30 August 2015

Der Bär in "Lilis Park"

Lilis Park 

Ist doch keine Menagerie
 So bunt als meiner Lili ihre!
Sie hat darin die wunderbarsten Tiere
Und kriegt sie 'rein, weiß selbst nicht wie.
O wie sie hüpfen, laufen, trappeln,
Mit abgestumpften Flügeln zappeln,
Die armen Prinzen allzumal,
In nie gelöschter Liebesqual!


»Wie hieß die Fee? Lili?« – Fragt nicht nach ihr!
Kennt ihr sie nicht, so danket Gott dafür.


Welch ein Geräusch, welch ein Gegacker,
Wenn sie sich in die Türe stellt
Und in der Hand das Futterkörbchen hält!
Welch ein Gequiek, welch ein Gequacker!
Alle Bäume, alle Büsche
Scheinen lebendig zu werden:
So stürzen sich ganze Herden
Zu ihren Füßen; sogar im Bassin die Fische
Patschen ungeduldig mit den Köpfen heraus.
Und sie streut dann das Futter aus
Mit einem Blick – Götter zu entzücken,
Geschweige die Bestien. Da geht's an ein Picken,
An ein Schlürfen, an ein Hacken;
Sie stürzen einander über die Nacken,
Schieben sich, drängen sich, reißen sich,
Jagen sich, ängsten sich, beißen sich,
Und das all um ein Stückchen Brot,
Das, trocken, aus den schönen Händen schmeckt,
Als hätt es in Ambrosia gesteckt.
[334]
Aber der Blick auch! der Ton,
Wenn sie ruft: »Pipi! Pipi!«,
Zöge den Adler Jupiters vom Thron;
Der Venus Taubenpaar,
Ja der eitle Pfau sogar,
Ich schwöre, sie kämen,
Wenn sie den Ton von weitem nur vernähmen.


Denn so hat sie aus des Waldes Nacht
Einen Bären, ungeleckt und ungezogen,
Unter ihren Beschluß herein betrogen,
Unter die zahme Kompanie gebracht
Und mit den andern zahm gemacht:
Bis auf einen gewissen Punkt, versteht sich!
Wie schön und ach! wie gut
Schien sie zu sein! Ich hätte mein Blut
Gegeben, um ihre Blumen zu begießen.


»Ihr sagtet: ich! Wie? Wer?«
Gut denn, ihr Herrn, gradaus: Ich bin der Bär;
In einem Filetschurz gefangen,
An einem Seidenfaden ihr zu Füßen.
Doch wie das alles zugegangen,
Erzähl ich euch zur andern Zeit;
Dazu bin ich zu wütig heut.


Denn ha! steh ich so an der Ecke
Und hör von weitem das Geschnatter,
Seh das Geflitter, das Geflatter,
Kehr ich mich um
Und brumm,
Und renne rückwärts eine Strecke,
Und seh mich um
Und brumm,
Und laufe wieder eine Strecke,
Und kehr doch endlich wieder um.
[335]
Dann fängt's auf einmal an zu rasen,
Ein mächt'ger Geist schnaubt aus der Nasen,
Es wildzt die innere Natur.
Was, du ein Tor, ein Häschen nur!
So ein Pipi! Eichhörnchen, Nuß zu knacken;
Ich sträube meinen borst'gen Nacken,
Zu dienen ungewöhnt.
Ein jedes aufgestutzte Bäumchen höhnt
Mich an! Ich flieh vom Bowlinggreen,
Vom niedlich glatt gemähten Grase;
Der Buchsbaum zieht mir eine Nase,
Ich flieh ins dunkelste Gebüsche hin,
Durchs Gehege zu dringen,
Über die Planken zu springen!
Mir versagt Klettern und Sprung,
Ein Zauber bleit mich nieder,
Ein Zauber häkelt mich wider,
Ich arbeite mich ab, und bin ich matt genung,
Dann lieg ich an gekünstelten Kaskaden
Und kau und wein und wälze halb mich tot,
Und ach! es hören meine Not
Nur porzellanene Oreaden*.



Auf einmal! Ach, es dringt
Ein seliges Gefühl durch alle meine Glieder!
Sie ist's, die dort in ihrer Laube singt!
Ich höre die liebe, liebe Stimme wieder,
Die ganze Luft ist warm, ist blütevoll.
Ach, singt sie wohl, daß ich sie hören soll?
Ich dringe zu, tret alle Sträuche nieder,
Die Büsche fliehn, die Bäume weichen mir,
Und so – zu ihren Füßen liegt das Tier.
[336]
Sie sieht es an: »Ein Ungeheuer! doch drollig!
Für einen Bären zu mild,
Für einen Pudel zu wild,
So zottig, täpsig, knollig!«
Sie streicht ihm mit dem Füßchen übern Rücken;
Er denkt im Paradiese zu sein.
Wie ihn alle sieben Sinne jücken!
Und sie – sieht ganz gelassen drein.
Ich küß ihre Schuhe, kau an den Sohlen,
So sittig, als ein Bär nur mag;
Ganz sachte heb ich mich und schwinge mich verstohlen
Leis an ihr Knie – am günst'gen Tag
Läßt sie's geschehn und kraut mir um die Ohren
Und patscht mich mit mutwillig derbem Schlag;
Ich knurr, in Wonne neu geboren;
Dann fordert sie mit süßem, eitlem Spotte:
»Allons tout doux! eh la menotte!
Et faites serviteur
Comme un joli seigneur.«*
So treibt sie's fort mit Spiel und Lachen!
Es hofft der oft betrogne Tor;
Doch will er sich ein bißchen unnütz machen,
Hält sie ihn kurz als wie zuvor.

*Hallo, ganz lieb sein! Gib Pfötchen! Und mach einen Diener wie ein feiner Herr!


Doch hat sie auch ein Fläschchen Balsamfeuers,
Dem keiner Erde Honig gleicht,
Wovon sie wohl einmal, von Lieb und Treu erweicht,
Um die verlechzten Lippen ihres Ungeheuers
Ein Tröpfchen mit der Fingerspitze streicht
Und wieder flieht und mich mir überläßt,
Und ich dann, losgebunden, fest
Gebannt bin, immer nach ihr ziehe,
Sie suche, schaudre, wieder fliehe –
So läßt sie den zerstörten Armen gehn,
Ist seiner Lust, ist seinen Schmerzen still;[337]
Ha! manchmal läßt sie mir die Tür halb offen stehn,
Seitblickt mich spottend an, ob ich nicht fliehen will.


Und ich! – Götter, ist's in euren Händen,
Dieses dumpfe Zauberwerk zu enden,
Wie dank ich, wenn ihr mir die Freiheit schafft!
Doch sendet ihr mir keine Hülfe nieder –
Nicht ganz umsonst reck ich so meine Glieder:
Ich fühl's! Ich schwör's! Noch hab ich Kraft!

Goethe: Gedichte, Zeno, S.433-437

Der Bär ist Goethe. Das Gedicht ist 1775 entstanden. 
"Heinrich Düntzer kommentierte in seiner Ausgabe der Gespräche Goethes   mit   Eckermann  (Leipzig 1885) dessen Feststellung (vom 5. März 1830), seine „erste und letzte“ Liebe sei Lili Schönemann gewesen, mit der Anmerkung (S. 283): „Auch dies konnte Goethe nicht mit Recht behaupten.“ In seinem Kommentar zu Die natürliche Tochtervon Goethe (Jena 1859) bemerkte er (S. 16): „Das ist irrig“." (Wikipedia)
Der Leser dieses Gedichts kann den Eindruck bekommen, vielleicht habe Goethe zumindest für 1775 doch Recht gehabt, auch wenn er seine Abhängigkeit scherzhaft behandelt, als sei sie rein höfliche Huldigung.

27 August 2015

Pierre Lemaitre: Wir sehen uns dort oben

Wenn ich nicht eine gewisse Übung darin hätte, fünfzig, hundert oder auch einmal zweihundert Seiten zu überschlagen, hätte ich dies Buch, das seinem Verfasser den Prix Goncourt einbrachte, wohl bald beiseite gelegt. Zu wenig fand ich motiviert, dass ich realistisch vorgeführt bekommen sollte, wie es ist, verschüttet zu werden.
Doch wenn man "Kunst zu rezipieren – und insbesondere zu lesen" –  als einen 'kreativen Vorgang' begreift, bei dem der Leser sich das aus dem Werk herausgreift, was ihn anspricht*, dann muss man auch die Bereitschaft mitbringen, sich gegen die Intention des Autors durchzusetzen. So kam ich dann doch noch so sehr zum trivialen Genuss der parodistisch-spannenden Passagen, dass ich dann wieder Abstand schaffen musste, um nicht zu sehr hineingezogen zu werden. Daher schiebe ich diesen Kurzbericht dazwischen. 

* Dazu Lesen als Kunst der Wieder­erken­nung von Martin Kulik über Gaddis und sein Verständnis des Lesers:
„Everybody has that feeling when they look at a work of art and it´s right, that sudden familiarity, a sort of… recognition, as though they were creating it themselves, as though it were being created through them while they look at it or listen to it.“ William Gaddis: The Recognitions

24 August 2015

Goethe: Zwei Gedichte - Hölderlin: eins

Gesang der Geister über den Wassern 
Des Menschen Seele 
Gleicht dem Wasser: 
Vom Himmel kommt es, 
Zum Himmel steigt es, 
Und wieder nieder 
Zur Erde muß es, 
Ewig wechselnd. 
Strömt von der hohen, 
Steilen Felswand 
Der reine Strahl, 
Dann stäubt er lieblich 
In Wolkenwellen 
Zum glatten Fels, 
Und leicht empfangen 
Wallt er verschleiernd, 
Leisrauschend 
Zur Tiefe nieder. 
Ragen Klippen 
Dem Sturz entgegen, 
Schäumt er unmutig 
Stufenweise 
Zum Abgrund. 
Im flachen Bette 
Schleicht er das Wiesental hin, 
Und in dem glatten See 
Weiden ihr Antlitz 
Alle Gestirne. 
Wind ist der Welle 
Lieblicher Buhler; 
Wind mischt vom Grund aus 
Schäumende Wogen. 
Seele des Menschen, 
Wie gleichst du dem Wasser 
Schicksal des Menschen, 
Wie gleichst du dem Wind!

Man vergleiche damit:

Hyperions Schiksalslied

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.

Bei Goethe ist der Mensch in beiden Sphären, bei Hölderlin nur im stürzenden Wildbach.
vergleiche auch: Grenzen der Menschheit

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
 Wer nie die kummervollen Nächte
 Auf seinem Bette weinend saß, 
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte. 
Ihr führt ins Leben uns hinein, 
Ihr laßt den Armen schuldig werden, 
Dann überlaßt ihr ihn der Pein: 
Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

20 August 2015

E. Marlitt: Goldelse

Den ganzen Tag über hatte es geschneit, und zwar so recht mit Muße und Gemächlichkeit, so daß die Dächer und Fenstersimse dicke, fleckenlos weiße Polster angelegt hatten.  [...]
Nun brach ein früher Abend herein und mit ihm ein wilder Sturm, der heimtückisch in die niedertaumelnden Schneeflocken fuhr, wie ein Raubtier zwischen eine friedliche Taubenschar. Mag auch das Wetter derart sein, daß der gemütliche Kleinstädter nicht einmal seinen Hund, geschweige denn seine eigenen, edlen Gliedmaßen außerhalb der vier Wände wissen will, in der großen Hauptstadt B. merkt man abends zwischen sechs und sieben Uhr keinen auffallenden Unterschied hinsichtlich der Straßenfrequenz. Die Gasflammen ersetzen die Himmelslichter, die nicht kommen wollen; um die Ecken jagen die Equipagen in so wütender Eile, daß die Fußgänger nur durch einen kühnen Sprung an die Häuser Leben und Glieder retten; dafür folgt ein Schwall kräftiger Flüche dem pelzverbrämten Kutscher und dem eleganten Wagen, hinter dessen festgeschlossenen Scheiben reizende Damen ihr blumengeschmücktes Köpfchen mühsam über die ungeheuren Wogen des umfangreichen Gazekleides heben und keine Ahnung davon haben, daß in diesem Augenblicke Feuer und Schwefel auf ihre duftenden Locken herabgewünscht werden. [...]
Herr von Gnadewitz, der Letzte seines Stammes, war Kammerherr in Fürstlich X.schen Diensten, zudem Inhaber hoher Orden und verschiedener Rittergüter, wie auch Besitzer aller Charaktereigenschaften, die, seiner Ansicht nach, einem Hochgebornen zukommen, und die er »vornehm« nannte, weil dem gemeinen Manne bei der derben Hausmannskost der Moral und dem strengen Muß der Verhältnisse und Sitten jedwedes Verständnis für jene unnachahmliche Grazie und Eleganz des Lasters abgehe. [...]
Allein der angeregten Phantasie gegenüber spielt der Verstand oft eine klägliche Rolle. Mitten in der Untersuchung verschwinden plötzlich Ankläger und Zeugen, er sieht sich allein auf seinem Richterstuhle und muß es sich sogar gefallen lassen, daß er hinter die Kulissen gesteckt wird, während um und neben ihm die Spektakelstücke der Phantasie von vorn anheben. [...]
Sie überblickte den Garten und dachte an ihre Kinderjahre, an jene Momente voll unbezwingbarer Sehnsucht, wo sie beim Spaziergange hinter den Eltern zurückblieb und, ihr Gesicht an das festgeschlossene Gitter gepreßt, in fremde Gärten hineinsah. Dort tummelten sich glückliche Kinder ungezwungen auf den Rasenplätzen; sie durften die aufgeblühten Rosen am Stocke in ihre kleinen Hände nehmen und sich an dem Dufte erquicken, solange sie wollten . . . Und was mußte das für eine Lust sein, den kleinen Körper unter einen vollen Strauch zu ducken und gerade so im Grünen zu sitzen, wie die großen Leute in einer Laube! Damals blieb es bei Wunsch und Sehnsucht. Nie öffnete sich eine der geschlossenen Thüren vor dem Kinde mit den bittenden Augen, und es wäre doch schon zufrieden gewesen, wenn man durch das Gitter einige Blumen in seine kleinen Hände gelegt hätte. [...]
Bisweilen streckte ein Schwan seinen weißen Hals neugierig in den Schatten der Allee, wobei seine Flügel einen blitzenden Regenschauer an die alten Stämme schleuderten – ein klarer kleiner See schmiegte sich dicht an ihre Füße; er lag in diesem Augenblicke ziemlich melancholisch in seinem blumengeschmückten Ringe, denn ein bewölkter Himmel spiegelte sich in seiner Fläche. [...]
Die Dame hielt zwischen den feinen, fast durchsichtig mageren Fingern einige Aurikeln, welche sie gedankenlos unaufhörlich hin und her drehte. Nur auf den schmalen Lippen lag ein schwacher Anflug von Rot, sonst war das Gesicht lilienweiß, man hätte sich versucht fühlen können, seine Lebenswärme zu bezweifeln, hätten nicht die blauen Augen in einem wundersamen Ausdrucke geleuchtet. Diese Augen mit diesem Ausdrucke aber waren auf das Gesicht eines Mannes gerichtet, der, gegenüber sitzend, ihr vorzulesen schien. Elisabeth konnte sein Gesicht nicht sehen, denn er wendete ihr den Rücken zu. Er schien jung, groß und schlank zu sein und hatte üppiges dunkelblondes Haar. »Ist die reizende Dame da drunten die Baronin Lessen?« fragte Elisabeth gespannt. Der Oberförster nahm das Perspektiv. »Nein,« sagte er, »das ist Fräulein von Walde, die Schwester des Besitzers von Lindhof. Du nennst sie reizend, und ihr Kopf ist es auch, aber ihr Körper ist krüppelhaft – sie geht an der Krücke.« [...]
man hätte den Schatten der Lindenblätter auf dem hellbeleuchteten Rasen nachzeichnen können, so unbeweglich hingen sie droben.

18 August 2015

Achim von Arnim:Die Verkleidungen des französischen Hofmeisters und seines deutschen Zöglings

Löwen
Heute war mein Geburtstag, ich bin nun 19 Jahre alt und habe meine Rechtsstudien, mit denen andre kaum in ihrem 24sten Jahr fertig werden, fast beendigt. Ich hoffte jetzt von aller Aufsicht frei zu sein, als mir mein Vater vor vier Wochen den seltsamen französischen Hofmeister schickte, der mir zu beweisen sucht, daß ich noch gar nichts wisse, daß ich noch gänzlich unerzogen sei und meine Lehrjahre nun erst anfangen müsse. Ich berichtete dagegen an meinen Vater, dieser aber zerschmettert alle meine Gründe mit väterlicher Allmacht, befiehlt, mich ganz der Führung des Franzosen zu überlassen, mit dem ich in die Welt eintreten sollte. Der Hofmeister spricht von dieser Welt, als ob sie ganz das Eigentum König Ludwigs XIV. und seiner Franzosen sei, als ob ich dazu noch einmal geboren werden müßte, und ich freue mich gar nicht darauf. Ich soll mich nun besinnen, soll bestimmte Absichten verfolgen und mich nicht fortreißen lassen von Lüsten zu wissenschaftlichen Beschäftigungen. Zu diesem Behufe hat er mir heute das Versprechen abgenommen, alle Abende treulich aufzuschreiben, was ich gedacht und erlebt habe, darüber Betrachtungen anzustellen, was wahr, was falsch, was versäumt oder übereilt sei. Er wußte mir das Unternehmen eines solchen Tagebuchs als höchst nützlich, als sehr unterhaltend darzustellen, heute kann ich aber keins von beiden darin finden. Ich habe nichts erlebt, und gedacht habe ich auch nicht viel, der Vetter führte mich zur Feier des Geburtstages zu den Landsleuten, es wurde viel Bier getrunken. Zu Hause habe ich wieder meine Institutionen geritten und das Buch des Hofmeisters über die Lebensart der großen Welt und die Kunst, Liebesbriefe zu schreiben, aufzuschlagen vergessen. Tue ich daran unrecht, so tue ich es doch nicht mehr als er selbst, wenn er die Zeit des Schlafengehens vergißt und seine Begierde, über Indien etwas zu erfahren, aus tausend vergessenen Büchern befriedigt. Dieser Götzendienst wird ihn in seinen geistlichen Studien als Abbé nicht weiterbringen, die Welt wird sich auch um dergleichen tolles Zeug nicht viel kümmern. Jene Völker scheinen mir nach allem, was er erzählt, eher eine Art Affen, denn vernünftige Menschen, und fänden sich dort nicht die kostbaren Steine und Gewürze, so möchte wohl kein vernünftiger Mensch dahinziehen, mein Herr Hofmeister ausgenommen, der den festen Vorsatz dazu hegt, wenn er meine Erziehung beendigt hat. Ich darf hier dreist über ihn schreiben, der Horcher an der Wand hört seine eigne Schand, und er hat mir bei seiner Ehre geschworen, dieses mein Tagebuch so heilig zu achten, als wäre es die Beichte, die ich meinem Pater Bonifaz ablegte, er will mich auch in der besten Absicht nicht belauschen und nicht in dieses mir dazu geschenkte rote Buch blicken, auch wenn ich es offen neben ihm liegenließe. Er ist ein Mann von Wort, das habe ich schon an ihm achten lernen, ein Mann von sicherem, festem Betragen, den ich nicht wie seinen Vorgänger zu bewachen brauche gegen den Mutwillen der Studenten und gegen eigne dumme Streiche. Was der Abbé die Welt nennt, ist freilich nicht viel anders, als was Pater Bonifaz als den Teufel schilderte, seine Welt ist Paris, und unsre gute Stadt Köln mit allen ihren Heiligtümern ist ihm nicht so viel wert als die Vorzimmer der berühmten Pariserinnen, aus denen er jeden Einfall mit listigem Behagen wiederholt. Immer spricht er von Komödien, worin er mit andern Liebhabern spielte, wie er in Maskenverkleidung die Leute angeführt hat. Er kann es nicht ertragen, daß mir die jetzt lebenden berühmten französischen Schriftsteller langweilig sind. Wie sprang er auf, als ich die Tragödien der Herren Corneille und Racine bei der Zusammenstellung mit den alten Originalen dem schlechten seidnen Zeuge ähnlich fand, das meine Mutter mir zum Schlafrock aus geflickten bunten seidnen Lappen weben ließ; es hält zwar, aber es ist schlechter als jeder einzelne Lappen, der dazu verwendet worden. Er behauptete, der Anstand fordere es, das Anerkannte zu loben, in Frankreich stehe das Urteil fest, und ich würde mir selbst am meisten durch dergleichen Einfälle schaden. Er hat Augen, als ob er einem ins Herz sehen könnte, er plagt sich mit vielen Sorgen für mich, er scheint es gut mit mir zu meinen, daß ich aber dieses Tagebuch zur Sprachübung französisch schreiben muß, ist eine verdammte Plage, die er mir aufgelegt hat. Ich habe ihm darauf mein Wort gegeben, er stellte es mir so leicht vor, und nun schreibe ich doch manchmal etwas andres, als ich schreiben wollte. Brüssel
Mein Herr Hofmeister ist verrückt. Heute läßt er mich aus dem Kollegio zu sich rufen und sagt mir, daß mein Vater mich in Brüssel erwarte, wohin ihn eilige Geschäfte gerufen. Ich finde schon alles Nötige gepackt, ja noch viel mehr, als zu einer so kleinen Reise mir notwendig geschienen hätte, kaum habe ich noch einen Augenblick Zeit, zum Vetter zu laufen, um von ihm Abschied zu nehmen. Der will es kaum glauben und versichert mir, er habe auf mich gar sehr gerechnet bei einer Streitigkeit, welche die Studenten mit den Soldaten anfangen wollten, um einen derselben zu befreien, der zum Tode verurteilt worden, weil er sich von ihm und andern Studenten von seinem Posten fort zu einem Trinkgelage habe führen lassen. Ich war in Verzweiflung, daß ich nicht dabei sein sollte, aber der Vetter rät, die Reise nicht auszusetzen, weil er den Ernst meines Vaters kennt. [...]
Ich stand spät auf, die Wirtin übergab mir einen kurzen Brief von Chardins Hand, er sagte darin, daß er mit diesem Feste meine Erziehung beendigt und sein meinem Vater gegebenes Versprechen, seine Tochter mit mir zu vermählen, erfüllt habe. Sein Vermögen als Mitgabe der Tochter habe er schon größtenteils meinem Vater übergeben. Er sei jetzt fortgeeilt nach Indien, weil der Edelmut des Marquis sich allen seinen Absichten würde entgegengestellt haben. Er hoffe uns wiederzusehen, wenn er die Diamantgruben und die Perlen im Meere zu seiner Befriedigung gesehen, auch eine Frau sich auserwählt habe, die sich nach seinem Tode lebendig verbrennen lasse, und dadurch die Tugend seiner europäischen Frau noch bei weitem überträfe. Zwei Jahre warten sei mit der Ewigkeit nicht zu vergleichen, in welche sich jene auf gut Glück stürzten, um die Seele der Geliebten einzuholen, und er könne immer ein paar Jahre daranwenden, um solch eine Frau für die Ewigkeit sich zu verdienen, der er willig seine sämtlichen alten Glaubensbekenntnisse aufzuopfern dächte.
Diese ironischen Äußerungen möchten wohl das einzige ihm entschlüpfte Zeichen des Unmuts über die Verheiratung seiner Frau gewesen sein, wenn ich aber der Heftigkeit seines Wesens in Brüssel gedenke, als er jene Entdeckung gemacht, so möchte ich fast glauben, daß nur sein großer Lebensmut ihn damals der Verzweiflung entrissen.
Als ich nach Chardin fragte, erfuhr ich, daß er gleich nach einer Serenade, die er uns gebracht, sich auf ein frisches, gekauftes Pferd gesetzt hatte und ohne Begleitung fortgeritten war.
Wir hatten keine Zeit, ihm in unsrer Betrübnis nachzublicken, der Marquis trieb zur Abfahrt. Wir kamen glücklich über die Grenze und ohne Unfall nach Amsterdam, wo wir die Marquise, meine Schwiegermutter, von unsrer Ankunft sehr überrascht fanden, da unser Fluchtgeheimnis keinem Briefe anvertraut werden durfte.
Sehr verwundert erkannte sie in ihrem Schwiegersohne die vermeinte zweite Frau ihres ersten Mannes.
Sie schämte sich der Vertraulichkeit, die sie mir bewiesen, aber die Ereignisse waren doch wohl zu bedeutend, um solchen kleinen Grillen nachzuhängen. Gut war es, daß Chardin sich aus diesem Weltteile fortgeschlichen hatte, meine Schwiegermutter hätte sich sonst so wenig entschlossen wie der Marquis, beieinander verehelicht zu bleiben. Jetzt aber beruhigte sich meine Schwiegermutter mit dem Gedanken, der Mann sei gar nicht so ernster Entschlüsse wert gewesen, er sei nichts als ein Spaßmacher, ein Komödienspieler, eine Maske gewesen.
Ich und meine Frau sind nicht dieser Meinung, aber warum sollten wir sie stören, gewiß aber ist es, daß ihr Ernst und sein Mutwille nicht zusammen gehörten.
Chardin ist auf einem portugiesischen Schiff glücklich entkommen, er schickte ein heitres Schreiben durch ein begegnetes heimkehrendes holländisches Schiff mit mehreren Krügen eingemachter ostindischer Früchte, die er dem Holländer abgekauft hatte. Eben fütterten wir einander damit, meine Frau und ich: Wunderbare süße Früchte – doch kaum so wunderbar, so süß wie meine Laura.

Achim von Arnim: Die drei liebreichen Schwestern und der glückliche Färber

»Nicht wahr Lenchen, nun bist du doch nicht mehr bange, daß du mit mir aufs Dorf gegangen, wie jedes andre Mädchen mit seinem Schatze alle Sonntage tut, besonders aber heute, wo ein so schöner Pfingsttag am Himmel steht?« – »Wer hat Ihm gesagt, daß Er mein Schatz ist«, antwortete das schöne Lenchen ganz trocken dem Lehrburschen Fritz Golno, »ich habe einen ganz andern Schatz, und der liegt mir immer in Gedanken.« – »Lenchen, das ist nicht wahr«, antwortete Fritz, und lachte, nahm den Bierkrug und trank: »Aufs Wohlsein deines Schatzes!« – Lenchen trank mit, wischte sich den Mund und sagte: »Ich habe doch noch einen andern Schatz, und damit Er es glaubt, seh Er einmal in mein Arbeitskörbchen!« – »Mädchen, liebe Lene«, schrie der Fritz, als er einen Blick in das Körbchen geworfen, »ich bitte dich, liebe Lene, du hast doch nicht [586] gestohlen? Gib's Geld her, ich will's heimlich wieder hinlegen, wenn du's dem Meister, oder woher du es genommen hast. Ach Lene, wie hast du mich lieben können und dich vom Satan blenden lassen? sieh nur, die Vögel in der Linde ängstigen mich, daß sie es wieder sagen, und ich meine, das Gras hat Ohren.« – »Sei Er ruhig Golno«, sagte Lene und klapperte mit dem Gelde, »rede Er nicht so dumm vom Stehlen, wofür sieht Er mich an? Was ich habe, das ist mein, das hat mir meine himmlische Mutter geschenkt, und dafür soll Er Geselle und Meister werden, und sich einrichten; ich brauch's nicht, da hat Er's, und sei Er sparsam damit, und kein Narr mit einem roten Kamisol, wozu Er neulich so große Lust hatte; seine Kleider machen ihn vor meinen Augen nicht schöner.« – »Lenchen«, sagte er, »du weißt, ich traue dir sonst in allem, was du sagst, du hast noch niemand am Narrenseil geführt, aber ich nehme keinen Heller an, bis du mir erzählt hast, wie du zu dem Schatze gekommen bist, es sind lauter schöne feine Münzen, wie wir sie hier nicht kennen!« – »Es sind Harzgulden«, antwortete das Mädchen. »Du weißt, ich bin vom Harze, aus Harzgerode, da gelten sie; die Goldschmiede nehmen sie überall, denn es ist das feinste Silber. Nun sieh nur, die alle fielen von dem Sterne herunter in mein Hemdchen, als die himmlische Mutter mich in meiner Not anlächelte.« – »Lene«, sagte Golno und schüttelte mit dem schlichtgehaarten Kopfe, »du träumst doch sonst nicht so viel, und magst um dein Leben nicht lügen, sprich doch, wer ist denn die himmlische Mutter?« – »Ja Fritz, darum wollte ich dich fragen, ich weiß nicht, wer das ist; als ich eingesegnet wurde, fragte ich hier den Stadtprediger darnach, der wurde aber recht böse und befahl mir dergleichen papistischen alten Sauerteig, den ich noch aus meiner Heimat mitgebracht, wegzuwerfen. Da konnte ich ihm gar nichts sagen; er sah gar grimmig aus und, was mir geschehen, war mir so lieb und so fromm.« – »Es ist doch sonst ein milder Mann«, meinte Golno.
»Ich habe Ihm wohl noch nicht gesagt, Golno«, fuhr Lene fort, »daß ich nichts von meinen Eltern weiß; ich bin ein Findelkind, das beim Durchzuge abgedankter Soldaten in Harzgerode gefunden wurde. [...]
Am Morgen, als Golno früher aufgestanden war, sein Haus zum Empfange der am zweiten und dritten Tage wiederkehrenden Gäste bereit zu machen, fand er Gundling im Speisezimmer auf einem Polsterstuhle schlafend, oder vielmehr im Erwachen. Gundling bot ihm einen guten Morgen, erzählte, daß er sehr tief geschlafen und viel geträumt habe, dann bat er ihn, nach der Besorgung seiner notwendigen Geschäfte, mit ihm in das Laboratorium seiner Färberei zu gehen, er habe ihm etwas zu vertrauen, er müsse ihm etwas offenbaren, wie es ihm im Schlafe geboten sei. Golno wurde doch neugierig, wie der sonderbare Mann so ernstlich redete, beeilte seine Geschäfte und führte Gundling, dessen Wunsche gemäß in sein Laboratorium. Gundling verschloß die Türe, und fragte Golno: ob er die Rotationen des roten Löwen und des philosophischen Adam ganz kenne. Golno sah ihn verwundert an, und wußte nicht, was er daraus machen sollte. »Auch nichts vom Alkahest?« fragte Gundling noch mehr verwundert, »vielleicht wollt Ihr mir nicht eingestehen, daß Ihr Gold macht, aber faßt Zutrauen, wenn ich Euch sage, daß ich ein Fläschchen besitze und in der Tasche trage, worin eine so starke Tinktur, um wenigstens dreißig Millionen Pfund Silber in Gold zu verwandeln.« – Golno hatte oft schon vom Goldmachen gehört, und glaubte daran, wie seine Zeit, aber so nahe war ihm diese Wunderweisheit nie gekommen; er hielt es für eine Morgengabe, daß er diese Seltsamkeit anstaunen sollte. Nun sagte er aufrichtig zu Gundling, daß er Zweifel in seine Kunst setze, warum er sich über ein sauer erworbnes Brot beklagen würde, wenn er so viele Millionen in seiner Tasche trüge. »Lieber Freund«, sagte Gundling, »meine Narrenkappe schützt meinen Kopf besser, als der stärkste Helm, erführe es ein regierender Fürst, daß ich Adept bin, er würde mich zwingen, für ihn zu arbeiten, was ich doch nach der innern Natur unsrer Kunst nicht darf. Ich kann nur denen von der mühsam erarbeiteten Tinktur geben, die selbst dazu gelangen könnten, wie Ihr Golno, wenn Ihr nicht wirklich schon nach dem Gerede der Stadt Euren Reichtum dem Goldmachen dankt.« – »Nein, so wahr Christus lebt«, sagte Golno, »ich habe nie versucht Gold zu machen, wäre aber herzlich neugierig, einen Versuch der Art zu sehen.« – »Dazu kann schnell Rat werden«, sagte Gundling, [630] »schafft mir Silber, aber feines Silber; Euer Feuer brennt eben, und Tiegel stehen hier auch bereit, es wird Euch doch merkwürdig bleiben, so etwas angesehen zu haben. Glückt's mir nicht, so ersteche ich mich mit diesem meinem Messer.« Er legte das Messer auf den Tisch. –
Golno glühte aus Neugierde, er lief in sein Zimmer, da war aber kein andres feines Silber, als neue Leuchter und Salzmästen, die zur Hochzeit angeschafft worden. Die taten ihm leid, so etwas wurde damals als ein Kunstwerk geachtet und vererbt, er suchte im Zimmer umher, in dem Kasten nach ein paar Hemdknöpfen, und traf auf die hundert Harzgulden, die nach der Versicherung seiner Lene, fein Silber sein sollten: Wie freute er sich, diesen Schatz seines künftigen Kindes am Tage seiner Verheiratung vervielfachen zu können, wie sollte sich dieses Kapital bis zu ihrer Volljährigkeit durch Zinsen vermehren! – Er lief mit dem Beutel in großer Hast nach dem Laboratorium, und gab der Lene, die ihn unterweges mit Glückwünschen aufhalten wollte, nur flüchtige Antwort.
Gundling hatte unterdessen schon alles bereitet, das Feuer brannte, der Tiegel glühte. Als er die Harzgulden betrachtete, und über einen schwarzen Stein strich, den er im Ringe trug, verwunderte er sich, und sagte, es sei kein natürliches Silber, denn das könne nimmermehr so verfeinert werden, um so herrlicher sei es aber zu seinem Versuche, bei diesen Worten warf er sie in den Tiegel. Jetzt zog er aus einem Gürtel unter seinem Hemde ein kleines, geschliffnes Fläschchen mit eingeriebenem Stöpsel, hielt es gegen das Licht, und sagte, da sei ein Reichtum, um gegen die ganze Welt Krieg zu führen, darum dürfe es in keine Hand, die nicht bezeichnet sei. Er öffnete den Stöpsel, fuhr mit einem hölzernen Zahnstocher hinein und führte den Zahnstocher rötlich gefärbt hinaus: »Seht her, Golno, das ist die Tinktur, die höchste Färberei!« – Das meiste von diesem Pulver wischte er noch an dem Eingange des Glases ab, und warf dann den Zahnstecher, der kaum ein wenig rötlich schien, in den Tiegel. Bald entstand ein mächtiges Prasseln in dem Tiegel, als wenn sich etwas gänzlich auflöste, und Gundling sagte, es sei zu viel gewesen, in den Schlacken würde sich die hinlängliche Tinktur zur Tingierung des Doppelten finden. Nach kurzer Zeit goß er den Tiegel aus, und bat Golno ein einzelnes Korn zum Nachbar, dem Goldschmiede Steffen zu bringen. [631]
Das tat Golno in aller Eile, sagte dem Goldschmiede, er hätte rohes ostindisches Gold aus Holland mitgebracht, er möchte ihm sagen, ob es fein sei. Der Goldschmied versicherte, er habe nie so feines bearbeitet, und Golno brachte mit einem mächtigen Staunen diese Nachricht seinem Adepten. Gundling lächelte dazu, und sprach: »Ich liebe Euch, und möchte auch wieder arbeiten, darum sagt mir keinen Dank, wenn ich Euch dieses Fläschchen als Morgengabe bei Eurer Hochzeit verehre. Ihr habt mich für einen Narren gehalten, und doch bedauert, denkt an mich, braucht's, aber dankt mir nicht, Ihr seht mich sobald nicht wieder.« –
Bei diesen Worten verließ er den staunenden Färber in großer Eile, der gar nichts zu sagen vermochte, weil alles Glück, was er in der Welt gefunden, alles, was seine Arbeit erschwungen, wie ein Tropfen gegen diesen Glücksstrom verschwand.
In dieser Verwirrung fand ihn Lene. Sie sah das Gold da liegen, fand noch an einem Stücke das Gepräge der Harzgulden, und fragte traurig: Wie er den Schatz seines Kindes verwaltet, wie er mit der Gabe der himmlischen Mutter gewirtschaftet habe. – Er konnte nicht lügen, und erzählte ihr den staunenswerten Vorgang, wie ein Nachtwandler, dem ein Gespenst in den Weg getreten. Königreiche wollte er kaufen, seine Kinder sollten regieren, alles war aufgeregt in dem einen Menschen, was das Geld in ganzen Nationen an unseligen Begierden verderbt hat. – Und was tat Lene dabei? – [...]

17 August 2015

Georg Forster 1993/94 aus Paris über die Französische Revolution (2. Teil)

Paris, den 15ten Wintermonds, im 2ten Jahr der R. 

Sie wissen, so gut wie ich, mein Lieber, daß wenn man dem Französischen Leichtsinne Zeit läßt und das Stündlein des Ernstes und der Besonnenheit abwarten kann, niemand gegen Andre, und zumal gegen Fremde, billiger ist, und ihnen lieber Gerechtigkeit widerfahren läßt, als der Franzose. Dieser Zug in unsrem Nationalcharakter hat sich nicht geändert; ich möchte vielmehr sagen, man ist in der Billigkeit des Urtheils fortgeschritten, so wenig der allgemeine Krieg diese Denkungsart zu begünstigen scheint. Die Phraseologie unsrer Tribünen und Zeitungsblätter muß Sie hierüber nicht irre machen; sie ist bloßer Kurialstyl, und gehört zur neuern Diplomatie. So lange wir von unsren Feinden keine andre Benennung als die von Schurken, Spitzbuben, Bösewichtern, Gottesläugnern und Königsmördern erhalten können; so lange schallt es gräßlich aus unsrem Revier mit Tyrannen, Räubern, Ungeheuern, Sklaven, Banditen und Viehmenschen zurück. Vernünftige Leute, deren es, wills Gott! viele auf beiden Seiten giebt, wissen, was von diesem Feldgeschrei zu halten ist, und führen den Krieg nur in der Absicht, zum Frieden zu gelangen. In Ernst hat wohl noch niemand, der bei gesundem Verstande war, mit Schimpf- und Ekelnahmen etwas zu beweisen geglaubt; und wem wollte man endlich auch auf diese Art beweisen? [...]
Zwischen dem politischen Schimpfen diesseits und jenseits bemerk' ich aber einen sehr wichtigen Unterschied. Bei uns ist es eine Art Expletive oder Lückenbüßer, oder auch etwas, das genialisch aus der Fülle des Herzens sich hervordrängt; es gehört jetzt fast auf die Weise, wie unsre unartigen, aber ganz unschädlichen Flüche, oder wie die allzu geläufigen Gewohnheitsworte f. und b., in unsre Sprache. Bei Euch aber hat es etwas Gesuchtes, Geflissentliches, Erbittertes; und weit entfernt das Bürgerrecht in Euren Volksdialekten erhalten zu haben, findet man es nur in Euren Büchern oder höchstens im Munde Eurer Bramarbasse. Bei uns fließt es unmittelbar aus der öffentlichen Meinung, und ist ihre eigentliche Stimme; bei Euch möchte man, umgekehrt, eine öffentliche Meinung damit heraufzaubern und auf dieselbe wirken. Da liegt es eben, mein guter Antigallikaner; bei Ihnen giebt es noch keine öffentliche Meinung, und es kann keine geben, wenn das Volk nicht zugleich losgelassen wird. Es dort loslassen, diese ungemessene, unberechnete Kraft auch in Deutschland in Bewegung setzen: das könnte jetzt nur der Feind des Menschengeschlechts wünschen. [...]
Eure Weisen und Gelehrten haben gut deklamiren, sich ereifern und uns beweisen, daß wir es hätten besser machen sollen. Ei, Ihr lieben Herren! wir konnten's eben nicht besser. Nun dann hätten wir's nicht anfangen sollen. Freilich wohl! aber auch das hat nicht von uns abgehangen. Wenn Donquichotte die Galeerensklaven auf freien Fuß stellt, und zum Lohn von ihnen zerbläuet und geplündert wird: wer hat die meiste Schuld, der schwärmende Ritter oder die verwahrloseten Menschen? Doch ich dächte, wir thäten hier am besten, niemand zu richten und zu verdammen. Die Menschen erscheinen in ihren Handlungen, wie sie sind; jeder thut, was er nicht lassen kann, und trägt die unausbleibliche Folge. Wenn ein Thron stürzt, und zwar so leicht und ohne Anstrengung, wie es bei uns der Fall gewesen ist, so ist es doch wohl augenscheinlich, daß alle seine Stützen und Untergestelle schon morsch gewesen sind! Nun bedurfte es nur jenes weltbekannten Zusammenflusses von Ursachen, die im Jahr 1787 die unbegreifliche Schwäche und Hülflosigkeit des Französischen Hofes vor Aller Augen entblößten, und jede nachherige Katastrophe folgt in einer nicht zu unterbrechenden, nicht zu ändernden Verkettung. [...]
»Wer aber diese Revolution als eine bloß Französische ansieht,« hat Mallet du Pan mit einem echten Sehergeiste gesagt, »der ist unfähig sie zu beurtheilen;« denn sie ist die größte, die wichtigste, die erstaunenswürdigste Revolution der sittlichen Bildung und Entwickelung des ganzen Menschengeschlechts.


Georg Forster: Parisische Umrisse, S. 735-737

Entstanden 1793/94, Erstdruck in: Friedens- Präliminarien (Berlin), 1. Bd., 1793, 4. Stück, und 2. Bd., 1794, 5/6. Stück. (Forster ist am 10.1.1794 an Lungenentzündung gestorben.)

Georg Forster 1993/94 aus Paris über die Französische Revolution

Anmerkung des Einsenders. Sie werden hier einen andern Pariser Correspondenten auftreten lassen, der freilich die gegenwärtige Lage der Sache in Frankreich mit seiner eigenen Brille betrachtet. Er ist der Revolution, wie man sehen wird, auf keine Weise abgeneigt, wiewohl er sie aus einem ganz besondern Gesichtspunkt in Schutz zu nehmen scheint. [...]  seine Partheilichkeit werden Ihre Leser wohl von selbst gewahr werden, ohne daß wir jedesmal daran zu erinnern brauchten. Übrigens aber hat es mir geschienen, als ob es theils der Abwechslung wegen, theils um die Leser in ihrer richterlichen Eigenschaft bei dem großen Weltprozesse vollständig zu instruiren, unmöglich schade könne, auf diese Art et alteram partem gebührend vernommenen zu haben.[727]
Paris, den 1sten des Wintermonds (Brumaire) im 2ten Jahr der Republik. 
Die Hauptstadt Frankreichs war seit langer Zeit die hohe Schule der Menschenkenntniß. Mehr als jemals ist sie es jetzt, und es bedarf nur eines kurzen Aufenthalts und eines flüchtigen Blicks, um hier inne zu werden, was man anderwärts in Jahrzehenden kaum ergrübelt, und nicht nur den Geist der Gegenwart, sondern auch die Zeichen der Zukunft zu enträthseln. In der neuen Republik ist Paris, was Rom einst in dem Universalreiche war: das ungeheure Haupt, von welchem sich alle Bewegungen durch die Provinzen fortpflanzen, und wo alle Gegenwirkungen zusammen fließen. London, mit einer weit größern Volksmenge, die, im Vergleich mit der Bevölkerung Englands, sich gegen Paris wie sieben zu eins verhält, hat nicht den zehnten Theil der Wichtigkeit und des Einflusses auf das Land. Die moralische Herrschaft von Paris über die benachbarten Departemente, zum Beispiel, wird durch die Revolutionsarmee recht anschaulich, die gestern ausgezogen ist, um für die Verproviantirung der Hauptstadt zu sorgen; denn daß in der öffentlichen Meinung die größte Stärke dieses Heeres besteht, wird niemand bezweifeln wollen, der es nur sechstausend stark gesehen hat. [...]
Seitdem man bei uns die Revolution als eine neue unaufhaltsame Schwungkraft anzusehen gelernt hat, haben sich auch viele von ihren Gegnern wieder mit ihr ausgesöhnt; und meinen Sie nicht, daß es immer noch besser ist, ihr nachzulaufen und sie einzuholen, als mit gewissen Halbweisen, die ihr voranliefen und sie zuerst in Bewegung brachten, plötzlich stille zu stehen und sich zu ärgern, daß sie, wie eine Schneelavine, mit beschleunigter Geschwindigkeit dahinstürzt, stürzend an Masse gewinnt, und jeden Widerstand auf ihrem Wege vernichtet? Das neulich erlassene Dekret des Nationalkonvents, daß die Regierung in Frankreich bis zum Frieden revolutionär bleiben soll, ist der eigentlichste Ausdruck der öffentlichen Meinung, daß die Revolution sich so lange fortwälzen müsse, bis ihre bewegende Kraft ganz aufgewendet seyn wird. Diese bewegende Kraft ist allerdings nichts rein Intellektuelles, nichts rein Vernünftiges; sie ist die rohe Kraft der Menge. In so fern, wie Vernunft ein vom Menschen unzertrennliches Prädikat ist, in so fern hat sie freilich auf die Revolution ihren Einfluß, wirkt mit in ihre Bewegung, und bestimmt zum Theil ihre Richtung; aber präponderiren kann sie nicht, und wenn – wie wir doch nicht in Abrede seyn wollen? – die Revolution einmal im Rathe der Götter beschlossen war, durfte sie es auch nicht, weil ihre Präponderan an und für sich nur die Revolution hemmen, nie sie treiben und vollbringen kann. Ich würde sie die ächte vim inertiae nennen, wenn ich es mit einem Physiker zu thun hätt; denn einmal überwunden von der Stoßkraft, dürfte dennoch in ihr selbst der Grund jener langen Dauer liegen, womit die Revolutionsbewegung so manchen unerfahrnen Beobachter in Erstaunen setzte.

Als Necker dieses große, nicht zu berechnende Mobil der Volkskraft anregte, wußte er nicht, was er that. Die ersten Anfänge der Bewegung waren aber wegen des Umfangs, der Masse und des Gewichts so unmerklich, daß Klügere als er, sich täuschten, und diese ungeheure Triebfeder umspannen zu [732] können, sich vermaßen. Allein wie bald entwand sie sich aus ihren ohnmächtigen Händen! – Es entstand ein chaotisches Ringen der Elemente; es erfolgten die heftigsten Konvulsionen, die furchtbarsten Erschütterungen. Kleinere gegenstrebende Bewegungen wurden von den größeren, allgemeineren verschlungen; so gab es denn eine gleichartige Bewegung, oder mit andern Worten: der Wille des Volks hat seine höchste Beweglichkeit erlangt, und die große Lichtmasse der Vernunft, die immer noch vorhanden ist, wirf ihre Strahlen in der von ihm verstatteten Richtung.

Ich weiß nicht, ob ich mich deutlicher hätte fassen können, um Ihnen von der jetzigen Beschaffenheit der öffentlichen Meinung einige Begriffe zu machen. Einem oder dem andern würde es vielleicht mehr sagen, wenn ich mich mathematisch so ausdrückte: Unsere öffentliche Meinung ist das Produkt der Empfänglichkeit des Volks, vermehrt mit dem Aggregat aller bisherigen Revolutionsbewegungen. Wer einen anschaulichen Begriff davon hat, oder auch nur aus der Geschichte und Anthropologie weiß, wie beweglich und empfänglich die Französische Nation ist; und wer dann berechnet, in welchem Grade die Ereignisse der vier letzten Jahre diese Reitzbarkeit erhöhen und das Theilnehmen an den öffentlichen Angelegenheiten schärfen mußten: dem wird es schwerlich entgehen, daß die Macht einer auf diese moralische Beschaffenheit geimpften öffentlichen Meinung Wunder thun kann.
Sie werden es nunmehr so ungereimt nicht finden, daß ich vorhin an das duo dum faciunt idem etc. erinnert habe. Die Erscheinungen unter dem Joche des Despotismus können denen, die sich während einer republikanischen Revolution ereignen, sehr ähnlich sehen, und die letzteren sogar einen Anstrich von Fühllosigkeit und Grausamkeit haben, den man dort wohl hinter einer sanfteren Larve zu verbergen weiß; doch sind sie schon um deswillen himmelweit verschieden, weil sie durch ganz verschiedenartige Kräfte bewirkt werden, und von der öffentlichen Meinung selbst einen ganz verschiedenen Stempel erhalten. Eine Ungerechtigkeit verliert ihr Empörendes, ihr Gewaltthätiges, ihr Willkührliches, wenn die öffentliche Volksmeinung, die als Schiedsrichterin unumschränkt in letzter Instanz entscheidet, dem Gesetze der [733] Nothwendigkeit huldigt, das jene Handlung oder Verordnung oder Maßregel hervorrief.
Dieser Vortheil ist wesentlicher, als Sie es viel leicht mit vielen Antigallikanern geglaubt haben mögen, und ersetzt uns so manche Unvollkommenheit derRevolutionsregierung, daß man diese nie richtig beurtheilen wird, bis man ihm nicht volle Gerechtigkeit hat widerfahren lassen. Der National – Convent herrscht lediglich durch die Opinion, bald, indem er sich ihr bequemt, bald, indem er durch seine Berathschlagungen und seine ungeheure Thätigkeit auf sie zurückwirkt und sie bestimmt. So wenig wünschenswerth unser Zustand in Absicht auf die Regierung immerhin genannt und geschildert werden mag, so irrt man doch bei Ihnen gar zu sehr, wenn man von ihrer heterokliten Beschaffenheit auf ihre Zerstörbarkeit schließt; denn was ihr Dauer und Stärke verspricht, ist ja gerade diese durch das Ganze jetzt unwiderstehlich herrschende Einheit des Volkswillens, verbunden mit der Repräsentantenvernunft. Setzen Sie diese letztere so tief herab, wie es Ihnen gut dünkt; dennoch bleibt noch immer ein solcher Lichtherd übrig, daß, sobald nur jener Einklang mit dem allgemeinen Wollen vorhanden ist, nichts dem politischen Riesen widerstehen kann. Warum verhält es sich beim Despotismus anders? Die Auflösung liegt am Tage. Die Einheit fehlt; Vernunft und Wille sind beide nur im Kopfe des Herrschers und seiner Räthe; das Volk ist eine leblose Masse, ein todter Körper, der bloß mechanischen Antrieben gehorcht; jene geistigen Kräfte durchströmen und beleben ihn nicht, verbinden ihn nicht mit sich selbst zu einem lebendigen Ganzen. Beider Zweck und Streben sind gänzlich verschieden. Freilich giebt es noch ein Mittel, die Trägheit, oder die Kraft des Widerstandes im Volke zu überwinden; aber das Beispiel Frankreichs haben wir zu deutlich vor Augen. Wehe dem Deutschen Necker, der sie dort entbindet und in Bewegung setzet!
Georg Forster: Parisische Umrisse, S.729 - 733
Entstanden 1793/94, Erstdruck in: Friedens- Präliminarien (Berlin), 1. Bd., 1793, 4. Stück, und 2. Bd., 1794, 5/6. Stück. (Forster ist am 10.1.1794 an Lungenentzündung gestorben.)

Dazu wie Bollmann 1792 die Französische Revolution sah, sieh Oppermann