28 März 2018

Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne - Herbst

"[...] Wenn Niels hinüberkam und Erik fort war, so machten sie fast immer, ob es nun regnete oder stürmte, weite Spaziergänge durch den Wald, der an den Garten stieß. Sie hatten sich in diesen Wald verliebt, und je mehr sein Sommerleben zu Ende ging, desto lieber wurde er ihnen. Es waren ja dort auch tausende von Dingen zu sehen. Zuerst wie das Laub rot und gelb und braun wurde, dann wie es abfiel, an einem windigen Tage in gelben Wirbeln stiebend, wenn es still war, Blatt für Blatt auf Blatt leise zwischen den steifen Asten und den schwankenden, braunen Asten herabraschelnd. Und wie nun das Laub von Bäumen und Büschen fiel, wie kamen da nicht die verstecktesten Geheimnisse des Sommers ans Licht, was lag und saß da nicht umher an zierlichen Sämereien, und farbenreichen Beeren, braunen Nüssen, blanken Eicheln und niedlichen Eichelnäpfchen, Korallenbüscheln an den Berberitzen, schwarzglänzenden Schlehen und scharlachroten Urnen an den Hagebuttensträuchern. An den blätterlosen Buchen saßen dicht bei dicht stachlichte Bucheckern, und die Ebereschen beugten sich unter den schweren, roten Trauben, deren Duft säuerlich war wie Apfelmost. Späte Brombeeren lagen schwarz und braun im feuchten Laub am Wege, im Heidekraut wuchsen Preißelbeeren, und die wilden Himbeeren trugen zum zweitenmal ihre mattroten Früchte. Das Farnkraut hatte wohl hundert Farben, jetzt da es verwelkte; und nun erst das Moos, das war eine förmliche Entdeckung; nicht nur das kräftige Erdmoos an Abhängen und in den Gründen, das Ähnlichkeit hatte mit Tannen und Palmen und Straußfedern, sondern auch das seine Moos an Baumstämmen, das so aussah, wie man sich die Kornfelder der Elfen vorstellen mag, das in seinen, seinen Halmen, mit dunkelbraunen Knospen an den Spitzen wie Ähren aufschoß.
Eifrig wie Kinder durchschweiften sie den Wald kreuz und quer, um seine Schätze und Merkwürdigkeiten zu entdecken. Wie Kinder auch wohl zu tun pflegen, hatten sie sich in ihn geteilt, so daß das, was an der einen Seite des Fahrwegs lag, Fennimore gehörte, und das an der andern Seite Niels; oft verglichen sie ihre Reiche miteinander und stritten darüber, wessen Herrlichkeit die größte sei. Auch hatte alles seinen Namen, Klüfte und Hügel, Pfade und Zauntritte, Graben und Dämme. Und wenn sie hier und da einen besonders prächtigen Baum fanden, so bekam der auch seinen Namen. So hatten sie den Wald in jeder nur erdenklichen Weise in Besitz genommen, und so hatten sie sich eine kleine Welt für sich selbst geschaffen, die kein anderer kannte, und in der niemand sich bewegen konnte als sie – und doch hatten sie nicht ein Geheimnis miteinander, das nicht die ganze Welt hätte hören können. [...]"
(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne 11. Kapitel)


Die genauen Beobachtungen und die evozierten Farben faszinieren mich bei Jacobsen.
Deshalb sind mir diese Herbstschilderung und die Frühlingsschilderung am Anfang des Romans die liebsten Passagen. Doch auch die Menschenbeobachtung geht weit über das dichterische Normalmaß hinaus. 

27 März 2018

Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne - Niels und Fennimore II

[...] Es ist nichts dabei zu erzählen; es war ein Tag wie alle andern, sie waren allein im Wohnzimmer wie hundertmal zuvor, und sie hatten von gleichgültigen Dingen gesprochen, und was nach außen hin geschah, war so gewöhnlich und alltäglich wie möglich; es war nichts weiter, als daß Niels am Fenster stand und hinausblickte, und Fennimore ebenfalls hinkam und hinaussah; das war alles, aber es war genug; denn gleichsam wie durch einen Blitzstrahl verwandelten sich Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft für Niels Lyhne durch die Erkenntnis, daß er das Weib, das an seiner Seite stand, liebte; nicht wie etwas Leichtes und Süßes und Glückliches und Schönes, das ihn zu Glückseligkeit und Entzücken emporzuheben vermochte, – so war seine Liebe nicht; aber er liebte sie wie etwas, ohne daß er ebensowenig sein konnte, wie ohne Lebensodem; und wie einer, der dem Ertrinken nahe ist, um sich greift, so ergriff er ihre Hand und drückte sie ans Herz.
Und sie verstand ihn. Beinahe mit einem Schrei und in einem Ton voll Furcht und Jammer rief sie ihm wie eine Antwort und ein Bekenntnis zu: »O ja, Niels!« und entriß ihm die Hand.
Bleich und zögernd stand sie einen Augenblick da; dann sank sie mit einem Knie auf einen gepolsterten Stuhl, verbarg das Gesicht in der Sammetlehne und schluchzte laut.
Niels war während einiger Sekunden wie blind, und seine Hände suchten zwischen den Blumenzwiebelgläsern nach einer Stütze.
Das dauerte nur wenige Sekunden; dann trat er an den Stuhl, auf dem sie lag, und beugte sich mit der einen Hand auf die Lehne gestützt, über sie, ohne sie zu berühren.
»Sei nicht so verzweifelt, Fennimore, blick auf und laß uns miteinander reden. Willst du nicht? Fürchte nichts, laß es uns zusammen tragen, meine einzig Geliebte, laß uns! Versuche, ob du es kannst.«
Sie erhob den Kopf ein wenig und sah zu ihm auf. »O Gott, was sollen wir anfangen? – Ist es nicht fürchterlich, Niels? Warum mußte es mir so auf dieser Welt gehen? Und wie herrlich hätte es sein können – so glücklich!« und sie schluchzte wieder. –
»Hätte ich schweigen sollen,« klagte er, »arme Fennimore, hättest du es lieber niemals erfahren wollen?«
Wieder erhob sie den Kopf und griff nach seiner Hand. »Ich hätte es erfahren wollen und dann sterben; oh, läge ich im Grabe und wüßte es; das wäre so schön, oh, so wohlig und gut ...!«
»Es ist bitter für uns, Fennimore, daß das erste, was unsere Liebe uns bringt, nur Angst und Tränen sind, meinst du nicht auch?«
»Du darfst nicht hart gegen mich sein, Niels, ich kann ja nicht anders, du kannst es nicht so ansehn wie ich; ich bin's, die stark sein sollte, weil ich es bin, die gebunden ist; könnte ich meine Liebe mit Gewalt nehmen, und sie in die heimlichste Tiefe meiner Seele verschließen, und taub sein gegen all ihr Jammern und Flehen, und dann zu dir treten und sagen, daß du weit, weit fortreisen solltest; aber ich kann nicht, ich habe soviel gelitten; dies kann ich nicht auch noch ertragen, ich kann nicht, Niels, ich kann nicht ohne dich leben, sieh, kann ich es denn? Glaubst du, daß ich es könnte?« [...]
Sie erhob sich und preßte sich an seine Brust.
»Hier bin ich und lasse dich nicht los; ich will dich nicht fortlassen und selbst in der alten Finsternis zurückbleiben. Es ist wie eine grundlose Tiefe von Ekel und Pein, ich will mich nicht hinstürzen, eher springe ich ins Wasser, Niels; und wenn das neue Leben auch Schmerzen bringt, so sind es doch neue Schmerzen, die nicht den stumpfen Stachel der alten haben, und die nicht so sicher treffen können, wie die alten, die mein Herz so grausam genau kennen. Rede ich irre? – Ja gewiß, aber es tut so wohl, ohne Rückhalt mit dir sprechen zu können, ohne mich mehr davor hüten zu müssen, dir all das viele zu sagen, was nicht recht war. Aber jetzt hast du ein Recht vor allen! Wenn du mich nur ganz hinnehmen möchtest, so daß ich ganz dein wäre, ohne daß auch nur das Geringste einem andern gehörte; könntest du mich herausheben aus allen Verhältnissen, die mich umgeben?«
»Wir müssen sie durchbrechen, Fennimore. Ich werde es so gut einrichten; hab' nur keine Angst; eines Tages, bevor noch jemand das Geringste ahnt, sind wir weit fort.«
»Nein, nein, wir dürfen nicht fortlaufen, nur das nicht; lieber alles andere, als daß meine Eltern erfahren sollten, ihre Tochter sei fortgelaufen; das ist unmöglich; und ich tue es nimmermehr, bei Gott im Himmel, Niels, ich tue es nimmermehr.«  [...] 
Aber wie süß war es auch zu lieben, einmal die Liebe des wirklichen Lebens zu lieben; denn das, was er früher für Liebe gehalten, war ja keine Liebe, weder die schwermütige Sehnsucht des Vereinsamten, noch das glühende Verlangen des Phantasten oder die ahnungsvolle Nervosität des Kindes; es waren Ströme in dem großen Ozean der Liebe, einzelne Reflexe ihres vollen Lichtes, Splitter der Liebe, gleichsam wie die Meteore, die die Luft durchrasen, die Splitter eines Weltkörpers sind; denn die Liebe, sie ist eine Welt, ein Ganzes, etwas Volles, Großes, Geordnetes. Keine wirre, inhaltlose Fahrt von Gefühlen und Stimmungen – die Liebe ist wie die Natur, ewig wechselnd und ewig gebärend, in ihr erstirbt keine Stimmung, welkt kein Gefühl, ohne dem Keim zu etwas noch Vollkommenerem, den sie in sich trägt, Leben zu geben. Ruhig, gesund, mit tiefen Atemzügen, so war es schön zu lieben, von ganzer Seele zu lieben. Und jetzt fielen die Tage neu und blank vom Himmel herunter, sie kamen nicht selbstverständlich aufeinander folgend, wie die abgenutzten Bilder eines Guckkastens; jeder von ihnen war eine Offenbarung, denn an jedem einzigen fand er sich selbst größer und stärker und gewachsener vor. Er hatte eine solche Innigkeit und Macht des Gefühls nie gekannt, und es gab Augenblicke, in denen er sich weit mehr Titan als Mensch dünkte, eine solche Unerschöpflichkeit spürte er in seinem Innern, eine so flügelstarke Zärtlichkeit schwoll in seinem Herzen empor, – so weit war sein Blick – so heroisch und mild war sein Urteil.
Dies war der Anfang und das Glück, und sie waren lange glücklich.
Die tägliche Falschheit und Verstellung, die Atmosphäre von Unehre, in der sie lebten, alles das hatte noch keine Macht, es konnte sie in der verzückten Höhe, zu der Niels das Verhältnis und dadurch sie beide emporgehoben hatte, noch nicht erreichen; denn er war nicht einfach ein Mann, der das Weib seines Freundes verführte, oder besser gesagt, er war es, er sagte voll Trotz, daß er es sei; aber er war auch derjenige, der eine schuldlose Frau erlöste, die vom Leben verwundet, versteinert und besudelt war; eine Frau, die sich bereits niedergelegt, um ihre Seele sterben zu lassen; und ihr hatte er das Vertrauen zum Leben wiedergegeben, den Glauben an seine besten Kräfte; er hatte ihren Geist zu Hoheit und Adel erhoben; er hatte ihr Glück gegeben; was war denn besser, jenes unverschuldete Elend, oder daß er sie errungen hatte? Er fragte nicht mehr, er hatte seine Wahl getroffen.
Ganz so hatte er es nicht gemeint. Der Mensch baut sich oft Theorien auf, in denen er doch nicht wohnen möchte; die Gedanken gehen oft so viel weiter als das Gefühl für Recht und Unrecht Lust hat, ihnen zu folgen. Aber jene Vorstellung bestand für ihn und nahm der fortwährend notwendigen List, Falschheit, Niedrigkeit und Erbärmlichkeit viel von ihrem ewig fressenden Eitergift. [...]


Das Glück stand nicht mehr still über ihren Häuptern, sie mußten sein Lächeln und sein Licht erhaschen, wo und wie sie konnten; List und Verschlagenheit waren keine traurige Notwendigkeit mehr, sondern erfreuliche Triumphe; die Falschheit wurde ihr wahres Element und machte sie so klein und gemein. Es gab auch entwürdigende Geheimnisse, über die sie früher getrauert hatten, jeder für sich, weil sie sich gegenseitig unwissend stellten; jetzt mußten sie teilen, denn Erik war nicht schüchtern, und es fiel ihm oft ein, seine Frau in Niels Gegenwart zu liebkosen, sie zu küssen, sie auf den Schoß zu nehmen und sie zu umarmen; und Fennimore wagte nicht, diese Liebkosungen zurückzuweisen, oder sie hatte nicht mehr wie früher die Macht dazu; das Bewußtsein ihrer Schuld machte sie unsicher und ängstlich.
So sank und sank ihrer Liebe hohes Schloß, von dessen Zinnen sie so stolz in die Welt hinabgeblickt, in dem sie sich so stolz und stark gefühlt.
Aber sie waren auch froh zwischen den Ruinen.
Wenn sie jetzt im Walde spazieren gingen, so geschah es meist an trüben Tagen, wo der Nebel in den braunen Zweigen hing und es zwischen den feuchten Stämmen noch dunkler machte, so daß niemand sehen konnte, wenn sie sich hier küßten, dort umarmten, niemand hören konnte, wenn ihre leichtsinnigen Worte in ausgelassenen Lachfanfaren ausklangen.
Jener Stempel von Melancholie der Ewigkeit, den ihre Liebe getragen, war ausgelöscht; eitel Lachen und Scherz herrschte jetzt zwischen ihnen; eine fieberhafte Eile war über sie gekommen, eine Gier nach den hinschwindenden Sekunden der Ewigkeit, als müßten sie sich beeilen zu lieben und hätten nicht das ganze Leben vor sich.
Es führte keine Veränderung mit sich, daß Erik seiner Idee nach Ablauf eines Monats müde wurde, und seine Fahrten von neuem so eifrig begann, daß er selten zwei Tage hintereinander zu Hause war. Wohin sie gefallen, dort blieben sie. Vielleicht daß sie einmal in einsamen Stunden klagend zu jener Höhe hinaufblickten, von der sie herabgefallen; vielleicht auch, daß sie nur verwundert dachten, wie anstrengend es gewesen, sich dort oben zu halten, und daß sie sich dort weicher gebettet dünkten, wo sie jetzt lagen. Keine Veränderung trat ein. Wenigstens keine, die zu den alten Tagen zurückgeführt hätte; jedoch die schlaffe Gemeinheit, die darin lag, daß sie lebten, wie sie lebten und doch nicht miteinander entflohen, kam ihnen mehr und mehr zum Bewußtsein und koppelte sie fester und niedriger in ihrem gemeinsamen Schuldgefühl aneinander; denn keiner von ihnen wünschte die Dinge anders, als sie waren. Ebensowenig verbargen sie dies voreinander, denn es war zu jener zynischen Vertraulichkeit zwischen ihnen gekommen, die leicht unter Mitschuldigen entsteht, und es gab garnichts in ihrem Verhältnis, das mit Worten zu berühren sie etwa gescheut hätten. Mit traurigem Mut nannten sie die Dinge bei dem rechten Namen, blickten ihnen ins Auge, sagten sie, wie sie waren. 
Im Februar hatte es ausgesehen, als sei es mit dem Winter zu Ende, aber dann kam Mutter März in ihrem weißen Mantel mit dem losen Futter, und Schneegestöber auf Schneegestöber bedeckte die Erde mit einer dicken Schicht. Später wurde es still mit klingendem Frost, der Fjord trug viertelzolldickes Eis, das lange liegen blieb.
Gegen Ende des Monats saß Fennimore eines Abends nach der Teezeit allein im Wohnzimmer und wartete.
Es war sehr hell da drinnen, das Klavier, dessen Kerzen brannten, war geöffnet, der Schirm war von der Lampe genommen, so daß Goldleisten und alles, was an den Wänden hing, deutlich und wach hervortrat. Die Hyazinthen waren von den Fenstern fortgerückt und auf den Schreibtisch gestellt; sie bildeten jetzt einen Büschel glänzender Farben und erfüllten die Luft mit ihrem reinen, gleichsam kühlend starken Duft. Im Ofen brannte das Feuer mit gedämpftem, behaglichen Schnurren.
Fennimore ging auf und ab im Zimmer und balancierte beinahe auf einem der dunkelroten Streifen des Teppichs. Sie hatte ein etwas altmodisches schwarzes Seidenkleid an, das mit schweren Garnierungen auf dem Boden schleppte und sich, während sie ging, von einer Seite auf die andere legte.
Sie sang leise vor sich hin und hatte mit beiden Händen die Kette mattgelber Bernsteinperlen gefaßt, die sie um den Hals trug, und wenn sie auf ihrem roten Streifen schwankte, hörte sie auf zu singen, fuhr aber fort, die Kette zu halten. Vielleicht sollte ihr Gang ihr prophetisch sein, so, daß Niels kommen würde, wenn sie so und so viele Male durchs Zimmer gehen könnte, ohne von dem Streifen abzuweichen oder die Kette loszulassen.
Er war am Vormittag dort gewesen, als Erik fortgefahren, und war bis gegen Abend geblieben, aber er hatte versprochen, noch einmal herüberzusehen, sobald der Mond hervorkommen und es hell genug werden würde, um die Wuhnen draußen auf dem Fjord vermeiden zu können. [...]
Es sei ein Brief da, sagte Trine, als sie zur gnädigen Frau ins Zimmer trat.
Fennimore nahm ihn, es war eine Depesche. Ruhig gab sie dem Mädchen die Quittung und ließ es gehen; sie war durchaus nicht erschrocken, Erik hatte in der letzten Zeit oft an sie telegraphiert, daß er am nächsten Tage mit ein paar Fremden kommen würde.
Dann las sie.
Plötzlich erblaßte sie, fuhr entsetzt von ihrem Stuhl empor und starrte mit erwartungsvoller Furcht nach der Tür.
Sie wollte es nicht herein haben, sie konnte nicht; mit einem Satz hatte sie sich gegen die Tür geworfen und stemmte ihre Schulter dagegen, sie drehte an dem Schlüssel, bis er ihr tief in die Hand schnitt. Aber wie fest sie ihn auch faßte, er wollte sich nicht drehen lassen. Dann ließ sie ihn los. Es war ja auch wahr –, es war ja nicht hier, weit fort von hier in einem fremden Hause.
Sie begann zu zittern, die Füße trugen sie nicht länger, und sie sank an der Tür zu Boden.
Erik war tot. Die Pferde waren mit ihm durchgegangen, hatten den Wagen an einer Straßenecke umgeworfen, und er war mit dem Kopf an eine Mauer geschleudert. Der Schädel war zermalmt, und jetzt lag er tot in Aalborg. So hatte es sich zugetragen, und das meiste davon stand im Telegramm. [...]
Sie begann in ihrem Glaskäfig auf und ab zu gehen. Hier standen keine anderen Möbel als ein Sofa aus gebogenem Holz, und dieses lag voll welker Efeublätter, von den Ranken da oben unter der Decke. Jedesmal, wenn sie vorüberging, raschelten die Blätter leise im Luftzug, und dann und wann fand ihr Kleid auch Laub auf dem Fußboden und zog es mit kratzendem Laut mit sich über die Dielen.
Der Kälte trotzend und die Arme über der Brust gekreuzt, ging sie auf ihrer traurigen Wacht hin und her.
Er kam.
Mit einem Ruck hatte sie die Tür geöffnet und trat mit ihren dünnen Schuhen auf den eisigen Schnee.
Sie gönnte sich dies; barfüßig hätte sie zu dieser Begegnung gehen mögen.
Beim Anblick der schwarzen Gestalt auf dem weißen Schnee hatte Niels seine Fahrt gemäßigt und kam nun mit zögernden, prüfenden Schwenkungen langsam an Land.
Es war, als brenne diese schleichende Gestalt ihr in die Augen. Jede Bewegung, jeder Zug, den sie wiedererkannte, traf sie wie ein schamloser Hohn, gleichsam prahlend mit seinen entwürdigenden Geheimnissen. Sie zitterte vor Haß, ihr Herz quoll über von Flüchen, und sie war ihrer selbst kaum mächtig.
»Ich bin's,« rief sie ihm höhnend entgegen, »die Dirne Fennimore.«
»Aber um Gottes willen, du Liebe?« fragte er verwundert, jetzt nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt.
»Erik ist tot.«
»Tot?! Wie?« Er mußte mit seinen Schlittschuhen in den Schnee treten, um nicht umzufallen. »Aber so sag' doch!«, und eifrig trat er noch einen Schritt näher.
Jetzt standen sie sich Angesicht zu Angesicht gegenüber, und sie mußte sich Gewalt antun, um nicht mit der geballten Faust in diese bleichen, verstörten Züge zu schlagen.
»Ich werde es dir schon sagen,« sprach sie, »er ist tot, wie ich gesagt, die Pferde sind in Aalborg mit ihm durchgegangen, sein Kopf ist zerschmettert, und wir gingen hier umher und betrogen ihn.«
»Das ist schrecklich,« stöhnte Niels und faßte sich an die Schläfen, »wer hätte auch ahnen können ... ah! Wären wir ihm doch treu gewesen, Fennimore. Erik, armer Erik! – Wäre ich es doch gewesen!« Und er schluchzte laut und krümmte sich vor Schmerz.
»Ich hasse dich, Niels Lyhne.«
»Bah! Wir!« stöhnte Niels ungeduldig, »wenn wir ihn nur wiederhätten. Arme Fennimore,« verbesserte er sich dann, »kümmere dich nicht um mich. Du sagst, du hassest mich? Das magst du tun, ja, das magst du.« Plötzlich richtete er sich auf. »Laß uns hineingehen,« sagte er, »ich weiß nicht mehr, was ich sage. Wer, sagtest du, hat telegraphiert?«
»Hinein!« schrie Fennimore, die heftig wurde, weil er ihre Feindseligkeit nicht beachtete. »Dort hinein! Nimmermehr wirst du deinen feigen, ehrlosen Fuß in dieses Haus setzen. Wie wagst du nur daran zu denken, du Elender, du falscher Hund, der du hierhergeschlichen kamst und deines Freundes Ehre stahlst, weil sie schlecht verwahrt war. Wie, hast du sie nicht vor seinen Augen gestohlen, weil er glaubte, du seist ehrlich, du Hausdieb!« [...]
Sie hatte die Arme drohend nach ihm ausgestreckt, jetzt wandte sie sich ab und ging; leise klirrte die Tür der Veranda hinter ihr.
Erstaunt, fast ungläubig, stand Niels da und blickte den Weg entlang, den sie gegangen; ihm war, als stände es noch vor ihm, das bleiche, rachedurstige Antlitz, das so seltsam gemein und roh in seiner Leidenschaftlichkeit und seiner gewohnten formenzarten Schönheit so ganz beraubt war, daß es aussah, als sei es in all seinen Linien von einer schonungslosen, unbarmherzigen Hand umgepflügt.
Er stolperte vorsichtig auf das Eis zurück und begann, mit dem Mondlicht vor sich und dem Wind im Rücken, langsam der Fjordmündung zuzulaufen. Nach und nach, als seine Gedanken die Aufmerksamkeit von der Umgebung ablenkten, lief er schneller, und die Eissplitter vom Eisen seiner Schlittschuhe rasselten, von dem stets zunehmenden Frostwinde getrieben, klirrend mit ihm über die blanke Fläche.
Also das war das Ende! So also hatte er die Frauenseele erlöst und sie emporgehoben und ihr Glück gegeben! Wie schön war es, das Verhältnis zu dem toten Freunde, seinem Jugendfreunde, für den er Zukunft, Leben und alles hatte opfern wollen! Er mit seinem Opfern und Erlösen! Himmel und Erde sollten ihn ansehen, wenn sie einen Mann sehen wollten, der sein Leben auf der Höhe der Ehre erhielt, ohne Flecken und ohne Fehler, damit er nicht auch einen Schatten auf die Idee werfe, der er diente, und die zu verkünden er berufen war!
Er lief weiter.
Das war nun auch so einer von seinen großprahlerischen Gedanken, daß sein erbärmliches Leben Flecken auf die Sonne der Idee werfen könnte. Herrgott! Stets mußte er alles so hoch nehmen! Das war ihm nun einmal angeboren; konnte er nichts Besseres werden, so wollte er wenigstens ein Judas sein und sich in großartiger Unheimlichkeit Ischariot nennen. Das klang doch nach etwas. – Mußte er sich denn stets gebärden, als sei er verantwortlicher Minister bei der Idee und Mitglied ihres geheimen Staatsrates, der alles, was die Menschheit betraf, aus erster Hand hatte! – Ob er niemals lernen würde, in aller Bescheidenheit danach zu streben, seine Pflicht im Garnisondienst der Idee zu tun als Gemeiner niederen Ranges?
Auf dem Eise waren rote Feuer, und er kam so nahe an ihnen vorüber, daß ein riesenhafter Schatten für einen Augenblick aus seinen Füßen herausschoß, sich nach vorwärts drehte und verschwand.
Er dachte an Erik und an den Freund, der er für Erik gewesen. Oh, er! Die Kindheitserinnerungen rangen die Hände über ihn; die Jugendträume verhüllten ihr Antlitz und weinten über ihn; seine ganze Vergangenheit sah ihm mit einem langen, vorwurfsvollen Blicke nach. Diesem allen war er so treulos gewesen um einer Liebe willen, die so klein und niedrig wie er selbst. – Trotzdem war etwas Erhabenes in ihrer Liebe gewesen; auch dem war er treulos geworden. Wohin fliehen vor all diesen Anläufen, die immer im Grabe endeten? Sein ganzes Leben war nichts anderes gewesen, und auch in Zukunft würde es nicht anders werden, er wußte es, er fühlte es so sicher, daß er krank wurde bei all dieser Aussicht auf all diese unnütze Mühe, und von ganzer Seele wünschte, daß er diesem sinnlosen Schicksal entfliehen könnte. Wenn nur das Eis unter ihm brechen wollte, wie er so darüber hinfuhr, und alles mit einem Aufschnappen und Hinabsinken in das kalte Wasser vorüber wäre.
Ermattet vom Lauf blieb er stehen und blickte zurück. Der Mond war fort, und der Fjord lag dunkel und lang zwischen den weißen Hügeln des festen Landes. Nun kehrte er um und arbeitete gegen den Wind an. Dieser war stark, und er war müde. Er suchte windsicher ans hohe Ufer zu gelangen, aber als er so vorwärtsrang, kam er auf eine Windwuhne, und das dünne Eis gab mit knisterndem, zähen Knacken unter ihm nach.
Wie leicht ward ihm aber doch ums Herz, als er wieder auf festes Eis kam! Die Angst hatte die Müdigkeit beinahe verjagt, und kräftig steuerte er vorwärts.
Während er sich draußen mühte, saß Fennimore im hellerleuchteten Zimmer, enttäuscht und zermartert. Sie kam sich wie um ihre Rache betrogen vor, sie wußte nicht, was sie erwartet hatte, aber es war etwas ganz anderes gewesen; ihr hatte etwas Erhabenes und Mächtiges, etwas wie Schwerter und rote Flammen vorgeschwebt, oder auch das nicht, etwas, das sie trug und sie auf einen Thron setzte; und nun war es so kleinlich und alltäglich ausgefallen, und sie war sich mehr wie eine Zänkerin vorgekommen, als eine, die verflucht...
Sie hatte doch etwas von Niels gelernt.

Früh am nächsten Morgen, als Niels von Ermüdung überwältigt noch schlief, reiste sie ab.
(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne 11. Kapitel)

12. Kapitel (die Opernsängerin)

13. Kapitel (Gerda)
"Ungefähr ein Jahr hatte Niels auf Lönborghof gewohnt und die Bewirtschaftung geleitet, so gut er konnte, oder soviel sein Verwalter es zuließ. Er hatte seinen Schild vom Nagel genommen, die Devise ausgelöscht und entsagt. Die Menschheit mußte sich ohne ihn behelfen, er hatte das Glück kennengelernt, das die rein körperliche Arbeit gewährt, wenn wir den Haufen unter unseren Händen wachsen sehen, wenn wir wirklich fertig werden können, so, daß wir fertig sind; zu wissen, wenn wir müde fortgegangen, daß die Kräfte, die wir zugesetzt, hinter uns in unserer Arbeit zurückbleiben, und daß die Arbeit bleiben wird, daß sie nicht während der Nacht vom Zweifel verzehrt, nicht von der Kritik einer mißmutigen Morgenstunde auseinandergeblasen werden kann. In der Landwirtschaft lagen keine Sisyphussteine.
Und dann seinen Körper müde gearbeitet zu haben; der Genuß, zur Ruhe zu gehen und sich wieder Kräfte anzuschlafen, um sie von neuem zuzusetzen, regelmäßig, wie Tag und Nacht aufeinanderfolgen, ohne von den Launen seines Gehirns behindert zu werden, ohne daß man sich vorsichtig zu berühren braucht wie eine gestimmte Gitarre mit abgenutzten Schrauben!
Er war so recht gleichmäßig glücklich, und oft konnte man ihn sitzen sehen, wie sein Vater gesessen, an einer Heckentür oder an einem Grenzstein, in seltsam vegetativer Ergriffenheit auf den goldenen Weizen oder den ährenschweren Hafer starrend.
Noch hatte er nicht begonnen, mit den Familien der Umgegend weiteren Umgang zu suchen; der einzige Ort, wohin er einigermaßen häufig kam, war Kanzleirat Skinnerups Haus in Varde. Die Leute waren in die Stadt gekommen, als sein Vater noch lebte, und da der Kanzleirat einer von Lyhnes alten Universitätsfreunden war, kamen die Familien viel zusammen. Skinnerup, ein milder, kahlköpfiger Herr mit scharfen Zügen und sanften Augen war jetzt Witwer und hatte das Haus mehr als voll mit vier Töchtern, von denen die älteste siebzehn, die jüngste zwölf Jahr alt war.
Niels liebte es, sich mit dem sehr belesenen Kanzleirat über allerlei ästhetische Gegenstände zu unterhalten, denn weil er angefangen hatte, seine Hände zu gebrauchen, war er doch noch nicht plötzlich Bauer geworden. Ihm war auch die ein wenig komische Vorsicht angenehm, mit der er sich ausdrücken mußte, sobald von einem Vergleich zwischen dänischer und ausländischer Literatur die Rede war, oder überhaupt auch sonst, wenn Dänemark mit etwas verglichen wurde, das nicht dänisch war; denn es war sehr notwendig, vorsichtig zu sein. Der milde Kanzleirat war nämlich einer von diesen guten, wütenden Patrioten, die damals existierten, Leute, die man dahin bringen konnte, mißmutig einzugestehen, daß Dänemark nicht die bedeutendste der Großmächte sei, die aber sonst kein einziges weiteres Zugeständnis machten, welches das Land, oder irgend etwas, das mit dem Lande zu tun hatte, anderswohin stellen konnte als an die Spitze. – Was ihm an diesem Gesprächen sonst noch lieb war, aber ganz unbestimmt und ohne das geringste Gewicht darauf zu legen, war die frohe Bewunderung zu sehen, mit der die siebzehnjährige Gerda ihm folgte, wenn er sprach; sie suchte stets zugegen zu sein, wenn er da war, und war so innig bei der Sache, daß er sie häufig vor Entzücken erröten sehen konnte, wenn er etwas gesagt hatte, was ihr besonders schön erschien. [...]"

14. Kapitel
"[...] In bitterer Schwermut geht Niels Lyhne in den leeren Zimmern umher. Etwas in ihm ist gebrochen, in der Nacht, als das Kind starb. Er hat das Selbstvertrauen verloren, seinen Glauben an die Kraft des Menschen, das Leben zu ertragen, das er zu leben bekommen. Das Dasein war widerlich geworden, und sein Inhalt sickerte bedeutungslos nach allen Seiten fort. [...]
Dann kam jener Novembertag, an dem der König starb, und der Krieg mehr und mehr zu drohen begann.
Bald hatte er seine Angelegenheiten auf Lönborghof geordnet und meldete sich als Freiwilliger. [...]
An einem trüben Märztage bekam er dann einen Schuß in die Brust. [...]
Hjerrild erhob sich. »Fahrwohl, Lyhne,« sagte er, »es ist ein schöner Tod, für unser armes Land zu sterben.«
»Ja,« sagte Niels, »aber es war doch nicht auf diese Weise, daß wir träumten, das unsere zu tun, damals vor langer, langer Zeit.« [...]
Als Hjerrild Niels Lyhne zum letztenmal sah, lag er und fabelte von seiner Rüstung und davon, daß er stehend sterben wolle.
Und endlich starb er dann den Tod, den schweren Tod."

25 März 2018

Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne - Niels und Fennimore I

»Liebste Fennimore, du weißt Gott sei Dank nicht, was du sagst, aber du bist ungerecht gegen die Frauen, gegen dich selbst; ich glaube an die Reinheit des Weibes.«
»Die Reinheit des Weibes, was meinst du mit der Reinheit des Weibes?«
»Ich meine – – – – – ja...«
»Du meinst, ich will es dir sagen, du meinst nichts, denn das ist auch so eine von diesen inhaltlosen Feinheiten. Eine Frau kann nicht rein sein, sie soll es nicht sein, wie sollte sie es können! Welche Unnatur ist das! Hat die Hand unseres Herrgotts sie dazu bestimmt, es zu sein? Antworte mir! – Nein, und zehntausendmal nein. Was ist das für ein Wahnsinn? Weshalb wollt ihr uns mit der einen Hand zu den Sternen emporheben, wenn ihr uns mit der andern doch hinabziehen müßt? Könnt ihr uns nicht auf Erden an eurer Seite gehen lassen, Mensch neben Mensch, und nichts weiter? Es ist doch unmöglich für uns, auf der Prosa sicher aufzutreten, wenn ihr uns mit eurem Irrwisch von Poesie blind macht. Laßt uns doch in Ruhe, laßt uns doch um Gotteswillen in Ruhe.«
Sie setzte sich hin und weinte.
Niels begriff vieles; Fennimore wäre unglücklich gewesen, wenn sie gewußt hätte wieviel; es war ja zum Teil die alte Geschichte vom Festgericht der Liebe, das nicht tägliches Brot werden will, sondern fortfährt, Festgericht zu sein, nur fader, Tag für Tag widerlicher, immer weniger nahrhaft. Und der eine kann das Wunder nicht vollbringen, und der andere kann es auch nicht, und da sitzen sie nun noch in ihren Hochzeitskleidern und fahren fort, einander zuzulächeln und feierliche Worte zu gebrauchen, aber im Innern leiden sie Qualen von Hunger und Durst, und ihre Blicke fangen an, einander zu fürchten, denn der Groll beginnt in ihren Herzen zu sprießen. [...]
Sie tat Niels so leid, aber er ließ sie in Ruhe, wie, sie es wollte.
Es war so hart, sie leiden zu sehen, nicht helfen zu dürfen, weit fort zu sitzen, und sie in dummen Träumen glücklich zu träumen, oder mit kaltem, ärztlichem Scharfsinn abzuwarten und zu berechnen, und sich so traurig, und ruhig sagen zu müssen, daß früher keine Linderung eintreten werde, als bis ihre alte Hoffnung auf den feinen, funkelnden Reichtum des Lebens sich gänzlich verblutet, und ein träger Lebensstrom seinen Weg durch alle Adern ihres Lebens gefunden, und sie stumpf genug gemacht haben würde, um zu vergessen; schwerfällig genug, um zufrieden zu sein, [...]
An einem Sonntagnachmittag gegen Ende August ruderte Niels über den Fjord. Er fand Fennimore allein zu Hause; als er kam, lag sie im Eckzimmer auf dem Sofa und stieß bei jedem Atemzug jenes kurze, regelmäßige Stöhnen aus, das unsere Schmerzen zu erleichtern scheint, wenn wir krank sind. Sie habe fürchterliche Kopfschmerzen, sagte sie, und es sei niemand zu Hause, um ihr zu helfen. [...]
Niels tröstete sie, so gut er konnte; er sagte, sie solle stilliegen, die Augen zumachen und nicht sprechen; er brachte ein dickes Tuch, in das er ihre Füße wickelte, holte Essig aus dem Büfett und richtete einen kalten Umschlag her, den er auf ihre Stirn legte. Dann setzte er sich still ans Fenster und sah dem Regen zu. [...]
»Sag doch,« begann sie plötzlich, »du hast mir nie von Erik als Knaben erzählt. Wie war er eigentlich?«
»Alles, was gut und schön war, Fennimore. Prächtig, brav, in jeder Beziehung eines Knaben Ideal von einem Knaben, nicht gerade das Ideal einer Mutter oder eines Lehrers, aber jenes andere, das soviel besser ist.«
»Wie kamt ihr zusammen aus? Hieltet ihr viel voneinander?«
»Ja, weißt du, ich war ganz verliebt in ihn, und er hatte nichts dagegen, – so ungefähr war es; wir waren so verschieden, mußt du wissen; ich wollte immer Dichter und berühmt werden; aber weißt du, was er eines Tages antwortete, als ich ihn fragte, was er am liebsten werden möchte? – Ein Indianer, ein echter, roter Indianer mit Kriegszeichen und allem, was dazu gehört! Ich erinnere mich noch, daß ich es durchaus nicht verstehen konnte; ich begriff nicht, daß man wünschen konnte, ein Wilder zu sein; so zivilisiert war ich!«
»Aber ist es nicht sonderbar, daß er dann Künstler werden konnte?« sagte Fennimore, und es lag etwas Kaltes, Feindliches in dem Ton, mit dem sie fragte.
Niels merkte es und stutzte. »Ach nein,« sagte er dann, »es ist selten, daß Leute in ihrer ganzen Natur Künstler werden. Und gerade solche frischen, lebensfrohen Menschen wie Erik haben oft eine unendliche Sehnsucht nach dem, was zart und sein ist: das Feine, jungfräulich Kalte, das süß Erhabene, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Nach außen hin können sie robust und vollblütig genug sein, ja, sogar grob können sie sein, und niemand ahnt, was für wunderliche, romantische und gefühlvolle Geheimnisse sie mit sich herumtragen, weil sie so verschämt sind, seelisch verschämt; ich meine diese großen, schwertrabenden Mannsleute, so daß kein bleiches, junges Mädchen schamhafter in seiner Seele sein kann als sie. [...] Sei nicht böse, Fennimore, aber ich fürchte, daß du und Erik nicht so recht gut gegeneinander seid. Kann es nicht anders werden? Denk nicht daran, wer recht hat, oder an die Größe des Unrechts, du sollst nicht gerecht gegen ihn sein, denn wohin kämen die besten unter uns mit der Gerechtigkeit, nein, sondern denk an ihn, wie er war in der Stunde, wo du ihn am meisten geliebt; glaube mir, er ist es wert. Du darfst nicht messen, nicht wägen. Ich weiß, es gibt in der Liebe Augenblicke voll strahlender, feierlicher Ekstase, in denen man sein Leben für den Geliebten hingeben würde, wenn es sein müßte. Nicht wahr? Denk daran, Fennimore, vergiß es nicht, sowohl um seinet- wie um deiner selbst willen.«
Er schwieg. –
Auch sie sprach nicht, sie lag still da mit schwermütigem Lächeln auf den Lippen, bleich wie eine Blüte.
Dann erhob sie sich und streckte Niels die Hand entgegen.
»Willst du mein Freund sein?« sagte sie.
»Das bin ich, Fennimore,« und er nahm ihre Hand.
»Willst du, Niels?«
»Immer,« entgegnete er und führte ehrerbietig ihre Hand an die Lippen.
Dann erhob er sich, aufrechter dünkte es Fennimore, als sie ihn je gesehen.
Bald darauf kam Trine und meldete, daß sie zurück sei, und dann gab es Tee und schließlich eine Ruderfahrt in dem trübseligen Regen.
Am hellen Morgen kam Erik nach Hause, und als Fennimore ihn in dem kalten, wahrheitsliebenden Tageslicht sah, wie er sich auf das Schlafengehen vorbereitete, schwer und unsicher vom Trunk, glasäugig vom Spiel und schmutzigbleich von der durchwachten Nacht, da erschienen die schönen Worte, die Niels zu ihr gesprochen, ihr ganz phantastisch, und die freundlichen Gelübde, die sie in ihrem stillen Sinn getan, schwanden erbleichend vor dem zunehmenden Tag, nichts als Traumgaukelei und Gedankentand: eine edle Schar von Lügen. [...]
Je weiter der Herbst vorrückte, desto häufiger wurden Eriks Fahrten zu den Saufgelagen. Was nützte es denn, äußerte er gegen Niels, daß er zu Hause saß und auf Ideen wartete, die nie kamen, bis ihm die Gedanken im Kopf zu Stein wurden, übrigens gewährte ihm Niels Gesellschaft nicht viel Trost, er brauchte Leute, die Leben hatten, Leute, die lärmendes Fleisch und Blut waren, und nicht ein Spielwerk von schwachen Nerven. Niels und Fennimore waren daher oft alleine miteinander, denn Niels begab sich jeden Tag hinüber nach Marianelund."
(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne 11. Kapitel)

24 März 2018

Ulla Hahn: Wir werden erwartet, 2017

Ulla Hahn: 1. Das verborgene Wort, 2001

Ulla Hahn:  2. Aufbruch, 2009

Ulla Hahn: 3. Spiel der Zeit, 2014

Ulla Hahn: 4. Wir werden erwartet, 2017 (PerlentaucherWunderlich: Inhalt und BesprechungSpiegelNDR)

Interview:
"Ich habe zum Kommunismus weit weniger über Marx als vielmehr durch die Bibel, die Evangelien, gefunden. Ich glaubte fest, dass beide, Christentum und Marxismus, im Kampf für Gerechtigkeit die inneren Werte des Individuums fördern und entwickeln, um aus jedem Menschen das Beste zu machen."

Nach Hugos Tod Hass auf Gott (S.93)

Kreuzkamp stellt mit ihr ein Kreuz an der Unfallstelle auf und ermöglicht ihr so den Zugang zu ihrer Trauer (S.144-149)

Marga Wiedebusch (S.178)
"Bekehrung" zum Kommunismus (S.191) über "Liebe als Kunstgriff" und hermeneutischen Zirkel
"Menschen wie Marga versprechen Halt und Sicherheit, und ich brauchte damals beide." (S.194)
Bend Ankerspeil "Von ihm konnte man lernen, jedwedem Vertrauen in Tatsachen und Augenschein abzuschwören, um stattdessen die Welt im Licht einen dialektischen Interpretation zu sehen. Hatte man sich dieser Methode erst einmal geöffnet, nahmen die störrischen Fakten alsbald die von ihm, also der Partei, gewünschte Gestalt an und unterwarfen sich willig der vorbestimmten Theorie." (S.195)

Hilla und ihr Vater söhnen sich aus  (die zerbrochene Zahnspange, Pick, Pick (Pig in der Schachtel), Erzählung von Schillers Räubern) (S.250-270)

Der Umzug nach Hamburg (S.279)
Die Kommunistenfreunde Marga (S.283), Rainer, Jens und Jan (S.287)
Das eigene Zimmer, das sie sich aneignen und taufen will, Rosa (Luxemburg), Johanna (von Orléans), Angela (Davis) (S.290)
Aneignen auch die Möbel vom Sperrmüll aus den "besten Gegenden". Nicht die Villenviertel, sondern die gutbürgerlichen, wo die Kinder das alte Zeug der Eltern nicht aufarbeiten ließen, sondern auf die Straße stellten.
Der Schreibtisch mit dem Blick ins Zimmer, dem Stuhl Dr. Viehkötters von der Pappenfabrik
Der Traum vom Vertiko und der Mutter mit dem Beil
Das vertraute Eigene: der Großvaterstein ("Hildegard Elisabeth Maria Palm"), Das Blatt von Kreuzkamp zu der Fahrt zum Aufbaugymnasium ("Dem Sieger will ich das verborgene Brot geben. Auch einen weißen Stein will ich ihm geben. Darauf geschrieben seinen Namen, den niemand kennt als der, der ihn erhält." Offenbarung 2,17)

Die in der Kampfzeit (Weimarer Republik und NS-Herrschaft) bewährten Genossen Albert und Gretel (S.311-328)
Sven Hedin: Ins verbotene Land, das vom Vater geliebte Buch. (S.356)

Hugos Gedichte ("Windschrift auf Wellenpapier Jakbsleitern aus Weidengeflecht hoch in den Junihimmel ...") S.410
"Nichts ist vergangen, so lange wir leben. Das Vergangene verändert sich mit uns und durch uns und in uns." (S.412)
Parteiphrasen der DKP "Genitivdonner" (S.428)
Marga "Die Partei hatte von ihr Besitz ergriffen wie die Kirche von ihrem einstigen Verlobten. Zwei Kämpfer für zwei Paradiese. Wie im Himmel all so auch auf Erden." (S.449)
Gretel Hoefer, die Tochter des Widerstandskämpfers Hermann Hoefer, eine "Versöhnlerin", schenkt ihr eine Strickjacke, die sie nach Verhandlung vor dem Volksgerichtshof, die Todesstrafe vor Augen, gestrickt hatte. (S.460)

Markus Placka Maler (S.465), Susi, Kommunistischer Bund
"Ich musste mich nicht länger zurücksehnen. Ich träumte nach vorn." (S.483)

"Wer braucht schon Gründe für das, was er fühlt." (S.511)

Die Mutter bestellt im Restaurant und lässt es wieder zurückgehen. "Wie die Mutter mich jedesmal angeschaut hatte. Bei den ersten Bestellungen wie ein unartiges Kind, das im nächsten Moment den Rüffel erwartet." (S.514)
"Nach ihrem Tod fand man in ihrem Portemonnaie ein Gedicht von mir, das sie aus der FAZ ausgeschnitten hatte. Die Mutter als Käuferin einer FAZ!  Die letzten Zeilen: "Wo du hingehst/ da will ich nicht hingehn." (S.515)*
Die Reise nach Ostberlin (S.515-622) lässt Hilla vor dem realen Sozialismus erschrecken. Der Widerspruch zwischen Ideologie und schlechter Behandlung der Minderprevilegierten auch. Mit Constantin von Thürwalden porträtiert Ulla Hahn scharf, aber wohl treffend Manfred von Ardenne und seine privilegierte Stellung in der DDR. Hilla versucht trotzdem an ihren sozialistischen Idealen festzuhalten. Innerparteiliche Kritik und die Ausbürgerung Biermanns lassen ihr den Austritt aus der Partei als Rückkehr zu ehrlichem, authentischen Umgang mit Wörtern erscheinen. 
[Die einzelnen Schilderungen entsprechen dem Bild der DDR, wie man es als Nicht-Kommunist sich spätestens seit dem Ende des Prager Frühlings und Reiner Kunzes "Die wunderbaren Jahre"  dachte, und nach 1989 in verschiedenen Fassungen sehr deutlich gelesen hat. Hier widersprechen sich Uwe Tellkamp und Ulla Hahn nicht.] 

*Das Gedicht "Willentlich" (in "Gesammelte Gedichte", S.128)

Ulla Hahn: "Spiel der Zeit" (2014)

Ulla Hahn: 1. Das verborgene Wort, 2001

Ulla Hahn:  2. Aufbruch, 2009

Ulla Hahn: 3. Spiel der Zeit, 2014

Ulla Hahn: 4. Wir werden erwartet, 2017 

Ulla Hahn: "Spiel der Zeit", 2014 (Rezensionen: Perlentaucher; Dieter Wunderlich; literaturkritik.de; Bücherrezensionen; Welt; Vorstellung durch den Verlag)

Inhalt

Ulla Hahn lässt zwar ein Alter Ego namens Hilla Palm als Ich-Erzählerin auftreten, meldet sich aber zwischendurch immer wieder selbst zu Wort.
[...] meine Vergangenheit, die ja ihre, Hillas, Gegenwart ist. [...] meine Erfindungen, die nicht meine, aber doch Hillas Erfahrungen sind.

[...] lassen wir ihr doch ein wenig Zeit und schicken sie zunächst einmal, angetan mit ihren neuen Jeans und der neuen Bluse, nicht hauteng, locker fallend, aber immerhin weit entfernt von den sackartigen Hüllen der letzten Jahre, in die Stadt.

So sehr ich weiß, dass es weitergehen muss, so dringend mein erzählerisches Pflichtgefühl gebietet, Hilla endlich vorwärtszuschicken ins neue Leben, so mächtig treiben mich meine Gefühle zurück zu den Orten und Menschen meiner Kindheit.

Gern möchte ich, die Verfasserin, in dieser Idylle aus Natur und Gelehrsamkeit verweilen, möchte die Gesellschaft von Hilla und Hugo, Richard und Friedrich fernab jeder Behelligung durch die Wirklichkeit jenseits der Alpen genießen [...]

Hilla Palm ist also auf dem Weg zurück. In die Vergangenheit, wollte ich schreiben, aber dieses Zurück ist ja ihre Gegenwart.

Hier möchte ich, die Erfinderin, mich einschalten und ergänzen, dass Hilla vor allem ganz allerliebst aussah in einem sogenannten heißen Höschen.

Hier gönne ich der Autorin wieder ein Wort.

Und hier ergreife wieder ich, die Autorin, das Wort. Fast auf den Tag zehn Jahre später sollte mich ein ähnliches Schicksal wie Gerhard Fricke ereilen. Kurz nach meiner Promotion vertrat ich als Lehrbeauftragte die Professorin Hildegard Brenner in Bremen: "Einführung in die Methoden der Literaturwissenschaft." Ein Rotschopf der KPD/ML hatte seine Truppen gegen mich, den "bürgerlichen Wolf im marxistischen Schafspelz", mobilisiert.

Und dieses Glas reichte der Mixermann Hilla Palm, reichte er mir [...]

Schließlich bogen Hilla und Hugo, bogen wir in die Altstraße ein.




Ulla Hahn: Aufbruch (2009)

Ulla Hahn: 1. Das verborgene Wort, 2001

Ulla Hahn: 2. Aufbruch, 2009

Ulla Hahn: 3. Spiel der Zeit, 2014


Ulla Hahn: 4. Wie werden erwartet, 2017

Ulla Hahn: Aufbruch,  2009 (Über das Buch: dva; Wikipedia)

Interview
"[...] Mich beschäftigt der lange Weg, den wir alle gehen müssen, ehe wir zu einer wirklich erwachsenen, selbständigen Person werden. Als ich vor gut fünfzehn Jahren begann, die Lebensgeschichte der Hildegard Palm zu erzählen, sollte die Figur als Studentin die politischen und kulturellen Umbrüche der sechziger Jahre erleben. Doch beim Schreiben stellte ich sehr bald fest, dass mich nicht nur interessierte: Wie ist diese Zeit gewesen?, sondern auch und vor allem die Antwort auf die Frage: Was ist den Sechzigern vorausgegangen? Sowohl im Leben Hilla Palms als auch im Heranwachsen der Bundesrepublik. Und so habe ich Das verborgene Wort in den fünfziger Jahren beginnen lassen. Aufbruch spielt Anfang und Mitte der sechziger Jahre. [...]
Ohne ein Heraufbeschwören der damaligen Lebensbedingungen ließ sich die Geschichte Hilla Palms nicht schreiben und lässt sie sich nicht verstehen. Ich habe mich also nicht nur in die Figuren, sondern auch in die Zeit hineinbegeben. An vielen Details – zum Beispiel wurde Ester Ofarim noch 1967 der Zutritt in die Bar eines Hamburger Fünf-Sterne-Hotels verweigert, weil sie Hosen trug! – ist mir noch einmal klar geworden, wie versunken diese Zeit ist. Vieles, was in den sogenannten Achtundsechzigern geschehen ist, versteht man nur, wenn man sie als Folge der frühen sechziger Jahre erlebbar macht. Auch die Auschwitz-Prozesse spielten eine wichtige Rolle im Heranwachsen Hillas, typisch für die politische Bewusstwerdung ihrer Generation.

Ich selbst dazu 2011:
"Im zweiten Roman (Aufbruch) stehen Godehards Steine für lebensfernens systematisches Wissen und als Edelsteine für äußeren Reichtum, der - ähnlich wie bei einem Teufelspakt - mit dem Verlust der Geliebten einhergeht, so dass Godehard keine wahre neue Bindung eingehen kann.

Einen ähnlichen Seelenverlust erlebt Hildegard nach ihrer Vergewaltigung. Das Versprechen des weißen Steins versucht sie - nach einer Phase seelischer Erstarrung (theologisch gesprochen: Gottesferne) - jetzt aus eigener Kraft wahr zu machen. Dafür muss sie seelische Berührung durch Dichtung vermeiden und Buchgelehrsamkeits-Germanistik betreiben.

Angenehm berührt an den Romanen auch die intensive Einbeziehung von Arbeitswelt und ihren Konflikten und die des dörflichen und familiären Milieus, die durch den sehr gezielten Einsatz von Dialekt an emotionaler Eindruckskraft gewinnt.
Erfreulich ist auch das Hereinnehmen von Zeitgeschichte in Gestalt der Auschwitzprozesse, wobei die Schuldleugnung der Täter ein Gegenbild darin findet, dass nach ihrer Vergewaltigung sie sich die Schuld gibt.
Dass Täter wie Opfer die Kraft zum Weiterleben dadurch finden, dass sie sich weigern, das Tatgeschehen anzuerkennen und zu verarbeiten, wird im Roman nicht angesprochen, diese Parallele kann nur interpretatorisch hineingelegt werden.
... erschrieb sich vor meinen träumenden Augen eine Geschichte. Stein um Stein [...]. Wie schön, dachte ich, erwachend, vollkommen, nur schade, dass ich nichts behalten konnte. Aber ich würde sie weitersuchen, die Geschichte, meine Geschichte."

23 März 2018

Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne - Niels und Erik

Niels kommt nicht voran und besucht Erik, der seinerseits in einer Krise ist:

"[...] Denn er fühlt, daß er Glauben genug hat, Glauben genug, um Berge zu versetzen; aber er kann sich nicht entschließen, den Rücken dagegen zu stemmen. Dann und wann steigt es wie Schaffensdrang in ihm auf, Sehnsucht, einen Teil von sich selbst in einer Arbeit zu befreien, und dann kann sein Wesen tagelang angespannt sein durch frohe, titanenhafte Anstrengungen, den Lehm zu seinem Adam zusammenzufahren; doch er vermag ihn nie seinem Vorbilde ähnlich zu formen; er hat nicht Ausdauer genug, die Selbstkonzentrierung, die dazu erforderlich ist, festzuhalten. [...]
Und die Resignation hat soviel für sich, denn wie oft sind die idealen Forderungen der Jugend nicht zurückgewiesen worden, ihre Begeisterung beschämt, ihre Hoffnung zerstört worden! – Die Ideale, die leuchtenden, die schönen, sie haben wohl noch nichts von ihrem Glanz verloren, aber sie wandern nicht mehr auf Erden unter uns wie in den ersten Tagen unserer Jugend; über die breitbasierte Treppe der Weltklugheit sind sie Stufe für Stufe in den Himmel zurückgeführt worden, aus dem unser einfältiger Glaube sie herausgeholt hatte, und dort sitzen sie nun strahlend – aber fern, lächelnd, aber müde, in göttlicher Untätigkeit, während der Weihrauch einer tatenlosen Anbetung ruckweise in feierlichen Wolken zu ihrem Thron emporsteigt. [...]
Da geschah es, daß er an einem Sommertage, als Erik und Fennimore wie gesagt zwei Jahre verheiratet gewesen, einen halb prahlerischen, halb jämmerlichen Brief von Erik erhielt, in dem dieser sich anklagte, jetzt zuletzt seine Zeit vergeudet zu haben, er wisse aber nicht, wie es komme, er habe keine Ideen mehr. Es seien frische, muntere Leute, mit denen sie dort in der Gegend verkehrten, durchaus nicht prüde oder albern, aber der Kunst gegenüber die gräßlichsten Dromedare. Es sei nicht ein Mensch da, mit dem er ordentlich reden könne, und er sei jetzt in einen Dusel von Trägheit und Mattigkeit geraten, den er nicht überwinden könne; [...] und es wäre ein Freundschaftsdienst, wenn Niels nach dem Mariagerfjord käme; er solle es so gut haben, wie die Umstände es erlaubten, und er könne seinen Sommer doch ebenso gut dort zubringen wie anderswo. Fennimore ließe ihn grüßen und würde sich sehr freuen. [...]
Arme Fennimore! Sie wußte nicht, daß die brausende Hymne des Glückes so oft gesungen werden kann, daß ihr weder Melodie noch Worte bleiben, sondern nur ein wirres Durcheinander von Trivialität; sie wußte nicht, daß der Rausch, der heute emporträgt, seine Kraft von den Flügeln des morgenden Tages nimmt; als nach und nach die Nüchternheit schwermütig heraufdämmerte, fing sie bebend an zu begreifen, daß sie sich zu einer süßen Verachtung gegen sich selbst und gegeneinander herabgeliebt hatten, einer Verachtung, deren Süßigkeit Tag für Tag abnahm, bis sie zuletzt herb und bitter wurde. [...]
Im Ganzen war es eine schlimme, grobkörnige Bande, mit der Erik zusammenkam, aber Menschen von einer so riesenstarken Lebenskraft konnten sich wohl nicht in zivilisierteren Vergnügungen Luft machen, und ihre unerschöpfliche Laune, ihre breite, bärenhafte Gemütlichkeit nahm ihnen wirklich viel von ihrer Roheit. [...] 
wie die Dinge nun einmal lagen, war die ganze Ausbeute für die andern und für ihn nur die, daß er sich trefflich amüsierte. Nur allzusehr; denn bald wurde diese ausgelassene Zecherei ihm unentbehrlich und nahm nach und nach seine ganze Zeit in Anspruch; wenn er sich dann und wann auch seine Untätigkeit vorwarf, und sich dann gelobte, daß sie ein Ende haben sollte, so trieben ihn doch die Leere und die geistige Ohnmacht, die er jedesmal empfand, wenn er zu arbeiten versuchte, stets in das alte Leben zurück.
Den Brief an Niels, den er eines Tages geschrieben, da seine anhaltende Unfruchtbarkeit gar kein Ende nehmen wollte und den Eindruck einer Abzehrung auf ihn gemacht, die sein Talent angegriffen, diesen Brief bereute er sofort, nachdem er abgesandt war, und er hoffte, daß Niels seine Klagen zum einen Ohr hinein und zum andern hinausgehen lassen werde.
Aber Niels kam, der fahrende Ritter der Freundschaft in eigener Person; und ihm wurde denn auch der halb abweisende, halb mitleidige Willkomm, den fahrende Ritter stets von denen bekommen, um deretwillen sie Rosinante aus dem warmen Stall gezogen haben. Da Niels vorsichtig war und abwartete, so taute Erik bald auf, und die alte Vertraulichkeit zwischen ihnen wurde zu neuem Leben geweckt. Und es trieb Erik, sich auszusprechen, zu klagen und zu bekennen; es trieb ihn mit beinahe physischem Zwange dazu.

(Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne, 11. Kapitel)

Vom Mittelalter zum Humanismus: Ambraser Heldenbuch

Bei einem kurzen Blick auf die Übergangszeit vom Mittelalter zum Humanismus stieß ich auf das Ambraser Heldenbuch, das wir der Initiative Maximilians I. verdanken

19 März 2018

Hans Folz und sein Lob der Buchdruckerkust

Hans Folz

"In einem Meisterlied zum Lob der Buchdruckerkunst warnt er zunächst vor der Gefahr, welche die Druckkunst birgt, zeigt aber dann den großen Nutzen auf:


Ye doch schilt ich des drukez nicht,
Behender sin wart nie erdicht
Noch auch bericht
Dar durch in kurczen jaren
Die christlich ler
So weiten wer
In alle welt entsprungen
Lob hab der erst
Got her der herst
All er werd im gesungen!
Dar nach dem ersten in dem werk
Juncker Hansen von Gutenberck.(10)" (sieh Carl/Krüger)
Das Meisterlied beginnt:

"Vor langer frist
Gesprochen ist
Von konig Salomone

Wie fort auff erd
Nicht newes werd
Nun ist seyt auß dem Trone

Got komen und mensch worden hie,
Daz doch seit waz ein newes ye.
Ye dochez die
Geschrifft vor hin besane.

Daz aber sunst
Hie dise kunst
Puchdruckes sey gewesen

Auff erden vor,
Glaub ich nit zwor.
Wer hat dar von gelesen?

Doch west ez kunfftig Got der werd,
Allso ist doch nicht newz auff erd.
Lob mit begerd
Sprecht im in seinen zesen! [...]
(Die Deutsche Literatur vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert II,2 (hg. Hedwig Heger), S.517)


Prosaübersetzung:
Vor langer Zeit hat König Salomo gesagt: Es gibt nichts Neues auf der Erde.
Nunn ist aber seitdem Gott von seinem Thron gekommen und Mensch geworden. Das war doch etwas Neues. Jedoch die Schrift hat es schon vorausgedeutet. Dass aber diese Buchdruckerkunst schon früher da gewesen wäre, glaube ich nicht. Wer hat etwas davon gelesen.
Doch Gott wusste, was kommen würde. Also ist doch nichts Neues auf der Erde.
Sagt ihm in seinem Himmel mit Freuden (Begier) Lob.

18 März 2018

Schedelsche Weltchronik

Schedelsche Weltchronik (1493 in Nürnberg erschienen)

Vom Turmbau zu Babel
Selbstverständlich ist der Text der Weltchronik gemeinfrei, die Ausgabe in Wikisource open source. 
Statt einer korrekten Zitation wähle ich im Folgenden nur wenige Appetithappen aus und verlinke schon hier auf die Originalseite der entstehenden Edition:

DIse drey fuersten iectan nemroth vnd suphena mit irm volck besorgten die sintflus moecht wideruemb ertrencken. daruemb komen sie in dem feld sennaar zusamen vnd sprachen wir soellen pawen einan thurn. des hohe bis an den himel raiche etc. Aber als gott sahe das sie von irem thoeretten rat nit absteen wolten da zertaylet er ir zungen also das sie durch die gantzen werlt zerstrewt wurden.
Babilon was der anfang des reichs Nemroth. der nach zerstrewung der zungen gein Persiam zohe vnd das reich seinem sun Belo ließ. Aber Augustinus spricht. das nemroth von dannen veriagt sey. [...] Das reich der assirier entsprung zu erst im aufgang. vnd das roemisch im nidergang der sunnen vnd als sich das assirisch reich endet do fieng sich das roemisch an. Nw der ander koenig der assirier vnd erster eyniger herscher was ninus. der auß begirde der herschung seinen nahend wonenden krieg vnd aufrur machet vnd sie von wegen irer vnschickerlichkait zum krieg bald vndertruckt. vnd also gantz asiam. als den halbtail der werlt erobert. vnd die grossen stat niniue (die assur gepawt het) erweitert. vnd nach seinem namen niniue nennet. Diser ninus was der erst erfinder der abgoeterey. [...]
Das Attraktivste an der Weltchronik sind für heutige Leser sicher die Bilder, die in Wikisource neben den Textseiten, aber hier auch gesammelt zu finden sind.