern mit wem du geschoren. Da er nun toll ist, wie er es ist, und in der Tollheit oft ein Ding für das andere nimmt, weiß für schwarz hält und schwarz für weiß, wie es sich damals auswies, als er sagte, die Windmühlen wären Riesen und die Maultiere der Mönche Dromedare und die Herde von Hammeln eine Armee von Feinden, nebst vielen andern Dingen von gleichem Gehalt, so wird es auch nicht schwerhalten, ihn glauben zu machen, eine Bauerndirne, die erste die beste, die ich finde, sei die Dame Dulcinea. Und wenn er's nicht glaubt, so schwör ich; schwört er, schwör ich von neuem; besteht er auf seinem Nein, so bleibe ich noch mehr bei meinem Ja; und so will ich meinen Satz dreist durchfechten, es mag daraus werden, was will. Vielleicht setze ich es mit meiner Standhaftigkeit durch, daß er mich nicht wieder auf solche Gesandtschaften schickt, da er sieht, wie wenige Freude er davon hat; oder vielleicht wird er sich auch, wie ich es mir denke, vorstellen, daß ein böser Zauberer, einer von denen, die ihm immer übelwollen, wie er sich einbildet, die Gestalt verwandelt habe, um ihm Schaden und Verdruß zuzufügen.
Mit dieser Erfindung hatte Sancho Pansa seine Seele beruhigt; denn er hielt nun sein Geschäft für völlig geendigt. Er blieb nur noch bis Nachmittage sitzen, damit Don Quixote denken konnte, er habe diese Zeit gebraucht, um nach Toboso zu gehen und zurückzukommen. Auch gelang es ihm so gut, daß, als er wieder aufstand, seinen Grauen zu besteigen, er von Toboso drei Bäuerinnen auf sich zukommen sah, die auf drei jungen Eseln oder Eselinnen ritten, welches aber der Autor nicht ganz ins Licht setzt; denn es steht mehr zu vermuten, daß es gewöhnliche Eselinnen waren, weil diese am häufigsten von den Bäuerinnen gebraucht werden; da aber hierauf wenig ankömmt, so wollen wir uns dabei nicht aufhalten, es in Richtigkeit zu bringen.
Kurz, sowie Sancho die Bäuerinnen gewahr wurde, ritt er im Trabe zu seinem Herrn Don Quixote zurück, den er in Seufzern fand und indem er tausend verliebte Klagen ausstieß. Als Don Quixote ihn sah, rief er: »Nun, Freund Sancho, soll ich diesen Tag mit einem weißen oder mit einem schwarzen Steine bezeichnen?«[65]
»Lieber noch«, antwortete Sancho, »mögt Ihr ihn mit roter Farbe bezeichnen, wie man die Büchertitel druckt, damit man sie schon von weitem sehen kann.«
»Auf diese Weise«, versetzte Don Quixote, »bringst du gute Zeitungen?«
»So gute«, antwortete Sancho, »daß Ihr weiter nichts zu tun habt, als dem Rozinante die Sporen zu geben und ins Freie zu reiten, um die Dame Dulcinea von Toboso zu sehen, die mit zwei von ihren Jungfrauen kömmt, um Euer Gnaden zu besuchen.«
»Heiliger Gott! was sagst du da, Freund Sancho?« rief Don Quixote aus. »Suche mich ja nicht zu täuschen oder meine wahrhafte Traurigkeit durch eine falsche Freude zu erfreuen.«
»Was hälfe es mir, Euer Gnaden zu täuschen«, antwortete Sancho, »besonders da Ihr so leichtlich die Wahrheit entdecken könnt? Spornt, gnädiger Herr, und kommt, und Ihr werdet unsere gebietende Prinzessin sehen, so gekleidet und geschmückt, daß man sich nichts Schöneres wünschen kann. Ihre Jungfrauen und sie sind alle ein einziger Brand von Gold, lauter Bündel von Perlen, sie sind lauter Diamanten, lauter Rubinen, lauter Brokat von mehr als zehnfachem Gewirke. Ihre Haare hängen über den Schultern und sind ebenso viele Sonnenstrahlen, mit denen die Winde spielen. Und außerdem kommen sie zu Pferde, auf drei gefleckten Keltern, daß man nichts Schöneres sehen kann.«
»Zeltern willst du sagen, Sancho.«
»Da ist wenig Unterschied«, antwortete Sancho, »zwischen Keltern und Zeltern; sie mögen aber reiten, worauf sie wollen, so sind es die prächtigsten Damen, die man sich nur wünschen kann, besonders die Prinzessin Dulcinea, meine Gebieterin, welche alle Sinne in Entzücken versetzt.« [...]
»Ich sehe nichts, Sancho«, sagte Don Quixote, »als drei Bäuerinnen auf Eseln.«
»Nun, so mag mich Gott vom Teufel erlösen!« antwortete Sancho; »aber ist es denn möglich, daß Ihr die drei Zelter, oder wie sie heißen mögen, die so weiß sind wie der frisch gefallene Schnee, für Esel halten könnt? Meiner Seele, den Bart würde ich mir ausreißen, wenn das die Wahrheit wäre!«
»Ich sage dir aber, Freund Sancho«, sagte Don Quixote, »daß dieses so gewiß Esel oder Eselinnen sind, als ich Don Quixote bin oder du Sancho Pansa bist; zum mindesten erscheinen sie mir so.«
»Schweigt doch, gnädiger Herr«, sagte Sancho, »und sprecht nicht dergleichen Worte, sondern putzt Euch die Augen und kommt, um der Dame Eurer Gedanken die Reverenz zu bezeigen; denn sie ist schon ganz nahe.« Und mit diesen Worten entfernte er sich, um den Bäuerinnen entgegenzugehen; er stieg vom Grauen ab, faßte den Esel des einen Mädchens beim Zaum, ließ sich mit beiden Knien zur Erde nieder und sprach: »Königin und Prinzessin und Herzogin der Schönheit, Eure Hochmütigkeit und Größe sei von der Gnade, zu ihrem Dienste und Wohlgefallen jenen Euren gefangenen Ritter aufzunehmen, der[66] dort wie ein Marmorstein steht, so verwirrt und ohne Leben, sich in Eurer kostbaren Gegenwart zu befinden. Ich bin Sancho Pansa, sein Stallmeister; er aber ist der übermüdete Ritter Don Quixote von la Mancha, mit einem andern Namen genannt der Ritter von der traurigen Gestalt.«
Jetzt hatte sich Don Quixote auch kniend neben Sancho niedergeworfen und schaute mit hervorstarrenden Augen und verwirrtem Blicke diejenige an, die Sancho Königin und Gebieterin nannte; und da er nichts als ein Bauernmädchen gewahr wurde, und zwar von nicht anmutigem Ansehen, denn sie hatte ein rundes Gesicht mit einer plattgedrückten Nase, so blieb er voll Erstaunen und Verwunderung, ohne es zu wagen, die Lippen zu öffnen. Die Bauernmädchen waren ebenfalls nicht wenig betroffen, da sie diese beiden so verschiedenen Leute sahen, die vor ihnen niederknieten und ihre Gefährtin nicht fortlassen wollten. Die Angehaltene brach zuerst das Stillschweigen und sagte sehr unwillig und verdrießlich: »Marsch da! aus dem Wege, zum Henker! Laßt uns gehen, denn wir haben keine Zeit übrig!« [...]
Don Quixote folgte ihnen mit den Augen, und als sie endlich verschwunden waren, wandte er sich zu Sancho und sagte: »Sancho, was meinst du nun? Wie sehr bin ich doch von Zauberern gehaßt! Ha! sieh, wie weit sich ihre Bosheit und ihre Wut gegen mich erstreckt, da sie mich des Vergnügens zu berauben gesucht, welches ich empfunden hätte, meine Gebieterin in ihrer wahren Gestalt zu erblicken. Wahrlich, ich bin geboren, das Ziel und die Scheibe vorzustellen, wohin sie alle Pfeile des Elendes abschießen. Zugleich mußt du auch dieses bemerken, Sancho, daß die Verräter sich nicht daran begnügt haben, meine Dulcinea zu verwandeln und zu entstellen, sondern sie mußten sie in eine so gemeine und häßliche Gestalt verwandeln und verkehren, als jene Bäuerin war, und zugleich nahmen sie ihr auch das, was immer die Eigenschaft der vornehmen Damen ist, nämlich den schönen Geruch, weil sie immer von Ambra und Blumen duften; du mußt aber wissen, Sancho, daß, als ich hinzulief, der Dulcinea auf ihren Zelter zu helfen – wie du ihn nennst, der mir aber ein Esel schien –, mir von ihr ein solcher Duft von rohem Knoblauch entgegenkam, daß sich mir die Seele im Leibe umwandte.«
(Cervantes: Don Quijote, 2. Teil 7. Buch 3. Kapitel)

16 Juni 2016

Kaum aus dem Käfig befreit, stürzt sich Don Quijote in neuen Streit

Bei einer Rast wird Don Quijote  aus seinem Käfig herausgelassen. Da gesellt sich ein Ziegenhirte zu der Gesellschaft und erzählt eine Geschichte von einer jungen Frau, die er liebt und die ins Kloster gesteckt worden ist.

Alle erzeigten sich gegen Eugenio freundlich, am großmütigsten aber vor allen andern Don Quixote, welcher sprach: »Wahrlich, Freund Ziegenhirt, wär es mir zur Stunde möglich, irgendein neues Abenteuer anzufangen, so würde ich mich augenblicklich und stracks auf den Weg machen, um mich Euch gefällig zu erzeigen; denn aus dem Kloster, in welchem sie sich ohne Zweifel gegen ihren Willen befindet, würde ich Leandra herausnehmen, trotz der Äbtissin und aller, die mich daran hindern wollten, und sie Euch übergeben, um mit ihr nach Eurem Wohlgefallen zu schalten, vorausbedungen, daß die Gesetze der Ritterschaft nicht verletzt würden, welche gebieten, daß keiner Jungfrau irgend Gewalt und Mißhandlung widerfahre. Doch hoffe ich zu Gott dem Herrn, daß ein boshafter Zauberer nicht so gar gewaltig sein wird, daß nicht ein anderer, gut denkender Zauberer noch mehr Macht besitzen sollte, und auf diesen Fall verspreche ich Euch meine Gunst und meinen Beistand, wozu mich überdies mein Handwerk verpflichtet, welches in nichts anderm besteht, als Unglücklichen und Notgedrängten Hülfe zu leisten.«
Der Ziegenhirt schaute ihn an, und da er Don Quixote von so schlechtem Faden und Gespinste fand, verwunderte er sich und fragte den Barbier, der neben ihm saß: »Mein Herr, wer ist denn der Mann, der solch Ansehen hat und dergleichen Sprache führt?«
»Wer wird es anders sein«, versetzte der Barbier, »als der berühmte Don Quixote von la Mancha, der Vernichter jeglicher Ungebühr, der Gerademacher aller Ungeradheit, der Beschützer der Jungfrauen, der Vertilger der Riesen und Sieger in den Schlachten?«
»Das klingt ja«, antwortete der Ziegenhirt, »wie das, was man in Büchern von den irrenden Rittern lieset, die alles das getan haben, was Ihr von diesem Manne sagt; ich halte aber dafür, daß Ihr entweder spaßt oder daß dieser feine Mann kein Gehirn in seinem Kopfe haben muß.«
»Ihr seid der lumpigste Halunke«, rief Don Quixote plötzlich aus, »Ihr habt kein Gehirn und keinen Kopf, ich aber habe mehr, als jemals die Hure gehabt, die Euch zur Welt geboren hat!« Und mit diesen Worten nahm er ein Brot, welches neben ihm lag, und warf es dem Ziegenhirten mit solcher Wut ins Angesicht, daß ihm das Blut aus der Nase stürzte. Der Ziegenhirt aber, der keinen Spaß verstand und gewahr wurde, mit welchem Ernste man ihn mißhandelte, nahm nun weder auf den Teppich noch auf die Gedecke, noch auf alle die, welche speisten, weitere Rücksicht, sondern stürzte sich auf Don Quixote und griff ihm mit beiden Händen nach der Kehle, so daß er ihn gewiß erdrosselt hätte, wenn Sancho Pansa nicht alsbald herbeigekommen, jenen bei den Schultern gepackt und ihn mitten auf den Tisch geworfen hätte, so daß Schüsseln und Gläser zerbrachen und alles, was auf dem Tischtuche stand, umgeworfen und verschüttet wurde. Als sich Don Quixote frei sah, warf er sich wieder über den Ziegenhirten, der, das Gesicht voll Blut und von Sancho mit Fußtritten gepeinigt, nach einem Messer auf dem Tische herumtappte, um eine blutige Rache zu nehmen; aber der Canonicus und der Pfarrer verhinderten ihn daran; doch richtete es der Barbier so ein, daß der Ziegenhirt den Don Quixote unter sich bekam, worauf er diesem mit so heftigen Maulschellen zusetzte, daß aus dem Gesichte des armen Ritters nicht weniger Blut als aus dem seinigen strömte.
Der Canonicus und der Pfarrer wollten fast vor Lachen bersten, die Häscher sprangen vor Freuden umher und hetzten bald diesen, bald jenen an, wie man es wohl mit den Hunden zu machen pflegt, wenn sie in Balgerei verwickelt sind; nur Sancho Pansa war wütend, weil er sich nicht von dem einen Diener des Canonicus losmachen konnte, der ihn festhielt, so daß er seinem Herrn nicht Hülfe zu leisten vermochte. Kurz, alle waren noch voller Freude und Lustigkeit, außer die beiden Kämpfenden, die aufeinander droschen, als alle einen so kläglichen Ton einer Trompete vernahmen, daß sie die Gesichter umwandten, um zu sehen, woher dieser Klang komme; wer sich aber über dieses Geräusch am meisten entsetzte, war Don Quixote, der, noch unter dem Ziegenhirten gegen seinen Willen liegend und mehr als billig zerprügelt, sprach: »Freund Teufel, denn dieses mußt du sein, da du mich mit solcher Gewalt unterworfen hast, ich bitte dich, laß uns einen Stillstand schließen, wenn es auch nur auf eine Stunde sein sollte, denn dieser klägliche Ton einer Trompete, der jetzt in unsre Ohren dringt, scheint mich zu einem neuen Abenteuer aufzurufen.«
Der Ziegenhirt, der schon müde war, zu prügeln und geprügelt zu werden, ließ ihn im Augenblicke los; Don Quixote stellte sich sogleich auf seine Füße und wandte das Gesicht dahin, von wo der Schall gekommen war, worauf er sah, daß von dem Abhange eines Berges eine große Anzahl Menschen, in Weiß gekleidet nach Art der Büßenden, herunterkam.
Die Sache war nämlich diese, daß in diesem Jahre die Wolken ihren Regen der Erde versagt hatten, deshalb stellten die umliegenden Dörfer Prozessionen an, mit Gebeten und Bußübungen, um Gott zu bewegen, daß er seine barmherzigen Hände öffnen und Regen herunterschicken möchte; zu dieser Absicht[438] zogen auch die Leute eines benachbarten Dorfes nach einem frommen Einsiedler, der in einer Schluft des Tales wohnte. Don Quixote, der die wunderbare Tracht der Büßenden sah, erinnerte sich gar nicht mehr, daß er sie schon oftmals gesehen hatte, sondern bildete sich ein, daß dies ein Abenteuer sei, zu welchem er aufgemuntert werde, und ihm als dem einzigen daseienden irrenden Ritter komme es deshalb zu, es zu unternehmen. In dieser Einbildung wurde er dadurch noch mehr bestätigt, daß sie ein Bild trugen, welches mit Trauergewändern behangen war; sogleich glaubte er, daß dies eine vornehme Dame sei, die von diesen Schelmen und nichtswürdigen Bösewichtern mit Gewalt entführt werde. Sowie er dieses mit seinen Sinnen begriffen hatte, sprang er mit großer Behendigkeit zu Rozinante hin, der auf der Weide ging, nahm den Zaum und den Schild vom Sattel herunter, zäumte ihn augenblicklich auf, forderte vom Sancho sein Schwert, bestieg den Rozinante, faßte den Schild und sprach mit lauter Stimme zu allen Gegenwärtigen: »Nun, edle Gesellschaft, sollt Ihr gewahr werden, wie notwendig es sei, daß es Ritter in der Welt gebe, die sich zum Orden der irrenden Ritterschaft bekennen; nun, sage ich, sollt Ihr gewahr werden, wie ich jener edlen Dame die Freiheit erstreiten will, die dort gefangen geführt wird, und ob man also die irrenden Ritter hochschätzen müsse.« Mit diesen Worten stampfte er mit den Beinen in Rozinante, weil er keine Sporen hatte, und in vollem Galopp – denn in dieser wahrhaften Geschichte findet man niemals, daß sich Rozinante im gestreckten Carriere versucht habe – ritt er auf die Büßenden zu; der Pfarrer, der Canonicus und der Barbier wollten ihn zwar zurückhalten, aber es war nicht möglich; ebensowenig vermochte es Sanchos Rufen, welcher ihm nachschrie: »Wo wollt Ihr denn hin, mein Herr Don Quixote, welcher Teufel reitet Euch denn, so in unsern katholischen Glauben hineinzustürmen? Hört doch, das ist, bei meiner Seele, eine Prozession von Büßenden, und das Frauenbild, das sie auf der Trage haben, ist ja das Bild der gesegneten, unbefleckten Mutter Gottes! Schaut doch, was Ihr tut, denn diesmal kann man doch wohl sagen, daß Ihr nicht wißt, was Ihr vornehmt!« 
Sancho bemühte sich vergebens, denn sein Herr ritt mit so großem Eifer auf die Verschleierten los, um die trauernde Dame frei zu machen, daß er kein Wort hörte, ja auch nicht hingehört hätte, wenn es ihm der König selber befohlen. Als er zur Prozession gekommen, hielt er den Rozinante an, der schon gern ein wenig geruht hätte, und rief mit rauher und heiserer Stimme: »Ihr da, die ihr euch gewiß um nichts Guten willen die Gesichter verhängt habt, seid aufmerksam und hört, was ich euch sagen will!«
Die vordersten waren gerade diejenigen, die das Bild trugen, und einer von den vier Geistlichen, welche die Litanei sangen, der die seltsame Gestalt des Don Quixote, die Dürrheit des Rozinante, nebst andern lächerlichen Dingen, an demselben bemerkte, sagte hierauf: »Lieber Mann, wenn Ihr uns etwas zu sagen habt, so sagt es schnell, denn diese Leute zergeißeln sich die Haut, und darum ist es nicht vernünftig, uns lange zu verweilen, um ein Gespräch anzuhören, wenn sich etwa das, was Ihr zu sagen habt, nicht in zwei Worte fassen läßt.«
»Eins wird hinlänglich sein«, versetzte Don Quixote, »daß ihr nämlich sogleich diese schöne Dame in Freiheit setzen sollt, deren Tränen und trauriger Anstand genugsam zeugen, daß ihr sie gegen ihren Willen entführt und irgendeine schwere Übeltat verbrochen haben müßt; ich aber bin in die Welt gekommen, um aller dergleichen Ungebühr zu steuern, und werde es nicht dulden, daß ihr einen Schritt weiter geht, ohne ihr vorher, wie sie verdient, die erwünschte Freiheit zu geben.«
Alle, die diese Reden hörten, fielen nun darauf, daß Don Quixote ein verrückter Mensch sein müsse, worauf sie mit größter Heftigkeit zu lachen anfingen, welches Lachen Öl zu dem Zornfeuer desselben schüttete; denn ohne ein Wort weiter zu sagen, nahm er das Schwert und hieb auf die Trage ein. Einer von den Trägern überließ seinen Gefährten die Last und stellte sich dem Don Quixote entgegen, indem er seine Gabel oder Stütze aufhob, indes die andern die Bahre trugen; diesem gab Don Quixote einen solchen[439] Hieb, daß die Gabel entzweisprang, mit dem Überreste aber, den jener in der Hand behielt, gab er dem Don Quixote einen so gewaltigen Schlag auf die Schulter, auf der Seite, wo er das Schwert führte – denn unmöglich konnte er sich gegen diese tölpische Kraft mit dem Schilde schirmen –, daß, übel zugerichtet, der arme Don Quixote zu Boden stürzte. Sancho Pansa war keuchend hinter ihm hergelaufen, und da er ihn nun niedergestürzt sah, schrie er dem Prügelnden zu, er möchte ihn nicht weiter schlagen, denn er sei ein armer verzauberter Ritter, der noch zeit seines ganzen Lebens keinem Menschen etwas zuleide getan habe; was aber den Bauer am meisten zurückhielt, war nicht die Stimme Sanchos, sondern weil er sah, daß Don Quixote weder Hand noch Fuß mehr rührte, er glaubte also, er habe ihn umgebracht, hob eilig sein Gewand auf und floh über das Feld wie eine Gemse.
Jetzt kam auch Don Quixotes Gesellschaft hinzu; da aber die von der Prozession jene herbeilaufen sahen, und mit ihnen die Häscher mit ihren Armbrüsten, so fürchteten sie eine üble Begegnung; sie stellten sich daher alle in einem Kreise um das Bild her, erhoben ihre Kapuzen, nahmen ihre Geißeln und die Priester ihre Leuchter, indem sie den Überfall mit dem festen Entschlusse erwarteten, sich tapfer zu verteidigen, ja selbst, wenn es möglich sei, ihre Feinde anzugreifen; das Glück fügte es aber besser, als sie dachten; denn Sancho tat nichts weiter, als daß er sich auf den Körper seines Herrn warf und über ihn den kläglichsten und lächerlichsten Jammer anstellte, weil er ihn für tot hielt. Der Pfarrer wurde von dem andern Pfarrer, der mit der Prozession ging, erkannt, wodurch denn der übrige Haufe völlig beruhigt wurde. Der erste Pfarrer erzählte dem andern, wer Don Quixote sei, und er sowie die ganze Schar gingen nun hinzu, um zu sehen, ob der arme Ritter wirklich tot wäre; sie hörten hierauf den Sancho Pansa mit Tränen in den Augen folgendes sagen: »O du Blume der Ritterschaft, der du mit einem einzigen Knüppelschlage die Laufbahn deiner glorreichen Tage geendigt hast! O du Preis deines Geschlechtes, Ehre und Ruhm von la Mancha, ja der ganzen Welt, denn wenn du darin fehlen wirst, wird sie von Bösewichtern erfüllt, die nun keine Strafe mehr für ihre Bubenstücke fürchten! O du, so freigebig wie Alexander, denn für acht Monate Dienstbarkeit hast du mir die schönste Insel geschenkt, um die nur das Meer mit seinen Wellen fließt! O du Demütiger unter den Stolzen, du Hochmütiger unter den Demütigen, du Verächter der Gefahren, du Erdulder des Unglücks, Verliebter ohne Ursache, Nachahmer der Guten, Geißel der Bösen, Feind der Gemeinheit, kurz, du irrender Ritter, denn das heißt alles gesagt, was man nur sagen kann!«
Über das Geschrei und die Seufzer Sanchos kam Don Quixote wieder ins Leben, und das erste, was er sprach, war: »Derjenige, der von dir entfernt lebt, o süßeste Dulcinea, ist noch größern Unglücksfällen unterworfen. Hilf mir, lieber Sancho, auf den verzauberten Karren, ich bin jetzt nicht dazu gemacht, mich auf Rozinantes Sattel zu halten, denn ich glaube, die Schulter ist mir in Stücke geschlagen.«
»Das will ich gar gern tun, gnädiger Herr«, antwortete Sancho, »wir wollen nach unserm Dorf in der Gesellschaft dieser Herren zurück, die Euer Bestes wünschen, und von da wollen wir auf einen neuen Auszug denken, der uns mehr Nutzen und Ruhm eintragen soll.«
»Du sprichst gut, Sancho«, antwortete Don Quixote, »denn es wird sehr klug getan sein, den bösen Einfluß der Gestirne vorüberzulassen, der jetzt regiert.«
(Cervantes: Don Quijote 1. Teil 5. Buch 11. Kapitel)

So kehren Don Quijote und Sancho Pansa in ihre Heimat zurück. Ihre Angehörigen beklagen sich sehr, dass sie von ihren Abenteuern nichts mitbringen als geschundene Körper und Erzählungen von höchst fragwürdigen Unternehmungen.

14 Juni 2016

Don Quijote schaltet sich in das Literaturgespräch ein

Auf einem Rastplatz wird Don Quijote aus seinem Käfig herausgelassen und bekommt so die Gelegenheit, sich in das Literaturgespräch einzumischen. (Die Textfassung folgt wieder der Übersetzung der urheberrechtsfreien Ausgabe von Amazon)
»Ich aber«, versetzte Don Quijote, »finde meinesteils, daß der Mann ohne Verstand und der Verzauberte Euer Gnaden selbst ist, da Ihr es für richtig gehalten habt, dergleichen große Lästerungen gegen etwas auszustoßen, das überall in der Welt solche Geltung gefunden und für so wahr erachtet wird, daß, wer es leugnen wollte, wie Euer Gnaden es leugnet, dieselbe Strafe verdiente, die Ihr den Büchern auferlegt, wenn Ihr sie leset und sie Euch langweilen. Denn jemandem einreden zu wollen, daß Amadís nie auf Erden gelebt und ebensowenig auch die andern abenteuernden Ritter, von denen die Geschichtsbücher voll sind, das heißt einem einreden wollen, daß die Sonne nicht leuchtet und das Eis nicht kältet und die Erde uns nicht trägt. Mithin, welch vernünftiges Wesen kann es auf Erden geben, das einem andern einreden könnte, es sei nicht volle Wahrheit, was von der Prinzessin Floripes erzählt wird und von Guido von Burgund und von Fierabrás, nebst der Brücke von Mantible, was alles sich zu Zeiten Karls des Großen zugetragen? Ich schwör's bei allem, was heilig ist, dies ist alles so wahr, wie daß es jetzt Tag ist. [...]
Sodann, wer kann leugnen, daß die Geschichte von Peter und der schönen Magelona* wahr ist, da man noch heutzutage in der Waffensammlung unsrer Könige den Zapfen sieht, mit welchem der Graf Peter das hölzerne Pferd hin und her lenkte, auf dem er durch die Lüfte flog? Und selbiger Zapfen ist etwas größer als eine Karrendeichsel. Und neben dem Zapfen sieht man dort den Sattel des Babieca, und in Roncesvalles befindet sich das Horn Roldáns, so groß wie ein mächtiger Balken. Woraus folgt, daß es einen Ritter Peter gegeben, daß es Männer wie Cid gegeben und andre dergleichen Ritter, die, wie die Leute sagen, hinausziehn auf ihre Abenteuer. [...]
Der Domherr war hocherstaunt über diese Mischung von Wahrheit und Lügen, welche Don Quijote vorbrachte, und zu sehen, welche Kenntnis er von allem hatte, was die Taten seines fahrenden Rittertums betraf und daran rührte, und so antwortete er ihm: »Ich kann nicht leugnen, Señor Don Quijote, daß einiges von dem, was Ihr gesagt, wahr ist, besonders was die fahrenden Ritter Spaniens angeht; und ebenso will ich auch zugeben, daß es zwölf Pairs von Frankreich gegeben hat, aber ich mag nicht glauben, daß sie all jene Taten getan, die der Erzbischof Turpin von ihnen berichtet. Das Wahre daran ist, sie waren von dem König von Frankreich auserlesene Ritter, die man Pairs, das heißt Ebenbürtige, nannte, weil sie an Tüchtigkeit, Adel und Tapferkeit alle einander ebenbürtig waren; und wenn sie es nicht waren, sollten sie es wenigstens sein. Es war also ein Orden wie die jetzt bekannten Orden von Santiago oder Calatrava, bei welchen vorausgesetzt wird, daß jeder darin Aufgenommene ein mannhafter und tapferer Ritter von guter Geburt ist. Und so wie man jetzt sagt ›Ritter vom heiligen Johannes‹ oder, ›von Alcantara‹, so sagte man zu jener Zeit ein ›Ritter aus der Zahl der zwölf Pairs‹, weil es zwölf in jeder Beziehung Ebenbürtige waren, die man für diesen Kriegsorden auserkor. Was den Punkt betrifft, ob es einen Cid gegeben, so ist daran kein Zweifel, ebensowenig daran, daß es einen Bernardo del Carpio gegeben; aber daß sie die großen Taten getan, die man erzählt, das ist meiner Meinung nach sehr zu bezweifeln. Was nun das andere betrifft, den Zapfen, den Ihr dem Grafen Peter zuschreibt und der neben dem Sattel Babiecas* in der königlichen Waffensammlung zu sehen ist, so bekenn ich meine Sünde, ich habe zwar den Sattel, aber nicht den Zapfen zu sehen bekommen, so dumm oder so kurzsichtig muß ich wohl sein, wo er doch so groß ist, wie Euer Gnaden sagen.« »Freilich ist er da, ohne allen Zweifel«, entgegnete Don Quijote; »und zum weiteren Wahrzeichen: er steckt in einem Futteral von Rindsleder, damit er nicht vom Schimmel angegriffen wird.
(Cervantes: Don Quijote 1.Teil 5. Buch 8. Kapitel)
*"Vermutlich das ergreifendste Zeugnis für die allgemeine Bekanntheit des Textes liefern die Archivalien der Hexenprozesse in Nördlingen. Im Kassiber der 1590 in Nördlingen als Hexe verbrannten Rebecca Lemp an ihren Mann Peter vom 2. August 1590 heißt es: O Schaz Deiner vnschuldigen Magalona. Rebecca und ihr Mann Peter haben ihre Liebe also nach einem literarischen Muster stilisiert. Indem Rebecca Lemp den Namen Magelone annimmt, wirft sie auf die tragische Trennung von dem geliebten Ehemann Peter „das Licht einer als verbindlich erfahrenen Geschichte von Liebe und Abenteuer. Weit davon entfernt, kokettes Spiel zu sein, bezeugt diese Anspielung die Wirkmächtigkeit eines literarischen Modells und erfüllt den sonst so schillernden Begriff literarischer Identifikation mit Leben.“*" (Wikipedia) - *Klaus Graf: ''Veit Warbeck, der Übersetzer der „Schönen Magelone“ (1527) und seine Familie''. Einhorn-Jahrbuch Schwäbisch Gmünd 1986, S. 139
*Babieca ist der Name des legendären Schimmels "des Ritters El Cid aus einem mittelalterlichen spanischen Heldenepos, u. a. erwähnt in Cervantes’ Roman Don Quijote (I.8) und im Zeichentrickfilm El Cid (2003)" (Wikipedia: Liste fiktionaler Tiere)

Literaturgespräch der Geistlichen (Cervantes: Don Quijote)

Das folgende Literaturgespräch ist - aus technischen Gründen - nach der Fassung der Übersetzung der Ausgabe bei Amazon wiedergegeben. Wer die ungekürzte Fassung lesen will, kann bei zeno.org nachlesen.

Und wie mir deucht, gehört diese Art von Schriftstellerei oder Dichtung zur Art jener Milesischen Märchen, welche ungereimte Erzählungen sind, die nur ergötzen und nicht belehren wollen; im Gegensatz zu den Äsopischen Fabeln, welche sowohl ergötzen als auch belehren. Und wenn nun auch der hauptsächliche Zweck solcher Bücher ist zu ergötzen, so weiß ich nicht, wie sie ihn erreichen können, da sie voll so vieler ungeheuerlicher Abgeschmacktheiten sind. Denn das Ergötzen, das der Geist sucht, soll er nur empfinden ob der Schönheit und der richtigen Verhältnisse alles einzelnen, die er an den Dingen findet, wie sie ihm der lebendige Anblick oder die Phantasie vorführt; und alles, was Häßlichkeit und Mißverhältnis in sich hat, kann unmöglich Vergnügen in uns erregen. Nun aber, welche Schönheit oder welches Verhältnis der Teile zum Ganzen kann in einem Buch oder Märchen vorhanden sein, wo ein Junge von sechzehn Jahren einem turmhohen Riesen einen Schwerthieb versetzt und ihn mitten auseinanderhaut, als wäre er von Zuckerteig? Und wie erst, wenn man uns eine Schlacht schildern will, nachdem man gesagt, es stünden auf feindlicher Seite mehr als eine Million Streiter? Falls nur der Held des Buches gegen sie ist, so müssen wir notgedrungen, so ungern wir's auch tun, für wahr annehmen, daß der besagte Ritter den Sieg durch die Tapferkeit seines starken Armes allein davongetragen hat. Und dann, was sollen wir von der leichtsinnigen Bereitwilligkeit sagen, mit der eine Königin oder die Erbin eines Kaisertums sich einem ihr unbekannten fahrenden Ritter an den Hals wirft? [...]
Die Dichtung muß sich mit dem Geiste des Lesers vermählen; das heißt, man muß das Erdichtete so gestalten, daß es das Unmögliche begreiflich macht, das Allzuhohe ebnet, die Geister in Spannung versetzt und mithin uns in solchem Grade Staunen abnötigt, uns aufregt und unterhält, daß Verwunderung und frohe Stimmung stets gleichen Schritt halten. Und all dieses wird der nicht zustande bringen können, der sich von der Wahrscheinlichkeit und der Nachahmung der Wirklichkeit fernhält, worin die Vollkommenheit eines Buches besteht. Nie hab ich ein Ritterbuch gesehen, dessen Dichtung ein einheitliches Ganzes mit all seinen Gliedern gebildet hätte, so daß die Mitte dem Anfang entspräche und das Ende dem Anfang und der Mitte; vielmehr setzen sie die Erzählung aus so viel Gliedern zusammen, daß es eher den Anschein hat, sie beabsichtigen eine Chimära oder sonst ein. widernatürliches Ungetüm zu bilden, als eine Gestalt von richtigen Verhältnissen zu schaffen. [...]
Bald kann er sich als Sterndeuter zeigen, bald als Meister der Erdbeschreibung, bald als Musiker, bald als Kenner der Staatsangelegenheiten; ja, vielleicht kommt ihm einmal die Gelegenheit, sich, wenn er Lust hat, als Schwarzkünstler zu zeigen. Er kann die Verschlagenheit des Odysseus und die Kühnheit des Achilles darstellen, Hektors trauriges Geschick, Sinons Verräterei, die Freundschaft des Euryalus, Alexanders Großmut, den Heldensinn Cäsars, die Milde und Aufrichtigkeit Trajans, die Treue des Zopirus, die Weisheit Catos und, endlich, all jene Tugenden, die einen hochgestellten Mann vollkommen machen können, indem er sie bald in einem einzigen Helden zusammengesellt, bald sie unter viele verteilt. Und wenn dies mit gefälliger Anmut des Stils geschieht und mit sinnreicher Erfindung, die soviel als möglich das Gepräge der Wahrheit trägt, dann wird er ohne Zweifel ein Gewebe weben, aus mannigfachen und reizenden Verschlingungen gebildet, das, wenn es erst zustande gebracht worden, eine solche Vollkommenheit und solchen Reiz der Gestaltung zeigt, daß es das schönste Ziel erreicht, das man in Büchern anstrebt, nämlich zugleich zu belehren und zu ergötzen, wie ich schon bemerkt habe. Denn der zwanglose Stil dieser Bücher gewährt dem Verfasser Freiheit und Raum, sich als epischer, lyrischer, tragischer, komischer Dichter zu zeigen, in der ganzen Vielseitigkeit, die in den holden und heiteren Künsten der Poesie und Beredsamkeit enthalten ist – denn die epische Dichtung läßt sich ebensogut in Prosa als in Versen schreiben. [...]
Was aber vorzugsweise mir die Arbeit aus den Händen nahm, ja mich von dem Gedanken, sie zu vollenden, gänzlich abbrachte, war eine Betrachtung, die ich für mich anstellte und die durch die heutzutage aufgeführten Lustspiele angeregt wurde. Ich sagte mir nämlich: wenn diese Stücke, die man jetzt gibt, sowohl die rein erfundenen als auch die aus der Geschichte entnommenen, alle oder doch meistenteils anerkanntermaßen ungereimtes Zeug sind und weder Hand noch Fuß haben, und wenn trotzdem die Menge sie mit Vergnügen anhört und für gut hält und mit Beifall belohnt, während sie es nicht im entferntesten sind; und wenn die Verfasser, die sie schreiben, und die Schauspieler, die sie aufführen, sagen, sie müßten so sein, weil die Menge sie so und nicht anders haben will; und wenn die Lustspiele, die einen Plan haben und die Handlung folgerichtig entwickeln, wie die Kunst es verlangt, nur für drei, vier einsichtige Leute vorhanden sind, die Verständnis dafür haben, und alle übrigen Hörer ganz verständnislos sind für deren Kunst, und wenn es mithin für die Verfasser und Darsteller viel besser ist, bei der Menge ihr Brot zu verdienen, als bei den wenigen Ruhm zu erwerben: da wird es am Ende mit meinem Buch ebenso gehen, nachdem ich mir die Finger lahmgeschrieben, um die erwähnten Vorschriften zu beobachten, und ich werde am Ende den Schneider von Campillo spielen, der die Hosen unentgeltlich nähte und noch den Zwirn dazugab. Und wiewohl ich die Schauspieler mehrmals zu überzeugen suchte, daß sie mit ihrer Ansicht im Irrtum sind und daß sie mehr Leute anziehen und größeren Ruf erlangen würden, wenn sie Komödien darstellten, die den Regeln der Kunst folgen, als jene Stücke voller Widersprüche und Ungereimtheiten, so halten sie dennoch so fest an ihren Meinungen und sind damit so verwachsen, daß weder vernünftige Erwägungen noch die augenscheinlichsten Tatsachen imstande wären, sie davon abzubringen. [...]
»Euer Gnaden hat einen Gegenstand berührt, Herr Domherr«, sprach hier der Pfarrer, »der in mir einen alten Groll wiedergeweckt hat, den ich gegen die jetzt im Schwange befindlichen Bühnenstücke hege und der nicht minder heftig ist als gegen die Ritterbücher; denn während die Komödie, wie Tullius Cicero meint, ein Spiegel des menschlichen Lebens, ein Lehrbuch der Sitten und ein Bild der Wahrheit sein soll, sind die heutigen Stücke Spiegel der Ungereimtheiten, Lehrbücher der Albernheiten und Bilder der frechen Lüsternheit. Denn welche größere Ungereimtheit ist denkbar auf dem Gebiete, von dem wir sprechen, als daß in der ersten Szene des ersten Aufzugs ein Kind in Windeln erscheint und in der zweiten als ein bereits bärtiger Mann auftritt? Und ist es nicht der ärgste Widersinn, uns einen Greis als tapfern Kämpfer und einen jungen Mann als Feigling darzustellen, einen Lakaien als redegewandt im Wortstreit, einen Edelknaben als Ratgeber, einen König als Taglöhner und eine Prinzessin als Küchenmagd? Was soll ich sodann von der Art sagen, wie die Zeit eingehalten wird, binnen deren die Handlung in diesen Schauspielen vorgehen kann oder konnte, was soll ich anderes sagen, als daß ich manches Drama gesehen habe, wo der erste Aufzug in Europa anfing, der zweite in Asien und der dritte in Afrika zu Ende ging und gewiß, wenn es vier Aufzüge gewesen wären, der vierte in Amerika schließen und also das Stück in allen vier Weltteilen spielen würde? Und wenn tatsächlich die Nachahmung der Wirklichkeit das hauptsächlichste Erfordernis eines Schauspiels ist, wie kann sich ein auch nur mittelmäßiger Kopf befriedigt fühlen, wenn bei einer Handlung, die der Dichter in die Zeiten des Königs Pippin und Karls des Großen verlegt, als Hauptperson der Kaiser Heraklius auftritt, der mit dem Kreuz in Jerusalem einzieht und das Heilige Grab erobert wie Gottfried von Bouillon, während doch zahllose Jahre zwischen diesem und jenem Ereignis liegen; und wenn man demselben Drama, während es sich auf reine Erfindung gründet, hier etliche geschichtliche Tatsachen beigibt und dort Bruchstücke von ändern beimischt, die sich bei verschiedenen Personen und zu verschiedenen Zeiten ereignet haben, und dies nicht etwa nach einem die Wahrscheinlichkeit beachtenden Plan, sondern mit offenbaren, in jeder Beziehung unentschuldbaren Irrtümern? Und das Schlimme dabei ist, daß es einfältige ungebildete Menschen gibt, die da sagen, das eben sei das Vollkommene, und mehr wollen heiße ganz besondere Leckerbissen begehren. [...] und darum sucht der Dichter sich dem anzubequemen, was der Schauspieler, der ihm seine Arbeit bezahlen soll, von ihm verlangt. Und daß dieses reine Wahrheit ist, kann man aus den vielen, ja unzähligen Schauspielen ersehen, die einer der reichstbegabten Geister dieser Lande mit solcher Anmut und solchem Witz gedichtet hat, in so schönen Versen, mit so geistvollen Gesprächen, mit so bedeutsamen Lehrsprüchen, kurz, so voller Beredsamkeit und Erhabenheit des Stils, daß er die Welt mit seinem Ruhm erfüllt. Aber weil er sich den Wünschen der Schauspieler anbequemen wollte, haben seine Stücke nicht sämtlich, wie es doch mit einigen geschehen, den Grad der Vollkommenheit erreicht, den sie eigentlich haben müßten. [...]
Aber all diese Unzuträglichkeiten und noch viele andre, die ich nicht erwähne, würden aufhören, wenn in der Residenz ein einsichtiger, erfahrener Mann da wäre, der alle Bühnenstücke vor der Aufführung zu prüfen hätte, nicht nur diejenigen, welche in der Hauptstadt, sondern alle, die in ganz Spanien zur Aufführung kommen sollen; und wenn sodann ohne solche Genehmigung mit Siegel und Unterschrift keine Behörde die Aufführung eines Schauspiels in ihrem Amtsbereich erlaubte, dann würden die Schauspieler die Stücke erst nach der Hauptstadt senden und könnten sie alsdann in aller Sicherheit aufführen, und die Verfasser würden mit mehr Sorgfalt und Fleiß ihre Werke gründlich überdenken, da sie stets die strenge Prüfung ihrer Stücke durch einen Sachkenner vor Augen hätten;  [...]
(Cervantes: Don Quijote)

Sancho Pansa erhofft weiterhin Wundertaten von Don Quijote

Da Don Quijote nicht weiter durch die angebliche Prinzessin getäuscht werden kann, beschließen Pfarrer und Barbier, ihn als Gefangenen nach Hause zurück zu schaffen. Sie fesseln ihn und stecken ihn in einen Käfig, den sie auf einem Ochsenwagen nach La Mancha fahren.  Don Quijote glaubt sich verzaubert, Sancho Pansa glaubt nicht daran, aber weiterhin an Wundertaten von Don Quijote.

Sancho Pansa, der herbeigekommen war, um das Gespräch mit anzuhören, krönte nun noch das Werk, indem er sagte: »Ihr mögt nun, mein Herr, das, was ich sprechen will, gut oder übel nehmen, so ist es doch wahr, mein Herr Don Quixote ist sowenig verzaubert wie meine Mutter; er hat seinen vollkommenen Verstand, er ißt und trinkt und verrichtet seine Notdurft wie die übrigen Menschen, und wie er es gestern tat, ehe er in dem Vogelbauer saß. Wenn das nun ist, wie wollt Ihr mir denn weismachen, er wäre verzaubert? denn ich habe mir von allen Leuten sagen lassen, daß die Verzauberten weder essen noch schlafen, noch sprechen, und mein Herr, wenn es ihm gerät, wird gleich mehr als dreißig Sachwalter reden.« Er wandte sich hierauf um, sah den Pfarrer an und fuhr so fort: »Ei, Herr Pfarrer, Herr Pfarrer! Denkt Ihr denn, daß ich Euch nicht kenne? Denkt Ihr denn, daß ich das nicht einsehe und begreife, wohinaus Ihr mit diesen Euren Verzauberungen wollt? Ja, ja, ich kenne Euch, wenn Ihr das Gesicht auch noch so sehr verdeckt, denn ich weiß, was Ihr wollt, wenn Ihr das Ding auch noch so fein anfangt. Denn mit einem Worte, wo der Neid herrscht, da kann die Tugend nicht leben, und wo ein Geizhals Herr ist, da ist keine Freigebigkeit zu finden. Der Teufel hat sich dazwischengegeben,[409] denn wenn Euer Ehrwürden nicht gewesen wären, so wäre schon in dieser Stunde mein Herr mit der Mikomikonischen Infantin verheiratet, und ich wäre zum wenigsten Graf, denn was Geringeres konnte ich nicht von meinem gütigen Herrn Traurige Gestalt und von der Größe meiner geleisteten Dienste erwarten; aber jetzt sehe ich, daß das wahr ist, was man wohl zu sagen pflegt, daß das Glücksrad schneller läuft als ein Mühlenrad und daß das, was gestern oben in den Lüften war, heute unten auf der Erde ist. Es ärgert mich nur wegen meiner Kinder und meiner Frau, denn wenn sie nun mit vollem Rechte erwarten können, daß ihr Vater durch die Tür als Statthalter hereintritt oder als Vizekönig von einer Insel oder einem Reiche, so kömmt er dafür als Pferdeknecht wieder. Was ich gesagt habe, Herr Pfarrer, soll nur dazu dienen, Euer Ehrwürden das Gewissen ein bißchen zu schärfen, weil Ihr meinem Herrn so schlecht begegnet und Euch Gott auch einmal in jenem Leben wegen der Gefangennehmung meines Herrn zur Rechenschaft ziehen kann, da Ihr jetzt alle edle Taten und Hülfeleistungen vereitelt, die mein Herr Don Quixote in der Zeit seiner Gefangenschaft vollbringen könnte.«
»Hier gäb es noch eine Nase zu putzen«, sagte hierauf der Barbier, »so seid Ihr denn auch, Sancho, von der Brüderschaft Eures Herrn? Beim Himmel, es täte not, daß Ihr ihm im Käfige Gesellschaft leistetet und bezaubert würdet wie er, weil Euch seine Ritterschaft ebenfalls angesteckt hat. Ihr geht zu Eurem Unglück mit seinen Versprechungen schwanger, und zu Eurem Unglück ist Euch die Insel in den Kopf gestiegen, nach der Ihr so gierig seid.«
»Ich bin von niemandem schwanger«, antwortete Sancho, »und ich bin nicht der Mann darnach, daß ich mich schwängern ließe, und wenn es der König wäre; und wenn ich auch arm bin, so bin ich doch ein alter Christ und keinem was schuldig, und wenn ich Inseln haben will, so wollen andere Leute wohl noch was Schlimmeres haben; jeder hat seine Taten zu verantworten, und wenn ich nur ein Mensch bin, so kann ich wohl Papst werden, wieviel mehr Statthalter einer Insel, vollends wenn mein Herr so viele gewinnt, daß er nicht weiß, wo er damit hin soll. Überlegt Eure Reden ins künftige, Herr Barbier, denn das ist noch nicht alle Kunst in der Welt, den Bart zu putzen, Ihr habt noch manches zu lernen, denn es ist noch nicht aller Tage Abend. Ich sage das nur, weil wir uns alle kennen, und daß ich mich auf kein falsches Spiel einlasse, in Ansehung der Verzauberung meines Herrn, so weiß Gott die Wahrheit, und dabei wollen wir's bewenden lassen, denn es stinkt noch mehr, wenn wir's umrühren.«
(Cervantes: Don Quijote, 1. Teil 5. Buch 6. Kapitel)

11 Juni 2016

Nachgemerkt

Lektüren, die ich nur angelesen habe, auf die ich aber zurückkommen können will:

Mara Hvistendahl: „Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen, 2013
160 Millionen nicht geborene Chinesinnen; Frauenhandel von Vietnam nach Südkorea und Taiwan. In den USA wird über PID auf Mädchen hin selektiert, 75-80% Mädchen gewünscht (bessere Schulleistungen, weniger aggressiv)

Hermann FischerStoff-Wechsel Auf dem Weg zu einer solaren Chemie für das 21. Jahrhundert, 2012


Michael J. Sandel: „Was man für Geld nicht kaufen kann – Die moralischen Grenzen des Marktes“, 2012


Joseph E. Stiglitz Der Preis der Ungleichheit Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, 2012

Tanja & Johnny Haeusler Netzgemüse Aufzucht und Pflege der Generation Internet, 2012


Doug Saunders Arrival City Über alle Grenzen hinweg ziehen Millionen Menschen vom  Land in die Städte. Von ihnen hängt unsere Zukunft ab, 2011









07 Juni 2016

Schluss der Geschichte vom Algeriersklaven

Es waren noch keine vierzehn Tage verflossen, als unser Renegat schon eine gute Barke gekauft hatte, die wohl dreißig Personen fassen konnte. Um nun der Sache einen Schein zu geben, machte er wirklich eine Reise nach einem Orte, der Sargel heißt und der dreißig Meilen von Algier nach der Gegend von Oran liegt, wo ein großer Handel mit Feigen getrieben wird. Er machte diese Reise zwei- oder dreimal in der Gesellschaft des Tagariners. Tagariner heißen in der Barbarei die Mohren aus Aragon, die aus Granada Muxedares; im Königreiche Fez heißen die Muxedares Elches, die der König hauptsächlich zu Soldaten im Kriege braucht.
Jedesmal, sooft er mit seiner Barke ausfuhr, landete er an einer Stelle, die kaum zwei Musketenschüsse von dem Garten entfernt lag, in dem sich Zoraida aufhielt; dort ließ der Renegat seine Mohren rudern, die Schiffsbegrüßung machen und das aus Scherz tun, was er nachher in Ernst vorzunehmen gedachte, darum begab er sich auch nach dem Garten der Zoraida und bat um Früchte, die der Vater ihm gab, ohne ihn zu kennen; er wollte auch die Zoraida sprechen, wie er mir nachher erzählte, um ihr zu sagen, daß er derjenige sei, der sie auf meinen Befehl in die Christenheit führen solle, und daß sie vergnügt sein möchte und sich auf ihn verlassen; aber es war ihm unmöglich, denn die Mohrinnen lassen sich vor keinem Mohren oder Türken sehen, wenn nicht ihr Gemahl oder ihr Vater es ihnen befiehlt; mit den Christensklaven aber gehen sie um, und oft mehr, als es die Klugheit erlaubt; ich würde auch in Sorgen gestanden haben, wenn er sie wirklich gesprochen hätte, denn vielleicht wäre sie erschrocken, wenn sie die Unternehmung in den Händen eines Renegaten gesehen hätte; doch Gott fügte es anders, denn der Renegat fand keine Gelegenheit, seinen Vorsatz auszuführen, er sah nun, daß er sicher nach Sargel schiffen und zurückkommen konnte, wie er Anker werfen könne, und wo er nur wolle, und daß der Tagariner, sein Gefährte, keinen andern Willen habe als er selber, daß ich schon losgekauft war, und wie jetzt nur noch einige Christen zum Rudern fehlten. Er sagte mir daher, daß ich noch, außer den Ausgelösten, welche suchen möchte, die mit uns gingen, die ich auf den nächsten Freitag bestellen solle, an welchem wir unsere Abreise beschlossen hatten. Als es so weit gediehen war, nahm ich mit zwölf Spaniern Abrede, alle starke, zum Rudern tüchtige Leute, und die noch am freiesten aus der Stadt gehen konnten. Es war ein großes Glück, daß ich so viele traf, denn es waren zwanzig Schiffe auf Beute ausgelaufen und hatten alle Ruderer mitgenommen; ich hätte auch diese nicht gefunden, wenn ihr Herr in diesem Sommer nicht zu Hause geblieben wäre, ohne auf Beute auszugehen, um eine Galeere fertigzumachen, die auf der Werfte lag. Diesen sagte ich weiter nichts, als daß sie sich am künftigen Freitag nach der Dämmerung einer nach dem andern herausschleichen sollten, sich auf dem Wege nach dem Garten des Agi Morato versammeln und dort so lange warten, bis ich kommen würde. Jedem sagte ich insbesondere, daß, wenn er andere Christen dort träfe, er nur sagen möchte, ich hätte befohlen, dort zu warten.
Da dies getan war, blieb mir noch etwas, und zwar das Wichtigste, zu tun übrig, nämlich Zoraida zu benachrichtigen, wie weit es mit unserer Unternehmung gekommen sei, damit sie nicht übereilt würde und erschräke, wenn sie uns plötzlich viel früher sähe, als sie glauben konnte, daß schon eine Barke aus einem christlichen Lande angekommen sei. Ich beschloß, in den Garten zu gehen und die Gelegenheit zu suchen, sie zu sprechen. Unter dem Vorwand also, einige Kräuter zu pflücken, begab ich mich den Tag vor unserer Abreise dorthin, und der erste, der mir aufstieß, war ihr Vater, der mich in der Sprache anredete, die in der ganzen Barbarei und auch in Konstantinopel zwischen den Sklaven und Mohren gesprochen wird und die weder mohrisch noch spanisch, noch irgendeine andere Sprache ist, sondern ein Gemisch aus allen Sprachen, mit dem man sich gegenseitig versteht. In dieser Sprache also fragte er mich, was ich in seinem Garten suche und wem ich angehöre. Ich antwortete, daß ich ein Sklave des Arnauti Mami sei, denn ich wußte, daß dieser sein Freund war, und ich suche Kräuter, um einen Salat zu bereiten. Er fragte mich weiter, ob ich mich auslösen wolle oder nicht und wieviel mein Herr für mich verlange.
»Indem wir so miteinander sprachen, kam die schöne Zoraida aus dem Gartenhause, die mich schon längst bemerkt hatte, und da die Mohrinnen kein Bedenken tragen, sich den Christen zu zeigen, und ihnen niemals ausweichen, so kam sie auch gerade auf die Gegend zu, wo ich mit ihrem Vater stand; da dieser sie aus der Ferne bemerkte, rief er sie auch herbei, daß sie zu uns kommen möchte. Ich kann unmöglich jetzt die große Schönheit, den Anstand und den reichen und kostbaren Schmuck beschreiben, womit sich meine geliebte Zoraida meinen Augen zeigte; es hingen mehr Perlen an ihrem schönen Halse, in den Ohren und Haaren, als sie Haare auf dem Haupte hatte. Um die Knöchel der Füße, die sie nach dortiger Weise entblößt trug, hatte sie zwei Spangen vom feinsten Golde, mit so vielen Diamanten besetzt, daß ihr Vater, wie sie mir nachher erzählt hat, diese allein auf zehntausend Dublonen schätzte; um die Gelenke der Hand trug sie ähnliche Kleinodien von gleichem Werte. Die Perlen waren ungemein schön und in ungeheurer Menge, denn der größte Putz bei Mohren besteht darin, sich mit kostbaren großen und kleinen Perlen zu schmücken, darum gibt es auch bei den Mohren mehr Perlen als bei allen übrigen Nationen; und der Vater der Zoraida war dafür bekannt, die meisten und schönsten in Algier zu besitzen; außerdem schätzte man sein Vermögen auf mehr denn zweimalhunderttausend spanische Taler; von allem diesen war diejenige Gebieterin, die jetzt die Meinige ist. Ob sie mit so vielem Schmucke, in vollem Glücke schön erscheinen konnte, mögt Ihr aus dem schließen, was sie noch nach so vielen überstandenen Leiden ist, denn es ist bekannt, daß die Schönheit der Frauen nach Tagen und Zeiten wechselt und durch Zufälle vermindert oder vermehrt werden kann; auch ist es natürlich, daß die Leidenschaften der Seele sie erhöhen oder erniedrigen, oft selbst vernichten. Damals kam sie in aller ihrer Lieblichkeit auf uns zu, in der schönsten Herrlichkeit, oder wenigstens schien sie mir das Höchste, was ich bis dahin gesehen hatte; bei ihrem Anblicke fiel es mir zugleich ein, wieviel ich ihr zu danken habe, so daß sie mir wie eine Gottheit des Himmels vorkam, die zu meiner Freude und Errettung auf die Erde heruntergestiegen sei. Wie sie uns näher kam, sagte ihr Vater in ihrer Sprache, daß ich ein Sklave des Arnaute Mami sei und daß ich gekommen sei, Salat zu pflücken. Sie nahm das Wort und fragte mich hierauf in jener vermischten Sprache, ob ich ein Ritter sei und warum ich mich nicht loskaufe. Ich antwortete ihr, daß ich schon ausgelöst sei und daß sie aus der Ranzion sehen könne, wie hoch mich mein Herr schätzte, denn ich hätte ihm tausendundfünfhundert Soltanen geben müssen. Worauf sie antwortete: ›Wahrlich, hättest du meinem Vater gehört, so würde ich es nicht zugegeben haben, daß er dich für die doppelte Summe freigegeben hätte, denn ihr Christen lügt immer und macht euch nur arm, um die Mohren zu betrügen.‹
›Das mag wohl sein, Señora‹, antwortete ich; ›ich aber habe meinen Herrn aufrichtig behandelt, so wie ich es immer getan habe und stets mit allen Menschen aufrichtig handeln werde.‹
›Und wann reisest du?‹ fragte Zoraida.
›Ich glaube morgen‹, sagte ich, ›denn es ist ein französisches Schiff hier, das morgen unter Segel geht, und ich bin willens, mit diesem zu reisen.‹
›Ist es nicht besser‹, versetzte Zoraida, ›ein spanisches Schiff zu erwarten und mit diesem zu fahren als mit einem französischen, da die Franzosen nicht eure Freunde sind?‹
›Nein‹, antwortete ich, ›wüßte ich gewiß, daß ein spanisches Schiff ankommen würde, so würde ich es erwarten, aber sicherer ist es, morgen zu reisen, denn der Wunsch, mein Vaterland und geliebte Menschen wiederzusehen, ist so heftig in mir, daß ich auf keine andere spätere Gelegenheit warten kann, wenn sie auch noch so gut wäre.‹
›Du bist gewiß in deinem Vaterlande verheiratet‹, fragte Zoraida, ›und darum wünschest du die Abreise so sehr, um deine Gattin wiederzusehen?‹
›Ich bin nicht verheiratet‹, antwortete ich, ›aber ich habe mein Wort gegeben, mich zu vermählen, sobald ich in meinem Lande angelangt bin.‹
›Und ist denn die Dame schön, mit der du dich versprochen hast?‹ fragte Zoraida.
›Sie ist so schön‹, antwortete ich, ›daß, um sie dir recht wahrhaft zu schildern, sie dir sehr ähnlich sieht.‹
Hierüber lachte der Vater von Herzen und sagte: ›Beim Allah, Christ, so muß sie sehr schön sein, wenn sie meiner Tochter ähnlich sieht, denn diese ist die Schönste im Königreich; betrachte sie nur genau, und du wirst sehen, daß ich recht habe.‹
Bei den meisten dieser Worte und Redensarten diente uns der Vater der Zoraida, als der größere Sprachkundige, zum Dolmetscher, denn ob sie gleich so ziemlich die Bastardsprache, die dort gewöhnlich ist, reden konnte, so gab sie ihre Meinung doch mehr durch Zeichen als mit Worten zu verstehen.
Indem wir dies und anderes sprachen, kam ein Mohr in vollem Rennen daher und schrie mit lauter Stimme, daß vier Türken über die Gartenmauer gesprungen wären, die noch unreife Früchte abrissen. Der Alte erschrak, nicht weniger Zoraida, denn alle Mohren fürchten sich sehr vor den Türken, vorzüglich vor den Soldaten, die so unverschämt sind und sich eine solche Herrschaft über die Mohren anmaßen, daß sie sie härter als ihre Sklaven behandeln. Der Vater sagte hierauf zu Zoraida: ›Mein Kind, geh in das Haus zurück und verschließ dich dort, indes ich mit diesen Bestien rede; du, Christ, suche deine Kräuter, reise glücklich, und Allah führe dich in dein Vaterland zurück.‹
Ich verneigte mich, und er ging fort, um die Türken aufzusuchen, indem er mich mit Zoraida allein ließ, die sich stellte, als wenn sie fortginge, wohin es der Vater ihr befohlen hatte; dieser aber hatte sich kaum in den Baumgängen verloren, als sie sich zu mir wandte und mit Tränen in den Augen sagte: ›Tamexi, Christ, tamexi?‹, welches soviel heißt, du gehst fort, Christ, du gehst?
Ich antwortete: ›Ja, Señora, aber nicht ohne dich; erwarte mich am ersten Juma und erschrick nicht, wenn du uns siehst, denn wir wollen dich gewiß in die Christenheit führen.‹
Ich sagte ihr dies so, daß sie mich sehr gut verstand, und indem sie einen Arm um meinen Hals schlang, begab sie sich mit ohnmächtigen Schritten auf den Weg nach dem Hause, und der Zufall fügte es – der sehr übel ausschlagen mochte, daß sich alles in Unglück hätte endigen können, wenn es der Himmel nicht anders gelenkt hätte –, daß, indem wir beide in dieser Stellung fortgingen, sie ihren Arm um meinen Hals geschlungen, uns der Vater, der schon, da er die Türken fortgeschafft hatte, wieder zurückkam, in dieser Stellung sah, und wir bemerkten auch, daß er uns gesehen habe. Zoraida aber nahm vorsichtig nicht ihren Arm von meinem Halse herunter, sondern sie lehnte sich noch mehr auf mich und ließ ihren Kopf auf meine Brust sinken, indem sie die Knie etwas beugte, so daß es schien, sie sei ohnmächtig geworden, und ich stellte mich ebenfalls, als wenn ich sie gegen meinen Willen hielte. Ihr Vater kam schnell zu uns gelaufen, und da er seine Tochter in diesem Zustande sah, fragte er, was ihr sei; da sie aber keine Antwort gab, sagte der Vater: ›Gewiß hat sie der Einbruch dieser Bestien erschreckt, daß sie ohnmächtig geworden ist.‹ Er nahm sie aus meinen Armen und drückte sie an seine Brust, sie aber seufzte, und mit Augen, die noch von Tränen naß waren, sagte sie noch einmal zu mir: ›Amexi, Christ, amexi‹; geh, Christ, geh! Worauf ihr Vater antwortete: ›Der Christ braucht nicht zu gehen, mein Kind, denn er hat dir kein Leid zugefügt, und die Türken sind schon weggegangen; sei ohne Sorgen, du hast nun nichts mehr zu furchten, denn, wie gesagt, die Türken haben sich auf meine Bitte schon wieder entfernt.‹
›Diese haben sie in Schrecken gesetzt, Herr, wie du gesagt hast‹, redete ich zu ihrem Vater, ›da sie aber will, daß ich fortgehen soll, will ich ihr keinen Verdruß machen, und wenn du es vergönnst, komme ich vielleicht wieder in den Garten, wenn noch Kräuter nötig sein sollten, denn mein Herr sagte, daß nirgend so guter Salat wächst als hier.‹
›Du kannst wiederkommen, sooft du willst‹, sagte Agi Morato, ›denn meine Tochter hat das nicht gesagt, weil sie dich oder die Christen nicht leiden möchte, sondern sie wollte nur sagen, die Türken sollten fortgehen, und darum sagte sie zu dir, du möchtest gehen, oder sie hat dich auch erinnern wollen, deinen Salat zu suchen.‹
Hierauf nahm ich von beiden Abschied, und sie ging mit tiefbewegter Seele mit ihrem Vater fort; unter dem Anscheine, Kräuter zu suchen, durchstrich ich nun den ganzen Garten, ich beobachtete die Ein-und Ausgänge, die Festigkeit des Hauses, und welche Gelegenheiten unsere Unternehmung erleichtern könnten.
Da dies getan war, gab ich dem Renegaten und meinen Gefährten von allem Nachricht, ich konnte die Stunde nicht erwarten, in der ich mit Sicherheit die schöne Zoraida, die das Schicksal mir gönnte, die Meinige nennen konnte.
Endlich erschien der Tag und die uns allen so sehr erwünschte Stunde, wir folgten ganz dem klugen Plane, den wir seit lange entworfen hatten, und er schlug nach unserem Wunsche aus, denn am Freitage, der auf den Tag folgte, an welchem ich Zoraida im Garten gesprochen hatte, legte mit der Dämmerung mein Renegat die Barke dem Aufenthalte der schönen Zoraida gegenüber vor Anker. Schon waren die Christen, die rudern sollten, aus der Stadt und an verschiedenen Stellen dortherum zerstreut. Alle waren voll ungewisser Hoffnung, indem sie mich erwarteten; sie hatten Lust, das Schiff, das vor ihren Augen dalag, anzugreifen, denn sie wußten nicht, daß ich mit dem Renegaten einverstanden war, sondern sie meinten, sie müßten durch die Stärke ihres Armes die Freiheit erobern und die Mohren umbringen, die sich in der Barke befanden. Sowie ich mich nun mit meinen Gefährten zeigte, versammelten sich alle um uns her, die sich bisher zerstreut und verborgen gehalten hatten. Die Stadt war um die Zeit schon verschlossen, und kein Mensch ließ sich auf dem Felde sehen.
Als wir beieinander waren, stritten wir, ob es besser sei, erst zu Zoraida zu gehen oder vorher die Mohren zu überwältigen, die in der Barke ruderten; indem wir noch ungewiß waren, kam der Renegat und sagte, daß wir nicht länger warten möchten, denn es sei nun Zeit, alle seine Mohren wären in völliger Sicherheit und die meisten schliefen. Ich sagte ihm, weswegen wir noch warteten, und er antwortete, das wichtigste sei, sich zuerst des Fahrzeuges zu bemächtigen, und daß man dies mit Sicherheit und ohne alle Gefahr tun könnte, dann sollten wir sogleich zu Zoraida gehen. Wir alle waren seiner Meinung, und ohne uns länger aufzuhalten, zogen wir unter seiner Anführung nach dem Schiffe; er sprang zuerst hinein, den Säbel in der Faust, und rief auf mohrisch: ›Keiner rühre sich, wenn es ihm nicht das Leben kosten soll!‹ Zugleich waren auch alle Christen hineingedrungen. Die Mohren, die wenig Mut hatten und ihren Anführer so reden hörten, waren erschrocken, und ehe daß einer zu den Waffen griff, deren sie überhaupt nur wenige bei sich hatten, ließen sie sich, ohne ein Wort zu sprechen, von den Christen binden, welches diese in großer Schnelligkeit taten und die Mohren bedrohten, daß, wenn sie auf irgendeine Art Lärm machten, sie augenblicks über die Klinge springen müßten.
Da dies getan war, blieb die Hälfte der Unsrigen zur Bewachung zurück, wir übrigen begaben uns wieder unter Anführung des Renegaten nach dem Garten des Agi Morato, und das Glück wollte uns so wohl, daß sich die Tür mit so großer Leichtigkeit eröffnen ließ, als wenn sie gar nicht verschlossen gewesen, und so, ohne irgend Geräusch zu machen, kamen wir nach dem Hause, indem uns niemand bemerkte. Die schöne Zoraida wartete unserer schon an einem Fenster, und sowie sie Leute hörte, fragte sie mit leiser Stimme, ob wir Nazarener seien, womit sie meinte, ob wir Christen wären. Ich antwortete mit Ja, und daß sie herunterkommen möchte. Als sie mich erkannte, weilte sie nicht länger, sondern ohne ein Wort zu sprechen, kam sie in einem Augenblicke herab, öffnete die Tür und zeigte sich uns so schön und in so kostbarer Kleidung, daß es keine Beschreibung darstellen kann. Sowie ich sie sah, nahm ich ihre Hand und küßte sie, der Renegat und meine beiden Gefährten taten das nämliche, und die übrigen, die den Zusammenhang nicht wußten, taten das, was sie uns tun sahen, so daß es war, als wenn wir alle ihr Dank sagten und sie für die Urheberin unserer Freiheit erkannten. Der Renegat fragte sie in mohrischer Sprache, ob ihr Vater im Garten sei. Sie antwortete ja, daß er aber schliefe. ›So müssen wir ihn aufwecken‹, versetzte der Renegat, ›und ihn mit uns nehmen, nebst allem, was sich in diesem Garten an Kostbarkeiten findet.‹
›Nein‹, sagte sie, ›an meinem Vater dürft ihr euch durchaus nicht vergreifen, auch findet sich in diesem Hause nichts weiter, als was ich mit mir nehme, welches hinreicht, euch alle reich und zufrieden zu machen, wartet ein wenig, und ihr sollt es sehen.‹ Mit diesen Worten ging sie wieder hinein und sagte uns, daß sie gleich zurückkommen würde, wir sollten stehenbleiben und kein Geräusch machen. Ich fragte den Renegaten, was er mit ihr gesprochen habe, worauf er es mir erzählte. Ich sagte hierauf, daß er durchaus nichts anderes tun solle, als wie es Zoraida beföhle. Diese kam indes schon mit einem Kästchen voll goldener Taler zurück, so daß sie es kaum tragen konnte.
Das Unglück fügte es so, daß ihr Vater in diesem Augenblicke erwachte und ein Geräusch im Garten vernahm; er erschien am Fenster, und sowie er sah, daß diejenigen im Garten Christen waren, rief er mit lauter und entsetzlicher Stimme auf arabisch: ›Christen! Christen! Räuber! Räuber!‹ Durch dieses Geschrei sahen wir uns plötzlich in die größte Gefahr versetzt. Da der Renegat dies schnell faßte, und wieviel darauf ankam, fortzukommen, ehe Lärm würde, lief er plötzlich zum Agi Morato hinauf, und mit ihm einige von den Unsrigen, denn ich durfte Zoraida nicht verlassen, die halb ohnmächtig in meinen Armen lag. Die hinaufgelaufen waren, machten so schnelles Spiel, daß sie den Augenblick mit Agi Morato herunterkamen, dem die Hände gebunden waren und der Mund mit einem Tuche verstopft, so daß er kein Wort hervorbringen konnte, wobei man ihm drohete, daß, wenn er ein Wort sagte, es ihm das Leben kosten würde. Als die Tochter ihn sah, bedeckte sie die Augen, um ihn nicht zu sehen, und der Vater war voll Verwunderung, weil er nicht wußte, daß sie sich mit ihrem Willen in unseren Händen befand; jetzt waren uns aber die Füße am nötigsten, wir liefen daher mit der größten Schnelligkeit zur Barke, indem uns jene, die dort geblieben waren, schon erwarteten und in Furcht standen, daß uns ein Unglück zugestoßen sei.
Es waren noch keine zwei Stunden von der Nacht verflossen, als wir auch schon alle in der Barke waren, wo man dem Vater der Zoraida die Hände frei machte und ihm das Tuch aus dem Munde nahm; der Renegat drohte ihm aber von neuem, daß, wenn er ein Wort sagte, wir ihm das Leben nehmen würden. Wie er seiner Tochter ansichtig ward, fing er an auf das kläglichste zu weinen, vorzüglich als er sah, daß ich sie fest in meinen Armen eingeschlossen hielt und daß sie, ohne sich zu sträuben, zu klagen oder nur auszuweichen, ruhig blieb, aber dennoch schwieg er still, damit die Drohungen des Renegaten nicht in Erfüllung gehen möchten. Wie sich nun Zoraida in der Barke sah, und daß wir zu rudern anfangen wollten, und wie sie ihren Vater und die festgebundenen Mohren wahrnahm, sagte sie dem Renegaten, daß er mich bitten möchte, die Mohren loszubinden und ihren Vater frei zu machen, denn sie würde sich eher ins Meer stürzen, als vor ihren Augen und ihretwegen einen Vater gefangen zu sehen, der sie immer so sehr geliebt habe. Der Renegat sagte mir dies, und ich antwortete, daß ich es zufrieden sei, er aber erwiderte, daß man dies nicht könne, denn wenn man sie dort ließe, würden sie sogleich das Land und die Stadt in Aufruhr bringen und verursachen, daß man uns mit einigen leichten Fregatten nachsetzte, man würde uns Land und Meer abschneiden, wodurch wir dann unmöglich entwischen könnten; man könne ihnen aber wohl die Freiheit geben, sobald wir an ein christliches Land gekommen seien.
In diese Meinung stimmten wir alle ein, und Zoraida – der dies und die Ursachen gesagt wurden, weshalb wir nicht sogleich ihren Wunsch erfüllten – war auch damit zufrieden, und zugleich griffen alle stillschweigend und mit freudigem Mute zu den Rudern; wir empfahlen uns Gott von ganzem Herzen und schifften nach der Gegend der Insel Majorca, die das nächste christliche Land ist. Ein starker Wind aber fing an uns entgegenzuwehen, und das Meer wurde so stürmisch, daß es nicht möglich war, die Fahrt nach Majorca fortzusetzen; wir waren also gezwungen, dicht am Lande nach der Gegend von Oran fortzurudern, indem wir immer besorgen mußten, von Sargel aus entdeckt zu werden, welches auf dieser Küste sechzig Meilen von Algier entfernt liegt, so wie wir auch befürchten mußten, auf diesem Wege einer von den Galeeren zu begegnen, die mit Kaufmannsgütern von Tetuan kommen, obgleich wir alle glaubten, daß, wenn uns ein Kauffahrteischiff begegnete, vorausgesetzt, daß es kein Korsar sei, wir uns wohl halten oder gar das andere Schiff erobern könnten, in welchem wir dann unsere Reise sicherer fortsetzen würden. Zoraida hielt indes immer ihren Kopf in meinen Händen, um ihren Vater nicht zu sehen, und ich hörte, wie sie Lela Marien um Beistand anrief.[362]
Wir mochten wohl dreißig Meilen gefahren sein, als der Morgen anbrach und wir uns nur drei Musketenschüsse vom Lande entfernt sahen, die ganze Gegend war einsam und kein Mensch zu sehen, der uns hätte verraten können; aber dennoch ruderten wir mit aller Gewalt weiter in das hohe Meer hinein, das nun schon beruhigter war, und nachdem wir zwei Meilen gefahren waren, sagte ich, daß wir abwechselnd rudern wollten, um essen zu können, denn wir hatten unsere Barke gut versehen; diejenigen aber, die am Ruder saßen, sagten, daß noch keine Zeit wäre, um auszuruhen, die übrigen, die nicht ruderten, möchten nur essen, sie wollten die Arbeit durchaus nicht fahrenlassen. So geschah es, und zu gleicher Zeit fing ein starker Wind an zu wehen, so daß wir die Segel aufspannen und das Rudern unterlassen mußten, worauf wir uns nach Oran wandten, weil jede andere Richtung unmöglich war. Dies alles geschah sehr schnell, und so segelten wir in einer Stunde wohl acht Meilen, indem wir nichts weiter fürchteten, als daß uns ein Korsar begegnen möchte. Den Mohren gaben wir Speise, und der Renegat tröstete sie, daß sie keine Gefangenen wären, sondern daß sie mit der ersten Gelegenheit ihre Freiheit haben sollten. Dasselbe sagte er dem Vater der Zoraida, welcher antwortete: ›Ich kann, Ihr Christen, von Eurer Freigebigkeit und Eurem guten Willen jedwedes andere Geschenk erwarten, haltet mich aber nicht für so einfältig, daß ich glauben sollte, Ihr würdet mir die Freiheit geben, denn wie hättet Ihr mich mit so großer Gefahr fortgeführt, wenn Ihr mich loslassen wolltet? Da Ihr außerdem wißt, wer ich bin und wie teuer ich meine Freiheit erkaufen kann; nennt nur den Preis, und ich will Euch alles für mich und für diese meine unglückselige Tochter bewilligen, oder auch für sie allein, denn sie ist die größere und bessere Hälfte meiner Seele.‹
Bei diesen Worten fing er an, so bitterlich zu weinen, daß wir alle zum Mitleid bewegt wurden und Zoraida gezwungen ward, ihn anzusehen; da sie nun seine Tränen sah, wurde sie so sehr gerührt, daß sie von mir ging und ihren Vater umarmte, sie drückte ihr Gesicht an das seinige, und beide fingen ein so herzliches Wehklagen an, daß viele von denen, die zugegen waren, ebenfalls weinen mußten.
Als ihr Vater sie aber so festlich geschmückt und mit so vielen Juwelen bedeckt sah, sagte er in ihrer Sprache zu ihr: ›Was ist dies, meine Tochter? Gestern, ehe uns dies gegenwärtige fürchterliche Unglück betroffen hatte, sah ich dich in deinen gewöhnlichen häuslichen Kleidern, und jetzt, ohne daß du Zeit hattest, dich anzukleiden, und ohne daß ein Glücksfall dir Veranlassung gab, dich zu putzen und zu schmücken, seh ich dich in deinem herrlichsten Schmuck, den ich dir nur jemals schenken konnte, als das Glück uns am günstigsten war? Antworte mir hierauf, denn es verwundert und erstaunt mich noch viel mehr als das Unglück, in welchem ich mich befinde.‹
Alles, was der Mohr zu seiner Tochter sprach, erklärte uns der Renegat, und sie antwortete mit keinem Laut. Als er aber in einem Winkel der Barke das Kästchen sah, in welchem sie ihre Juwelen aufzuheben pflegte und wovon er wußte, daß es in Algier zurückgeblieben und nicht mit nach dem Garten genommen sei, geriet er in noch größere Verwirrung und fragte, wie das Kästchen in unsere Hände geraten wäre und was sich darin befinde. Worauf der Renegat, ohne Zoraida antworten zu lassen, so antwortete: ›Sei ruhig, Herr, und frage deine Tochter Zoraida dergleichen Sachen nicht, denn ich will dir mit einem Male alles beantworten; wisse also, daß sie eine Christin ist, daß sie uns von unseren Ketten erlöste und uns aus der Gefangenschaft frei machte. Freiwillig geht sie mit uns und ist über ihren gegenwärtigen Zustand vergnügt, denn sie kömmt aus Finsternis in Licht, aus dem Tode in Leben, aus Trübsal in Herrlichkeit.‹
›Ist das Wahrheit, was jener sagt, meine Tochter?‹ fragte der Mohr. ›So ist es‹, antwortete Zoraida.
›Du wärest also‹, erwiderte der Alte, ›in der Tat Christin und hättest deinen Vater in die Gewalt seiner Feinde gegeben?‹
Worauf Zoraida antwortete: ›Wahr ist es, daß ich Christin bin, doch habe ich dich nicht in diesen Zustand versetzt, denn niemals hab ich den Wunsch gehabt, dich zu verlassen noch dir etwas Übles, sondern nur mir Gutes zu tun.‹
›Und welches Gute tust du dir, mein Kind?‹
›Dies‹, antwortete sie, ›mußt du Lela Marien fragen, sie wird dir das besser als ich sagen können.‹
Kaum hatte der Mohr dies gehört, als er sich mit unglaublicher Schnelligkeit köpflings ins Meer stürzte, wo er gewiß ertrunken wäre, wenn seine großen und weiten Gewänder ihn nicht einige Zeit über dem Wasser erhalten hätten. Zoraida rief, daß wir ihm helfen möchten, und wir alle liefen sogleich hinzu; er wurde bei seinem Oberkleide ergriffen und bewußtlos in das Schiff gezogen, worüber Zoraida mit solcher Trauer, als wenn er schon gestorben wäre, über ihn ein heftiges und klägliches Jammergeschrei begann. Wir stellten ihn mit dem Kopfe nach unten, und er gab vieles Wasser von sich, worauf er nach zwei Stunden wieder zu sich kam, während welcher Zeit sich der Wind wieder gedreht hatte und uns nach dem Lande zu trieb, wogegen wir uns mit aller Gewalt des Ruderns setzen mußten. Das Glück fügte es besser, daß wir in eine Bucht gelangten, die auf der Seite eines kleinen Vorgebirges liegt, welches die Mohren Cava Rumia nennen, das in unserer Sprache soviel als das böse Christenweib heißt, und es ist bei den Mohren eine Sage, daß die Cava hier begraben liege, durch welche Spanien verlorenging; denn Cava heißt in ihrer Sprache soviel als das böse Weib und Rumia Christin. Sie halten es auch für eine üble Vorbedeutung, sich hier vor Anker zu legen, wenn sie die Not einmal dazu zwingt, denn freiwillig tun sie es niemals; für uns aber war dieser Ort kein böses Weib, sondern eine sichere Zuflucht, bis sich das Meer geändert hätte. Auf dem Lande stellten wir Wachen aus, und die übrigen ließen die Ruder nicht aus den Händen; wir aßen von dem, womit uns der Renegat versorgt hatte, und baten Gott und unsere Jungfrau von ganzem Herzen, daß sie uns helfen und begünstigen möchten und einem so glücklichen Anfange einen ebenso glücklichen Ausgang gewähren.
Es wurde hierauf, auf Bitten der Zoraida, eingerichtet, daß man ihren Vater und die übrigen gebundenen Mohren an das Land setzte; denn sie konnte es in ihrem weichen Herzen nicht länger ertragen, ihren Vater gebunden vor sich und die übrigen aus ihrem Lande entführt zu sehen. Wir hatten auch bei unserer Abreise dies zu tun versprochen, und wir liefen dabei keine Gefahr, sie an diesem einsamen Orte zurückzulassen.
Unsere Gebete waren nicht vergeblich, sondern der Himmel erhörte sie, denn es fing an, ein günstiger Wind zu wehen, das Meer wurde ruhig, worauf wir den Vorsatz faßten, mit frischem Mute unsere angefangene Reise fortzusetzen. Wir banden also die Mohren los und setzten sie einen nach dem andern an das Land, worüber sie sich sehr verwunderten; als wir aber den Vater der Zoraida, der wieder zu sich gekommen war, ans Land führen wollten, sagte er: ›Warum meint Ihr, Christen, daß dieses böse Mädchen will, daß Ihr mir die Freiheit gebt? Meint Ihr, es sei aus Liebe, die sie zu mir trägt? Nein, wahrlich nicht, sondern sie will sich nur von meiner Gegenwart nicht stören lassen, wenn sie ihr böses Vorhaben ausgeführt; glaubt auch nicht, daß sie ihre Religion deswegen verändert, weil sie einsieht, daß die Eurige besser als die unsrige sei, sondern weil sie weiß, daß in Eurem Lande die Schändlichkeit öffentlicher als in dem unsrigen getrieben wird.‹ Er kehrte sich hierauf zu Zoraida, indem er von mir und einem anderen Christen an beiden Armen gehalten wurde, damit er kein Unheil anrichten möchte, und sagte: ›O du nichtswürdiges Kind! Unverständige Törin! Wohin willst du, Verblendete, in der Gesellschaft dieser Hunde, unserer geborenen Feinde? Verflucht sei die Stunde, in der ich dich zeugte! Verflucht sei jede Freude und jede Liebkosung, womit ich dich erzogen habe!‹
Da ich aber sah, daß er noch lange fortfahren würde, ließ ich ihn schnell ans Land setzen, von wo[364] er uns laut schreiend mit seinen Verwünschungen und Wehklagen verfolgte, indem er Mahomet und Allah anrief, uns zu vernichten und gänzlich zu zerstören. Als wir schon weiter fortgesegelt waren und seine Worte nicht mehr hören konnten, sahen wir doch noch seine Gebärden, denn er riß seinen Bart aus, raufte sich die Haare und wälzte sich auf dem Boden; nur einmal erhob er die Stimme so laut, daß wir seine Worte vernehmen konnten. ›Komm zurück, geliebtes Kind, komm zurück, denn ich vergebe dir alles, überlaß diesen Leuten alles Geld und komm zurück, um deinen elenden Vater zu trösten, der auf diesem wüsten Sande sein Leben lassen wird, wenn du ihn verlässest!‹
Alle diese Worte hörte Zoraida, sie weinte unaufhörlich und antwortete ihm folgendes: ›Bitte Allah, mein Vater, daß Lela Marien dich tröste, die mich dazu bewogen hat, Christin zu werden. Allah weiß, daß ich nichts anderes tun konnte, als was ich getan habe, und daß diese Christen mich nicht dazu überredet haben; denn wenn ich auch nicht mit ihnen gereist wäre, so hätte ich doch nicht in meinem Hause bleiben können, weil meine Seele mich eifrig antrieb, das ins Werk zu setzen, was mir so gut scheint, wie du es, geliebter Vater, für böse hältst.‹
So sprach sie noch, indem ihr Vater sie nicht mehr hörte und wir ihn nicht mehr sahen. Ich tröstete Zoraida, und wir setzten unsere Reise fort, die der günstige Wind beschleunigte, so daß wir gewiß glaubten, uns am folgenden Morgen am spanischen Ufer zu befinden.
Wie aber das Glück selten oder nie ganz rein und ungetrübt erscheint, ohne daß ein Unglück es begleitet oder zerstöre, so wollte es das Schicksal haben, oder vielleicht machten es die Flüche des Mohren, die er seiner Tochter mitgegeben hatte, denn die Verwünschungen eines Vaters sind immer furchtbar, daß, als wir so fortfuhren und schon drei Stunden der Nacht verflossen waren, das Segel aufgespannt, die Ruder in Ruhe, weil der Wind unsere Arbeit unnötig machte, wir plötzlich beim hellen Scheine des Mondes nahe an uns ein rundes Schiff sahen, das mit vollen Segeln und so dicht von uns vorbeistrich, daß wir die Segel einziehen mußten, um nicht anzustoßen, und sie richteten sich ebenfalls ein, damit wir vorbeifahren könnten. Sie hatten sich auf den Rand des Schiffes begeben, um zu fragen, wer wir wären, wohin wir führen und woher wir kämen! Da sie dies aber in französischer Sprache fragten, sagte der Renegat: ›Antworte keiner, denn sie sind gewiß französische Korsaren, die auf alles Beute machen.‹
Wir gaben nach diesem Rat keine Antwort, und da wir schon etwas weiter gefahren waren und wieder Wind gewonnen hatten, wurden plötzlich zwei Stücke abgeschossen, und, wie es schien, mit Kettenkugeln geladen, denn der eine Schuß schlug unsern Mast in der Mitte durch und warf ihn mit dem Segel ins Meer, indem wurde auch das zweite Stück abgefeuert, das mitten durch unsere Barke schlug und sie ganz durchlöcherte, ohne uns selbst zu beschädigen. Wie wir sahen, daß wir versinken wollten, fingen wir alle laut an um Hülfe zu rufen, daß die aus dem Schiffe uns beistehen möchten, weil wir zugrunde gingen. Sie hielten an und setzten ein Boot aus, in das sich zwölf gewaffnete Franzosen begaben, mit ihren Musketen und brennenden Lunten, und so kamen sie zu uns; da sie sahen, daß wir so wenige wären und daß das Schiff schon zu sinken anfing, nahmen sie uns auf und sagten, daß wir uns diesen Unfall selber, wegen der Unhöflichkeit, nicht geantwortet zu haben, zuzuschreiben hätten. Unser Renegat nahm das Kästchen mit den Schätzen der Zoraida und warf es in das Meer, ohne daß dies einer bemerkte. Wir begaben uns nun alle zu den Franzosen, die, nachdem sie erfahren hatten, wer wir wären, uns als unsere Feinde alles nahmen, was sie nur fanden, so daß sie der Zoraida sogar die Spangen raubten, die sie um die Füße trug. Doch war ich deshalb nicht so bekümmert, weil Zoraida und ich befürchteten, daß sie ihr außer dem kostbaren Schmuck auch jenen Schmuck rauben würden, den sie und ich höher als alles schätzte; aber die Begierden jener Menschen gehen nicht weiter als auf Geld hinaus, und noch niemals habe ich eine so große Habsucht gesehen, denn sie stieg so hoch, daß sie uns sogar die Sklavenkleider ausgezogen hätten, wenn sie ihnen hätten nutzen können. Sie schienen endlich darauf zu fallen, uns in ein Segel gewickelt in die See zu werfen, weil sie die Absicht hatten, in einigen spanischen Häfen Handel zu treiben und sich dabei für Engländer auszugeben; wenn sie uns nun lebendig mitnahmen, konnten sie gestraft und ihr Betrug entdeckt werden; der Kapitän aber, der meine geliebte Zoraida geplündert hatte, sagte, daß er mit der gemachten Beute zufrieden sei und nicht begehre, nach einem spanischen Hafen zu fahren, sondern gleich nach Rochelle zu segeln, von wo er ausgelaufen sei; deshalb gaben sie uns das Boot aus ihrem Schiffe, nebst allem, was wir für unsern übrigen kurzen Weg brauchten. Dies taten sie am folgenden Tage, als wir Spanien schon vor uns sahen, mit welchem Anblicke alle unsere Sorgen und Armut im Augenblick vergessen wurden, als wenn wir nichts erlitten hätten. So groß ist die Freude, die verlorene Freiheit wiederzuerlangen.
Es mochte ungefähr um Mittag sein, als wir das Boot bestiegen, in welches sie uns zwei Fässer Wasser und etwas Zwieback legten; der Kapitän, von einem gewissen Mitleiden bewogen, gab der schönen Zoraida beim Einschiffen vierzig goldene Taler und litt es nicht, daß ihr die Soldaten die Kleider auszogen, die sie noch jetzt trägt. Wir stiegen in das Fahrzeug und dankten für die Güte, die sie uns erzeigten, indem wir mehr erfreut als betrübt waren. Sie setzten ihren Lauf fort, indem sie sich nach der Meerenge wandten, wir aber richteten uns nach keinem anderen Kompaß als nach dem Lande, welches vor uns lag; wir ruderten so eifrig, daß wir mit dem Untergange der Sonne schon so nahe waren, daß wir glaubten, noch vor dem Einbruche der Nacht anlanden zu können; aber es war in dieser Nacht kein Mondschein, und der Himmel war so finster, wobei wir die Gegend nicht kannten, in welcher wir uns befanden, so daß wir es für gefährlich hielten, ans Land zu stoßen; einige von uns aber wollten, daß wir anlanden möchten, wenn wir selbst auf Felsen und fern von einem bewohnten Orte laufen sollten, denn so brauchten wir wenigstens nicht zu fürchten, daß wir auf tetuanische Korsaren gerieten, die in der Nacht von der Barbarei ausfahren und sich am Morgen an der spanischen Küste befinden, wo sie Beute machen, und dann, um zu schlafen, nach ihrer Heimat zurückkehren; andere aber meinten, daß wir uns langsam dem Lande nähern müßten, wie es auch die Stille des Meeres erlaubte, und dann aussteigen, wenn wir einen Landungsplatz anträfen. Dies geschah, und noch vor Mitternacht kamen wir an einen gezackten hohen Felsen, der aber nicht ganz dicht am Meere stand, sondern Raum genug übrigließ, daß wir hier anlanden konnten. Auf dem Sande standen wir still, dann stiegen wir alle aus, küßten die Erde und sagten mit den süßesten Freudentränen Gott, unserm Schöpfer, Dank für die große Güte, die er uns auf der Reise erwiesen hatte. Wir nahmen aus der Barke die Nahrungsmittel und zogen sie auf das Land, wir gingen hierauf eine große Strecke in das Gebirge hinein, denn ob wir uns gleich am Lande befanden, konnten wir unsere Brust immer noch nicht beruhigen und mit Zuverlässigkeit glauben, daß wir wirklich auf christlichem Boden ständen. Der Tag schien länger auszubleiben, als wir wünschten, wir stiegen nun alle das Gebirge völlig hinauf, um zu sehen, ob wir ein Dorf oder einige Schäferhütten von oben entdecken könnten; aber so sehr wir uns auch umsahen, erblickten wir doch kein Dorf, keinen Menschen, keine Hütte, keinen Fußpfad und keine Landstraße. Wir faßten aber alle den Entschluß, uns tiefer in das Land hineinzubegeben, weil wir doch bald irgend jemanden finden müßten, der uns zurechtweisen könne. Was mich am meisten betrübte, war, daß Zoraida in dieser wilden Gegend zu Fuße gehen mußte, denn wenn ich sie auch manchmal auf dem Rücken trug, so ermüdete sie meine Ermüdung nur mehr, als sie in der Ruhe ruhte, und daher wollte sie durchaus nicht, daß ich diese Arbeit übernähme; mit vieler Geduld und mit fröhlichen Gebärden ließ sie sich von mir an der Hand führen, und so mochten wir ungefähr eine Viertelmeile fortgewandert sein, als unser Ohr den Ton eines Glöckchens vernahm, woraus wir deutlich merkten, daß sich in der Nähe eine Herde befinden müsse; wir sahen uns von allen Seiten um und bemerkten an dem Stamme eines Korkbaums einen jungen Schäfer sitzen, der mit vieler Ruhe und Emsigkeit mit einem Messer an einem Stocke schnitzelte. Wir riefen ihm zu, und sowie er den Kopf aufhob, lief er auch behende davon, weil, wie wir nachher erfuhren, er zuerst den Renegaten und Zoraida in ihren Mohrenkleidern erblickte und gemeint hatte, die ganze Barbarei sei nun hinter ihm her, so daß er mit der größten Schnelligkeit durch die Gebüsche fortlief und mit dem lautesten Geschrei rief: ›Mohren, Mohren im Lande! Mohren! Mohren! Zu den Waffen! Zu den Waffen!‹
Wir waren hierauf bei diesem Geschrei in gänzlicher Verwirrung und wußten nicht, was wir anfangen sollten; da wir aber bedachten, daß das Geschrei des Schäfers gewiß das Land in Aufruhr bringen und daß die Reiterei von der Küste alsbald kommen würde, um zu sehen, was es gäbe, wurden wir einig, daß der Renegat seine türkischen Kleider ablegen und das Kamisol des einen Sklaven anziehen mußte, der hierauf im Hemde blieb, und so empfahlen wir uns Gott und gingen auf dem Wege weiter, auf welchem der Schäfer fortgelaufen war, indem wir immer hofften, daß wir auf die Reiter der Küste stoßen würden. Wir wurden auch in unserer Hoffnung nicht getäuscht, denn es waren noch nicht zwei Stunden vergangen, als wir aus der rauhen Gegend in die Ebene kamen und wohl fünfzig Reiter gewahr wurden, die im vollen Laufe mit verhängtem Zügel auf uns zuritten; sowie sie uns näher kamen, hielten sie voll Verwunderung an, denn statt der Mohren, die sie suchten, fanden sie eine Anzahl armseliger Christen, und einer fragte uns, ob wir vielleicht diejenigen wären, die den Schäfer veranlaßt hätten, zu den Waffen zu rufen.
›So ist es‹, sagte ich und wollte eben anfangen, von unsern Begebenheiten zu erzählen, woher wir gekommen und wer wir wären, als einer von den Christen, die mit uns kamen, den Reiter erkannte, der die Frage getan hatte, und, ohne mich weiterreden zu lassen, ausrief: ›Gelobt sei Gott, Señores, der uns so glücklich geleitet hat, denn wenn ich mich nicht irre, so ist die Gegend, in der wir jetzt sind, die von Velez Malaga, und wenn die Jahre meiner Gefangenschaft mir nicht mein Gedächtnis geraubt haben, so erinnere ich mich auch Eurer, Señor, der Ihr uns fragtet, wer wir wären, und Ihr seid Pedro de Bustamante, mein Oheim.‹
Der Christensklave hatte dies kaum gesagt, als der Reiter vom Pferde stieg, den Jüngling umarmte und sagte: ›O du mein bester, liebster Neffe, jetzt kenne ich dich, wie oft haben wir deinen Tod beweint, ich und meine Schwester, deine Mutter, und alle von deinen Angehörigen, die noch am Leben sind, und Gott hat uns gnädig erhalten, um uns die Freude zu gönnen, dich noch einmal wiederzusehen; wir wußten, daß du in Algier warest, und aus deinen Kleidern, wie aus denen der übrigen Gesellschaft, kann ich abnehmen, daß Ihr auf eine wunderbare Art Eure Freiheit erhalten habt.‹
›So ist es‹, antwortete der junge Mensch, ›und wir werden schon Zeit haben, Euch alles zu erzählen.‹
Sowie die Reiter hörten, daß wir alle Christensklaven wären, stiegen sie von ihren Pferden ab, und jeder bot das seinige an, um uns nach der Stadt zu führen, die noch anderthalb Meilen entfernt war. Einige davon entfernten sich, um die Barke nach der Stadt zu bringen, indem wir ihnen beschrieben, wo wir sie gelassen hatten; die übrigen nahmen uns hinter sich auf die Pferde, und Zoraida saß hinter jenem, der der Oheim des Christen war. Die ganze Stadt kam uns zum Empfange entgegen, weil einige vorangeritten waren und unsere Ankunft erzählt hatten. Sie verwunderten sich nicht darüber, freie Sklaven oder gefangene Mohren zu erblicken, denn die Einwohner der dortigen Küste sind daran gewöhnt, die einen wie die andern zu sehen, sondern sie erstaunten über die Zoraida, die in diesem Augenblicke, teils vom Wege erhitzt, teils voll Freude, sich in einem christlichen Lande und in Sicherheit zu befinden, ihr Gesicht mit so schönen Farben geschmückt hatte, daß, wenn mich die Liebe damals nicht täuschte,[367] ich wohl sagen möchte, daß, wie sie war, kein schöneres Wesen auf Erden leben könne oder daß ich wenigstens noch kein schöneres gesehen hatte.
Wir gingen geradeweges nach der Kirche, um Gott für seine Gnade zu danken; Zoraida ging mit und sagte, daß Gesichter dort wären, die der Lela Marien glichen. Wir antworteten, daß es Bildnisse von ihr wären, und der Renegat machte ihr, so gut er konnte, deutlich, was sie bedeuteten, daß sie so zu ihnen beten möchte, als wenn wirklich eins von ihnen die wahrhaftige Lela Marien wäre, die zu ihr gesprochen hätte. Sie, die einen guten Verstand hat und leicht begreift, faßte sogleich, was ihr in Ansehung der Bildnisse gesagt wurde.
Als wir aus der Kirche gingen, verteilten wir uns in unterschiedliche Häuser des Ortes; den Renegaten, Zoraida und mich führte der Christ, der mit uns gekommen war, in das Haus seiner Eltern, die in mittelmäßigen Glücksumständen lebten und uns mit ebender Liebe wie ihren Sohn behandelten. Sechs Tage hielten wir uns in Velez auf, worauf der Renegat, nachdem er sich erst unterrichtet, was er zu tun habe, sich nach Granada begab, um sich durch Vermittlung der heiligen Inquisition in den Schoß der allerheiligsten Kirche wieder aufnehmen zu lassen; die übrigen frei gewordenen Christen gingen hierauf fort, ein jeder, wohin es ihm am besten dünkte; ich und Zoraida, wir blieben allein, und wir besaßen nichts als jenes Geld, welches der Franzose aus Höflichkeit der Zoraida gegeben hatte, wovon ich das Tier kaufte, auf dem sie reitet, so daß ich ihr bis jetzt als Vater und Stallmeister, nicht als Gemahl gedient habe. So reisen wir jetzt in der Absicht fort, um zu sehen, ob mein Vater noch lebt oder ob einer von meinen Brüdern mehr Glück gehabt hat als ich, ob ich gleich fühle, daß ich im Besitz der Zoraida, den mir der Himmel gegönnt hat, so reich bin, daß mir kein anderes Schicksal günstiger vorkommen könnte. Die Geduld, mit welcher Zoraida die Unbequemlichkeiten der Armut trägt, und der Eifer, mit dem sie wünscht, Christin zu sein, ist beides so groß, daß ich es bewundern muß und ich mich bewogen fühle, ihr zeit meines Lebens zu dienen; nur das stört mich in dem Vergnügen, mich als den Ihrigen und sie als die Meinige anzusehen, daß ich nicht weiß, ob ich in meinem Vaterlande einen Winkel finden werde, in welchem ich mich anbauen kann, und ob Zeit und Tod nicht mit dem Vermögen und dem Leben meines Vaters und meiner Brüder eine Veränderung gemacht haben, und daß ich keinen weiß, der mich kennt, wenn sie mir fehlen.
(Cervantes: Don Quijote, 1. Teil 4. Buch 10. Kapitel)


Cervantes verarbeitet in dieser Erzählung recht märchenhaft seine Erfahrungen, die er selbst als Sklave in Algerien gemacht hat.