28 Oktober 2016

Bruno Frank: Cervantes (Kurzrezension)

Kurzrezension

In seinem Roman versucht Frank eine Sinndeutung des Lebenslaufs von Cervantes.
Er versteht das Leben vor dem Roman als Vorbereitung eines großen Kunstwerks, das Abstand von den großen Zielen nimmt, die wesentliche Protagonisten der Zeit sich setzten.

Philipp II. strebt die Wiederherstellung einer einheitlichen katholischen Welt an. -  Dies völlig unrealistische Ziel karikiert Cervantes in Don Quijotes Unternehmungen, von denen der Kampf mit Windmühlen sprichwörtlich geworden ist.

Juan d'Austria will die endgültige Abwehr der Türken erreichen, als das scheitert, wenigstens ein eigenes Königreich. Als er nur die Statthalterschaft der Niederlande erhält, schrumpft er über der Langweile zur Mumie. - Dies wird durch Sancho Pansas streben nach einer Statthalterschaft karikiert. Denn die wird Sancho nur gegeben, um ihm durch Vortäuschung eines Kampfes zu lähmen und zum Verzicht auf seinen früheren Herzenswunsch zu bewegen.

Die Könige Algeriens stellen bei Frank Zerrbilder von Monarchen dar, die ihre Herrschaft durch Intrigen gewinnen und sie nur zur Bereicherung verwenden.

Die Verblendung Philipps II. verdeutlicht Frank daran, dass Madrid als Drecknest geschildert wird, und Philipp trotz der unermesslichen Schätze an Gold und Silber, die er aus Amerika bezieht, als kurz vor dem Bankrott. Angewiesen darauf, dass arme Spanien auszusaugen, um seine Pläne zu verwirklichen. Und dessen Hinterlassenschaft nicht nur gescheiterte Pläne, sondern auch Schulden sind, die seine Untertanen noch lange nach seinem Tode abtragen müssen.

Dass Frank am Schluss Heinrich IV. als großen Gegenspieler Philipps herausstellt, scheint mir darauf hinzudeuten, dass er den Sancho Pansa des Cervantes als Gegenfigur zum verblendeten Quijote (Philipp II.) versteht, mit seiner Zuwendung zum Leben, seiner Erdverbundenheit und dem Sinn für die einfachen Freuden des Daseins (alles Qualitäten, die der Philipp II. aus Franks Roman seinem Gegenspieler Heinrich IV. zuschreibt).
Dass Don Quijote am Schluss seine Verblendung überwindet, versteht Frank offenbar als Kritik des Cervantes an den unrealistischen Zielen Philipps II.

mehr zum Buch: hier

27 Oktober 2016

Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie

Ein hervorragendes Kompendium zur Vergegenwärtigung der Geschichte der DDR. Denn es stimmt, was Helmut Schmidt gesagt hat: "Wolf Biermann hat ein Stück deutsche Identität gestiftet."

Biermann bleibt sich selber treu. Er hat immer Recht.
Aber wenn er das nicht geglaubt hätte, wie hätte er sich so in der DDR behaupten können!

Das Lied, dessen Titel Biermann seiner Autobiographie vorangestellt hat:
Warte nicht auf bessre Zeiten

Zitate

"Dialektik der Berühmtheit: Der Knebel im Mund des populären Sängers verwandelt sich in ein Mikrophon." (S.233)
"Ausgerechnet in den elf Jahren meines Totalverbots war ich der wohl am wenigsten isolierte Mensch in der DDR." (S.239)
"Ausgerechnet ich, der arbeitslose Staatsfeind, stellte den Faust nun pro forma an als meinen Privatsekretär - verdrehte Welt!" (S.312)
"Freiheit ist seit je die einzige Ware, deren Preis sinkt, wenn endlich die Nachfrage steigt." (S.324)
Auf dem evangelischen Kirchentag in Hannover sang Biermann sein Lied Ermutigung:
" 'Du, lass dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit ...' - die bewährten fünf Strophen in evangelischer Kirchentonart.* Das passte. In Schweden ist das Lied inzwischen sogar ins offizielle Gesangbuch der protestantischen Kirche aufgenommen worden." (S.382)
"Und zum Schluss kam ich den Kirchentagsbesuchern mit einem unbekannten Lied, denn ich wollte in Hannover nicht den gläubigen Christen mimen. Es kulminiert in den Zeilen: 'Und meine ungläubigen Lippen/ Beten voller Inbrunst/ Zu Mensch, dem Gott/ All meiner Gläubigkeit.'
Soweit so gut. Der Sänger hatte seine Schuldigkeit getan und trat ab. [...] In der vorderen Reihe stand der oberste Hirte der Evangelischen Kirche Deutschlands, der greise Präses Kurt Scharf. Ein würdiger Bischof mit weißem Haar, wie ein Heiligenbild von Lukas Cranach. In der Nazizeit war er Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen, und aus der DDR war er 1961, kurz nach dem Bau der Mauer, ausgebürgert worden. Pastor Scharf legte väterlich den Arm um meine Schulter. Plötzlich stürmte eine Frau aus dem Publikum auf uns zu. Sie fuchtelte mit den Armen, sie kreischte wutverzerrt. Als sie mit Fäusten auf mich losgehen wollte, hatte ich nur Angst um meine Gitarre. Der alte Mann sprang wie ein Junger dazwischen. Er umarmte die Furie. Er schlug seine Arme fest um sie und umklammerte sie wie eine lebende Zwangsjacke. Die Frau kreischte: 'Das ist eine Gotteslästerung! Der Biermann soll nicht singen! Nicht hier! Biermann betet nicht zu Gott, sondern zu Mensch! Das ist eine Gotteslästerung!' Der Kirchenmann ließ nicht los und brüllte ihr ins Ohr – denn brüllen musste er, weil die Lautsprecher so nah standen: "Meine Liiiebe! Gerade Wolf Biermann soll für uns singen. Und er darf doch zu Mensch beten. Denn Gott hat seinen Sohn als Menschen gesandt, um unsere Sünden zu vergeben! Der Biermann ist vielleicht frommer als wir!' Daraufhin ließ er sie los. Sie glaubte ihm, glaube ich, kein Wort. Was ist 'ne verrückte Szene! Das wütende Schaf tappte zurück zu den Schafen. Und der Wolf stand verwirrt neben dem Hirten." (S. 382/383)
Anti-Stasi-Demonstration nach der Wende:
"Das Volk brüllte mit Schaum vor dem Mund. Es herrschte eine dumpfe Lychstimmung. [...] Ich fingerte ein paar Figuren auf der Gitarre und goss dann Öl ins Feuer: 'Auch ich hasse dieses Stasipack!' - die Leute johlten. [...] Die Wut der Leute war ganz nach meinem Herzen. Und nach meinem Verstand. Denn ich wusste ja, worauf ich hinaus wollte. Wie ein gewiefter Demagoge drehte ich ab in einen brechtschen Break. Ich brüllte ins Mikrophon: 'Das passt zu euch! Ihr brüllt! Ihr wollt Rache! Aber ihr seid Feiglinge! Als Ulbricht und Honnecker und Mielke an der Macht waren, habt ihr alles mitgemacht und alles mit euch machen lassen! ... Da habt ihr geschwiegen und habt euch geduckt! ... Und jetzt, wo es zum Glück nichts mehr kostet, jetzt wollt ihr, dass wir an diesen Mördern zu Mördern werden!? - Nein!' [...]
Mein überraschender Angriff brachte sie zum Nachdenken. Und es besänftigte sie mein Lied 'Ermutigung': 'Du, lass dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit ...' " (S.431/32)
"Manche Konflikte, wie der zwischen Abrahams Söhnen Ismael und Isaak haben gar keine Lösung, sondern nur eine Geschichte." (S.460)

* Noten und Text dieses Liedes stehen auf den Einbandinnenseiten des Buches.


Wichtige Passagen

Englische Bomben wie Himmelsgeschenke
Feuersturm in Hamburg S.35-39

Zur Gitarre, zum Klavier
Onkel Kalli schmuggelt 50 Schachteln Zigaretten aus dem Freihafen und tauscht dafür ein Klavier für Wolf ein S.47

Maßnahmepläne zur Zersetzung
Emma Biermann S.239-243

Moskau 1971
Samisdat S.249
Dissidenten in Moskau S.252

Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um
"Finanzierung des "arbeitslosen" Lebens S.256-264
liebste Gitarre S.269
Streit mit Havemann S.269-271
Kritik an Brandts Ostpolitik S.273

Weltjugendfestspiele. Oma Meime. Realsozialistische Liebe.
Oma Meume S.283-385

Tine Barg S.289-291

 Stasiunterlagenbehörde: Zum allgemeinen Umfeld

22 Oktober 2016

Bruno Frank: Cervantes

Bruno Frank: Cervantes 
Text (pdf)

Frank schildert eine abschreckende Welt. Madrid ein Drecknest mit Philipp II. als sich hinter Akten versteckender religiöser Eiferer. Rom regiert von einem Asketen, der Sinnenlust bekämpft, ohne Ausschweifungen verhindern zu können. Die Schlacht von Lepanto, ein Sieg für die Geschichtsbücher, aber ohne Folgen. Der Sieger, Juan d'Austria, eitel und bald todkrank angesichts der Nichtachtung, die Philipp II.  ihm bereitet. Die arabische Welt um Algier prachtvoll und von unübertreffbarer Grausamkeit. Überall wird die Religion zum obersten Maßstab erklärt, und die Handlungen strafen das Lügen. Die Elite lebt von Ausbeutung und Menschenhandel. Dazwischen geht Cervantes voll Ehrgeiz zunächst, als Sklave wundersam verschont und in der Freiheit in Spanien ausgestoßen.

 [...] Mochte der asketische Papst predigen lassen und Kleider- und Sittengesetze verkünden, noch war viel übrig von einstiger Lebensheiterkeit. Mochte Spanisch Mode sein, die römischen Frauen wandelten die Madrider Tracht ins weiblich Lose und Lockere. Farbige, schmiegsame Seide modellierte den Wuchs, die Krause umstand als offener Spitzenfächer reizvoll das Haupt mit dem freigetragenen, natürlich frisierten Haar, das nicht blond genug sein konnte. Man zeigte den Hals, freigebig auch den Ansatz der Brüste. [...]
Da brachte in diesem Winter eine Denunziation den Dominikaner aufs neue in eifernden Zorn. Er verlangte genauen Bericht, sah, wie es stand, und griff abermals zu. Listen wurden gefertigt. Von einer Stunde zur andern, auf einen Schlag, drang die gemaßregelte Polizei in die Wohnungen, ergriff die Nichtsahnenden und trieb sie zusammen. Dem Hausherrn, der künftig noch eine von ihnen zu herbergen wagte, wurde Kerker auf Lebenszeit angedroht. Das Ghetto beim Augustusgrab sollte ummauert werden. Pius zog einen Pestkordon um die fleischliche Lust. Der junge Miguel Cervantes hatte jene Liste selbst in der Hand gehabt, und sie seinem Kardinal hingereicht, der das Bleisiegel anlegte. Er hatte sie nicht beachtet, die Liste, was ging sie ihn an! Nun sah er das Blatt wieder vor sich, in furchtbarer Vergrößerung, mit jedem Schnörkel des Schreibers. »Die Dirnen Panada, Toffoli, Scappi, Zucchi, Zoppio ...« Regina Toffoli, das war sie. Seine Natur parierte den furchtbaren Einbruch von Scham und Gram, sie wich aus, er wurde krank. Als kleinem Bübchen daheim in Alcala war es ihm einmal ähnlich ergangen: als ihn zwei größere und stärkere Knaben überfielen, ihm die Hände banden und den Wehrlosen durchprügelten. Fast wäre er daran gestorben. Es war damals wie heute ein starkes Fieber, unter Erlahmen wichtiger Leibesfunktionen, subjektiv ein durchaus erträglicher Zustand: Schmerzen fehlten zunächst, und ein sanftes Delirium hob ihn aus der Realität. So lag er in seiner Turmstube auf schlechtem Bett. Niemand bekümmerte sich um ihn. [...]
Er gesundete und wollte aufstehen. Der Kanonikus erlaubte es nicht. Der alte Mann war glücklich bei dieser Pflege. Von näheren Kriegsereignissen war jetzt zwischen ihnen die Rede. Fumagalli brachte die Nachrichten. 

Der Feldzug gegen die Türken

Es handelte sich um die Türken, um Zypern und um das Mittelmeer. Schwer vollzog sich die Einigung zwischen den christlichen Staaten. Man war fromm und ergrimmt, aber zäh und verschlagen und äußerst genau. Frankreich sperrte sich völlig, in Wien der Kaiser hatte Bedenken, zwischen Philipp, dem Papst und Venedig, die übrigblieben, erhob sich ein Feilschen um die Ausrüstung jeder Galeere, um jede Getreidelieferung. Philipp vor allem war ein höchst kaufmännischer Partner. Er schob auf und wog ab und gab nicht Bescheid. Jede Beihilfe zu der gottgefälligen Unternehmung ließ er sich abkaufen. Um den Zwieback jedes Ruderknechts wurde gemarktet. Aber jede entweichende Woche machte die Lage kritischer. Schon war auf Zypern Nicosia gefallen, die Hauptstadt Famagusta ohne Hoffnung bedroht, Kreta, Korfu und Ragusa in naher Türkengefahr. Endlich hieß es, es sei so weit: von den Kriegskosten werde der Papst ein Sechstel übernehmen, Venedig zwei Sechstel, Spanien die Hälfte. Wenn der Kanonikus derlei berichtete und gegen die Knauser und Zauderer loszog, hörte der genesende Miguel kaum hin. Diese trübe und lächerliche Realität bestand nicht für ihn. Das Innerste seiner Natur kehrte sich ab von ihr. Glaube und Heldentum, ungebrochen und strahlend, das war seine Wirklichkeit. Und der kriegerische Bauer im Priesterkleid war nicht der Mann, das zu tadeln. Aus dem Elternhause in Alcala kam in diesen Tagen ein lang erwarteter Brief. Nach umständlichen Ratschlägen und Segenswünschen enthielt er auch Nachricht über Bruder Rodrigo. Rodrigo war wirklich Soldat geworden. In den Kämpfen gegen die letzten spanischen Mauren, im wilden Gebirge südlich Granadas, hatte er sich Ansehen verdient und würde nun seinem Feldherrn zur Flotte folgen, in den Entscheidungskampf gegen den Sultan. Wer war dieser Feldherr? Don Juan d'Austria. Prächtiger Name, für Miguel nur ein Schall. Er fragte den Priester. Der wußte Bescheid. Es war erstaunlich, wie er Bescheid wußte, es war gefährlich. »Ein Sohn vom Kaiser Carolus ist das, Söhnchen«, erzählte er hitzig. »Ganz jung noch, keinen Tag älter als Du. Ein Halbbruder von Deinem Philipp, den ich Dir schenke. Die Mutter war eine Deutsche. Schön soll er sein wie ein Gott und nichts träumen als Siege. Dein Philipp hat einen Kardinal machen wollen aus ihm, das versteht sich. Aber jetzt ist er Großadmiral und zieht gegen die Türken, und wenn's nach unserem Oberhaupt im Hause hier geht, dann gibt's einen Kreuzzug, und Don Juan erobert das heilige Grab.« Das Gemüt des jungen Miguel war ein gelockerter Acker. Jedes Wort ging auf. Da er ein Mensch der Phantasie, der sinnlichen Vorstellungskraft war, sah er den Kaisersohn vor sich, in weißem Glanz, seine schönen Züge wurden eins mit denen des Puniers, der unter einem Renaissancehelm mit flatterndem Busch auf sein Lager herabsah. Wäre es möglich, Rom zu verlassen und dieser Standarte zu folgen! Rom war ihm verhaßt nach dem, was geschehen war. Und zum Kleriker war auch er nicht geschaffen, so wenig wie der, der den Kardinalshut ausschlug. Er genas und erwog. Da brachte Fumagalli die Einzelheiten vom Falle Nicosias. Den Verteidigern der venezianischen Feste war freier Abzug zugesagt worden. Aber die Türken brachen das Abkommen, und zwanzigtausend entwaffnete Menschen fielen ihrer Mordlust zum Opfer. Das war entsetzlich. Der fromme Christ und der fühlende Mensch waren in Miguel entflammt. Er wog nicht ab und er fragte nicht. Er dachte auch keineswegs an die Untaten, die sein eigenes Spanien an Andersgläubigen beging, nicht an Folter, Austreibung, Mord, die seit Isabellas und Ferdinands Tagen hunderttausendfach gegen Mauren und Juden gewütet hatten. Da herrschte Gottes Gebot, und der Zweifel war Sünde. Christenmord war ein Anderes. [...]
Der Tag der Schlacht hatte mit gewaltigen Griffen an seinem Innern geformt, nie würde jenes Fieber wiederkehren, dem er sich auftaumelnd damals entrissen hatte. Seine Seele war ruhig und stark, er war dem Tod kämpfend so nahe gewesen, hatte ihn so hundertfach neben sich wüten sehen, daß er ihm vertraut war und ihn nicht mehr schreckte. Erstaunlich war es, daß er noch lebte, ein eigentlich unerwartetes Geschenk; eine feste, gleichmäßige Heiterkeit hatte er als Lebensmitgift aus dem trunkenen Gemetzel davongetragen. Jedermann spürte das. [...]
bald nach dem Tod des Propheten, triumphierte der Islam. Er griff weit umher, griff nach Spanien hinüber, fand dort sein schönstes Reich und ward zur Kultur. Aber auf afrikanischer Erde mordeten sich seine Sekten. Noch war Roms Segen nicht völlig zerstört. Noch war das arabische Blut nur ein Tropfen im Mischkrug. [...]
Algerien als Seeräuberstaat im Osmanischen Reich
Man »wurde« Türke. Es war eine Karriere. Hier galt kein Vorurteil. Hier gab es keinen Geburtsadel, dessen Ansprüche der Tapferkeit, dem Talent des Niedrigerzeugten den Weg versperrten. Jeder Rang, jedes Glück stand einem jeden von ihnen offen. Auf diesen Renegaten ruhte das Reich. Als Moslem geboren zu sein, war kein Vorzug, eher raubte es die Anwartschaft auf das Beste. [...]
Dem König gegenüber stand die Gilde der Reïs, der Schiffseigentümer und Raubkapitäne, der eigentliche Nährstand von Algier. Denn dieser ganze Staat war ein Handelsgeschäft mit Menschenleben und geraubten Gütern. Hätten die Piratenfahrten versagt, man wäre Hungers gestorben. Es wurde ja nichts produziert. [...]
Frei gingen zwischen Ämtern und Sklaven die trinitarischen Mönche umher, die den Loskauf vermittelten. Die erlösenden »Almosen« zusammenzubringen, war von Alters her die Funktion ihres Ordens. Sie beförderten auch die Korrespondenz der Gefangenen, sie arbeiteten Hand in Hand mit ihren Familien; vor ihrer geschäftlichen Bedeutung machte der Fanatismus der Renegaten willig Halt. König und Kapitäne verkehrten mit diesen Mönchen wie die Chefs großer Firmen mit Handelsvertretern. [...]
Es ist mit der Genialität eines Mannes bestellt wie mit der Frauenschönheit: das Wort vermag sie nur zu behaupten, nicht sie spürbar zu machen. [...]
Der Mann ist ruhmlos, unbekannt, eine Null im Haufen, und sein Los scheint es, in Ketten zu verkommen. Aber unterdessen ist mit ihm selber etwas Großes und Rätselhaftes geschehen. Aus seiner Person bricht eine wärmende und erhellende Kraft, die jeden anrührt, der ihm nahe kommt, die Vertrauen und Neigung erweckt [...]
Hinrichtung, Verstümmelung, Folter waren tägliche Kurzweil, das Wehgeheul der Gequälten so gewohnt wie Eselgeschrei und Geklingel der Wasserverkäufer, die Prügelstrafe, die fast immer zum Tode führte, eine regelmäßige Einrichtung wie der tägliche Markt.  [...]
Der Reïs mit zwei Trabanten blieb zurück. Nachdenklich spazierte er vor dem stumm wartenden Cervantes auf und ab und ließ elegant seinen elastischen Totschläger wippen. »Daß an Euerm Rang und an Euerm Kaufwert nichts ist, Miguel«, sagte er endlich, »weiß ich längst. Es hat mir gefallen, das bis heute aufrecht zu erhalten. Aber was Ihr nicht habt, das kann Euch werden.« »Erhöhung durch den Strang, meint Ihr. Ich weiß es.« »Unter den Korsaren einer der Größten, Horuk Barbarossa, Chaireddins Bruder, war ein einhändiger Mann so wie Ihr!« Cervantes schwieg. »Was winkt Euch bei den Euern? Was wollt Ihr in Spanien? Nehmet den Turban! Ich gebe Euch frei. Ich geb' Euch ein Schiff. Ihr werdet von Eurer einen Hand guten Gebrauch machen. Schlagt ein!« Und er bot ihm die Rechte. Cervantes nahm sie nicht. »Was hindert Euch? Euer Gott? Er hat Euch bis heute nicht sonderlich begnadet. Euer König? Er kennt Euch nicht. Eure Gefährten? Ihr habt erlebt, wie sie mit Schmähungen über Euch herfielen. Glaubt mir, dies ganze Geschlecht verdient nichts anderes, als daß man ihm die Köpfe zertritt.« »Was wird aus meinen Gefährten, Reïs? Ihr werdet sie schonen?« »Schweigt doch von diesem Geziefer! Besinnt Euch! Ich werd' Euch nicht noch einmal anbetteln.« Er sah dem Cervantes ins Gesicht, machte kehrt, pfiff seinen Leuten, wie man Hunden pfeift, und ging ohne ein weiteres Wort. [...]
Die Lebenslage des Cervantes in den Jahren, die folgten, war eigentümlich, ja wundersam. Mehrfach des Todes schuldig im Sinne der Machthaber von Algier, ging er frei umher und niemand krümmte ihm ein Haar. Niemand auch zwang ihn zur Arbeit. Er hatte Wohnung im Bagno. Gefiel es ihm, fernzubleiben und anderswo, etwa unter den Sternen, zu nächtigen, so begrüßte ihn bei der Wiederkehr die Wache wie einen entbehrten Bekannten. Höchst vielfältig war sein Verkehr: die Sklaven aller christlichen Zungen, das Schiffsvolk der Reïs, die schmuckbelasteten Weiber unter den Torbögen, Soldaten, Religionspersonal, Handwerker, Beamte, handelnde und gelehrte Juden machten ihn aus. Ihn kannten die Kinder. Er war in der Leute Mund. Daß ein Entsetzlicher wie Dali-Mami ihn schonte, ihn offenbar auf irgend eine Weise in sein düsteres Herz eingeschlossen hatte, erschien so tief erstaunlich, daß manche von Zauber murmelten. Sie waren nicht so weit von der Wahrheit. [...]
Ach, nicht mit dem Kiel, nicht mit dem Schwert war ihm bestimmt, die Größe zu erreichen! Noch immer war er das Schülerlein aus Meister Hoyos' Akademie. Noch immer und für immer ein bettelarmer Invalid. Aber um die Mauern der Djenina brandete und schwoll seine Legende. Die Briefe nach Spanien, Italien und Frankreich sprachen von ihm. Damals war er geliebt und berühmt. [...]
Vom Sklavendasein befreit in Spanien
Am vierundzwanzigsten segelte Miguel Cervantes nach Spanien ab. Fünf Jahre und einen Monat war er in Algier gewesen. Sein Herz war ohne Freude, mühsam nur hoben Hoffnungen noch ihre Flügel. [...]
Luisas Kloster, genannt La Imagen, war eines von der strengsten Regel. Seine Nonnen, barfüßige Karmeliterinnen, lebten nach den Vorschriften der großen Teresa von Avila. Von grobem Tuch war ihr Kleid, ihr Lager eine Matratze aus Stroh, Brot und gesalzener Fisch ihre Nahrung, ihr langer Tag Gebet und Arbeit. Kein Geschenk, keine Freundlichkeit war erlaubt, sie durften einander nicht einmal die Hände reichen im Kloster. Unter dieser Regel lebte Luisa schon viele Jahre. Sie war eine besonders gottesfürchtige Nonne, hoch angesehen für ihre Sinnesart. Als im vorigen Jahr die alte Teresa nach Toledo gereist war, da hatte sie eigens den Umweg gewählt, um in Alcala die fromme Schwester Luisa von Bethlehem zu sehen. Und ihrer verhältnismäßigen Jugend zum Trotz hatte man sie heuer zur Subpriorin ihres Klosters erwählt. Miguel Cervantes betrachtete seine Mutter. Die wundervollen Augen erstrahlten, während sie von den verdienstlichen Entbehrungen ihres Kindes berichtete. Er war lange von Spanien fortgewesen, doch wie gut begriff er auch heute noch, daß nicht er und nicht Rodrigo, sondern allein diese Entrückte in der Klosterzelle die mütterlichen Wünsche stillte ... Das Unbedingte! Das fast Unmögliche! Das war sein Volk. Dieser Teresa und denen, die ihr folgten, genügte nicht Kirchengläubigkeit, auch die strengste nicht. Durch Glut und Verzückung wollten sie Wunder erzwingen gleich denen der Heiligen in christlicher Frühzeit. Zerreißen mußten alle Dämme kühler Vernunft und gelassenen Lebens. Einsame Kasteiung stieß die Pforten des Himmels ein. Grenzenlose Vereinigung mit Gott war das Ziel. [...]
Gearbeitet wurde eigentlich garnichts in der Unica Corte und in den übrigen spanischen Städten nicht viel. Die Schätze von den indischen Inseln, aus Mexico und Peru, flossen durch das Land hindurch, ohne es zu befruchten, und ergossen sich in dynastische Unternehmungen ohne irdisches Maß. Der Bauer aber grub seine steinharte Erde und erlag in unausdenklicher Armut. [...]
Unverdrossen, laut schreiend, so daß sich Miguel vor Verlegenheit zu krümmen begann, zählte er seine Verdienste und Taten auf: Lepanto war, wenn man ihn hörte, ohne das Eingreifen seines Ältesten eine vernichtende Niederlage. Wer aber kümmerte sich heute in Spanien um jene Seeschlacht! Alte Geschichten! Es war eher verdächtig, an ihnen Teil zu haben, seitdem der prinzliche Admiral von damals in mehr als halber Ungnade aus dem Leben geschieden war. Und dann: man hatte Überfluß an Helden. In allen Kneipen aller spanischen Städte standen sie hoch in der Kreide und ödeten die zahlenden Gäste mit ihren Rodomontaden. Tunesische und algerische Abenteuer gar waren wohlfeil wie Zwiebeln. Zu Bergen häuften sich in allen Schreibstuben die Gesuche an den König: »que Vuestra Magestad me haga merced.« Nach drei Wochen wußte Miguel Cervantes genug. [...]
Man glaubt nach langer Abwesenheit in eine Stadt voller Freunde und guter Bekannter zurückzukehren, und ist am dritten Tag schon allein. [...]
Theater 
Als Cervantes gegen die zweite Nachmittagsstunde den »Spielhof zum Kreuz« betrat, war das Theater schon voll. Erstaunt, gefesselt, blickte er sich um. Das war etwas völlig anderes als die Jahrmarktsbuden, darin er als Knabe die verschollenen Komödien Ruedas hatte aufführen sehen. Der Raum war, ganz dem Namen entsprechend, ein richtiger großer gepflasterter Hof, der durch die Hinterwände besonders hoher Häuser gebildet wurde. Die Bühne, um vier Fuß erhöht, nahm die eine Schmalseite ein. Sie war vorn offen und leer. Grob bemalte Vorhänge schlossen sie auf drei Seiten ab und stellten im Hintergrund eine Landschaft mit einem maurischen Schloß, links ein vornehmes Zimmer, rechts einen Garten dar. Eine Versenkung im Boden, mit einer Klappe versehen, repräsentierte den technischen Apparat. [...]
Was in diesen drei Akten vor sich ging, war ein wirbelndes und wirres Versteckspiel aller mit allen, darin in jedem Augenblick jeder die Existenzform tauschte, der Edelmann zum Arzt, zum Stierkämpfer oder zum Müller wurde, das Fräulein zum Zigeunerknaben oder zur Gärtnerin, die Gärtnerin zum Mohren oder Studenten, der Student zum Gespenst, das Gespenst zum buckligen Stummen, bis endlich, nach einer unversieglichen Springflut von Vers und Reim, von Terzinen Quintillen Romanzen Redondillen, durch Dazwischenkunft von Feen Göttern Ministern und Drachen, vier frischverlobte Paare glückatmend dastanden und an der vorhanglosen Rampe ihre heiteren Schlußreime sangen. Miguel Cervantes erschien das alles als ein recht geschickter und bunter, aber doch auch leerer und etwas alberner Zeitvertreib für die großen Kinder im Parterre, die jede Überraschung und jedes Witzwort mit lärmenden Zurufen begrüßten. Dagegen setzten sofort die Pfiffe und Schmähungen wieder ein, wenn eine der Larven da oben sich in längerer Versrede erging. Das wollten sie nicht, die »erzenen Hörer«, die »Infanteristen«, die »Musketiere«, von denen im Vorspruch mit so schmeichlerischer Komik die Rede gewesen war. Rasende Handlung und Verwandlung wollten sie,  [...]

In Madrid hatte ihn niemand kennen wollen, hier in Portugal fand er sich am ersten Abend im Mittelpunkt eines freundwilligen Kreises. Jeder dachte für ihn. Man wies ihm die Wege. Am dritten Tage schon wurde ihm eine Gnadengabe des Königs in Höhe von fünfzig Dukaten überreicht. Sie mochte seinen Empfehlungen zu verdanken sein, einer milden Regung des Königs, ein wenig dem Zufall. Aber eine Woche darauf erfolgte mehr. Er erhielt einen königlichen Auftrag. Der Auftrag war ehrenvoll. Der Gouverneur von Oran sollte zum Ordensritter von Santiago ernannt werden. Cervantes sollte das Handschreiben überbringen. Hundert Dukaten Reisegeld wurden ihm ausbezahlt. [...]
Er trank den ersten Becher des Glücks erhitzt, wie ein ungeduldiger Knabe. [...]
Er trug seine Mütze noch immer zu Recht, sie war mehr als ein Andenken. Er hatte wahrhaftig nur eine Sklaverei gegen die andere eingetauscht. [...]
Nichts von Würde war an dem jungen Mann. Jäh wechselten seine Launen, in nichts hielt er Maß, jeden Augenblick gab es Skandal wegen der schönen Osorio, eitel war er bis zum Absurden, keine Schmeichelei erschien ihm zu plump, gutherzig und freigebig zeigte er sich im einen Moment und gleich darauf von giftiger Bosheit. Stellte man ihn, so kostete es ihn wenig, das eigene Wort zu verleugnen. Schon wußte er nichts mehr davon. Das hatte ein Andrer gesagt ... Ein Andrer war er wirklich von Stunde zu Stunde, ein hundertgestaltiger Proteus. So erschien auch sein Schöpfertum dem Cervantes. [...]
Ana Franca Sie behauptete, die Tochter eines Herrn vom Hofe zu sein, und nannte sich de Rojas, Ana Franca de Rojas. Wahrscheinlich aber war ihr Vater ein deutscher Soldat gewesen, die Leute behaupteten es, und ihr blondes Haar sprach dafür. Ihre Mutter verkaufte unechten Schmuck und billigen Weiberputz in einem Durchgang an der Calle de Toledo. Das wurde Cervantes gleich am ersten Abend ins Ohr geflüstert. Er hütete sich sonst vor den Frauen im »Wappen von Leon«, aus Furcht, eine einladen zu müssen. Heute stieg er ohne Weiteres über zwei Männer hinweg, die neben ihr auf der Bank saßen, schob die Erstaunten beiseite und begann zu reden. Geschmeichelt von einer so augenscheinlichen Wirkung ihrer Person, lächelte die Blonde ihn an. Er ließ sie nicht erst zu Wort kommen, das hatte Zeit, und unterhielt sie in einem erprobten Ton zwischen Huldigung und Ironie. [...]
Es stand nun ein Feind auf gegen Miguel Cervantes, furchtbarer als fanatische Türken und blutlüsterne Renegaten. Ein laut- und gestaltloser Feind, gegen den keine Waffe zur Hand war: Langeweile. [...]
Cervantes kam es mit einem Mal zum Bewußtsein, daß er manche Stände in Spanien gekannt hatte: Soldaten, Beamte, Priester, Gelehrte, ein wenig den Hof und den Adel, aber nichts vom spanischen Volk. Das hatte keine Stimme. Man trat es wie die Erde, über die es gebückt stand. [...]
Er war nicht müßig gewesen. Der Einheit und Reinheit des Glaubens über die Länder hin hatte seine lebenslange, schwere Mühe gegolten. Wo immer gegen den neuen Geist Hände sich erhoben, die Hand mit dem Kriegsschwert, die goldgefüllte Hand der Bestechung, die Meuchlerhand mit dem Dolch, immer hatte der kränkliche, leise Herr im Escorial sie gelenkt. Er allein hatte Frankreich in Bürgerkrieg und Elend gestürzt, die Niederlande zerfleischt und ihren großen Oranien gemordet, immer wieder den Stahl gezückt nach dem Leben der abtrünnigen Königin auf dem Throne von England. Aber sie lebte. Das Mißlingen der letzten Verschwörung hatte Maria Stuart auf dem Schafott bezahlt; auch sie war für Philipp gestorben. Jetzt raffte er, am Abend seiner belasteten Tage, die Kräfte und Schätze der ihm anvertrauten Völker zusammen gegen dies England. [...]
Geld! Geld! Aber nichts ist genug. Dieser König, der das gesamte Silber und Gold der Welt kontrolliert, muß mehr als einmal seine nächtliche Aktenarbeit vorzeitig abbrechen, weil kein Geld mehr vorhanden ist, um neue Kerzen zu kaufen. [...]
Auf ihren Maultieren durchreiten die Proviantkommissare des Königs das erliegende Land, sie pressen aus den Ausgepreßten das Letzte. Wo sie auftauchen, ist dumpfe Verzweiflung und Wut. Sie erbrechen Scheuer, Schuppen und Keller. Sie lassen dem Bauern nicht Korn mehr für seine Aussaat. So will es Gott. Und einer von ihnen ist Miguel Cervantes. [...]
Tiefer ging es nun nicht. Er hatte den Boden erreicht. Leuteschinder und Armenpresser: er machte sich keine Illusionen über sein Amt. Entschuldigungen gab es, gewiß. [...] Solch ein Blutsauger war er jetzt selbst.  [...] Er hatte die Hölle, für zwölf Realen am Tag. Er war gar kein Mensch mehr. Er war ein Werkzeug in diesem klappernden, schadhaften Staatsmechanismus. [...]
Im Gefängnis
An diesem ersten Tag rührte sich Miguel Cervantes viele Stunden lang nicht von seiner Bettstatt. Starb man nicht Hungers hier oder wurde von den Läusen aufgefressen, so hatte man für Wochen zu schauen. Es war ein ungeahntes Menschengemisch. Denn hier existierte kein Unterschied nach dem Grunde der Haft. Sträfling, Untersuchungsgefangener oder Schuldhäftling – alles galt völlig gleich. Der Kaufmann, der einen Wechsel nicht einlösen konnte, schlief neben dem abgeurteilten Räuber. Der Stutzer, der seinem Schneider schuldig geblieben, wurde vom Muttermörder gehänselt, für den im Hof schon der Galgen gerichtet war. Einbrecher und Raufer, Fälscher und Falschmünzer, Sodomiten und Kinderschänder lebten mit Leuten, die garnichts getan hatten und das erst beweisen sollten, in phantastischer Gemeinschaft. [...]
Lieber Himmel, sah er so aus! Waren sein Kinnbart und der lange, hängende Schnurrbart nicht kürzlich noch golden gewesen? Jetzt waren sie trübes Silber. Und diese langen, tiefen, schlaffen Falten neben der Nase. Der Mund ... Er wies sich selber die Zähne. Wenn er noch acht oder zehn besaß, war es viel, und nicht zwei davon bissen recht aufeinander, alle standen sie in eigensinniger Isolierung umher. Die Augen allein schienen wie ehedem, in denen wohnte noch mutiges Leben.  [...]
Er begann in dem geräumigen Gemach auf und ab zu wandern, bemüht, Vergangenes zu sichten, zu klären. Aber es war zu viel. Alles ging wirr durcheinander. Ein ununterscheidbares Wogen von Hoffnung, Entschluß und Enttäuschung, neuem Anlauf, neuer Enttäuschung. [...]
Er durchlief seine Jahre der Länge und Quere nach. Immer wieder kam er die selben Straßen, der Ritter schien sich selber entgegenzureiten wie ein Gespenst. Illusion und Traum! Traum vom indischen Amt, Gouverneur oder Richter. Traum vom Dichterruhm, der entschwebte. Traum vom ländlichen Frieden im Mancha-Dorf ... Aber hier stockte er. [...]

Wenn er allenthalben Kampfesehren ersah und zu erlösende Unschuld, als ein rührender Narr, der ewig zu fassen meint, was ewig entschwebt und zergeht. Und der überall seine Schläge bezieht, niedergeworfen wird, sich aufrichtet, weiterzieht, unenttäuschbar, mit starrem Greisenblick entgegen dem unverlöschlichen Schimmer der Illusion [...]
Philipp II.
Er blieb des Gedankens fähig, diese äußerste Heimsuchung sei Gottes Unterpfand für die ewige Herrlichkeit. Wer am schärfsten geprüft wird, der wird am höchsten erhöht. Er zog aus Leiden und Körperschmach die triumphale Bestätigung seines Glaubens, dem er sein Glück und das Glück seiner Staaten geopfert. [...]
Philipp über Heinrich IV.
Es war unausdenkbar und doch offenbar: dieser König glaubte an nichts. Was Philipps Herz und Geist in siebzig Lebensjahren erfüllt hatte, für diesen Heinrich zählte es nicht. Die Herrschaft zählte, die Einheit des Landes zählte, die Wohlfahrt seines Volkes zählte. Dafür würde er Türke werden, Feueranbeter. Sein berühmtes Edikt, das den Glaubensfrieden verkündete, Rechtsgleichheit der Konfessionen – was war es anderes als das Achselzucken eines gottfremden Menschen, dem irdisches Glück über alles galt. [...]
Philipps Vertrag mit Heinrich
Paix, Amitié, Réconciliation – wahrhaftig, so hatte kein Druckwerk je noch gelogen. Wie oft hatte Philipp versucht, ihn ermorden zu lassen! [...]
Dieses Heinrich ganze Existenz war ein Hohn auf sein eigenes siebzigjähriges Königsdasein, auf sein ganzes strenges, entsagungsvoll dunkles Leben im Dienste der einen, der erhabenen, der ja doch einzig wahren Idee. Wie konnte Gott es zulassen, daß frecher Unglaube so triumphierte! [...]
Cervantes und sein Don Quijote
Alles kommt in der Kunst auf den Ausgangspunkt an. Sein Ausgang war gut. Er war auf gesegnetem Wege. Längst schon war Don Quijote nicht der einfache Narr mehr, dem die Ritterbücher das Hirn verrückt haben. Er war ein höher Besessener. Unsinn trieb er noch immer wie zehn Verrückte, doch seine Rede war weise. Längst zog er nicht mehr allein. [...]
In dem Rahmen, den sein glücklicher, erster Griff gespannt hatte, war für alles Raum, für Sklavengeschichten, Liebesgeschichten, Landfahrergeschichten, alles fügte sich ein wie im glücklichen Traum. [...]
Und auch den mönchhaft Schweigenden im Escorial nicht, der in diesen Herbsttagen verloschen war, und für dessen lebenslange, gewaltige Illusion die Gefangenen in diesem Hause noch immer bezahlten. [...]
Würde man hinter seinem Hidalgo den Geist Spaniens erkennen, der großmütig blind hinter Gewesenem her war, während ringsum die Welt zu neuer Wirklichkeit aufwachte? [...]
»Wie Don Quijote viele Unglückliche befreit, die man gegen ihren Willen führt, wohin sie nicht wollen.« Es war die Geschichte von den zwölf Galeerensträflingen, die, mit langer Kette an den Hälsen aufgereiht, unter scharfer Bedeckung dem Hafen zuwandern. Die Don Quijote aufhält und ausfragt und zu befreien beschließt: »denn mein Ritteramt macht mir's zur Pflicht, die Gewalt zu bekämpfen und allen Hilflosen beizustehen. Und, es könnte doch sein, liebe Brüder, daß bei dem einen von euch die Folter, bei dem andern die Not, Mangel an Protektion bei dem dritten und bei den übrigen ein ungerechter Spruch des Gerichts an allem die Schuld trägt.« [...]
»Der Esel, Rosinante, Sancho und sein Herr blieben allein auf der Walstatt zurück. Der Esel stand mit hängendem Kopf in tiefen Gedanken da und schüttelte von Zeit zu Zeit die Ohren, als glaubte er, der Steinregen daure immer noch fort. Rosinante, die ein Steinwurf zu Boden geschlagen hatte, lag neben ihrem Herrn dahingestreckt. Sancho stand im bloßen Wamse da, zitternd aus Angst vor der Polizei. Don Quijote aber wollte vor Unmut fast vergehen, daß die, denen er sich hilfreich erzeigt, ihn nun so häßlich behandelten.« [...]

Ja, so sollte nach Jahr und Tag sein Buch einmal enden, mit diesem einfachen Schlüssel- und Zauberwort gut.

18 Oktober 2016

Bruno Frank über das Pantheon

"Sonst in einem Gotteshaus fühlt man auch Andacht und innige Frömmigkeit, aber man muß dieses Gute erst rufen, muß sich versenken, und Priesterwort und Musik tun das Ihre. Aber hier! Ohne Wort und Gesang reißt der Raum ganz allein zur Anbetung hin. Nirgends wird mir so gut und himmlisch heiter und frei zu Mute wie hier. Es ist, als müsse man gleich zum Himmel fahren, hinauf in das Licht, das durch die weite herrliche strahlende Öffnung oben hereinbricht. Und der gewaltige Rundraum, der einen umfängt, so makellos vollkommen, so stark, er ist wie ewiges Gesetz. Gesetz und Freiheit, beide sind da. Mir ist, als könnt ich an keinem Orte der Welt mehr Ähnliches empfinden.«" 
(Bruno Frank: Cervantes ; Text (pdf) - Inhaltsangabe in der  Wikipedia)

17 Oktober 2016

Kermani: Sozusagen Paris

Rezension

Bodo Kirchhoff: „Widerfahrnis“

Bodo Kirchhoff gewinnt den Deutschen Buchpreis faz.net 17.10.16
"Mit „Widerfahrnis“ von Bodo Kirchhoff geht der Deutsche Buchpreis erstmals nicht an einen Roman, sondern an eine Novelle."
Bodo Kirchhoff im Gespräch

Allein ist man zu wenig

12 Oktober 2016

Cervantes: Zigeuner über sich selbst

"Für uns sind die Unbilden der Witterung Erfrischungen, der Schnee dient uns zur Erquickung, der Regen zum Bade, der Donner als Musik, der Blitz als Fackel. Für uns ist die harte Erde ein weiches Federbett, die schwielige Haut unsres Leibes dient uns als undurchdringlicher Harnisch; für unsre Gewandtheit sind weder Gitter ein Hindernis, noch halten uns Gräben zurück, noch können Mauern uns bannen. Unsern Mut fesseln weder Stricke, noch schüchtern ihn Fußblöcke ein, noch ersticken ihn Daumenschrauben, noch bändigt ihn der Pranger. Zwischen Ja und Nein machen wir, wenn unser Vorteil es heischt, keinen Unterschied. Stets setzen wir eine größere Ehre darein, Märtyrer als Bekenner zu sein. Für uns wachsen die Lasttiere auf den Feldern auf, und für uns schneidet man in den Städten die Taschen zurecht. Kein Adler noch irgendein anderer Raubvogel stürzt schneller auf seine Beute, als wir uns auf die Gelegenheit stürzen, aus der wir Nutzen zu ziehen gedenken. Kurz wir sind in manchen Dingen geschickt, die uns ein glückliches Ende sichern, denn im Gefängnis singen, am Pranger schweigen wir, bei Tag arbeiten und bei Nacht stehlen wir, oder besser, wir warnen die Leute, daß keiner sein Eigentum unordentlich hinwerfe, wo er gerade gehe und stehe. Uns plagt keine Angst, unsre Ehre einzubüßen, noch raubt uns die Sucht, sie zu mehren, den Schlaf. Wir brauchen uns keine Gönner zu gewinnen noch früh aufzustehen, um Bittschriften zu überreichen; wir brauchen keinen großen Herren das Geleit zu geben, noch um Gunstbezeigungen zu betteln. Diese Hütten und tragbaren Zelte sehen wir an als goldne Dächer und prächtige Paläste; statt der Gemälde und niederländischen Landschaften betrachten wir die Reize der Natur in diesen hohen Klippen und beschneiten Kuppen, diesen weit gedehnten Wiesen und dichten Gesträuchen, die sich unserm Blick bei jedem Schritte bieten. [...] kurz wir sind Leute, die durch ihre Kunst auf ihr Glück hin leben, ohne uns um das alte Sprichwort zu kümmern: Kirche, Meer oder Königshaus [2]. Wir haben, was wir wollen, weil wir mit dem zufrieden sind, was wir haben."
(Cervantes: La gitanilla - Kurzwiedergabe des Inhalts)



„Für den Moment ein guter Kompromiss“ faz.net 12.10.16
"Die vor der Weißfrauenkirche campenden Roma sollen in die B-Ebene der Hauptwache umziehen. Ein erprobtes Verfahren oder eine bloße Verlagerung des Problems?"

Ist Cervantes Darstellung der Zigeuner so viel kritischer als die der heutigen deutschen Medien über rumänische Roma? Mit Sicherheit kritisiert er sie schärfer, als die Roma heute kritisiert werden, doch lässt er sie auch für sich sprechen.
Und da ist noch die Darstellung der Nenngroßmutter der Heldin und die Tatsache, dass keine schweren Vergehen der Zigeuner dargestellt werden, wohl aber, dass der Held Andres erst in dem Augenblick einen Menschen tötet, als in ihm der Adlige gegen den Zigeuner siegt.

Cervantes berichtet:

"Damit hob er [der Soldat] ohne weiteres die Hand und gab Andres einen solchen Backenstreich, daß er aus seiner Betäubung erwachte und sich plötzlich entsann, daß er nicht der Herren-Andres war, sondern Don Juan und ein Kavalier. Mit unglaublicher Schnelligkeit und noch größerer Wut stürzte er sich auf den Soldaten, riß ihm den eignen Degen aus der Scheide und stieß ihn ihm in den Leib, so daß er tot zu Boden fiel."

Freilich, keinesfalls zeichnet Cervantes ein einseitig positives Bild der Zigeuner. Aber es gibt auch Passagen, wo die Adligen nicht besser wegkommen als sie.

11 Oktober 2016

Geschichte des Zigeunermädchens

Es scheint, daß die Zigeuner und Zigeunerinnen nur auf die Welt kommen, um Spitzbuben zu werden. Sie stammen von Eltern, die Spitzbuben sind, werden mit Spitzbuben erzogen, studieren das Spitzbubenhandwerk und werden endlich Spitzbuben, die auf alle Fälle gemacht und bedacht sind; die Lust am Stehlen und das Stehlen selbst sind gleichsam unabtrennbare Teile ihres Wesens, das sie erst mit dem Tode verlieren.

Eine nun von diesem Volk, eine alte Zigeunerin, die in der Kunst des Cacus  bereits ihr Jubiläum gefeiert haben mochte, erzog als ihre Enkelin ein junges Mädchen, dem sie den Namen Preziosa gab und das sie in all ihren Zigeunerstreichen, Gaunereien und Diebeskünsten unterrichtete. Preziosa wurde die vortrefflichste Tänzerin im ganzen Zigeunervolk und das schönste und verständigste Kind, das man nicht nur unter Zigeunern, sondern unter allen Schönen und Klugen finden konnte, deren Ruhm je erschollen ist. Weder Sonne noch Luft noch auch alle Unbilden der Witterung, denen die Zigeuner mehr ausgesetzt sind als andre Leute, vermochten ihrer Schönheit Abbruch zu tun oder ihre Hände zu bräunen. Ja, was noch mehr ist, die rauhe Erziehung, die sie erhielt, konnte nicht verdecken, daß sie von gesitteteren Eltern abstammte, als es Zigeuner sind; denn sie war äußerst gewandt und sehr verständig. Bei all dem war sie frei, ohne die Grenzen der Sittsamkeit zu überschreiten; sie war vielmehr bei allem Witze so züchtig, daß in ihrer Gegenwart keine Zigeunerin, mochte sie alt oder jung sein, ein unanständiges Lied zu singen oder üble Worte zu sprechen wagte. Kurz die Großmutter erkannte, welchen Schatz sie in der Enkelin besaß, und so beschloß denn die alte Dohle, ihr junges Dohlchen ausfliegen zu lassen und es zu lehren, sich den Unterhalt mit den eignen Fängen zu gewinnen. Preziosa zog aus, reich versehen mit Festgesängen, Volksliedern, Seguidillas, Sarabanden und andern Versen, besonders Romanzen, die sie mit eigentümlicher Anmut vortrug; [...]
Preziosa war in verschiedenen Gegenden Kastiliens aufgewachsen; in ihrem fünfzehnten Jahre aber führte ihre angebliche Großmutter sie in die Residenz, und zwar auf ihren alten Lagerplatz, die Felder der heiligen Barbara, wo sich die Zigeuner gewöhnlich aufhalten. [...]
Acht Zigeunerinnen, vier ältere und vier junge, führten unter der Leitung eines Zigeuners, eines vorzüglichen Tänzers, einen Tanz auf, und wenn sie auch alle sauber und geputzt erschienen, so trat doch Preziosens Zierlichkeit so sehr hervor, daß sie allmählich die Blicke aller Zuschauer auf sich zog. Durch den Klang der Schellentrommel und Kastagnetten, durch die Wirbel des Tanzes scholl der Ruf, der die Schönheit und Anmut des Zigeunermädchens pries. Jünglinge und Männer strömten herbei, um sie zu sehn; als man sie aber gar singen hörte (denn der Tanz war mit Gesang verbunden), wurde der Lärm so groß, daß das Lob der Zigeunerin von allen Seiten widerhallte und die Vorsteher des Festes ihr einstimmig den Preis für den besten Tanz zuerkannten. [...]
Nie trennte sich die alte Zigeunerin, die sie wie ein Argus bewachte, von ihr, denn sie war immer in Angst, man könnte ihr das Mädchen entführen. Sie nannte sie ihre Enkelin, und Preziosa hielt sie für ihre Großmutter. [...]
Nun sahen dem Tanz der Zigeunerinnen mehr als zweihundert Personen zu, und alle lauschten ihrem Gesang, als zufällig (eben war das Gedränge am stärksten geworden) einer der Stadtschultheißen des Weges kam, und da er so viele Leute beisammen sah, fragte er, was es gäbe. Auf die Antwort, man höre der schönen Zigeunerin zu, die eben singe, trat der Schultheiß neugierig näher und horchte selbst ein Weilchen hin, wartete aber, um seiner Würde keinen Eintrag zu tun, das Ende der Romanze nicht ab. Da ihm jedoch das Mädchen außerordentlich gut gefallen hatte, befahl er seinem Pagen, der Alten zu sagen, sie möge gegen Abend mit den Zigeunerinnen in sein Haus kommen; er wünsche, daß auch seine Gemahlin, Doña Clara, sie höre. [...]
Unterdes kam der Herr Stadtschultheiß, dem man von der kleinen Zigeunerin Wunder über Wunder erzählte. Er ließ sie und ihre Gefährtinnen ein wenig tanzen, erklärte das Preziosa erteilte Lob für gerecht und verdient, fuhr mit der Hand in die Tasche und machte Miene, ihr etwas zu geben. Als er die Tasche jedoch zu wiederholten Malen durchstöbert, gerüttelt und geschüttelt hatte, zog er endlich die Hand leer heraus und rief: „Bei Gott, ich habe keinen Quarto! Doña Clara, gebt Ihr doch Prezioschen einen Real, ich werde ihn Euch wiedergeben.“ „Vortrefflich, Bester, da müßte ich erst einen haben! Wir alle zusammen haben keinen Viertelreal aufbringen können, um das Zeichen des Kreuzes damit zu machen, und Ihr verlangt einen ganzen von uns!“ „Nun, so gebt ihr einen Eurer Hemdkragen oder irgend etwas; Preziosa kommt ja noch einmal zu uns, und dann wollen wir sie besser bedenken.“ „Aber damit sie wiederkommt,“ versetzte Doña Clara, „will ich ihr diesmal lieber gar nichts geben.“ „Nein,“ entgegnete Preziosa, „wenn ich nichts erhalte, so komme ich auch niemals wieder. Oder doch, ich will wiederkommen, um so vornehmen Herrschaften einen Gefallen zu tun, aber ich finde mich schon im voraus darein, daß ich auch dann nichts erhalte, und erspare mir so die Mühe, auf etwas zu hoffen. Laßt Euch brav schmieren, Herr Stadtschultheiß, laßt Euch schmieren, so werdet Ihr Geld haben; führt keine neuen Sitten ein, sonst sterbt Ihr Hungers. Ich habe immer gehört, Euer Gnaden, (und so jung ich bin, so weiß ich doch, daß es kein gar gutes Wort ist) man müsse aus den Ämtern Geld ziehn, um bei den Visitationen die Strafen zahlen und neue Ämter erwerben zu können.“ „So sprechen und handeln gewissenlose Leute,“ erwiderte der Stadtschultheiß; „ein Richter, der bei der Visitation gut besteht, braucht keine Strafe zu zahlen, und hat er sein Amt gut verwaltet, so spricht das genug für ihn, wenn er ein neues sucht.“ „Euer Gnaden reden wie ein Heiliger,“ entgegnete Preziosa. „Fahrt so fort, und man wird Euch die Lumpen als Reliquien vom Leibe schneiden.“ „Was du nicht alles weißt, Preziosa!“ sagte der Stadtschultheiß. „Sei nur ruhig, ich werde es einzurichten wissen, daß die Majestäten dich vor sich kommen lassen, denn du bist eine Ware für Könige.“ „Sie werden mich zur Hofnärrin haben wollen,“ versetzte Preziosa, „und dazu bin ich verdorben. Wünschen sie mich aber, weil ich gescheit bin, so brauchen sie mich nur holen zu lassen; doch in manchen Palästen gedeihen die Narren besser als die Gescheiten. Übrigens befinde ich mich als arme Zigeunerin wohl, und das Schicksal mag alles fügen, wie der Himmel es will.“ „He, Kleine,“ rief die alte Zigeunerin, „schwatze nicht weiter, du hast genug geredet und weißt mehr, als ich dich gelehrt habe. Machs nicht zu fein. Allzu scharf macht schartig! Sprich von dem, was sich für deine Jahre schickt, und fliege mir nicht zu hoch hinaus, denn Hochmut kommt vor dem Fall.“ „Die Zigeunerinnen haben den Teufel im Leib!“ sagte der Stadtschultheiß. Sie nahmen Urlaub;  [...]

Ein vornehm gekleideter, offenbar adliger junger Mann wirbt um Preziosa und versichert, er werde ihr ganz zu Willen sein. Darauf antwortet sie ihm:
„Herr Ritter, bin ich auch nur eine arme und niedrig geborene Zigeunerin, so habe ich doch ein etwas schwärmerisches Köpfchen, das mich zu großen Dingen hinzieht. Mich rühren weder Versprechungen, noch machen mich Geschenke wankend, noch erweicht mich Unterwürfigkeit, noch bringen mich Liebesworte außer Fassung, und wenn ich auch nach der Rechnung meiner Großmutter am kommenden Michaelistage erst mein fünfzehntes Jahr vollende, so bin ich dem Geist nach doch schon gereift und weiter, als mein Alter vermuten läßt, freilich eher durch Mutterwitz als durch Erfahrung. Aber beides sagt mir, daß die Regungen der Liebe in denen, die zum erstenmal verliebt sind, blind wütenden Stürmen gleichen, die den Willen aus seinen Angeln heben, so daß er alle Hindernisse niederwirft, töricht dem Ziel seiner Wünsche nachstürzt und, während er in den Himmel zu fliegen glaubt, den ihm seine Augen vorspiegeln, in die Hölle seines Unglücks fällt. Erreicht er das, was er wünscht, so schwindet der Wunsch mit dem Besitz des ersehnten Gegenstandes, und wohl ists möglich, daß sich dann die Augen des Verstandes öffnen und er nun verabscheut, was er früher angebetet hat. Diese Besorgnis macht mich so behutsam, daß ich keinen Worten glaube und bei gar vielen Taten mißtrauisch bin. Ich habe ein einziges Juwel, das ich höher schätze als das Leben selbst: das ist meine jungfräuliche Unschuld, und die mag ich weder um Versprechungen noch um Geschenke verkaufen, denn immer wäre sie schließlich verkauft; und wäre sie mir feil, so würde ich sie sehr gering anschlagen. Auch werden sie mir weder eine List noch Vorspiegelungen entreißen, und eher soll sie mit mir ins Grab oder vielleicht in den Himmel gehn, als daß ich sie der Gefahr aussetze, von Hirngespinsten und Träumereien verletzt zu sehn. Die Jungfräulichkeit ist eine Blume, die sich womöglich nicht einmal durch Gedanken berühren lassen sollte. Wie schnell und leicht verwelkt eine vom Strauch gebrochene Rose! Der eine betastet sie, der andre riecht daran, ein dritter zerblättert sie, und endlich verdirbt sie unter rohen Händen. Wenn Ihr, mein Herr, nur auf diese Beute ausgeht, so könnt Ihr sie nicht anders bekommen als gebunden mit den Schnüren und Banden der Ehe. Soll die Jungfräulichkeit sich beugen, so kann es nur unter diesem heiligen Joch geschehn, denn dann geht sie nicht verloren, sondern wird zu einem freien Geschenk, das seinerseits wiederum einen herrlichen Gewinn verspricht. Wollt Ihr mein Gatte sein, so werde ich Eure Gattin; dem müssen jedoch erst gar manche Bedingungen und Prüfungen vorangehn. Zunächst muß ich erforschen, ob Ihr das, was Ihr sagt, wirklich seid. Bestätigt es sich, so müßt Ihr das Haus Eurer Eltern verlassen und es mit unsern Hütten vertauschen; Ihr müßt Zigeunertracht anlegen und zwei Jahre lang in unsre Schule gehn. Inzwischen kann ich mich dann genügend über Eure Gemütsart unterrichten, sowie Ihr Euch über meine. Nach Ablauf dieser Frist will ich Euch, falls Ihr mit mir zufrieden seid, als Eure Gattin angehören; bis dahin aber werde ich im Umgang nur Eure Schwester und Eure gehorsame Dienerin sein. Auch müßt Ihr bedenken, daß Ihr in der Zeit dieses Noviziats vielleicht Eure Sehkraft wiedererlangt, die gegenwärtig geschwunden oder doch getrübt sein muß, und dann vielleicht gewahr werdet, wie sehr Ihr zu fliehen habt, was Ihr gegenwärtig mit so großem Eifer verfolgt. [...
Preziosa sucht das Haus der Eltern ihres Bewerbers in Madrid auf:
Als sie ungefähr bis in die Mitte gekommen war, warf sie einen Blick auf ein paar vergoldete Balkone, die man ihr als Kennzeichen genannt hatte. Dort stand ein Kavalier von etwa fünfzig Jahren, mit einem farbigen Ordenskreuz auf der Brust und von achtunggebietender Erscheinung. Kaum hatte er das Zigeunermädchen bemerkt, so rief er ihr zu: „Kommt herauf, Kinder, ihr sollt ein Almosen haben!“ Bei diesem Ruf eilten noch drei andre Herren auf den Balkon, unter denen auch Andres war, und als er Preziosa gewahr wurde, erblich er und verlor fast die Besinnung, so überraschend wirkte ihr Anblick auf ihn. Sämtliche Zigeunerinnen stiegen hinauf, mit Ausnahme der Alten, die unten blieb, um bei der Dienerschaft Erkundigungen darüber einzuziehn, ob Andres die Wahrheit gesagt hatte. Als die Mädchen den Saal betraten, sagte der alte Herr eben zu den übrigen: „Das ist ohne Zweifel die schöne junge Zigeunerin, die gegenwärtig in Madrid umherziehen soll.“ „Sie ist es,“ erwiderte Andres, „und sie ist ohne Zweifel das schönste Geschöpf, das man je sah.“ „So sagt man,“ entgegnete Preziosa, die jene Worte im Hereintreten gehört hatte; „aber man täuscht sich wahrlich um wenigstens die Hälfte meines wirklichen Wertes. Hübsch glaube ich freilich zu sein, aber daß ich so schön wäre, wie die Leute behaupten, das glaube ich nicht.“ „Beim Leben meines Sohnes, meines Juanico,“ erwiderte der alte Herr, „du bist noch schöner als man sagt, niedliche Zigeunerin!“ „Und wer ist Euer Juanico?“ fragte Preziosa. „Der hübsche junge Mann da neben dir,“ erwiderte der Kavalier. „Glaubte ich doch wahrhaftig,“ versetzte Preziosa, „Euer Gnaden schwüren bei einem Kind von zwei Jahren! Seht einmal, welch ein Don Juanico! Welch eine Pracht! Auf mein Wort, der könnte schon eine Frau nehmen; und nach den Linien auf seiner Stirne werden auch keine drei Jahre ins Land gehn, ehe er eine hat, und zwar ganz nach seinem Geschmack, falls er ihn bis dahin nicht verliert oder gegen einen andern umtauscht.“ „Seht mir doch,“ bemerkte einer der Anwesenden, „was das Mädchen von Linien versteht!“ Unterdessen hatten sich die drei Begleiterinnen Preziosens in einen Winkel des Zimmers gedrängt, steckten die Köpfe zusammen und flüsterten, um nicht gehört zu werden, ganz leise miteinander. „Mädchen,“ sagte Christina, „das ist der Herr, der uns heute früh die drei schweren Realen gegeben hat.“ „Freilich, freilich,“ antworteten die andern, „aber wir wollen kein Wort darüber verlieren, wenn er selbst nichts sagt; wissen wir doch nicht, ob er sich gern zu erkennen gibt!“ Während dies unter den dreien vorging, erwiderte Preziosa dem, der die Bemerkung über die Deutung der Linien in der Hand gemacht hatte: „Was ich nicht mit den Augen sehe, das sagt mir mein kleiner Finger. So weiß ich vom Herrn Juanico, ohne seine Hand gesehen zu haben, daß er ein wenig verliebt, ungestüm, vorschnell ist und gern Dinge verspricht, die unmöglich scheinen; und wolle Gott, daß er nicht etwa gar lügnerisch ist, denn das wäre das Schlimmste von allem. Er hat jetzt eine Reise an einen weit entfernten Ort zu machen; aber anders denkt der Rappe und anders der, der ihn sattelt. Der Mensch denkt, und Gott lenkt. Vielleicht vermeint er nach Oñez zu gehn und kommt nach Gamboa.“ Da erwiderte Don Juan: „Wahrhaftig, Zigeunermädchen, du hast manches von meiner Gemütsart erraten; was aber die Neigung zum Lügen betrifft, so bist du auf ganz falschem Wege, denn ich rühme mich, in jedem Fall die Wahrheit zu sagen. In betreff der weiten Reise hast du wiederum recht; gefällt es Gott, so werde ich allerdings in vier oder fünf Tagen nach Flandern aufbrechen, und zwar trotz deiner Prophezeiung, daß ich den Weg verfehlen werde; denn ich hoffe nicht, daß mir unterwegs irgendein Unfall zustößt, der mich daran hindern könnte.“ 
„Still, kleiner Herr!“ erwiderte Preziosa. „Empfiehl dich Gott, so wird alles gut gehn, und sei versichert, daß ich nichts von dem, was ich zu wissen behauptet habe, wirklich wußte; und das ist auch weiter kein Wunder, denn da ich aufs Geratewohl allerlei herausschwatze, so treffe ich mitunter auch die Wahrheit. Jetzt möchte ich nur, ich könnte dich mit ebensoviel Erfolg überreden, nicht abzureisen, sondern ruhigen Herzens bei deinen Eltern zu bleiben und ihnen ein glückliches Alter zu bereiten; denn bei diesem Hin- und Herreisen nach Flandern kommt nichts Gutes heraus, besonders für junge Leute von so zartem Alter. Werde erst ein wenig älter, um die Beschwerden des Kriegs ertragen zu können, um so mehr, als du Krieg genug im eignen Hause hast und genug der Liebeskämpfe in deinem Herzen stürmen. Ruhig, ruhig, kleiner Brausekopf, und bedenke, was du tust, ehe du heiratest, uns aber gib ein Almosen um Gottes und deiner selbst willen; denn ich glaube wahrhaftig, du bist aus trefflichem Stamme; und kommt die Wahrhaftigkeit noch hinzu, so will ich, wenn sie sich erprobt hat, ein Jubellied anstimmen, weil ich in all meinen Angaben das Richtige getroffen habe.“ „Ich sagte dir schon, mein Kind,“ entgegnete der Don Juan, der zum ‚Herren-Andres‘ werden sollte, „daß du in allem die Wahrheit triffst; nur in deiner Besorgnis, ich sei nicht sonderlich wahrheitsliebend, irrst du völlig. Das Wort, das ich dir im Felde gebe, halte ich in der Stadt und wo sonst du willst, ohne mich erst mahnen zu lassen; denn wer dem Laster der Lüge verfällt, darf sich für keinen Ritter achten. Mein Vater wird dir um Gottes und meinetwillen ein Almosen reichen; denn wahrlich, ich habe, was ich bei mir hatte, heute früh einigen Damen gegeben, die mir keine sonderlichen Zinsen zahlen werden, wenn sie, besonders die eine unter ihnen, so leichtfertig sind wie schön.“ [...]

Andres/Don Juan täuscht eine Reise vor, geht aber zu den Zigeunern (wie es ihm Preziosa als Vorbedingung für eine Verbindung mit ihr abverlangt hat) und wird von ihnen aufgenommen:
Als die Zeremonien vorüber waren, nahm ein alter Zigeuner Preziosen bei der Hand, führte sie Andres vor und sprach: „Dieses Mädchen, die Blume und den Ausbund aller Zigeunerschönheit in Spanien, übergeben wir dir zum Weibe oder zur Liebsten, denn hierin kannst du tun, was am meisten nach deinem Geschmack ist; unser reiches, freies Leben ist keinen Zierereien und Förmlichkeiten unterworfen. Betrachte sie genau und sieh, ob sie dir recht ist, oder ob du irgend etwas an ihr bemerkst, was dir mißfällt; denn dann wähle dir unter den andern Mädchen, die hier stehn, diejenige aus, mit der du am meisten zufrieden bist, und wir werden sie dir überlassen. Wisse aber, wenn du sie einmal gewählt hast, so darfst du sie nicht um einer andern willen wieder verlassen oder mit andern, sei es Verheirateten oder Mädchen, zusammenhalten, denn wir beobachten das Gesetz der Freundschaft unverbrüchlich. Keiner streckt die Hand nach dem Gute des andern aus, wir leben frei und ledig von der Pest der Eifersucht, und gibt es auch manche Ehe unter Blutsverwandten, so gibt es doch keinen Ehebruch bei uns. Kommt bei einem Eheweib oder bei einer Liebsten eine Untreue vor, so gehen wir nicht erst vor Gericht, um Strafe zu fordern, sondern wir selbst sind die Richter und Nachrichter unsrer Weiber und Liebsten, die wir so ohne alle Umstände auf den Bergen und in den Wüsten umbringen und begraben, als wären sie schädliche Tiere. Da gibt es keinen Verwandten, der Rache für sie nähme, keine Eltern, die uns wegen ihres Todes verklagten. So wird durch Angst und Furcht die Zucht unter den Frauen erhalten, und wir selber leben in Sicherheit. Außer der Frau oder der Liebsten jedoch, die stets dem verbleibt, dem sie durch das Schicksal zufiel, haben wir wenig, was nicht gemeinsames Eigentum wäre. Außer dem Tod aber scheidet bei uns auch das Alter den Ehebund. Wer will, kann, falls er selbst jung ist, eine alte Frau verlassen und eine andre wählen, die dem Geschmack seiner Jahre mehr zusagt.