02 April 2010

Brüder Grimm, Wikipedia und Wikisource

"Spezialisten fürs Unsichere" nennt Steffen Martus in seiner gleichnamigen Biographie Die Brüder Grimm. Das mussten sie sein, wenn sie am Neuen Literarischen Anzeiger mitarbeiteten, der zwei andere Zeitschriften fortsetzte, die jeweils nur vier bzw. fünf Jahre durchgehalten hatten. Er selbst bestand nur zwei Jahre.
Wenn Martus die Leser/Mitarbeiter dieser Art von Zeitschriften kennzeichnet, so trifft er damit die Leser/Mitarbeiter der Wikipedia. Freilich mag seine Formulierung auf Seite 120 auch von der ihm bekannten Arbeitsweise der Wikipedia beeinflusst sein:
Der Leser, der zugleich potentieller Beiträger war, musste sich mit prinzipieller Unsicherheit abfinden. Weder durfte er blind auf das vertrauen, was er las, noch zu sehr von der abschließenden Gültigkeit der eigenen Thesen überzeugt sein.
Hart arbeitet die Wikipedia gegenwärtig daran, dieses Image zu beseitigen, und doch wird sie lebendig nur bleiben können, wenn sie sich einiges von diesem Geiste bewahrt.
Doch auch die Abkehr von Unsicherheit und die Wendung zu Festigkeit und dauernder Gültigkeit teilt die Wikipedia mit den Brüdern Grimm. Denn anders als Arnim und Brentano in ihrer Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" geht es ihnen nicht primär darum "eine Mode an altdeutscher Poesie zu erregen", sondern darum "die Quellen altdeutscher Poesie zu retten". Diese Absicht des Bewahrens teilt Wikisource, das Tochterunternehmen der Wikipedia, mit den Brüdern Grimm (nur dass es hier nicht nur um Poesie geht und dass vor allem die freie Nutzung der Quellen im Sinne von open source das zentrale Anliegen der dortigen Editionen ist).
So erscheint es nur passend, dass die Märchen der Brüder Grimm in ihren verschiedenen Auflagen in der Wikisource publiziert werden.
Freilich wird dabei auch dokumentiert, wie stark die wissenschaftlichen Sammler bei ihrer Wiedergabe, genauer: Neuformulierung der Märchen auf den Geschmack des Publikums eingehen, um damit wiederum seinen Geschmack zu prägen. Wie kurz und knapp ist die Überlieferung, von der die Brüder ausgehen, und wie sehr versteht es Wilhelm Grimm, einen romantischen Märchenton über den Text zu legen.
Die gewaltigen Unterschiede der "Kinder- und Hausmärchen" zu den keltischen Märchen, wie sie etwa Frederik Hetman (Autorenname von Hans-Christian Kirsch) gesammelt hat, könnten daher auch auf unterschiedliche Arten der Redaktion der Ausgangstexte zurückgehen.
Steffen Martus kennzeichnet die Brüder Grimm "als Marketing-Spezialisten, die einfach behaupteten, ihre Märchen seien mündlich überliefert - obwohl sie die meisten in verstaubten Bibliotheken gefunden und dann gehörig bearbeitet hatten; so lange, bis jener Märchen-Erzählton gefunden war, der den Leser noch heute in diese schaurig-schöne Stimmung versetzt..." (so formuliert vom Rezensenten seiner Doppelbiographie Marcus Weber).
Diese Arbeitsweise kann man mitverfolgen, wenn man die verschiedenen Auflagen der Grimmschen Märchen bei Wikisource vergleicht und man kann auch noch selbst an deren Edition bei Wikisource mitwirken, denn etwa die Auflage von 1843 ist noch nicht zweimal korrekturgelesen.

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