30 Juni 2009

Klepper: Der König und die Stillen im Land

Wie ein Deserteur Pardon erhält

Der Lieblingssohn Friedrich Wilelms I., August Wilhelm, etwa fünf Jahre alt, kommt beim Essen zum König und küsst und streichelt ihn, bis dieser ihn fragt, was er den wolle. "Lass doch den Langen Kerl, der weggelaufen ist, nicht anhängen." - Auf die zusätzlich Fürsprache zweier Generäle und des Leiters der Franckeschen Anstalten Freylinghausen lässt sich der König schließlich dazu überreden.
Am Vortag hatte August Wilhem den König auch schon umschmeichelt, sich aber trotz Einrede von Generälen nicht getraut, etwas zu sagen. Erst als die Königin ihm gedroht hatte, ihn mit der Rute schlagen zu lassen, hatte er es getan.

Königin, Kind und Geistlicher waren nötig für das Erreichen des Pardons. Und dem Kind musste die Rute angedroht werden.

Im übrigen wird Freylinghausen immer wieder gefragt, ob Jagd und Komödie erlaubt seien. Jagd, die Leidenschaft des Königs, Komödie, das Bedürfnis der Königin. Der Geistliche soll die Position der Ehepartner gegeneinander stärken.

Wenn der Soldatenkönig nicht anwesend ist, spricht die Königin Französisch und der 16jährige Kronprinz, der spätere Friedrich II., der in Anwesenheit der Königs stumm ist, geht aus sich heraus.

29 Juni 2009

Preußen

Unter Friedrich I. waren knapp 6000 km² an abgabepflichtigem Land den Behörden entgangen und nicht besteuert worden. (S.119) Ungenügende Vorratshaltung und der Ausbruch der Pest (vermutlich wegen Durchzug sächsischer, schwedischer und russischer Truppen) kosteten 250 000 Menschen, etwa ein Drittel der ostpreußischen Bevölkerung das Leben. (S.114) Daher forderte Friedrichs Sohn, der später als Soldatenkönig bekannt wurde, die Mitregierung und erhielt sie auch zugestanden. Freilich, die aufwändige Hofhaltung seines Vaters schaffte er erst nach dessen Tode ab.
Friedrich I. hatte allerdings geholfen, dass sein aufsässiger Sohn, der seine Lehrer schier zum Wahnsinn trieb, sich schon früh in Verwaltung eingearbeitet hatte. Schon mit 9 Jahren erhielt er sein Gut Wusterhausen zur eigenen Verwaltung. (S.114)
Doch so unterschiedlich die preußischen Herrscher von Anlage und Interessen auch waren, sie verstanden sich doch als Mitwirkende an einem generationenübergreifenden Projekt, wie Christopher Clark es beschreibt:
Wenn man die Geschichte der Dynastie der Hohenzollern nach dem Dreißigjährigen Krieg genauer betrachtet, dann stößt man auf einen Widerspruch. Einerseits ist von Generation zu Generation eine bemer­kenswerte Kontinuität der politischen Ziele zu beobachten. Zwischen 1640 und 1797 gab es keine einzige Regentschaft, in der keine Gebietsge­winne zu verzeichnen waren. Wie aus den politischen Testamenten des Großen Kurfürsten, Friedrichs L, Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen hervorgeht, sahen sich diese Landesherren als Teil eines generationenübergreifenden historischen Projekts, bei dem jeder Herr­scher die unerreichten Ziele seiner Vorgänger als seine eigenen betrach­tete. Daher die Kontinuität der Ziele, die der brandenburgischen Expan­sion zugrunde lag, daher das weit zurückreichende Gedächtnis dieser Dynastie, mit dessen Hilfe alte Ansprüche reaktiviert wurden, sobald die Zeit dafür reif war.
Im Widerspruch zu dieser scheinbar nahtlosen Kontinuität von einer Generation zur nächsten stand der immer wiederkehrende Konflikt zwi­schen Vater und Sohn.
(Ch. Clark: Preußen, 2007, S.130)

20 Juni 2009

Ortega y Gasset

Ortega y Gasset setzt sich in seinem Werk Der Aufstand der Massen von Spenglers "Untergang des Abendlandes" ab und betont, inwiefern im 20. Jahrhundert kein Niedergang, sondern eine Steigerung vorliege:
"[...] die Lebensmöglichkeiten, die heute den Massen offenstehen, decken sich zum großen Teil mit denen, die früher den wenigen vorbehalten schienen. (S.162/63)
[...] Nun stellt aber der Durchschnittsmensch den Boden dar, über dem sich die Geschichte des Zeitalters bewegt; [...] Wenn also das mittlere Niveau jetzt da liegt, wohin sonst nur Eliten gelangten, besagt das schlicht und einfach, daß sich das geschichtliche Niveau plötzlich erhöht hat - (S.165) [...]
Dann beginnt er das 19. Jahrhundert in einer Weise zu schmähen, wie wir es im Blick auf die zwei Weltkriege und mehrfachen Völkermorde des 20. Jahrhundert uns wohl nicht trauen würde:
Es gibt Jahrhunderte, die ihre Wünsche nicht zu erneuern wissen und an Zufriedenheit sterben wie die Drohne nach dem Hochzeitsflug. (S.171)
Nun stellt er das 20. Jahrhundert geradezu als eine Art Jahrhundert des Übermenschen dar:
[...] ein immer offener Horizont von Möglichkeiten zu sein, ist das Wesen des echten Lebens, die wahrhafte Fülle des Lebens. (S.172) [...] Das heißt der Lebensinhalt eines Menschen von mittlerer Art ist heute der ganze Planet; [...]
Indem wir Raum und Zeit aufheben, verlebendigen wir sie, nutzen sie vital aus. Wir können an Mehr Orten sein als früher, Ankunft und Abreise öfter genießen und in kürzerer kosmischer Zeit mehr gelebte zusammendrängen. (S.177)
Auf physischem und sportlichem Gebiet werden heute bekanntlich Leistungen erzielt, die alles aus der Vergangenheit Bekannte in den Schatten stellen. Es genügt nicht, jede einzeln zu bewundern und den Rekord, den sie aufstellt, zu buchen; man muß den Eindruck beachten, den ihre Häufigkeit in uns hinterläßt: sie bringt uns die Überzeugung bei, daß der menschliche Organismus heute über Fähigkeiten und Kräfte verfügt wie nie zuvor. Denn etwas Ähnliches geschieht in der Wissenschaft. Einige Jahrzehnte - nicht länger - brauchte die Forschung, um ihren kosmischen Horizont unwahrscheinlich auszudehnen. Einsteins Physik bewegt sich in so weiten Räumen, daß die alte Newtonsche darin nur eine Bodenkammer einnimmt. [...] Ich lege den Ton nicht darauf, daß Einsteins Physik exakter ist als Newtons, sondern daß der Mensch Einstein von größerer Geistesschärfe und -freiheit ist als der Mensch Newton; genau wie der Boxer heute Faustschläge von besserem Kaliber austeilt als alle seine Vorgänger.(S.179)
Danach nimmt er direkter, aber nicht ganz deutlich auf Spengler Bezug:
Diese Schilderung war notwendig, um dem Gerede vom Niedergang und besonders den Niedergang des Abendlandes zu begegnen, das im letzten Jahrzehnt unter uns umging. Man erinnere sich der Überlegung, die ich anstellte und die mir so einfach wie einleuchtend scheint. Es ist nicht angängig, von einem Niedergang zu reden, bevor man nicht genau gesagt hat, was es denn ist, das niedergeht. (S.180) [...]
Schließlich aber spricht er schließlich auch kritischer von der Anmaßung des Menschen im 20. Jh.:
Das brachte uns darauf, von der Fülle zu sprechen, [...] Und ich schloß damit, daß unsere Zeit durch eine sonderbare Anmaßung ausgezeichnet ist, die sich mehr dünkt als jede Vergangenheit, ja das Gewesene nicht beachtet, keine klassischen und normativen Epochen anerkennt, sondern sich selbst als ein neues, allem Früheren überlegenes und nicht darauf zurückführbares Leben ansieht. (S.180/81)
Und nun kommt er zu dem - angesichts der vorherigen Preisungen der neuen Möglichkeiten - vernichtenden Urteil:
"Sie beherrscht die Welt, aber sich selbst nicht. Sie fühlt sich verloren in ihrem eigenen Überfluß." (S.181)
Schließlich kommt er (1929/30) zu einer Kritik an den Massen, die offenbar schon die Erfahrungen mit dem italienischen Faschismus einbezieht. Der Massenmensch glaube, die gesteigerten Möglichkeiten der Zivilisation seien gleichsam naturhaft vorhanden und es bedürfe keiner kulturellen Anstrengungen, das Niveau der Technik zu wahren, das beim gegenwärtigen Umfang der Weltbevölkerung die Voraussetzung für das Überleben sei.
Die verwöhnten Massen sind nun harmlos genug, zu glauben, daß diese materielle und soziale Organisation [...] auch nie versagt und fast so vollkommen ist wie Naturdinge. (S.193) [...] So läßt sich der absurde Seelenzustand, den sie verraten, zugleich erklären und beschreiben: nichts beschäftigt sie so sehr wie ihr Wohlbefinden, und zugleich arbeiten sie den Ursachen dieses Wohlbefindens entgegen." (S.193/94)
"[...] für mich ist das Unverhältnis zwischen dem Vorteil, den der Durchschnittsmensch aus der Wissenschaft zieht, und der Erkenntlichkeit, die er ihr entgegenbringt - ihr vielmehr nicht entgegenbringt -, das Besorgniserregendste." (S.215)
[...] es erweist sich, daß der heutige Wissenschaftler das Urbild des Massenmenschen ist [...] weil die Wissenschaft selbst, die Wurzel der Zivilisation ihn unentrinnbar zum Massenmenschen, das heißt zum Primitiven, zu einem modernen Barbaren macht. (S.233) [...] Die direkte Folge des einseitigen Spezialistentums ist es, daß heute, obwohl es mehr "Gelehrte" gibt als je, die Anzahl der "Gebildeten" viel kleiner ist als zum Beispiel um 1750." (S.237)
"Erhebt die Masse Anspruch auf selbständiges Handeln, so steht sie gegen ihr eigenes Schicksal auf; da es eben dies ist, was sie jetzt tut, spreche ich vom Aufstand der Massen." (S.239 Hervorhebungen von mir)
Für den Menschen, der sich in einer Welt des Überflusses eingerichtet hat, findet Gasset die Formel vom zufriedenen jungen Herrn und fährt fort: "Die Leute erklären sich lächerlicherweise für jung, weil sie gehört haben, daß die Jugend mehr Rechte als Pflichten besitzt; (S.302) [...]
Dem Massenmenschen geht die Sittlichkeit schlechtweg ab; [...] das ist nicht Amoral, sondern Unmoral. [...} Europa [...] hat sich vorbehaltlos einer glänzenden, aber wurzellosen Kultur verschrieben. (S.303)

(Der Aufstand der Massen, 1929, deutsch 1936)

17 Juni 2009

Michelle Obama

What I notice about men, all men, is that their order is me, my family, God is in there somewhere, but me is first. And for women, me is fourth, and that's not healthy.
Das sagt Michelle Obama über ihren Mann und alle Männer. Nach einigem Streit mit ihrem Mann, während er Senator im Staat Illinois war, hat sie dann aber Frieden mit seinem extremen politischen Engagement und Ehrgeiz geschlossen und nicht mehr versucht, ihn zu ändern, sondern sich ein Unterstützungssystem aufgebaut, das ihr ermöglichte, die Priorität Familie mit beruflicher Tätigkeit in hoher Position zu verbinden. Ganz realistisch gesehen brauchte sie die berufliche Absicherung, um zu verhindern, dass ihre Kinder im Falle der Ermordung ihres Mannes oder im Falle des Auseinanderbrechens der Ehe den notwendigen emotionalen und materiellen Rückhalt verloren hätten. Dass Ermordung und Fremdgehen für schwarze Politiker in Washington eine ernsthafte Gefahr darstellen, wurde bzgl. der Ermordung von ihr sehr deutlich angesprochen (Kritiker sahen sogar eine rassistische Äußerung darin, weil sie meinte, dass die Gefahr ähnlich für alle schwarzen Männer gelte). Bzgl. der Gefährdung der Ehe stellt Barack Obama illusionslos fest, dass diese statistisch gesehen für alle Washingtoner Politiker hoch sei. Michelle hat viel dafür getan, die Ehe zu bewahren: zum einen dadurch, dass sie vom Ehestreit zum Aufbau des Unterstützungssystems überging, zum anderen aber dadurch, dass sie Obama vermittelt, dass sie sich im Fall seines Fremdgehens auf jeden Fall von ihm trennen werde. Dafür spricht nicht nur, dass Obama meint, sie sei der Boss, sondern auch, dass ein Vertrauter der Familie meint, Obama habe Angst, dass Michelle ihn verlassen könnte. Doch die Biographie von Liza Mundy vermittelt nicht nur diese bemerkenswerten persönlichen Hintergründe, sondern insbesondere eine recht genaue Analyse des gesellschaftlichen Umfeldes, aus dem Michelle in einem schwarzen Viertel mit viel nachbarschaftlichen Zusammenhalt und einer sehr niedrigen Kriminalitätsrate wohlbehütet und im Bewusstsein persönlicher Verantwortung und Verpflichtung hervorgegangen ist. Zwei Studien an zwei Universitäten der Ivy League (Princeton und Harvard), die Anstellung an einer hochangesehenen Anwaltsfirma, in der sie den Starpraktikanten Barack Obama anzuleiten hatte, dann eine Karriere in immer verantwortlicheren und für das soziale Umfeld wichtigeren Positionen, die freilich mit immer niedrigeren Vergütungen einhergingen, dann die Entscheidung, bei der Kommune Karriere zu machen, die dazu führte, dass sie deutlich mehr als ihr Mann verdiente, bis der durch den Erfolg seiner beiden Bücher zum Millionär wurde. (Erst dann gelang es ihnen, ihre Studienkredite abzuzahlen, die bis dahin höhere Monatsraten verschlangen als die für den Kredit für den Hausbau.) Vielleicht das Wichtigste aber ist, dass die Biographie verdeutlicht, weshalb bei Michelle das Gefühl, die Nachkommin von Sklaven zu sein und gegen die Diskriminierung der Schwarzen, bei ihr bis heute so virulent ist, dass sie glaubhaft vermitteln kann, dass trotz Baracks Rede von der Empathie für alle, auch für die sich bedroht fühlenden Banker und Waffenbesitzer, dieses Ehepaar an dem Kampf für Gleichberechtigung von Schwarz und Weiß weiterhin festhalten wird.

16 Juni 2009

Obamas Hoffnungen

Obama schafft es, in seinem zweiten Buch (Audacity of Hope) den Eindruck zu vermitteln, er sei genauso ehrlich wie in seinem ersten; und das, obwohl in diesem Buch von der ersten bis zur letzten Seite klar ist, dass er als Politiker schreibt.
Über seinen Plan, US-Senator zu werden, schreibt er zunächst, was der Vorteil war, nicht gewählt zu werden:
Auch bewahrte ich mir meine Unabhängigkeit, meinen guten Namen und meine Ehe, drei Dinge, die statistisch gesehen gefährdet waren, sobald ich den Fuß in die Landeshauptstadt setzte.(S.11)

Bevor er berichtet, was alles einen US-Senator daran hindert, die Politik zu verfolgen, die er nach seiner Überzeugung vertreten will, beginnt er mit einem eigentümlichen Statement:
Ich verstehe Politik als eine Kontaktsportart, bei der man Ellenbogenstöße und auch mal einen unverhofften Schlag wegstecken muss.(S.29)

Und er fährt fort, dass er
in Springfield an der Idee festhielt, dass Politik anders sein kann und die Wähler sie anders wollen; dass sie die Tatsachenverdrehungen, die Beschimpfungen und die Patentlösungen für komplizierte Probleme satthatten; dass ihr intuitives Gefühl für Fairness und ihr gesunder Menschenverstand sich durchsetzen würden, wenn ich es nur schaffte, sie direkt anzusprechen, ihnen die Probleme zu erklären, wie ich sie sah, und ihnen die möglichen Alternativen ehrlich vor Augen zu führen. Wenn genug Politiker dieses Risiko eingehen würden, könnte sich meiner Ansicht nach nicht nur das politische Klima in den Vereinigten Staaten, sondern auch die Politik selbst verbessern.(S.29)

Seine Sicht als US-Senator ist eine ganz andere. Er zeigt diese Spitzenpolitiker nämlich als von einer ganz starken Emotion getrieben: der Angst, nicht wiedergewählt zu werden. Und er macht klar, dass er diese Angst auch kennt.

Als er dann dazu kommt, seinen großen Widersacher, den Zerstörer des demokratischen Systems in den USA zu schildern, charakterisiert er ihn als liebenswürdig, offen und schlau (S.65). Und das, nachdem all die Peinlichkeiten von Bushs Unfähigkeit, selbständig zu formulieren, seit Jahren wieder und wieder im Fernsehen vorgeführt worden sind und schon fünf Jahre lang ein Bush Dyslexikon auf dem Markt ist, das diese Unfähigkeit auf über 300 Seiten dokumentiert von Vertrauenswürdigkeit bedeutet, nicht das zu tun, was man vorher angekündigt hat über die Exekutive hat die Aufgabe das Gesetz auszulegen bis zu They misunderestimated me (Sie missunterschätzten mich). (S.17 und Titelseite)
Freilich macht er klar, dass er ein "beharrlicher und gelegentlich scharfer Kritiker der Regierung Bush" ist (S.68). Doch dann aber fährt er fort:
Angesichts meiner Haltung sind demokratische Zuhörer of überrascht, wenn ich sage, dass ich George Bush nicht für einen schlechten Menschen halte und annehme, dass er und seine Regierungsmannschaft tun, was ihrer Ansicht nach das Beste für das Land ist. [...] Gleichgültig, wie verbohrt mir ihre Politik auch vorkommen mag [...], halte ich es immer noch für möglich, die Motive dieser Männer und Frauen zu verstehen, wenn ich mit ihnen rede, und in ihren Motiven Werte zu erkennen, die wir teilen. (S.68/69)
Aus diesen Worten wird deutlich, dass er in einem Sinne weit stärker von Bush abweicht als die meisten anderen Kritiker Bushs; denn er zielt darauf ab, das Land wieder zu versöhnen, statt es wie Bush durch seinen rechthaberischen Kurs zu spalten. Deshalb betont er, dass er in Bushs "Motiven Werte erkenne, die wir teilen", und das ist auch der Grund, weshalb die deutsche Ausgabe dieses Buches den Untertitel "Gedanken zur Rückbesinnung auf den American Dream" trägt.
Während Obama in Dreams from my Father (im deutschen Titel "Ein amerikanischer Traum" schon den American Dream aufnehmend) noch seinen persönlichen Lebensweg beschrieb, der ihm seine afrikanischen Wurzeln immer bewusster machte und der ihm den Einsatz für den Kampf um Chancengleichheit für die Schwarzen in Amerika nahelegte, wird in Audacity of Hope seine nationale Zielsetzung der Überwindung der Spaltungen durch Ethnien und parteipolitische Zuordnungen deutlich. Dabei knüpft er bewusst an die Werte der Gründungsväter an, freilich versucht er, nicht einen neuen Schmelztiegel zu schaffen, sondern vertritt die Möglichkeit der Integration aufgrund der gemeinsamen Werte und Interessen.
Den Titel seines Buches Audacity of Hope hat er aus seiner Parteitagsrede von 2004 (als er für John Kerry sprach) übernommen. Schon damals nahm er auch den American Dream auf, z.B. mit der Formulierung this country will reclaim its promise
(Und dies "promise" greift er auf im Titel seines Buchs über seine Präsidentschaft: "A Promised Land".)

03 Juni 2009

Jürgen Habermas

Als "unzweifelhaft der bedeutendste zeitgenössische deutsche Philosoph" bezeichnet ihn Michael Funken. Habermas selbst meint dazu: "Bekanntheit ist etwas anderes als Bedeutung. Und eine gewisse Selbstdistanz, um die ich mich unter den Augen einer kritischen Ehefrau wenigstens bemühen muss, ist nicht Bescheidenheit. Eitel sind wir alle." (S.189)
"Habermas adelt Themen" meint Funken und begründet es mit der Aussage "Ein Thema steigt in der öffentlichen Beachtung, sobald Habermas sich dazu geäußert hat." (S.8)
Wolfgang Thierse macht aufmerksam: "Habermas artikuliert eine ganz wichtige Wahrnehmung: dass auch politisch-moralisch-intellektuell die Fronten ganz andere geworden sind. [...] Menschenwürde und ihre Definition zu verteidigen [...], die sonst der Markt zunichte macht." (S.66) (Ich ergänze: und nicht, wie man es von 1945-1989 zu Recht sah: der totalitäre Staat.)
Diese Zitate aus Michael Funken (Hrsg.): Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen, Darmstadt 2008 möchte ich zum Ausgangspunkt einiger eigener Beobachtungen machen.

Habermas mit seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit war für mich zunächst der Gipfel der Unverständlichkeit. Da gefiel mir Enzensbergers Kritik der Bewusstseinsindustrie weit mehr.
Dann ärgerte ich mich, dass in der Studie Student und Politik, an der er mitgearbeitet hatte, eine Äußerung, die von mir hätte stammen können, als irrational von Politik distanziert eingeordnet wurde. Ich hielt sie nur für intellektuell redlich und hielt mich durchaus für politisch interessiert.
Habermas war schon sehr früh ein energischer Kritiker der Studentenbewegung und hat mit seinem Wort vom "linken Faschismus" vor dem Liebäugeln mit der Gewalt und von totalitären Tendenzen in Führungskadern gewarnt. Das habe ich ambivalent erlebt. Einerseits fühlte ich mich als Teil der Studentenbewegung und insofern falsch eingeordnet, andererseits widerstanden mir gefühlsmäßig sowohl die gepredigte Gewaltbereitschaft wie die völlige Unduldsamkeit gegenüber anderen Meinungen und sogenannten "Scheißliberalen" der maßgeblichen Vertreter der Bewegung, auch wenn ich der scheinbaren Rationalität mancher Argumentation intellektuell nicht gewachsen war und ihr daher oft hilflos gegenüber stand.

Andererseits hat Habermas schon kurz nach den gewalttätigen Osterunruhen von 1968 mit ihren Versuchen, die Auslieferung von Springerzeitungen zu verhindern, darauf hingewiesen, "dass die neuen Formen der Provokation ein sinnvolles, legitimes und sogar notwendiges Mittel sind, um Diskussionen dort, wo sie verweigert werden, zu erzwingen". (in einem Brief vom 13.5.68) Das hatte ich bei allem Unbehagen an den Formen des Protest vorher auch so gesehen, doch wandte ich mich wegen der Gewaltanwendung damals von der SDS-Position ab.
Überzeugt hat mich Habermas mit der Vorstellung, dass Wahrheit (für uns) sich nur aus einem herrschaftsfreien Diskurs entwickeln könne. Und in der Idee der Wikipedia - nicht in der Praxis im Einzelfall - finde ich dies Diskursprinzip erfreulich weit entwickelt.
Im Historikerstreit 1986/87 hat er kurz vor der Wende zu Nationalismus und Neoliberalismus, die mit dem Zusammenbruch des Ostblocks kam, in der Bundesrepublik die Rückkehr zu einem Nationalismus der Selbstrechtfertigung verbaut.
Leider hat niemand die katastrophale Selbstrechtfertigung der Umverteilung zugunsten der Reichen verhindert.
Die ZEIT titelt heute (10.6.09) "Weltmacht Habermas" und Th. Assheuer schreibt eine schöne Würdigung. Besonders gefällt mir, dass er herausstellt, Habermas' Gedanke, dass die Moderne (Kapitalismus, Technik und Wissenschaften) die Lebenswelt bedrohe, heiße auf heutige Verhältnisse übertragen: "Eine Form ökonomischer "Kolonialisierung" steckt in der Forderung, die Gesellschaft müsse von der Wiege bis zur Bahre als Profitcenter organisiert werden."
Noch mehr gefällt mir aber die Seite 50, wo Wissenschaftler aus aller Welt über die Bedeutung sprechen, die Habermas in ihrem Lande habe. Natürlich freue ich mich über die Wertschätzung in China und Japan und werde beschämt von dem Hinweis, an spanischen Gymnasien lerne im Pflichtfach Philosophie jeder den Namen Habermas. Denn ich habe zwar in der Oberstufe in letzter Zeit auf Habermas hingewiesen, aber nie den Eindruck gewonnen, echtes Interesse wecken zu können.
Warum freut mich die weltweite Anerkennung? Sein Versuch, Denkergebnisse unterschiedlicher Schulen einzubeziehen, imponiert mir. Und der Mensch Habermas mit seinem starken politischen Engagement und seinem gar nicht hoheitsvollen Auftreten ist mir einfach sympathisch.
Was ich nicht wusste, war, dass nicht Adorno, sondern Horkheimer seine Habilitation in Frankfurt hintertrieb und dass es Gadamer war, der ihm ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft besorgte. Geläufig war mir, dass Abendroth die Habilitation betreute.

02 Juni 2009

Maeve Binchy: Light a Penny Candle

Wie tüchtige Frauen das Leben meistern, obwohl es Männer gibt. Oder: eine Sicht, aus der Jane Austens Romane wie Kitsch erscheinen können.
Angesiedelt in einem Londoner Vorort der Nachkriegszeit und der irischen Provinz. Zwei Mädchen werden Frauen.
In der ersten Phase (1940 - 1945) ist Elizabeth White wegen der Bomben auf London von ihrer Mutter zu ihrer alten irischen Schulfreundin nach Irland aufs Land geschickt worden. Die Darstellung dieser Zeit wird beherrscht von der Supermutter Eileen, die die warme Familienatmosphäre schafft, in der Elizabeth mit der gleichaltrigen Aisling, Tochter von Eileen, eine Freundschaft fürs Leben schließen kann.
Diese Phase schließt mit der Todesnachricht, die Eileen über ihren 20-jährigen Sohn erhält, der für England kämpfend in Italien gefallen ist. Eileens Stärke beruht auf ihrer Glaubensgewissheit. Diese macht allerdings auch die Verständigung mit der moderner denkenden Tochter und ihrer Freundin Elizabeth schwerer. Doch werden die beiden Frauen der jüngeren Generation mit ihrer freieren Auffassung des Zusammenlebens der Geschlechter nicht glücklich.
Kurz nachdem Elizabeth White mit 15 Jahren nach Hause gekommen ist, trennt sich ihre Mutter von ihrem Mann. Das lässt Elizabeth vorzeitig erwachsen werden, ihr Vater wird es nie.
Die männlichen Figuren sind durchweg defizitär, aber ich kann alle Beschränkungen ihrer Weltsicht bei mir entdecken. Eine durchaus fesselnde Lektüre. Von mir erst entdeckt, als meine Tochter darüber hinaus gewachsen ist.
Hypothese: Der Durchschnittsmann ist nicht drei oder fünf, sondern dreißig Jahre hinter der Entwicklung einer Durchschnittsfrau zurück. Bei einem Ausnahmemann wie Klausner, waren es nach der Darstellung von Amos Oz eher 60 Jahre.
Bevor ich die aussortierten Binchy-Romane ins Antiquariat gebe, habe ich noch etwas zu lesen. [Maeve Binchy rechnete als junge Frau damit, ledig zu bleiben, bis sie den Kinderbuchautor Gordon Snell kennenlernte. Ihre Bücher verkauften sich bisher 40 Millionen Mal.]

Die Formel von tüchtige Frauen/defizitäre Männer stimmte bis Seite 200 so halbwegs. Dann gibt es auch deutlich weniger defizitäre Männer und recht defizitäre Frauen, sogar die Heldinnen machen nicht alles richtig, und bei den Männern kommen alles in allem so viele Defizite zusammen, dass ich besser nicht behaupte, alle in mir zu vereinen. Die Jungmädchengeschichte weitet sich zu Geburt und Tod, um dem Epischen Raum zu geben.