30 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 22.- 27. Kapitel)

Zweiundzwanzigstes Kapitel
Ohne es noch zu ahnen, fuhren wir einem Paradiese zu. Capri glich dem echten sogar insoweit, als auch in ihm eine Schlange war. Ich bin ihr auf den Kopf getreten, aber die Vergiftung durch einen Fersenstich ist nicht ausgeblieben, und ich habe damit, solange ich in Italien war, zu schaffen gehabt. Vom Dampfer aus wurden wir zunächst in die Blaue Grotte geführt, die, im Altertum bekannt, von den Deutschen Kopisch, dem Dichter-Maler, und dem Maler Fries neu entdeckt wurde. [...]
Mit Sorgen quälten wir uns in Capri nicht. [...]

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Wie nach einem metallenen Kruzifix, das auf den Grund des Meeres gesunken ist, hätte ich aussichtslose Tauchversuche unternehmen müssen, um die religiösen Zustände von Lederose wiederzufinden. Alle diese krankhaften Ängste und Selbstquälereien waren mir unzugänglich geworden. Stufe für Stufe war ich aus einer Welt ohne Kunst die Leiter der Schönheit emporgeklommen, bis mir das Glück in Gestalt Marys die Hand reichte und mir mit dem Zauberstabe der Liebe die Mauern meines Kerkers öffnete. Da war ich nun, mein Bruder mit mir in der gleichen Lage. Sieghaft standen wir hoch im Glanz. Aber war es nicht überaus seltsam, wenn wir, fast betäubt von schönen Erfüllungen, unsere Freunde und nicht unsere Bräute hierherwünschten? [...]
Was Capri trotz dieser und anderer Verdrießlichkeiten uns war, empfanden wir erst ganz, als wir uns nach Wochen, schweren Herzens, selbst aus diesem Paradies verstoßen hatten.
Und doch waren wir nur in das wundervolle Sorrent übergesetzt.
Aber selbst hier spürte man überall den Einbruch einer fremden, einer feindlichen Welt, die so wenig wie das Meer über die Insel Macht hatte. Wirkliches Heimweh nach Capri überwältigte uns, und wir dachten daran, sogleich wieder umzukehren und alle noch verfügbare Zeit dem unvergleichlichen Orte zu schenken, wo wir, wie nirgend, unsere eigene Jugend gefühlt und in Schönheit genossen hatten.
Alles indessen hat seine Zeit, und so gehorchten wir einer anderen Stimme, die uns vor dem Gedanken, einmal Gewesenes erneuern zu wollen, abmahnte. Diese Stimme wollte auch wissen, daß uns ein solcher Versuch nur enttäuschen würde.


Vierundzwanzigstes Kapitel
Carls und mein Zusammensein stand von nun ab geradezu unter einem bösen Stern. Wir waren schon tief im Mai, die Wärme wuchs und mit ihr Carls Reizbarkeit. Ich wünschte Amalfi und Salerno zu sehen, die Tempel von Paestum zu besuchen, Pompeji und Herkulanum kennenzulernen, den Vesuv zu besteigen und anderes mehr. Gegen alles das sträubte er sich. Es gelang mir schließlich mit großer Mühe, ihn zu bewegen, wenigstens eine Fahrt nach Amalfi mitzumachen. Aber weder Carl noch ich hatten Freude davon. Die Gluten des Himmels drückten auf Carl. Er ersehnte den Norden, er wollte heimreisen. Daß ich es aber nicht wollte, nahm ihm die Kraft zu diesem Entschluß. Konnte er sich als Schwächling preisgeben? So saßen wir nebeneinander im Landauer, und mein Bruder betrug sich so, als würde er gegen seinen Willen fortgeschleppt. Was zu sehen war, Landschaft, Örtlichkeit und Menschen, wurde von ihm in Bausch und Bogen abgelehnt. Wenn ich auf Schritt und Tritt bewunderte, schwieg er gereizt oder versuchte, meine Empfindungen zu entwerten. [...]


Besteigung des Vesuvs
Eine Vesuvbesteigung kam hinzu, deren Schilderung ihr wohl Gruseln erzeugen konnte.

Es standen Gewitter am Horizont, als wir bei stechender Sonnenglut vom Albergo del Sole abritten. Vor dem Aufbruchhatten wir lange geschwankt. Nach längerem Ritt, aber bevor wir Bosco Trecase erreicht hatten, sauste der erste Platzregen auf uns herab. [...]
Es war notwendig, unsere Kleider zu trocknen, wenn unser kleiner Reisetrupp die Vesuvbesteigung durchsetzen wollte. Aber auch weil man bei dem ewigen Murren des Donners darüber noch beraten wollte, wurde in einer kleinen Osteria Station gemacht.
Auf den Steinen unserer Wirtsstube trugen die Führer, die wie Abruzzenräuber aussahen, Reisig zusammen und machten ein Feuer an. Was ich heute noch nicht begreife: wieso, bei der niedrigen Decke, ging nicht das Haus in Flammen auf? wie war es möglich, daß Menschen in dem weißen, beizenden Qualme atmeten, der mich bereits nach Sekunden ins Freie trieb?
Ich drängte zum Aufbruch, nachdem der Entschluß, den Aufstieg fortzusetzen, gefaßt worden war, und bald saßen wir wieder in den Sätteln.
Es ging nun rücksichtslos bergan. Noch einige Häuser und Hütten wurden passiert. Auf halber Höhe des Berges herrschte bereits Dunkelheit. Groß war das Schauspiel, dem wir nun auf dem Rücken der mit Anspannung aller Kräfte ausgreifenden Pferde beiwohnten.


Wiederum hatte sich schweres Gewölk diesmal um den Gipfel des Berges gelegt, das murrte und grollte und aus dem Innern des Kraters rot beschienen wurde. Von dorther wurde außerdem ununterbrochen Glutgestein dawider emporgeschleudert. Höher hinauf nahm das Grollen und die Mächtigkeit der Blitze zu, sie folgten einander in kurzen Zwischenräumen. Endlich, als wir den glühenden und knisternden Rand eines Lavastromes erreicht hatten, war nur ein einziges ununterbrochenes Krachen in der Luft, und von Wolke zu Krater und Krater zu Wolke sprangen ununterbrochen die blauen Funken.
Bis zum Krater selbst zu gelangen, mußten wir wohl unter solchen Umständen aufgeben. Ein Versuch dazu wurde trotzdem gemacht.
Wir saßen ab und traversierten mehrere Schlackenfelder, nur von Blitzen und vom Widerschein des Vesuvs erhellt, bis wir durch unsere beinah versengten Sohlen und einige furchtbare Einschläge in der Nähe zur Umkehr gezwungen wurden. Glühende Steine sausten herab.
An den Fuß des Vesuvs zurückgekehrt, wollte ich nicht in Trecase bleiben. Das Gasthaus war eine allzu bedenkliche Unterkunft. Als ich aber meine Absicht, weiterzureiten, um nachts noch Pompeji zu erreichen, den Führern und Pferdetreibern mitteilte, rieten sie einstimmig davon ab.
Als ich auf meinem Entschluß beharrte, ließen sie merken, daß die Straße nicht sicher sei. Um den Ort Castellamare herum sei in letzter Zeit allerlei vorgekommen. Keinesfalls wollte mich einer von ihnen begleiten.
Trotzdem galoppierte ich kurz darauf durch die stockschwarze Nacht, neben mir ein mutiger Junge, den ich mich zu begleiten bewogen hatte. Wir jagten beinah in Karriere dahin. Noch erinnere ich mich, wie mir bewußt wurde, daß ich verloren wäre, wenn irgendein kleines Hindernis das Pferd zum Stolpern gebracht hätte. Auch an die hallenden Geräusche der Hufe, wenn wir durch die Dörfer jagten, erinnere ich mich. Das Ganze in fremder, unsicherer Gegend, zwischen ziemlich verrufenen Ortschaften, war wohl geeignet, mich zu veranlassen, meine Seele Gott zu empfehlen. Aus Torre Annunziata, wo unsere Pferde zu Hause waren, wollten sie nicht mehr heraus. Wir mußten fortwährend auf- und abspringen, da sie bäumten und dann sich leicht überwarfen. Mein kleiner Begleiter übte dieses Turnen mit Meisterschaft. Er hätte auch sonst schlimm enden mögen, da wir sein kleines, lebhaftes Pferd mehrmals aus einem tiefen Straßengraben herausholen mußten, wo es zappelnd auf dem Rücken lag. Nach alledem kamen wir aber doch wohlbehalten in Pompeji vor meinem Gasthof Zur Sonne an. [...]

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Ohne Carl würde Neapel nur ein Durchgangspunkt für mich gewesen sein. Capri würde ich nicht besucht haben. Ich hätte das große Museum in Neapel, hätte Herkulanum und Pompeji gesehen und wäre über Brindisi, Korfu, Patras nach Athen weitergereist. Dieser Plan war zunichte geworden, aber nicht allein wegen der fortgeschrittenen Jahreszeit: er hatte in einer Überfülle neuer Eindrücke ertrinken müssen.
Meine hauptsächlich für Griechenland bestimmte Kofferbibliothek: Overbeck, Curtius, Perikles von Adolf Schmidt, Pausanias, Hettners Reise durch Griechenland und andere Werke, lag unberührt, freilich auch – ich hatte den ganzen Crowe und Cavalcaselle mit –, was sich auf italienische Kunst bezog.
Aber nun, zum schönen Schluß, wurde mir doch noch das Glück zuteil, eines der schönsten Denkmäler Großgriechenlands zu erblicken: die dorischen Tempel von Poseidonia. So hatte meine Reise denn doch auf griechischem Boden zwischen den Säulen griechischer Tempel ihre Weihen erhalten. Vielleicht ist es gut, daß ich die Tempelburg und den Tempelberg der jungfräulichen Göttin Athene nicht erreicht habe, deren Trümmerwelt meine Seele damals vielleicht nicht mit so tiefer und fruchtbarer Trauer erfüllt haben würde wie diese verlassenen rostroten Säulentempel, durch die man das Blau des Mittelmeeres leuchten sieht. Sie heben sich aus einer dichten grünen Wildnis von Farnkraut und Akanthus empor, jener Distelart, die das klassische Blatt für das Kapitell der korinthischen Säule gegeben hat, das vor noch gar nicht langer Zeit im Zeichensaal meine Vorlage war. Als ich den Akanthus nun als lebendige Pflanze vor mir sah, hatte dies etwas Traumhaftes: es hätte können auch Asphodelos sein. War doch um mich trotz allem Brennen der Sonne eine Art Versunkenheit und Verstorbenheit. [...]
Ich gelangte nach Rom, weil es auf meinem Wege lag. Kaum aber war ich da, glaubte ich, daß ich nur diese und diese Stadt gesucht hätte. Ich fühlte nach wenigen Tagen, daß ich ihrer Atmosphäre erlegen und bereits darin heimisch war. [...]
Zerzaust, ramponiert und äußerlich elend kam ich heim, aber im Innern aufs höchste bereichert. Mary erschrak, als ich in Hohenhaus auftauchte. Aber nach kurzer Zeit haben mich die Hohenhauser Fleischtöpfe und das Hohenhauser Glück wieder instand gesetzt. Es wollte mir freilich nicht mehr gelingen, in dem schönen Elbtal so viel Glanz und Farbe wie früher zu sehen. Nach der Farbenschwelgerei im Süden erschien mir die Landschaft wie ausgebleicht und abgeblaßt. Das änderte sich, als eine, als die zweite Woche vorüber war; Auge und Seele hatten ihre angeborene Empfänglichkeit und Reizempfindlichkeit der schlichteren Heimatwelt gegenüber wiedergewonnen. Ja, ein wahrer Heimatrausch kam dann über mich: es war etwas Fröhlich-Sinnenfrohes, Unbesorgt-Barbarisches! Schon in München bei der Durchreise hatte ich es gefühlt. Selbst der letzte Schüttelfrost, den ich dort im Hotel zu bestehen hatte, unterbrach ihn nicht. [...]

Sechsundzwanzigstes Kapitel


»Hic Rhodus, hic salta!« hieß es nun. Ich war jung, unerfahren und hatte noch keineswegs über das Wesen der Kunst, die ich ausüben wollte, genügend nachgedacht: ich hätte sonst mein unschätzbares Selbstbestimmungsrecht besser verwerten müssen. Denn statt nun mit Bewußtsein mein eigener Schüler zu sein, ungeduldige Hast, Sprunghaftigkeit, Wunderglauben und Ruhmesgier aus meinem Wesen zu tilgen, gab ich mich der Verblendung hin, ich könne das Große im ersten Anlauf hinstellen. Ich weiß nicht, ob ein Wort, das mein Vater immer wieder als Warnung zu gebrauchen pflegte, von ihm richtig zitiert wurde: »Wer alles will, will nichts.« Wäre ich dem, was es sagen will, damals getreulich nachgegangen, hätte ich mich in meinem jetzigen Falle mit dem l'art pour l'art begnügt. Ich würde mich, ohne anderes zu wollen, als nur zu lernen, am besten vor die Natur, das Modell gestellt haben. Alle Wucherungen der Phantasie, die ja überhaupt bei dieser Kunst, wie ich bald erkannte, nur mit Vorsicht zu verwenden ist, hätte ich gänzlich ausgeschaltet. Statt also Phantasien beleben zu wollen und von innen nach außen zu bilden, hätte ich von außen nach innen gebildet als ein zwar lebendiger, aber fast unpersönlicher, fast willenloser Spiegel der Natur. Weit entfernt davon, habe ich unreifes Wollen durch unreifes Hoffen zu manchmal übergroßen, nutzlosen Mühen aufgerufen. [...]

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Noch heut ist das gleiche Exemplar des von Donner übersetzten Aischylos in meiner Hand,
aus dem ich damals den »Gefesselten Prometheus« studierte. Es war mein Gedanke, in dieser Rolle aufzutreten. Und ich bin fest überzeugt, daß, wenn eine Liebhabervorstellung im Saal des Künstlervereins zustande gekommen wäre, ich keineswegs Fiasko damit gemacht hätte. Ich war mir dessen so sicher, wie ich mit dem Vortrag des »Tauchers« von Schiller alle meine Mitschüler sicher übertroffen hätte. Aber man rief mich dazu in der Klasse nicht auf, wo ich dann immer das selbstgefällige Gestümper der Mitschüler, innerlich knirschend, anhören mußte. Was liegt jedoch im Grunde daran, ob ich in jenem kindlichen Falle oder in dem neuen, vielleicht ähnlich kindlichen meinen Willen durchsetzen konnte? Dagegen ist mein unlösliches Ergreifen der Aischyleischen Dichtung selbst in so jungen Jahren von Bedeutsamkeit. Der Doppelband, den ich immer mit mir trug und der den »Agamemnon«, »Das Todesopfer«, »Die Eumeniden«, »Die Sieben gegen Theben«, »Die Perser«, »Die Schutzflehenden« und den »Prometheus« enthält, ist bis auf diesen ungelesen, was die nur hier vorhandenen Marginalien zeigen, woraus erhellt, wie mich der »Prometheus«, immer wieder der »Prometheus«, an sich sog.
Meine Knabenzeit, so glücklich sie war, machte mich in einem ungewöhnlichen Maße mit der angeborenen menschlichen Eristik vertraut. Wer wüßte nicht, daß Eristik das innerste Wesen des Dramas ist. Also war es das Drama, als das ich das Leben zu leben gewöhnt ward. Anders verstand ich das Leben nicht. Ob mich das glücklich machte oder nicht, zog ich nicht in Betracht. Ich werde mich oft nach Ruhe, nach Frieden gesehnt haben. Aber das Drama, das ich später Urdrama nannte, lebte nun einmal in mir. Der Vater, die Mutter, die Geschwister, die engere und weitere Familie agierten zunächst darin. Wie schon einmal erwähnt, wurden auf das innere Forum, wo diese Schatten Eristik übten, alle wichtigen Fragen gebracht und unter Affekten ausgekämpft. Ich hatte meine Einmaligkeit gegen sie durchzusetzen. Das war es, worin mir der »Gefesselte Prometheus« entgegenkam. Wie er, war auch ich von Feinden umgeben, da sich mein inneres Forum und meine innere Menschenwelt inzwischen geweitet und vervielfältigt hatten. Ich spürte um mich »Kraft« und »Gewalt« am Werk und ihre von höchsten Stellen gestützte Überlegenheit.
Gern machte ich mich glauben, daß meine Gefangenschaft wie die des Prometheus, damit er »seiner Menschenlieb' Einhalt gebeut«, verhängt werde. [...]
Man mißbraucht dieses Wort Größenwahn, wenn man es auf die erbärmliche Lafferei ehrgeiziger Dummköpfe anwendet. Die große Empfindung dieser Art, die ich damals hatte und die sich ins unaussprechlich Erhabene weitete, verführte mich zu irgendeinem äußeren Dünkel nicht. Meinethalben war es Wahn; aber ist dann nicht alles Wahn? Weiß man nicht, daß jede Empfindung nur ihre eigene Realität bedeutet und flüchtig ist, und hat nicht Immanuel Kant trocken festgestellt, das Ding an sich bleibe ewig von unserer Erkenntnis geschieden? [...]
Meine Angriffslust, mein Trotz, mein Größenwahn mochten allerdings mitunter einen schwer erträglichen Grad erreichen. Aber man mußte doch vor den Ideen Achtung haben, die ich vertrat. Das prometheische Göttergeschenk der Kunst sollte als göttlich betrachtet werden. Ich vertrat die Heiligkeit der Natur, vor der jeder Ehrfurcht und Andacht empfinden müsse. Ich stellte paradoxe Behauptungen auf: ein schmutziger Kerl, der sich mit seinem Modell herumwische, könne etwas Großes und Reines nicht hervorbringen. [...]

Schöne Frauen und junge Damen waren plötzlich in großer Menge hereingeschneit. Den Preis erhielten zwei Schwestern Dohm aus Berlin, die mit ihrer Mutter, Hedwig Dohm, gekommen waren. Ihr Vater war Chefredakteur des »Kladderadatsch«. [...]
Bei alledem blieb ich ein eigensinniger Frühaufsteher, besuchte die Frühmessen und dabei im Halblicht immer wieder das Grabmal Julius des Zweiten, trank meinen Umbra im Arbeitercafé und eilte zu meiner Kolossalfigur des Germanenkriegers zurück, mit der ich mich unsäglich abquälte.
Ob diese Riesenfigur von jemand bestellt sei, fragte man mich, und wenn ich verneinend geantwortet hatte, so wollte man nicht begreifen, weshalb ich sie ausführte. Nun begriff ich wieder, als ein eigenen Ideen frei hingegebener Künstler, dieses Nichtbegreifen nicht und ließ mich's nicht im geringsten anfechten.
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend , 1937)

27 November 2017

Die Schiffsreise - Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 19-21. Kapitel)

Neunzehntes Kapitel
Mary war dem schweren Abschied, der mich mit dem ungewissen Schicksal eines Schiffes verband, aus dem Wege gegangen und einige Tage früher von Hamburg nach Hohenhaus heimgereist. Am Tage vor der Abfahrt hatte ich mit Georg einen Besuch in meinem schwimmenden Hause gemacht. Es war ein Stockfisch führender Dampfer der Sloman-Linie. Kapitän Sutor, schlank und mittleren Alters, hieß mich willkommen. Abends gab mir, wie ich es wünschte, Vater allein das Geleit zum Schiff. [...]
Er war ein großes Erlebnis, vielleicht in meinem bisherigen Dasein das größte, weil zugleich mit dem kleinen Frachtdampfer mein eignes Lebensschiff vom festen, vom heimatlichen Ufer stieß und sich – so war mein bewußtes Gefühl – schicksalhafter, uferloser Unendlichkeit überlieferte. [...]
Nachdem Kapitän Sutor mit mir allein einige Male in der offiziellen Kajüte steif diniert hatte, fragte er mich, wie ich darüber dächte, mit seinen Leuten und ihm in der Messe zu essen. Mit Vergnügen nahm ich die Ehre an. Es war ein Beweis, daß ich dem Kapitän nicht mißfallen hatte.  
Seltsamerweise – Systole nach Diastole – verengte sich nun meine Vorstellung des großen und weiten Seewesens zu einem kleinen, sehr gemütlichen, freilich schwimmenden Bürgerhaus. Kapitän Sutor, Maschinenmeister Wagner, der Erste Steuermann, der Bootsmann und ich bildeten sein Konvivium. Dazu kamen zwei Untermaschinisten, einige Matrosen und der immer behaglich am Herde beschäftigte Koch, dessen Ausruhen darin bestand, vor der Kambüse Rüben zu schaben oder Kartoffeln zu schälen. Über dem kleinen Kreis lag der Geist einer stillen Seßhaftigkeit, unbeschadet dessen, daß der Frachtdampfer seine zehn Knoten die Stunde zurücklegte. Nach einigen Tagereisen war ich auf der »Livorno« eingelebt. Ich gehörte ganz zur Familie. Eigentlich war ich mehr ein lieber Besuch, der von allen verwöhnt wurde. Ich brachte die Tagesstunden bei jedem Wetter auf der Kommandobrücke zu, wo ich meist, während Kapitän und Erster Steuermann observierend auf und ab schritten, mit dem dicken, kleinen Maschinenmeister Schach spielte. Wir brauchten acht Tage, bevor wir in Malaga anlegen konnten. Wann hätte ich wohl während meines bewußten Lebens acht Tage in solcher Ruhe und solcher Harmonie zugebracht? Ich empfand das bald, und der Gedanke an ihren Abschluß war mir kein lieber. Herrliche Luft, Weitsicht ohnegleichen, Bewegung bei völliger Ruhe und Verantwortungslosigkeit. Küsten, Schiffe, die Goodwin-Sands, im werdenden Dunkel zuckende Leuchtfeuer, Schifferbarken, Lotsenkutter, Dreimaster, Fracht- und Passagierdampfer, als Punkte auftauchend und wieder verschwindend, manchmal in voller Größe da. Aber immer, ob größer, ob kleiner, unüberbrückbar eine Entfernung zwischen den Gegenständen und uns: uns, den stillgeeinten, ruhigen Menschen. Außer uns wohlzufühlen, hatten wir keinen Beruf. Nie kam eine Zeitung, nie ein Brief, keinerlei Nachrichten, nicht gute, nicht schlimme, erreichten uns, noch weniger hatten wir einen Besuch zu gewärtigen. Das bedeutete ein tiefes Ausruhen, wie es in Zeiten der drahtlosen Telegraphie und des Radio kaum mehr möglich ist. Ich brachte schlecht und recht unsere selbstgenügsame Schiffsfamilie in mein Skizzenbuch. Sutor, über die Barre gelehnt, Falstaff-Wagner, den Bootsmann, den Koch. Daran nahmen die einzelnen teil wie die Kinder. Die Messe war das Innere eines Würfels mit eisernen Wänden. Man mußte sich zwischen Wandbank und Tisch hineinschieben, wenn man bei Frühstück und Abendbrot seinen Platz einnehmen wollte. Das Essen war gut. Es wurden nach Hamburger Sitte auf der »Livorno« nur immer gewaltige Fleischstücke, Kalbskeulen oder Roastbeefs, aufgetragen und dabei viel Tee, weniger Bier und Wein genossen. Es ging nicht anders, ich hatte mich in diesem enggedrängten Kreis wieder als Erzähler aufzutun. Auf das Umgekehrte war ich gefaßt: nämlich Sindbadberichten meiner weitgereisten Seeleute mit offenem Munde zuzuhören. Aber sie wußten nichts und wollten nichts wissen von dem berühmten Fliegenden Holländer oder vom Klabautermann, und so konnten und wollten sie nichts erzählen, sondern nur hören wollten sie. Nie, außer dem kleinen Gustav und der kleinen Ida Krause vor dem Ofenloch im Souterrain des Gasthofs zur Krone und den Kindern von Lohnig im Heu, hatte ich ein so unersättliches Publikum. An der kleinen Messetafel sprach außer mir nur der Kapitän. Der Erste Steuermann, Maschinist Wagner oder der Bootsmann taten den Mund nur auf, wenn der Kapitän das Wort an sie richtete. Aber dieser handelte nur im Sinne aller, wenn er nach und nach meine ganze Lebensgeschichte aus mir herausholte. [...]
Es ist nicht leicht, die psychischen Ursachen meiner Hingerissenheit von damals, mit der ich andere hinriß oder wenigstens in Staunen versetzte, manchmal zum Widerspruch reizte, auszumitteln: große Illusionen beherrschten mich, das wirkliche Glück, das wie ein grünes Meer den köstlichen Segler meines Lebens trug, ließ von ferne glückselige Inseln vor mir auftauchen. Es bleibt ein Wesenszug des Glücks, daß es immer noch höheres Glück erstrebt, dem Unglück darin sogar überlegen. [...]

Zwanzigstes Kapitel

Unser Bootsführer, ein kleiner, halbnackter, sehniger und struppiger Kerl, wurde von einer schönen, mit schwarzer Mantilla bekleideten Dame empfangen. Es war, wie der Kapitän mir sagte, seine Frau. Ich wartete auf dem Flur vor dem Büro des Konsulates, solange der Kapitän darin zu tun hatte. Da kam wiederum eine schwarzgekleidete, diesmal höchstens vierzehnjährige Schönheit, ebenfalls mit dem Spitzentuch um den Kopf, mit mehreren lachenden jungen Herren an mir vorbei, eine Begegnung, die mir Herzklopfen machte. Ich eröffnete mich dem Kapitän. Er lachte und sagte, daß man allerdings hier in Malaga mehr als anderswo seine Brust verschanzen müßte. [...] Liebe ist Mitleid, Mitleid ist Liebe, behauptet Schopenhauer, mit Recht nur insoweit, als überhaupt ein so unergründliches Phänomen mit Worten zu vereinen ist. Und doch verurteilte ich mich als einen Hochverräter zum Tode durch das Schwert, im Gedanken an die ferne Mary, als ich die Finger des spanischen Mädchens mit den meinen eng verschlungen fühlte. Es bedeutete wenig, es ging vorüber. Aber wußte ich denn, wie weit mich die begonnene Bindung fesseln, zu welchen nicht wiedergutzumachenden, selbstverderberischen Schritten sie mich noch verleiten würde? Vielleicht telegraphierte ich an Mary, log, ich sei bestohlen worden oder so, ließ mir Geld senden, kaufte das Mädchen frei oder ging mit ihm durch, ohne es freizukaufen, wurde verfolgt, festgenommen, was weiß ich – und würde an Mary als Schurke gehandelt und sie mit Recht verloren haben. Aber was ging mich das Gestern an? Der Teetisch ward mehr und mehr vereinsamt, und ich und das Mädchen saßen schließlich als die letzten daran. Da sagte ich, daß ich sie zeichnen wolle, holte aus der Garderobe mein Skizzenbuch, und wir folgten einer alten Beschließerin, die uns dann in einem beinahe prunkvoll eingerichteten Schlafgemach, nachdem sie einige Lichter entzündet, verließ.
Treue in Dingen der Liebe erscheint heute manchem lächerlich. Hätte ich sie in jener Nacht Mary nicht zu halten vermocht, mein Leben wäre ganz anders verlaufen. Pilar, die Säule, hatte sich in reiner Nacktheit gehorsam vor mich aufgestellt. Ich betrog mich selbst, wenn ich meiner zitternden Hand, meinem ringenden Herzen, meiner faseligen Benommenheit die Möglichkeit andichtete, diese nahe Aphrodite zu zeichnen.
Die Nähe des Bettes, der leise befremdete, gehorsame Blick, das Ehrenrührige meiner Josephhaftigkeit steigerten mich in eine große Verwirrung hinein, indem ich Pilar zur Mitwisserin meines Kampfes machte. Ich legte allen Kummer und alle Liebe zu ihr, wie ich meinte, in meinen Blick, ich legte die Hände an die Schläfen, ich habe dann ihre Stirn leise geküßt, ebenso leise ihre Schultern berührt, ebenso leise und leiser ihren Busen. Und dann habe ich das Lichtbildchen meiner Braut aus der Brusttasche gezogen und geküßt.
Ich bin von Pilar verstanden worden.
Nie wird man einen gesünderen Körper sehen: straff, edel, ohne Hüften, mit festen, breit auslaufenden Brüsten, wie man sie an den schönsten griechischen Marmorbildern sieht. Alles gesund, straff, bodenwüchsig, und doch – Spital, Opium, Trunk, Untergang. [...]

Einundzwanzigstes Kapitel 
Einen wirklichen Sturm, den einzigen unserer Reise, erlebten wir im Golfe du Lion. Die »Livorno« lief gleichsam in einen Graben von Wasser eingesenkt. Die kurzen springenden Wellen des Mittelmeeres gaben an jeder Seite des Schiffes die Illusion einer bewegten Glasmauer. Es bestand keine Gefahr, aber wir schienen verloren zu sein.
Ich ging in Marseille an Land, weil man mir riet, die schöne Strecke von dort nach Genua mit der Bahn zurückzulegen.
In Monaco nahm ich vierundzwanzig Stunden Aufenthalt, wollte das Kasino besuchen, um den Eindruck der Spielhölle mit mir zu nehmen, wurde jedoch am Eingang zurückgewiesen.
Ich sei noch zu jung, sagte man.
Wie alt man sein müsse, um die Spielsäle besuchen zu können? Man gab zur Antwort: Majorenn. Ich sei majorenn, behauptete ich, worauf man sogleich die Frage stellte, in welchem Jahre ich geboren sei. Überrascht und kopflos gab ich mein wahres Geburtsjahr an.
Der Herr am Eingang lächelte nur: »Sie haben in der Eile nicht richtig gerechnet«, sagte er, »Sie hätten ihrem Alter nicht nur zwei, sondern mindestens vier Jahre hinzusetzen müssen.«
Damit war die Sache abgetan. Ich habe den kleinen Vorfall erwähnt, weil er zeigt, wie ich im Gegensatz zu manchen andern nicht für älter, sondern für erheblich jünger, als ich wirklich war, gehalten wurde: schien mich doch der Spielbankkontrolleur auf siebzehn zu schätzen.
Daß ich mich noch auf dem alten Kontinent befand, hatte ich fast vergessen, als ich in der Dachstube eines Genueser Hotels mein Nachtessen mit einer halben Flasche Rotwein zu mir nahm. Es waren ja mehr als zwei Wochen verflossen, seit ich Hamburg verlassen hatte – es schienen einige Jahre zu sein, in Ansehung des Erlebten und meiner Wesensveränderung.
Allerdings wirkte Genua, verglichen mit Malaga und Barcelona, das wir ebenfalls angelaufen hatten, im europäischenSinne nicht mehr fremdartig. Aber mein neues Wesen sah es nur als Durchgangspunkt. Morgen mußte die »Livorno« im Hafen sein, mich aufnehmen und weiter, mit dem Ziel Athen, in die Fremde forttragen.
Im übrigen, was das Hauptsächlichste war: seit ich in Hamburg den Schiffsbord betreten, lag der alte Kontinent meiner Seele hinter mir, und ich sah auf ihn von Malaga aus und wiederum aus dem Genueser Hotelzimmer als auf einen fern verschwimmenden Traum zurück. [...]

In Genua trifft Gerhart Hauptmann mit seinem Bruder Carl zusammen.
Durch dieses Zusammentreffen, so schön es war, wurde ich in der Folge von meinem Ziel Griechenland abgelenkt. Das Wesen unserer brüderlichen Verbindung und Freundschaft ist nicht leicht zu erhellen. Sie besaß etwas Inniges, Unzertrennliches und, trotz aller schweren Krisen oder gerade infolge dieser Krisen, etwas Siamesisches. Es war in uns ein Zwillingsgeist, ein Zwillingswollen, ein Zwillingsschritt – aber ich war dabei jetzt der Führende. Es lag daran, daß ich schon früh aus dem Pferch gebrochen war, daß ich für mich allein gerungen und gesucht hatte, während für Carl noch die Schule dachte und handelte. [...]
Die kluge Martha Thienemann, Carls Braut, ward durch die Anziehungskraft, die wir aufeinander ausübten, Carl weniger auf mich als ich auf Carl, mit Recht beunruhigt. Wer sollte ihr wohl verdenken, daß sie den Geliebten und seine Neigung für sich allein haben wollte? Aber nicht der Verlust an Liebe allein machte sie besorgt, ihr aufmerksam wacher Sinn sah Carls Wesen durch mich beunruhigt. [...]

Carl fährt ein Stück mit Gerhardt auf der Livorno mit, verträgt die Seefahrt aber nicht und überredet Gerhart dazu, in Italien zu bleiben, statt nach Griechenland weiter zu reisen.

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 15-18. Kapitel)

Fünfzehntes Kapitel
Nach einer Ausschweifung so gewaltiger Art kehrte ich nach Nieder-Salzbrunn zurück – somit ins Besinnliche, eng Begrenzte.
Bahnhof Sorgau, den man eine Weile nebenher bewirtschaftet hatte, war längst einem anderen Pächter überantwortet. Der Bierverlag warf inzwischen schon etwas ab, das Kulmbacher Pertsch-Bier hatte sich eingeführt. Aber die Beratungen mit Hamburg gingen brieflich hin und her: Georg wünschte das Kaffeegeschäft zu vergrößern und dachte daran, Vater als kaufmännisch zuverlässige Kraft nach Hamburg zu ziehen. Ob diese Erwägung oder Georgs Familiensinn und Vaters Wunsch den Ausschlag gab, vermag ich nicht zu entscheiden.
Immer noch waren Vater und Mutter in der alten, ihnen überdrüssig gewordenen Umgebung festgehalten. Das lebendige Adersystem des Bahnhofs Sorgau hatte sie nicht fortgeschwemmt. Den Papagei und die Möbel von Tante Jaschke zu bewachen, während Schwester Johanna und sie frei in der Welt herumflatterten, war kein Lebensberuf. Aber man mußte, wenn man beweglich werden wollte, den Bierverlag abstoßen, das hineingesteckte Kapital herausholen.
Unter den Interessenten zur Übernahme des Bierverlags war auch der Vater von Alfred Ploetz. Er hatte sich etwas erspart und wollte seinen Posten in der Seifenfabrik aufgeben. Sein Sohn Alfred, der ungezwungen ein und aus ging bei uns, brachte ihn eines Tages mit.

Man spürte damals überall Unternehmungslust. [...]

Nach Platon haben gewisse Orte dämonische Natur. Die ersten Wochen meines Aufenthaltes in Jena lehrten mich das. Ich war in eine dämonische Welt geraten.
Zuerst empfand ich etwas wie die Wirkung eines Jungbrunnens. In ungeahnter Weise erneut und verjüngt, merkte ich, wie alt und beschwert, ja gleichsam verholzt ich in Schlesien gewesen war. Hier umgab mich ein Licht, eine Luft, die das Atmen leicht, das Dasein froh machte. Ich war erstaunt, daß es einen Ort wie Jena gab, und bedauerte, so lange in ein finster-rauhes Klima des Geistes und Gemütes verstoßen gewesen zu sein. Ich war verwundert, wie sich äußere Enge, warmes Wohlbehagen und geistige Weite hier zu schöner Harmonie verbunden hatten, und fühlte sogleich ihre lind umfangenden Wirkungen.
Dieses Thüringer Städtchen war damals noch wie ein erweiterter Garten des Epikur, in den seine Häuser und Häuschen gebettet standen, in den man mit jedem Morgen trat, von einem zuinnerst lachenden Jugendglück überwältigt. Hier erst konnte ich auf höherer Ebene an die Unschuldstage meiner Knabenseele wieder anknüpfen: wie ein zweiter langer, ununterbrochener Lebensmorgen kam es über mich.
Auch mein Verhältnis zu Carl stand unter dem Zeichen des Jungbrunnens. Hier wurde er mehr als je mein Mentor. Einbezogen in die herrschende Harmonie, teilte er, im gelinde-innigen Sinne der Genien dieses Ortes, Geist, Herz und Seele mit mir.
Mit der Hand abzureichen nah stand die ehrwürdige Behausung von Geist und Geistern, Universität genannt, in der edle Lehrer dozierten. Von meinem Mentor wurde ich nach und nach mit ihnen bekannt gemacht. Es war Ernst Haeckel, der große Umstrittene, dessen Name unter allen den verbreitetsten Klang hatte, und der mit seinem hellen »Impavidi progrediamur!« – »Unerschrocken vorwärts!« oder »Unerschrockene, schreiten wir vorwärts!« – unseren Herzen am nächsten stand. Dieser weltbewegende Ruf, diese weltbewegende Herausforderung, die mit weltbewegenden Gedanken verbunden war, ging von der scheinbar friedsamsten aller Gelehrtenkolonien aus, die, auf ihre Art klösterlich, das friedsamste aller Tälchen bewohnte. Eine Feuersäule des Geistes, die eine Art Weltbrand zur Folge hatte, schoß aus einem blumenübersäten, von Gras und Büschen überwucherten, stillen Krater und Kranz von Friedfertigkeit. [...]
Warum erscheint mir eigentlich dieses liebe Jena, wenn ich daran denke, wie ein mehr unter griechischer als unter deutscher Sonne liegender Ort? Alles um Jena hatte für mich einen fremd-heimlichen Zug, den ich für südlich hielt. Der kahle Jenzig mit seinem bläulichen Muschelkalk breitete eine seltsame Helle aus, die sich leicht ins Geistige übertrug. Das Tälchen, wo Saale und Leutra einander begegnen, wirkte dünnluftig. Im Versteck dieser Siedlung von Gelehrten, zurückgezogenen Forschern und Lehrern bestand keine Atmungsschwierigkeit. Erscheinungen wie der philosophische Schuster wären ohne das kaum möglich gewesen und noch weniger ohne das geistig durchdringende Leuchtphänomen der Forscher- und Philosophenschule im Mittelpunkt. Jena war für mich von der Seele des Griechenlandes belebt, die ich seit meiner Kindheit mit der eigenen Seele gesucht hatte. [...]
Es ist mir ein Rätsel, wie trotzdem, in völliger Geschiedenheit, eine Richtung meines Wesens auf das Altgermanische sich fortsetzen konnte. Die Blutsbrüderschaft unter dem Rasenstreifen und alle damit verbundenen Ideen und Ideale führten ihr Eigenleben weiter in mir. In Jena bin ich dazu geschritten, eine Gestalt aus meinem dramatischen Jugendgebilde »Germanen und Römer«, den blinden Sänger Sigwin, als Idealkopf in Ton zu formen, für welche Arbeit mir ein Steinmetz kostenlos einen Raum seiner Werkstätten einräumte. [...]
Die jenensische Dominante blieb der heilige Berg, die Akropolis, blieben Propyläen und Parthenon, blieben Perikles, Aspasia und Pheidias, dessen Bildnerhand für mich zur Hand eines Gottes ward, dessen goldelfenbeinerner olympischer Zeus meine Nächte beunruhigte. [...]
Sechzehntes Kapitel
»Ihre Söhne haben keinen praktischen Sinn!« hatte der Meister der Mnemotechnik, Weber-Rumpe, auf Bahnhof Sorgau zu meinem Vater gesagt. Praktischen Sinn hatten wir in Jena sicher nicht, wenn man nicht mein inneres Ringen nach allgemeinen Wirkungen durch Kunstwerke dafür gelten lassen will. Ich dachte wohl etwas realer als Carl, dessen hoher Sinn von irgendeinem Brotstudium nichts wissen wollte. Um der Wissenschaft willen und aus keinem anderen Grund betrieb man die Wissenschaft. So tat man das Gute um seiner selbst willen. Wir, und besonders Carl, wurden nicht müde, die Schalen unseres Zorns, unserer Verachtung über eine Gesinnung auszuschütten, die auf Erden das Gute tat, um im Jenseits belohnt zu sein. Wir gerieten in Wut, wenn man uns die geringste Handlung eines äußeren Vorteils wegen zutraute. [...]
Rechthaberei ist in jungen Jahren allgemein, ebenso Unduldsamkeit gegen andere Meinungen. Ich vermute, wir müssen nach unserer Anlage das Menschenmögliche darin geleistet haben. [...]
Das philosophische Wesen zog mich nicht in dem Maße wie Carl und Simon an. Statt Sprünge zu machen, blieb ich dabei, meine eigene Maulwurfsarbeit im Denken fortzusetzen. [...]
Auch hatte die glückliche Liebe, die ich in mir trug, verbunden mit dem leichten Wandel der Jenenser Zeit, die nächtlichen Tiefen meines Innern gleichsam in Licht eingesargt. [...]

Siebzehntes Kapitel
Am 13. Februar 1883 starb Richard Wagner in Venedig. Wir fühlten die starke Erschütterung. Den Abend des fünfzehnten hatten wir in der Gastwirtschaft am Fuchsturm zugebracht. Es war eine pechrabenschwarze Nacht, als wir nach Hause aufbrachen. Den Gästen wurden in solchen Fällen Kienspanfackeln ausgehändigt. Wir hatten sie eben in Brand gesteckt, um den steilen Abstieg nach Jena anzutreten, als Müller von einer Totenfeier für Wagner sprach, die am folgenden Abend in Weimar stattfinden sollte. Da wurde ich wieder einmal von einem abenteuerlichen Gedanken heimgesucht: wir sollten sofort den Weg nach Weimar antreten, tagsüber alle historischen Stätten besuchen und abends im Theater der Feier beiwohnen. Einige Konkneipanten zweigten ab, die übrigen waren einverstanden.  
Mit meinen Kommilitonen zog ich bei Morgengrauen zum ersten Male in Weimar ein, zu Fuß nach einem mühsamen, einundzwanzig Kilometer langen Weg durch eine stockfinstere, kalte, von Regenschauern durchsetzte Finsternis: im Februar, wie nicht zu vergessen. Es war die Stunde, die ich liebte und um derentwillen es mich in Breslau oft frühzeitig aus den Federn getrieben hatte. [...]
Da war sie nun wieder, die Linie, die von der meiningisch-kleistischen »Hermannsschlacht«, durch die Zeremonie der Blutsbrüderschaft unterm Rasenstreifen, zu Wilhelm Jordan und Felix Dahn, von dort zu meinem »Hermannslied« und meinem Drama »Germanen und Römer« sich fortgesetzt hatte, und zwar auf ihrem wirklichen, letzten Höhepunkt, über den hinaus sie nicht weitergeführt werden konnte, was mir ohne Bedauern an jenem Abend klar wurde. [...]

Achtzehntes Kapitel
In Hamburg-Hohenfelde fanden wir Georg und Adele einquartiert. Sie bewohnten ein hübsches Parterre in der Uhlandstraße. [...]
Nichts in der Welt gleicht einem solchen Hafen, wie es der Hamburger ist, an Schicksalhaftigkeit. [...]
Und diese wilde, unverschämte, todesverachtende Klasse von Seefahrern, diese Blaujacken, Stoiker von Natur mit der Pose von Bequemlichkeit, als ob das Leben ein schlechter Witz wäre! Sie machten wahrhaftig nicht viel aus sich. Wer hätte sie Besseres zu lehren vermocht? Solcherlei Heroismus befähigte sie, in die unwegsamen Gebiete hinauszustoßen, die seit dem ersten Schöpfungstage unverändert sind und wo auf die Gegenwart des Menschen noch nicht Rücksicht genommen ist: Leere, Nacht, Wüstenei mit den furchtbaren Nebeln des Gott-Geistes über den Wassern. [...]

Fast unter unwiderstehlichem Zwang drängte sich der Entschluß mir auf, mit einem Frachtdampfer um Europa herum das Ziel meiner Sehnsucht zu erreichen. Dies war, wie wir damals dachten, Mary und ich, zwischen unseren Seelen beinahe ein Riß. Wollte ich nicht unser stillgefestigtes Glück freiwillig aufs Spiel setzen? Mary machte schmerzliche Einwände. Aber ich konnte sie überzeugen, daß gerade diese Seereise für meine Selbsterziehung nötig sei. [...]

25 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 10-14. Kapitel)

Zehntes Kapitel
Man kann sich denken, welcher innere Schrecken mich lähmte, als Carl mir erzählte, daß Mimi [Marie] heimlich verlobt wäre. Es handelte sich um einen Kandidaten der Theologie, der binnen wenigen Monaten in die Pfarre eingesetzt werden sollte, die durch den Tod seines Vaters vakant geworden war. [...]
Mit dem unverwandten, geschärften Blick eines Detektivs nahm ich die schöne Marie unter Beobachtung. Ich vernachlässigte auch den Rahmen nicht, aber sie blieb die Hauptsache. Daß ich sie als die weitaus reizvollste unter den Schwestern erachtete, ist nicht verwunderlich. Ich sah in ihr aber auch die bedeutendste. Die Stellung, die sie unter den Geschwistern einnahm, bestätigte das.
Es hing ein Schicksal über ihr. Ihrem ruhigen, festen Willen gegenüber war selbst der des verstorbenen Vaters zunichte geworden. [...]
Das Areligiöse war in Marie infolge der Neudietendorfer Jugendeinflüsse geradezu zum Dogma geworden. Freude am Disputieren hatte sie nicht, dieses Kapitel war bei ihr ein für allemal abgeschlossen. Diese Folge einer durchkämpften und durchlittenen tiefen Innerlichkeit trug dazu bei, das Bedeutsame der Erscheinung zu steigern.
Schon bevor sie durch den Tod des Vaters ihre Unabhängigkeit erlangte, hatte sich Marie, wie ich überzeugt bin, »von den Narren, von den Weisen« für frei erklärt.
Es war mit mir etwas Ähnliches vorgegangen. Beide waren wir seit dem ersten Schultag mißhandelt worden. Wir hatten verwandte Kämpfe durchgemacht, uns zu ähnlicher Freiheit durchgerungen. Zwei, die sich für mißverstanden und unterdrückt gehalten hatten, trafen sich. Und beide wollten sie den zerrissenen goldenen Faden des Lebens wieder anknüpfen, wozu nun alles Äußerliche mit beinahe mehr als ahndevoller Deutlichkeit hinstrebte. [...]
Mein Bruder Carl war der geborene Ethiker. Mit tiefer Verachtung lehnte er christliche Tugenden ab, weil sie im Jenseits belohnt werden wollten: ihm galt es, das Gute um seiner selbst willen zu tun. Ebenso verhielt er sich zur Idee der Gerechtigkeit: ihr mußte man dienen auf Tod und Leben. Ihn empörte Menschen- und Tierquälerei. Und wieder und wieder, oftmals zu eigenem Schaden, tat er, infolge dieser Anlage, Dinge wie der Manchaner von der traurigen Gestalt; er kämpfte wie dieser oft gegen Windmühlen. [...]
Mimi war unter den Schwestern als verschlossen bekannt. Nicht gerade gesprächig, war sie doch mir gegenüber aufgeschlossen. Ich glaube, der Austausch unserer Erlebnisse und Erfahrungen war so befreiend und beglückend, wie es im bloßen kameradschaftlichen Verkehr unter Freundinnen oder Freunden nicht möglich ist. Es war, als ob wir beide mit unseren Beichten unser ganzes Leben lang einer auf den anderen gewartet hätten. Marie fühlte sich von Kindheit an durch den Vater zurückgesetzt und empfand es bitter, keine Mutter gekannt zu haben. Ich war freilich von den Eltern nicht so benachteiligt, aber ich hatte doch auch, wie gesagt, Zurücksetzung aller Art erfahren, so daß ich zu gewissen Zeiten unter dem Druck der Geringschätzung fast zerbrach. [...]

Elftes Kapitel
Damals erschloß ich Marien, soweit es mir selbst erschlossen war, das Gebiet der bildenden Kunst. Wir besuchten gemeinsam die Galerie, wo ich zum erstenmal den Originalen größter Werke der Malerei gegenüberstand und ein fast schmerzlicher Rausch mit neuen, übermächtigen Eindrücken sich verband. Wie sie bekannte, hatte keiner der Lehrer, bei denen sie literarische und künstlerische Erkenntnisse gesucht hatte, ihr solche zu vermitteln vermocht. Ich machte sie frei, lehrte sie ohne Bedenken zugreifen. Die trennende Wand war im Handumdrehen weggeräumt, und die ganze Welt der dichtenden und bildenden Kunst stand ihr offen. [...]
Es ist etwas über die Maßen Glückseliges geschehen, sagte ich mir. Aber nun bist du gerade dadurch einem Gefühl des qualvollsten Darbens, des peinlichsten Entbehrens, ja fast der Verzweiflung ausgeliefert. Hattest du dich bisher nicht durch die Widerwärtigkeiten des Daseins wie durch übelriechende, unterirdische Gänge durchschlagen müssen? Wie willst du jetzt noch leben ohne Lebensluft? Ohne Mary war mir die Sonne fortan kein Licht. Mit ihr hatte die Nacht eine Sonne. Von meiner Bedürftigkeit hatte Mary natürlich keine Vorstellung. Mein Geldmangel war für mich kein Gesprächsthema. Ich hatte behauptet, ich brauchte weder eine Reisedecke noch einen Paletot. Die Nacht aber wurde bitter kalt, Heizung, wie heut, in einem Coupé dritter Klasse gab es nicht, und so fror ich trotz meiner Glücksbeladenheit, zusammengekrümmt auf dem Sitzbrett liegend, die ganze Nacht durch gottsjämmerlich. [...]
Mary und ich hatten eine über mehrere Jahre gehende Wartezeit, bevor wir einander heiraten wollten, verabredet. Was konnte nicht alles geschehen in dieser Frist! Würde und konnte Mary mir treu bleiben? [...]
Die Wohnung der Eltern in einem Gutshaus kam mir recht ärmlich vor: ein Zimmerchen im Parterre ging nach vorn, eines nach rückwärts, auf einen durch einen großen Düngerhaufen gezierten, von Ställen und Scheunen umgebenen Hof. Meine Mutter kochte selbst, sie hatte zur Hilfe ein billiges Hausmädchen. [...]  Ich verweilte diesmal nur wenige Tage in dieser Winkelexistenz, um dann nach der peinlichen Auseinandersetzung, die Geldsachen meist herbeiführen, mit vierzig Mark Monatswechsel plus Reisegeld in meinen Breslauer Wirrwarr zurückzukehren.
Das war wie der Sturz in ein Vakuum.
Ich war nicht gesund. Noch jüngst, in Marys Gegenwart, hatte sich bei verschiedenen Besuchen der Dresdener Galerie jener migräneartige Anfall wieder eingestellt, der mich zuerst in Lederose befallen hat. Ich hatte meinen Blick auf ein Bild konzentriert, da erschien in dessen Mitte jene Mouche, jener graue Punkt, mit dem auf den Äckern meines Onkels Schubert sich ein Zustand nervösen Erblindens einleitete.
Ein so geschwächtes Nervensystem konnte nicht ohne Gefahr das Chaos innerer Tendenzen wieder aufnehmen und zugleich mit den Sorgen der neuen Gebundenheit fortleben. Da aber kam Gott sei Dank endlich der lange, ersehnte, erlösende Brief, der Bild und Locke Marys enthielt und jeden Zweifel an der völligen Hingebung ihres Herzens zunichte machte.
Waren somit meine Ängste erstickt und Mary mir zum zweiten Male geschenkt worden, so hatte ich in Locke und Bild zwei rasend verehrte Fetische, die mir über die Zeiten von Brief zu Brief hinweghalfen.
Außer ihrer Liebe war aber aus der Welt Marys nichts herübergedrungen, was mir den vulgären Kampf ums Dasein erleichtern konnte. Ich hatte mich weiter durchzuschlagen, so schlecht es ging, wenn auch nun mit besseren Aussichten.
Wie ich meine Schulden von einigen hundert Mark bezahlen sollte, wußte ich nicht.

Um diese Zeit schlug mein Freund Max Fleischer mir vor, ich solle zu ihm und seiner verwitweten Mutter übersiedeln, die für ein geringes das Mittagessen für mich besorgen werde. Ich könne bei ihnen leben, bis meine Schulden bezahlt seien, wenn ich mich nur verpflichten möchte, dann meinen Wechsel der Mutter auszuliefern. Ich sagte meinem Schuster sogleich Lebewohl. Nie machte ein Umzug weniger Mühe: ich brauchte ja nur so, wie ich war, von einem Haus in das andere zu gehen. Mit diesem Gange jedoch – meinem Freunde und seiner Mutter sei Dank! – war eine Wendung zum Besseren eingeleitet.
Die Küche der alten Frau Fleischer in all ihrer ausgesuchten Einfachheit schlug bei mir an wie eine Kur. Das Essen: Linsen, Bohnen, Erbsen mit Speck, stand pünktlich auf dem Mittagstisch, so daß ich nun nicht mehr voll Neid und mit knurrendem Magen sehen mußte, wie etwa der Sohn des Pastors Primarius Späth von St. Magdalenen, die Freude auf die reichliche Mittagsmahlzeit im Gesicht, vor der Kunstschule einen Augenblick stille stand, das Hütchen lüftete und in Richtung der fetten Pfarrei davoneilte. Mein Tisch war so gut wie der seine gedeckt, ob mit weniger trefflichen Dingen, war mir gleichgültig.

Zwölftes Kapitel
Meine Bude wurde nun auf lange Zeit für Hugo Schmidt, Puschmann und den Sohn meiner Wirtin, Max, der Versammlungsort. Hier wurde ganze Nachmittage lang bis in die Nacht hinein disputiert, wobei uns die Witwe Fleischer mit heißem Grog labte, zu dem wir den Rum für wenige Pfennige aus der nächsten Destille geholt hatten. [...]
Die Kunstschule empfand ich bald sowohl als physisches wie als geistiges Hindernis; ich fühlte bereits, daß hier meines Bleibens nicht lange mehr sein würde. Ohne daß es mir immer bewußt wurde, lastete dieses ganze Breslauer Erlebnis wie eine tote Haut über mir, die ich, nach geschehener Häutung, noch mit mir schleppte. [...]
Carl schwankte nie, er zweifelte nie daran, ich würde in nicht allzulanger Zeit die sicher erwartete Frucht hervorbringen. Er schrieb mir das. Er hielt seinen Kommilitonen Vorträge über mich. Er stärkte den Glauben meiner Geliebten, nachdem er sich mit der Tatsache unserer Verlobung ausgesöhnt hatte.
Ich habe der Wahrheit gemäß festzustellen, daß Carl damals mehr als je mein Freund, mein Mentor war. Hatte er mir Gustav Jägers »Deutsches Tierleben« nach Lederose gesandt, so versorgte er mich auch jetzt mit lehrreichen Büchern. Wenn ich das seltsame Motto des Buches »Werden und Vergehen« von Carus Sterne wie ein befreiendes und beglückendes Wort ergriff, mußte ein ihm verwandter Zustand in meiner Seele trotz allen irdischen Wollens, Ringens, Mißlingens und Gelingens darauf als auf seine Bestätigung gewartet haben:
Ist einer Welt Besitz für dich gewonnen,
sei nicht erfreut darüber: es ist nichts.
Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
sei nicht im Leid darüber: es ist nichts.
Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen!
Geh an der Welt vorüber: sie ist nichts! [...]
Übrigens hatte ich Ploetz enttäuscht. In unseren pangermanischen Satzungen, denen wir durch die Blutsbrüderschaft auf der nächtlichen Ohlewiese Treue gelobt hatten, war die Verpflichtung aufgenommen, dereinst nur ein blondes, blaugeäugtes Mädchen zu heiraten. Mary, dieser dunkle, exotische Typ, machte mich zum Verräter. Immerhin zeigte der Freund sich nachsichtig: Mary könne recht wohl germanischen Blutes sein, da es auf blond und blau nicht ankäme. Hauptsache sei die Schädelform. Er werde sie messen, sobald sich dazu Gelegenheit fände. [...]

Dreizehntes Kapitel
Die Begrüßung bei Marys Ankunft auf dem Freiburger Bahnhof war in der Tat nicht ohne Verlegenheit. Genauer gesagt: von ihrer Seite recht beiläufig. Mit ihr stieg ein junger Leutnant aus dem Coupé, irgendein Herr von Ichweißnichtwie, der sich mit zusammengeklappten Hacken umständlich von ihr verabschiedete.
Sie habe sich recht gut mit ihm unterhalten, sagte sie.
Dann sprach sie lachend von Reiseerlebnissen, aber mit Tante Mathilde Jaschke und Johanna, nicht mit mir.
Ich kann nicht sagen, daß ich mich groß fühlte.
Für mein Gefühl etwas degradiert, stapfte ich hinter den Damen her. Ich war gekränkt, ich fühlte mich überflüssig. Bei meiner Reizbarkeit fehlte wenig, und ich hätte den drei Schicksalsschwestern durch jähe Flucht einen Streich gespielt. [...]
Mary führte Andersens »Bilderbuch ohne Bilder«, ein winziges grünes Leinwandbändchen, manchmal sogar in der Muffe mit. Vor der Abreise gab sie es mir, nachdem sie auf das erste Blatt die Worte geschrieben: »Zur Erinnerung an acht glückliche Tage.«
Das kleine Büchelchen lebt noch heut.
Immer wenn ich es in der Hand halte, weiß ich zwar, daß diese Tage wirklich unter die glücklichsten meines Lebens zu zählen, aber nicht, wie sie gewesen sind: und gerade hierdurch beweist sich ihr Glück. Diese Leere meines Gedächtnisses war durch eine wunschlose Gegenwart aufgefüllt. Sie war ein Sein, das weder ein Gestern noch Morgen hatte. Mary und ich und sonst nichts waren in der Welt, ja, auch die Welt war uns untergegangen. [...]

Vierzehntes Kapitel
Die wilden studentischen Trinkexzesse dieser Zeit fanden in dem sogenannten Zobtenkommers ihren Höhepunkt. Ich glaube, im Juli begann die ganze Studentenschaft von Breslau geeinigt dieses große Trink- und Sommerfest mit einem Umzug durch die Stadt. [...]
Ich glaube, es ist Richard Wagner, der sagt: durch die Offenbarungen der Musik werde Kultur aufgehoben wie Lampenschein durch Tageslicht. [...]

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

23 November 2017

Materialsammlung im Zuammenhang mit Hauptmanns "Abenteuer meiner Jugend"

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Woiwodschaften.svg

https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_F%C3%BCrstenstein

https://de.wikipedia.org/wiki/Projekt_Riese

https://de.wikipedia.org/wiki/Jagni%C4%85tk%C3%B3w (Haus Wiesenstein)

Museum Hiddensee: http://www.gerhart-hauptmann.de/Museum_Hiddensee

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 5.-9. Kap.)

Fünftes Kapitel 
Aber Carls und meine brüderliche Verstiegenheit konnte sich nicht lange damit aufhalten. Die geistige Atmosphäre, in der wir atmeten und die wir uns selbst geschaffen hatten, schloß uns nach dergleichen freundlichen Familienkaffeestunden sogleich wieder ab. In den Äther dieser unserer Sphäre konnten die Damen ja doch nicht eindringen.
So zu leben, in einer intelligiblen Welt mehr zu leben als im Wirklichen, war damals schon Carls Eigenheit. In jenen Tagen wurde ich, der ich sehr reale Dinge, Ausschweifungen, Hunger, körperliche Kämpfe und das Bemühen mit dem Sohn des Wassers und der Erde, dem nassen Ton, hinter mir hatte, hinaufgehoben. Dieses Schweben im Äther war mir wohltätig. Ich verlor die Schwere meiner Glieder und meiner Wesensart. Da ich die Befreiung und Erlösung von allem grob Stofflichen auf die Alma mater in Jena als ihren Ursprung schob, wurde ich mehr und mehr von ihr angezogen. Ihr Joch schien mir leicht, verglichen mit dem, das ich trug. [...]

Etwas an unserem, Carls und meinem Wesen gefiel meinem Vater immer noch nicht, was meine Mutter mit den Worten »Ihr seid zu ideal!« zu rügen pflegte. Er fühlte die Pflicht, uns immer wieder auf die Erde, die uns unter den Füßen zu entgleiten drohte, herunterzuholen.  [...]
Vaters Absichten mit Carl waren ganz andere, als sie Carl mit sich selbst hatte. Er hätte, wie gesagt, gern aus dem Sohn einen Arzt gemacht. Aber Carl brauchte nur einen leisen Verdacht zu haben, daß irgendein Ratschlag auf Broterwerb abziele, so geriet er in Raserei und tobte gegen das Brotstudium. Weder werde man ihn je dazu bringen, Naturwissenschaften und Philosophie aus anderen Gründen als um ihrer selbst willen zu betreiben, sagte er, noch ihn bestimmen, sich selbst durch gemeine und niedrige Ziele zu entwürdigen. [...]
Um jene Zeit tauchte ein Salzbrunner Kind, Bergmannssohn – sein Vater war Steiger –, bei uns auf, der es bis zum Fuchs bei den Raczeks in Breslau gebracht hatte. Wir hatten uns als Kinder wenig beachtet. Plötzlich stand er mit dem schwarzrotgoldenen Band und der Studentenmütze vor uns da. Ein Frühschoppen wurde sogleich verabredet. [...]
Carl und Schindler, der Raczek und Bergmannssohn, nahmen Gelegenheit, mich in den studentischen Trinkkomment einzuweihen. [...]
Diese erste Begegnung mit den Trinksitten sollte für mich eine lange Periode meiner Gesundheit nicht gerade zuträglicher Zechereien einleiten. [...]
Als wir am Ende der Ferienzeit auseinandergingen, brach Carl nach Jena, ich zu einem kurzen Aufenthalt bei den Schuberts nach Lederose auf. Was sich hier ereignete, hat vielleicht keine allzu große Bedeutung für meinen schöpferischen Entwicklungsgang, aber es wurden dabei die gesamten Strahlungen meines Wesens in einem Brennpunkt gesammelt.   Im gleichen Zimmer des neuen Hauses, das ich bewohnt hatte – der Glaskasten mit der Rebhuhnfamilie hing noch darin –, war jetzt Anna Grundmann untergebracht. Sie war nun unter anderm dazu bestimmt, das Bild von Ännchen Schütz – der Name Anna deutet bei mir überall auf unglücklich-glückliche Liebe hin – auszulöschen. Das Liebesidyll, das mir hier in tragikomischer Weise zu erleiden beschieden war, gedenke ich nicht zu schildern. Genug, daß es mich bis in die Grundfesten meines Wesens angegriffen und in mancher Beziehung verändert hat. [...]
Wie sah Anna Grundmann aus? Ich weiß es nicht. Und doch ist, was noch heute von ihr als reine Form in mir lebt, einer unwiderstehlich sinnlichen Schönheit mächtigster Inbegriff. Die Wunde des Entbehrens, des Unerfüllten, des Verlustes für Ewigkeit, unstillbarer Sehnsucht ist heute, am Abend eines langen, langen Lebens, noch unverheilt. [...]
Vom Wesen eines sogenannten Backfisches war in Anna Grundmann nichts. Hatte sich Natur ein Weib, eine Männin zu bilden vorgesetzt, so war ihr Vorsatz bis zur letzten Vollendung durchgeführt, und das opaleszierende Auge ihres Geschöpfes wußte von dem Rätsel seiner Vollkommenheit – und auch von dem andern: seiner Bestimmung. [...]
Ich habe dieses schöne, unbewegliche, ernste ovale Gesicht oft und lange, in einen stillen Schrecken verloren, angestaunt: diesen resignierenden, ironischen Mund, diese gerade, kleine, griechische Nase, deren schmaler Rücken mit der Stirn eine Senkrechte bildete, und dieses Berenikekinn. [...]

Sechstes Kapitel 
Am Abend etwa des dritten Tages war die Neugier von Onkel und Tante durch die Erzählung meines Triumphes so rege geworden, daß sie nun auch mein Dichtwerk hören wollten, dieses so vielbesprochene »Hermannslied«. Und so zog ich es wiederum aus der Brusttasche. Nicht anders als das erstemal, ja mit größerer Inbrunst, da Anna Grundmann zugegen war, sagte ich mir das »Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz! Es gilt uns heut, zu rühren ...« Ich wußte, welches Herz! [...]
Mein Vortrag verlief in gewohnter Art, und ich hatte im großen ganzen denselben Erfolg, den ich zuerst im Kreise Hugo Schmidts, alsdann vor den Professoren, später vor Carl, noch später bei Tante Jaschke im Kurländischen Hof einheimsen durfte. Die dichterischen Freiheiten, die ich mir genommen hatte, lockten Onkel Schubert ein freundliches Schmunzeln ab, während der Ausdruck in Tante Juliens Antlitz seinen unveränderten Ernst behielt. Beide wollten nicht leugnen, daß sie das Gelesene schön fänden und mir nicht zugetraut hätten, wie Onkel, in ein Lachen ausbrechend, Tante in aller Ruhe äußerte. Anna schwieg. Aber ich spürte, daß sie die wahrhaft Ergriffene war. Magnetische Fühlungen sagten mir mehr. [...]
Meine Liebe zu Anna Grundmann wurde erwidert. Von Stund an spürte ich das. Der letzte Tag brachte es ganz an den Tag: denn weshalb wäre Anna sonst an Tante Juliens Brust in Tränen ausgebrochen, als ich in dem zur Abfahrt bereiten Wagen saß? Was zwischen jenem Anfang und diesem Ende liegt, beschäftigt noch heute zuweilen mein Nachdenken. [...]

Siebentes Kapitel 
Mit dem unauslöschlich schmerzhaft geprägten Bilde Anna Grundmanns im Herzen ging ich dann nach Breslau zurück. Meine Vorstellungswelt hatte einen neuen, unsterblichen Gast bekommen. [...]
Es ist erstaunlich, welchem Zudrang von Ideen ein junger Mensch in gewissen Jahren standhalten muß und schließlich auch wirklich gewachsen ist. Während ich am nassen Ton den Kultus der Formen trieb, darüber mit meinen Freunden diskutierte, mit dem wenigen, was ich hatte, weiter schlechte Wirtschaft trieb, schwelgerische Hungervisionen ausbaute, meiner Armut irgendwie steuern wollte, die ich nunmehr als Schmach und als unerträgliches Hemmnis empfand, während ich meinen gebrechlichen Körper mit kaltem Wasser zu stärken versuchte, einer Nacktkultur das Wort redete und das Schamgefühl als Unmoral brandmarkte – während ich ein Schauspiel »Germanen und Römer« im Kopf trug, das mir Ruhm, Geld und vor allem Anna Grundmann als Frau verschaffen sollte, fand ich mich auf einmal in den Wirbel politischen Wesens neu hineingestellt. Alfred Ploetz diente sein Militärjahr ab und studierte zugleich Nationalökonomie. Er stand in einem Kreis, in den er auch mich autoritativ einführte. Der Pangermanist war der Gründer einer harmlosen – aber was ist harmlos in der Politik? – alldeutsch-sozialen Gesellschaft geworden. Dies und was nicht noch sonst lag verborgen in mir, als ich im Herbst von Tante Jaschke nach Ober-Salzbrunn eingeladen und plötzlich der Mittelpunkt einer kleinen Damengesellschaft im Garten des Kurländischen Hofes wurde. Es lag etwas Seltsames in der Luft, ich konnte das Tante Jaschke und meiner Schwester Johanna anmerken. Ihre bezugreichen Worte und sprechenden Augen deuteten auf eine Verschwörung hin. Etwas wie ein lustiger Krieg um ein öffentliches Geheimnis schien ausgebrochen. Was für eine Rolle ich dabei zu übernehmen hätte oder schon übernommen hatte, wußte ich nicht. Man behandelte mich wie ein Wundertier, und bald begriff ich, daß mir Tante Jaschke und Schwester Johanna in diesem Kreise einen Ruf als Dichter gemacht hatten. Freilich kam es mir vor, man sehe in mir nicht einen Erwachsenen, sondern etwas wie ein Wunderkind. [...]

Als die Teestunde ihrem Ende entgegenging, fragte mich Helene Loß – sicher war dies abgekartet –, ob ich nicht etwas aus meinem Epos, dem »Hermannsliede«, vorlesen wolle. »Oh, so haben wir also einen Dichter vor uns«, sagte Berthold Thienemann. »Ich muß gestehen, da bin ich doch neugierig.«   Zum dritten Male stand ich mit meinem Opusculum, meinem »Hermannslied«, vor einem Wendepunkt. Ich muß mir sagen, daß es auch hier schicksalhaften Einfluß ausübte. Mein Vortrag unter der Fassade des Kurländischen Hofes, nahe der gewaltigen Glaskugel, in der sich Himmel und Erde spiegelten, führte auch diesmal zum Erfolg. Mein Gedicht erregte, wie überall, besonders unter den Damen Begeisterung. Für mein Erinnern ist aber mit diesen Tagen ein Umstand verknüpft, der sich meinen achtzehn Jahren wohl einprägen mußte. Helene Loß hatte sich, bevor die Woge des Entzückens zurückgetreten war, in den Besitz einiger Lorbeerzweiglein zu setzen gewußt, die sie, zum Kranze gewunden, mit schalkhaftem Ernst unter dem Beifall aller mir ins Haar drückte. [...]

Achtes Kapitel
In Breslau, wohin ich zurückkehrte, traten diese Ereignisse bald zurück. Das Zentrum meiner Teilnahme lag wiederum in mir, statt außer mir. Mein eigenes Wesen, Werden und nebelhaftes Wollen wurde wieder die Hauptsache, ich mir selber der einzig wahre Besitz. Trotzdem blieb ich ins Leben verstrickt. Nicht nur, daß meine manuellen Übungen am nassen Ton ihren Fortgang nahmen, das Drama »Germanen und Römer« mich beschäftigte, es bestand auch der alte Freundeskreis, zu dem sich ein junger, wohlerzogener Mensch aus Wien namens Thilo zuweilen gesellte. Er war nicht ohne Bedeutung für mich. Thilo, um weniges älter als ich, in Wien, einer mit Bildungselementen überladenen Atmosphäre, aufgewachsen, war mir an sicherer Bildung und Reife voraus. Er schloß sich mir an, weil er von meinen Seltsamkeiten gehört, mein suchendes Wesen erkannt und den Gedanken gefaßt hatte, daß er mir etwas nützen könne. Er wies mich auf eine Dichtung »Der entfesselte Prometheus« von Lipiner hin, die er mir nachher dedizierte und die mich lange beschäftigt hat. Er aber war es, und das ist mehr, von dem ich die Namen der großen Drei: Turgenjew, Dostojewski und Tolstoi, zuerst gehört habe. [...]

Professor James Marshall war seines Lehramtes an der Kunstschule enthoben worden: ein Fall, wie er einem genialen Menschen und Maler gegenüber sich heut wohl kaum ereignen würde. Er hatte Schulden, er trank eine Menge Bier und Wein, aber ich möchte doch glauben, daß er nicht nur im Kreise der Schule eine hochbedeutende künstlerische Erscheinung war. Ein Teil seiner Bilder war aus E. T. A. Hoffmannschem Geiste hervorgegangen. Ein Deckengemälde im Dresdner Opernhaus und einige Wandmalereien der Meißener Albrechtsburg stammten von ihm. Er war ein Meister in Miniaturen. Einige seiner Fächer mit figurenreichen Historienbildern befanden sich im Besitz der russischen Kaiserin. [...]
Er wies uns auf E. T. A. Hoffmann hin. Er knüpfte daran Vasarigeschichten, mit denen er die kunstgeschichtlichen Vorlesungen des Professors Schultz gleichsam privatim weiterführte. Die weimarische Liszt-Epoche spukte in ihm. Vom Meister selbst und seinem Fürstentum wußte er allerlei hübsche Geschichten, die vom Himmel durch die Welt zur Hölle führten und wieder zurück. Er ließ uns erkennen, inwieweit der Gespenster-Hoffmann auch in Liszt steckte.  [...]
Eine Vorliebe für die Stunden vor Tagesanbruch war mir aus den Lederoser Zeiten treu geblieben. Was dort aus Zwang zur Neigung sich entwickelt hatte, trat nunmehr als Neigung auf. Ich erhob mich öfters, auch im Winter, des Morgens um vier, um die verlassenen Straßen bei schlechtem, bei gutem Wetter zu durchwandern. In dieser Zeit, wenn der Schlaf die Großen und Kleinen der Welt umfing, war die Seele eine ganz andere geworden. Ganz anders als unter den Spannungen und harten sinnlichen Eindrücken des Tages konnte sie sich ausweiten: die Abertausende von fixen und trivialen Gegenständen waren nicht mehr. Über die Verstorbenheiten dieser weiten, köstlichen, nächtlichen Öde dehnte sich und gebot nun Phantasie. Tiefen Genüssen war ich da hingegeben. Und mehr noch fremdem und großem Fühlen, wunderlich tiefen Gedanken und Erlebnissen, die man wohl Erleuchtungen nennen mag. Überdies frönte ich neben dem Hange, durch Einsamkeit mich selbst zu besitzen, dem zur Beobachtung. Ich gebrauchte meine Augen, meine Ohren bewußt und mit Leidenschaft. Von der ersten Regung des städtischen Lebens an verfolgte ich es, bis seine tägliche Lärmsinfonie voll im Gange war. Die Einzelvorgänge boten mir, einander ablösend, großen Reiz, von dem ich mich jedesmal nur ungern trennte. Immer wieder faßte ich mir an den Kopf in dem Gedanken, wie köstlich es sein würde, wenn man sie festhalten und künstlerisch gestalten könnte, aber zugleich auch in dem andern, daß der Versuch, es zu tun, mir nur meine Ohnmacht beweisen mußte. Der ewige Dialog hinter meiner Stirn verdichtete sich nicht selten bis zum geflüsterten Selbstgespräch, darin nach so oder so gearteten staunenden Ausrufen schwierigste Fragen der nachgestaltenden Kunst erörtert wurden. Das Verhandeln mit mir selbst hatte ich mir ebenfalls in Lederose angewöhnt. Diese Vigilien trieben mich in allen Teilen der Stadt herum, deren altertümliche Schönheiten ich so erst lieben lernte. Die wunderbare Gotik des Rathauses fesselte mich halbe Stunden lang: gleichviel, ob es als Ganzes unterm kalten Licht des Mondes stand oder nur dies oder das aus der Fülle seiner Einzelheiten durch die Gaslaternen des Ringes herausgehoben wurde. Hier wurde mein Sinn für Baukunst geboren, hier trieb ich, wenn ich von den Bauklötzen meiner Kindheit absehe, autodidaktisch mein frühestes Architekturstudium. Von der Begegnung mit den letzten Nachtschwärmern, die trunken und schläfrig heimtaumelten, bis zu dem Augenblick, wo sich die städtischen Nachtwächter gut gelaunt voneinander verabschiedeten, weil sie nun einen heißen Kaffee und ein warmes Bett witterten, von dem ersten fröhlich pfeifenden Bäckerjungen, der mit einem Korb warmer Semmeln vorüberduftete, bis zum ersten Bäckerladen, dessen Läden geöffnet wurden, vom ersten Dienstmädchen, das in diesen Laden trat und mit der sauberen Meisterin plauderte, bis zum ersten Schlachterwagen, der durch die Straßen rumpelte, von der ersten Gepäckdroschke, die mit einem frühen Reisenden zum Bahnhof schlich, bis zur hübschen Kalesche, die den reichen Geschäftsmann in sein Kontor brachte – was war da nicht alles zu bemerken! Und wie spannend und erregend war da die Fülle der Gesichte, die wie ein Strom bei Hochwasser stieg und schließlich jeder Bewältigung spottete. [...]
Auf Professor Haertels Empfehlung und auf Grund der künstlerischen Begabung, die er mir attestiert hatte, wurde mir das Examen für den Einjährig-Freiwilligen-Dienst gleichsam erlassen. Damit hatte sich die schwarze Wolkenwand eines dreijährigen Militärdienstes denn verteilt.  [...]

Neuntes Kapitel 
In nächster Nähe unseres Quartiers lagen nicht nur die Kirchhöfe, sondern auch das Wunder von Fürstenstein, so daß ich den gewaltig rauschenden Fürstensteiner Felsengrund mit der Götterburg in den Wolken täglich besuchen konnte. Natürlich war der Aufenthalt bei den Eltern, wo ich regelmäßig zu essen bekam, mich zeitig erhob und zur rechten Zeit schlafen ging, mir jedesmal eine Erholung und eine Erneuerung. Ich streifte endlos in der Gegend herum. [...]

Noch heute liegt mir im Wandern der höchste Reiz, den kein Beförderungsmittel, welches auch immer, erreichen kann. Es ist eigene, nicht erborgte Aktivität, mit der man die Überwindung des Raumes bestreitet. Viel inniger wird man so ein Teil der Natur, man taucht immer tiefer in sie ein und erfüllt sich mit ihrer Produktivität. Es gibt keine zweite Art, zu sein, wie ich schon damals begriff, in der sich Naturgenuß und geistiger Selbstgenuß so verbinden lassen. [...]


Carl, in Jena, hatte übrigens eine der Töchter Thienemann, Marie, die in einer gynäkologischen Klinik Jenas behandelt wurde, noch zu Lebzeiten des Papas, also im jüngsten Frühjahr, kennengelernt. Das achtzehnjährige Mädchen litt an Bleichsucht, sagte man. Die Verbindung mit Carl war von ihr gesucht worden. Adele hatte der Schwester geschrieben, ein Bruder ihres heimlich Verlobten studiere an der Jenenser Universität. Es war nicht schwer, ihn auszumitteln, und so wurde er von Marie, unter den Geschwistern Mimi genannt, eines Tags in die Klinik bestellt.
Er gefiel ihr sehr, wie man sagte, was mich durchaus nicht verwunderte. Er hatte im Umgang mit Damen eine natürlich-freie Art. Ich blieb darin weit hinter ihm. Dabei war er überaus ritterlich. Ein hübsches Mädchen fühlte ihm an, daß er, ohne persönlich zu werden, der Schönheit im allgemeinen huldigte. [...]
Mimis eigenartige Schönheit fiel unter den Schwestern am meisten auf. Wenn sie mit dem Blauschwarz ihres Haares, den dunklen Augen im weißen Oval des Gesichts, mit ihren jugendlich vollen Formen im Weiß und Blau dieses Raumes stand, steigerte sich bei mir das Gefühl ihres wundervollen Reizes bis zur Schmerzhaftigkeit. Eines Tages stellte sie sich in dem Boudoir, dessen beide Türen sie vorher verschloß, im Kostüm ihrer Rolle vor, das sie sich bei dem Chef der Schneiderwerkstätten des Opernhauses zu Dresden hatte machen lassen. Das Haus war um diese Stunde ziemlich leer, da die Schwestern ihre Logierbesuche bei einem Ausflug nach dem nahen Dresden hatten begleiten müssen.
Als Mimi unter der Hydra ein langes, befranstes, phantastisch besticktes Umschlagetuch, Erbstück der Mutter, von sich geworfen hatte, stand sie, ein griechischer Götterjüngling, da.
Sie liebte Schmuck: talergroße, gehöhlte Ringe von Gold hingen ihr jetzt wie immer in den Ohrläppchen, einen goldenen Reif hatte sie über die schmale Stirn, Spangen von Gold um den nackten Arm gelegt, einen breiten Reif vom gleichen Metall um das linke Handgelenk. Schöngefaßte Juwelen blitzten an ihren weiblichen Fingern. Der weiße Chiton, der ihren Körper durchscheinen ließ, wurde von einem goldenen Gürtel zusammengehalten und hatte oben wie unten einen goldenen Saum: er gab die vollen und runden Knie, den schönen Hals und die schönen Schultern preis: Herrlichkeiten, von denen Mimi zu wissen und auch nicht zu wissen schien, da sie mit der einfachsten Anmut und Natur zu wissen wünschte, ob sich das Ganze meiner Idee einigermaßen annähere.
Irgendwie bebte etwas in mir wie ein unbewußtes Wissen dem andern unbewußten Wissen entgegen: Dies alles wird dein! Bald gehört es dir!

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)