22 Juni 2012

Jean Paul: Selberlebensbeschreibung (1)


An Jean Pauls Autobiographie ist schon der Titel ganz neu und originell, nämlich eine Wortschöpfung Jean Pauls: Selberlebensbeschreibung.
Er schreibt darin auch über sein Leben, doch erst einmal sehr lange über seine Eltern und immer wieder allgemeine Aphorismen wie die folgenden:

Reichtum lastet mehr das Talent als Armut und unter Goldbergen und Thronen liegt vielleicht mancher geistige Riese erdrückt begraben. [...]

Und so weiß er auch zu rechtfertigen, dass das Schicksal ihm lange die Möglichkeit zu dichterischer Arbeit vorenthielt:
Das Schicksal macht es mit Dichtern wie wir mit Vögeln und verhängt dem Sänger so lange den Bauer finster, bis er endlich die vorgespielten Töne behalten, die er singen soll. [...]

Als hätte er Gustav Freytags Romanzyklus Die Ahnen vorausgesehen, der lauter Angehörige ein und derselber Familie die Zeit von der Völkerwanderung bis in die Befreiungskriege erleben lässt, schreibt er:
"Wie anders gestaltet sich die sonst uns fremdartige Vorzeit, wenn unsere Verwandten durch sie ziehen und sie mit unserer Gegenwart verbrüdern und verketten! Und zu beneiden ist der Mann, welchen die Geschichte von Voreltern zu Voreltern namentlich zurückbegleitet und ihm eine graue Zeit in eine grüne umfärbt. [...]"

Als hätte er den Hype um die Massive Online Open Cources vorhergesehen, formuliert er schon 1818:
"Ja dieses geistige Selberstillen der Kinder läßt eine solche Ausdehnung zu, daß ich mir getraue, durch die bloße Briefpost ganzen Schulen in Nordamerika vorzustehen oder in der alten Welt funfzig Tagreisen entfernten, indem ich meiner Schuljugend bloß schriebe, was sie täglich auswendig zu lernen hätte, und einen unbedeutenden Menschen hielte, dem sie es hersagte, und ich genösse das Bewußtsein ihrer schönen geistigen Fastensonntage reminiscere. [...]"
Oder steckt darin doch vor allem eine ganz energische Kritik an der bloßen Paukerei, die ihm sein Vater zumutete?

Hier ein eindrucksvolles Plädoyer gegen die Redensart "Nichts ist so uninteressant wie die Zeitung von gestern.":
"Eine politische Zeitung gewährt, nicht blatt- sondern heft- und bandweise gelesen, wahrhafte Berichte, weil sie erst im Spielraume eines ganzen Heftes Blätter genug zum Widerruf ihrer andern Blätter gewinnt, und sie kann gleich dem Winde ihre wahre Farbe nicht in einzelnen Stößen und Stücken zeigen, sondern nur in ihrem großen Umfang, wie eben gedachte Luft erst in Masse ihre himmelblaue Farbe. [...]

An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht »ich bin ein Ich« wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig."
(Jean Paul: Selberlebensbeschreibung)

20 Juni 2012

Karl May über den tieferen Sinn hinter seinen Reiseerzählungen


Meine »Reiseerzählungen« haben, wie bereits erwähnt, bei den Arabern von der Wüste bis zum Dschebel Marah Durimeh und bei den Indianern von dem Urwald und der Prairie bis zum Mount Winnetou aufzusteigen. Auf diesem Wege soll der Leser vom niedrigen Anima-Menschen bis zur Erkenntnis des Edelmenschentums gelangen. Zugleich soll er erfahren, wie die Anima sich auf diesem Wege in Seele und Geist verwandelt. Darum beginnen diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der »Wüste«. In der Wüste d.i. in dem Nichts, in der völligen Unwissenheit über Alles, was die Anima, die Seele und den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das »Ich«, die Menschheitsfrage, in diese Wüste tritt und die Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt, ein sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen Pferde entgegengeritten kommt, sich einen langen berühmten Namen beilegt und gar noch behauptet, daß er Hadschi sei, obgleich er schließlich zugeben muß, daß er noch niemals in einer der heiligen Städte des Islam war, wo man sich den Ehrentitel eines Hadschi erwirbt.  […]
Dieser Hadschi, der sich Hadschi Halef Omar nennt und auch seinen Vater und Großvater noch als Hadschis hinten anfügt, bedeutet die menschliche Anima, die sich für die Seele oder gar für den Geist ausgibt, ohne selbst zu wissen, was man unter Seele oder Geist zu verstehen hat. Dies geschieht bei uns nicht nur im gewöhnlichen, sondern auch im gelehrten Leben alltäglich, aber man ist derart blind für diesen Fehler, daß ich eben arabische Personen und arabische Zustände herbeiziehen muß, um diese blinden Augen sehend zu machen. [...]
Und dieser Hadschi ist meine eigene Anima, jawohl, die Anima von Karl May! Indem ich alle Fehler des Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und so aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt worden ist. Ich darf also wohl behaupten, daß ich gewisse Vorwürfe, die mir von meinen Gegnern gemacht werden, keineswegs verdiene.
(Karl May: Mein Leben und Streben, zeno.org, S.209-211)

Diesen tieferen Sinn unterstellt Karl May seinen früheren Werken, um sich gegen Angriffe zu wehren, die erfolgten, als bekannt wurde, dass er [wie Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz] noch nie in den von ihm beschriebenen Ländern war und dass er vor Beginn seiner Karriere als Schriftsteller allerlei Hochstapelei begangen hatte.
In seinem Spätwerk hat er dann wirklich Schriften mit symbolischen Hintergrund geschrieben.

18 Juni 2012

"Halbblut" oder "Der schwarze Mustang"

Wenn es unter den positiven Romangestalten Karl Mays eine gibt, die den liebenswert aufschneiderischen Hadschi Halef Omar an Selbstüberschätzung noch übertrifft, so ist es Hobble-Frank. Seine Selbstüberschätzung bezieht sich freilich nicht auf seine Fähigkeiten als Westmann, ist er es doch, der seinem dafür höchst unzulänglich ausgerüsteten Körper die erstaunlichsten Glanzleistungen abringt. (So schlägt er, der Kleine, in einem Kampf auf Leben und Tod den besten Läufer des Indianerstamms, in dessen Gefangenschaft er geraten ist, ausgerechnet im Wettlauf.) Zusammen mit seinem Vetter, dem berühmten Westmann Tante Droll gelingt es ihm als wohl einzigen in allen Karl-May-Erzählungen das unübertreffliche Trio Old Shatterhand, Winnetou und Old Firehand, als alle drei gemeinsam in indianische Gefangenschaft geraten sind, zu retten. Nein, seine Selbstüberschätzung bezieht sich allein auf Bildungsfragen. Was er alles an abstrusen Verwechslungen produziert, hat ihm die Liebe der jugendlichen Karl-May-Leser eingetragen, zumal er sich dabei noch als unübertrefflicher Polyhistor aufspielt. Zwar ist er immer für geistreichen Blödsinn gut, doch die hübschsten - freilich auch die groteskesten Kapriolen schlägt er meiner Meinung nach doch im "Schwarzen Mustang", der aufgrund von Rechtsstreitigkeiten freilich schon bald in "Halbblut" umbenannt werden musste. 

 Hier zwei Beispiele:

 "So een Gimpel, dem noch die grünen Walnußschalen der neuesten Jahrzehnte hinter den Ohren hängen, will wissen, wie die alten Römer gesprochen haben! Portas! Das is ja gar keen römisch-irisches Wort, sondern jeder nur ganz sachte angebildete Mensch weeß, daß es anschtatt Portas Portière heeßen muß, und welchem alten Römer könnte es wohl eingefallen sein, zu rufen, daß Hannibal an der Portiere hänge! So eenen Unsinn hat sich niemals keen Römer nich zu Schulden kommen lassen. Als Peter der Große seinen Admiral Hannibal gegen die Römer ausgerüstet hatte, dampfte dieser schleunigst um das Kap der guten Hoffnung herum, überschtieg mitten im Winter das Kjölengebirge, wobei seine Kamele die Kanonen schleppen mußten, schlug zunächst bei Ligny die Scharen der Thessalonicher und Kolosser und hatte dann das ganze römische Reich zu seinen Füßen liegen. Zwar schickte ihm der Kaiser Herodot den Reitergeneral Holofernes entgegen, doch wurde dieser nicht weit vom Schipkapaß so in die Pfanne gehauen, daß er vor Todesangst die sizilianische Vesper singen ließ und in der nächsten Bartholomäusnacht an seinen Wunden schtarb. Nu gab es für die Römer nur een eenziges Mittel, sich zu retten: sie mußten dafür sorgen, daß dem Hannibal für seine Truppen die Nahrungsmittel fehlten. Sie brannten also Moskau hinter sich ab, verwüsteten die pontinischen Sümpfe und blieben dann beim Berge Ararat halten, um die Folgen der Zerschtörung abzuwarten. Aber sie mußten nur zu bald erkennen, daß sie sich in Hannibal verrechnet hatten. Er war nämlich so pfiffig gewesen, ooch für diesen Fall zu sorgen und hatte eene solche Menge von Proviant mitgenommen, daß an eene Hungersnot gar nich zu denken war. In Anbetracht der winterlichen Kälte hatte er sogar seinem Generalquartiermeister Phidias den Befehl erteilt, transportable Häuser aus Wellenblech und amerikanische Öfen mitzunehmen; die wurden offgeschlagen und teils als Wohn-, teils Wirtshäuser und Restaurationen eingerichtet. Das Heer des Hannibal lebte da herrlich und in Freuden; die Römer aber, als sie das hörten, sahen ein, daß sie verloren waren, und riefen erschrocken aus: ›Hannibal hat Boardinghäuser!‹ Denn daß dieses ad das germanische hat sein soll, das sieht jeder Deutsche ein, wenn er nich gerade off den sorbenwendischen Namen Timpe getooft worden is."

 "Er zog bei diesen Worten die Zöpfe der zwei chinesischen Gewehrdiebe aus der Tasche. »Hurra, die beeden Kang-Keng-King-Kongzöpfe! Die hatte ich beinahe ganz vergessen! Hurra, hurra, is das een großartiger schtylistischer Gedanke! Ich bin so erfreut und so entzückt, als ob heute mein diatonischer und kynologischer Geburtstag wäre! Dem Manne kann sofort geholfen werden, nämlich von dem Schopfe und zu den Zöpfen! Kommen Sie her, Herr Timpe Nummer eens und Timpe Nummer zwee! Ihr Name hat für mich zwar gar keenen schönen Karbol- und Klarinettenklang, aber bei so eener famosen Operation kann er mich doch nich schtören. Passen Sie off, Mesch'schurs und meine Herren, das große Werk kann beginnen. Der Vorhang geht in die Höhe, aber die Haare müssen runter! Ich schpiele den Barbier von Sevilla ohne Borschtenpinsel und Seefenschaum, und der Komantsche wird den ›geschundenen Raubritter geben. Beim erschten Offzug singe ich ihn an: ›Reich mir die Hand, mein Leben!‹ und hierauf trägt er die Gnadenarie aus ›Robert und Bertram‹ vor. Dann beginnt der Chor der Rachebrüder: ›Schab, Hobble, schab, der Schopf der muß herab!‹ Sodann fällt er ein: ›Leise, leise, lieber Frank, sonst wird meine Kopfhaut krank!‹ aus dem Freischütz, wenn ich mich nich irre oder wenn sich Weber nich geirrt hat. Am Schluß des erschten Aktes das Terzett: ›Mond, ich grüß dich tausendmal, der Komantsche is nu kahl!‹ Wenn kurze Zeit schpäter der Vorhang wieder in die Sofitten oder in die Lafetten gezogen wird, schtimme ich mit Harmoniumbegleitung an: ›Weint mit ihm des Schmerzes Thräne, fadendünne ist die Strähne!‹ worauf er ganz alleene mit dem Doppelquartett antwortet: ›Weil ich sonsten ohne Hut mich nich sehen lassen kann, lieber Hobble, sei so gut, bind mir die Chinesen dran!‹ Das thu' ich natürlich ooch, weil meine Rolle es so mit sich bringt, und wenn es geschehen is, fallen sämtliche Mitschpieler und Zuschauer mit dem ganzen Orschester in den Lobgesang ein: »Jubelt laut, ihr roten Brüder, denn die Zöpfe bammeln nieder! Euer Häuptling is entzückt, daß sein Schädel ward geschmückt; führt ihn im Triumph nach Haus, die Komödie is nu aus! worauf das Publikum offschteht und der Vorhang aber niedergeht. In dieser Weise denke ich mir das Festprogramm, und nu, meine Herrschaften und übrigen Gentlemen, mag das Schtück beginnen. Wer am besten schpielt, kriegt ooch keene Gage!«" Karl May: Der schwarze Mustang

 Karl May hat in seiner Autobiographie geschrieben, nie habe er im Ernst behauptet, zu solchen Taten fähig zu sein wie Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Diese stünden nur für sein besseres Selbst und Kara Ben Nemsi zumal für die Menschheitsfrage im allgemeinsten Sinne. Sein menschlich fehlerhaftes Selbst, seine anima, habe er in der Gestalt Hadsch Halef Omar geschildert und diesen ja höchst kritisch dargestellt. Doch wenn er in einer Figur seine geistigen Hochstapeleien, seinen fingierten Doktortitel und seine angeblich so immense Sprachkenntnis ungezählter Indianerdialekte, der verschiedenen nahöstlichen und asiatischen Sprachen, nicht zuletzt des Chinesischen, auf die Schippe genommen hat, so in Hobble-Frank.
Freilich tat er es, als er noch glaubte, seine eigenen Angebereien seien für ihn harmlos. Was bei Hobble-Frank noch lustig ist, wurde für Karl May zum bitteren Ernst.

Mehr vom Schulmeisterlein

In ironisch-idyllischer - darf man sagen: humorvoller - Weise schildert Jean Paul die Armut seines Vaters, bevor er eine halbwegs einträgliche Pfarrstelle bekam, und zugleich seine Kindheits- und Jugenderfahrungen vor der ersten Hausmeisterstelle.

Aus Mangel an Geld schreibt sich der Schulmeister seine Lektüre selbst:
Der wichtige Umstand, bei dem uns, wie man behauptet, so viel daran gelegen ist, ihn voraus zu hören, ist nämlich der, daß Wutz eine ganze Bibliothek – wie hätte der Mann sich eine kaufen können? – sich eigenhändig schrieb. Sein Schreibzeug war seine Taschendruckerei; jedes neue Meßprodukt, dessen Titel das [426] Meisterlein ansichtig wurde, war nun so gut als geschrieben oder gekauft: denn es setzte sich sogleich hin und machte das Produkt und schenkt' es seiner ansehnlichen Büchersammlung, die, wie die heidnischen, aus lauter Handschriften bestand. Z.B. kaum waren die physiognomischen Fragmente von Lavater da: so ließ Wutz diesem fruchtbaren Kopfe dadurch wenig voraus, daß er sein Konzeptpapier in Quarto brach und drei Wochen lang nicht vom Sessel wegging, sondern an seinem eignen Kopfe so lange zog, bis er den physiognomischen Fötus herausgebracht (- er bettete den Fötus aufs Bücherbrett hin –) und bis er sich dem Schweizer nachgeschrieben hatte. Diese Wutzische Fragmente übertitelte er die Lavaterschen und merkte an: »er hätte nichts gegen die gedruckten; aber seine Hand sei hoffentlich ebenso leserlich, wenn nicht besser als irgendein Mittel-Fraktur-Druck.« Er war kein verdammter Nachdrucker, der das Original hinlegt und oft das meiste daraus abdruckt: sondern er nahm gar keines zur Hand. Daraus sind zwei Tatsachen vortrefflich zu erklären: erstlich die, daß es manchmal mit ihm haperte und daß er z.B. im ganzen Federschen Traktat über Raum und Zeit von nichts handelte als vom Schiffs-Raum und der Zeit, die man bei Weibern Menses nennt. Die zweite Tatsache ist seine Glaubenssache: da er einige Jahre sein Bücherbrett auf diese Art voll geschrieben und durchstudieret hatte, so nahm er die Meinung an, seine Schreibbücher wären eigentlich die kanonischen Urkunden, und die gedruckten wären bloße Nachstiche seiner geschriebnen; nur das, klagt' er, könn' er – und böten die Leute ihm Balleien dafür an – nicht herauskriegen, wienach und warum der Buchführer das Gedruckte allzeit so sehr verfälsche und umsetze, daß man wahrhaftig schwören sollte, das Gedruckte und das Geschriebne hätten doppelte Verfasser, wüßte man es nicht sonst.
Es war einfältig, wenn etwa ihm zum Possen ein Autor sein Werk gründlich schrieb, nämlich in Querfolio – oder witzig, nämlich in Sedez: denn sein Mitmeister Wutz sprang den Augenblick herbei und legte seinen Bogen in die Quere hin, oder krempte ihn in Sedezimo ein.
Nur ein Buch ließ er in sein Haus, den Meßkatalog; denn die [427] besten Inventarienstücke desselben mußte der Senior am Rande mit einer schwarzen Hand bestempeln, damit er sie hurtig genug schreiben konnte, um das Ostermeß-Heu in die Panse des Bücherschranks hineinzumähen, eh' das Michaelis-Grummet herausschoß. Ich möchte seine Meisterstücke nicht schreiben. Den größten Schaden hatte der Mann davon – Verstopfung zu halben Wochen und Schnupfen auf der andern Seite –, wenn der Senior (sein Friedrich Nicolai) zu viel Gutes, das er zu schreiben hatte, anstrich und seine Hand durch die gemalte anspornte; und sein Sohn klagte oft, daß in manchen Jahren sein Vater vor literarischer Geburtarbeit kaum niesen konnte, weil er auf einmal Sturms Betrachtungen, die verbesserte Auflage, Schillers Räuber und Kants Kritik der reinen Vernunft der Welt zu schenken hatte. [...]
Schulmeisterlein Wutz, S.426/427

Warum ließ der Himmel gerade in die Jugend das Lustrum der Liebe fallen? Vielleicht weil man gerade da in Alumneen, Schreibstuben und andern Gifthütten keucht: da steigt die Liebe wie aufblühendes Gesträuch an den Fenstern jener Marterkammern empor und zeigt in schwankenden Schatten den großen Frühling von außen. Denn Er und ich, mein Herr Präfektus, und auch Sie, verdiente Schuldiener des Alumneums, wir wollen miteinander wetten, Sie sollen über den vergnügten Wutz ein Härenhemd ziehen (im Grund hat er eines an) – Sie sollen ihn Ixions Rad und Sisyphus' Stein der Weisen und den Laufwagen Ihres Kindes bewegen lassen – Sie sollen ihn halb tot hungern oder prügeln lassen – Sie sollen einer so elenden Wette wegen (welches ich Ihnen nicht zugetrauet hätte) gegen ihn ganz des Teufels sein: Wutz bleibt doch Wutz und praktiziert sich immer sein bißchen verliebter Freude ins Herz, vollends in den Hundtagen! [...]
Er ging da sonntags nach der Abendkirche heim nach Auenthal und hatte mit den Leuten in allen Gassen Mitleiden, daß sie dableiben mußten. Draußen dehnte sich seine Brust mit dem aufgebaueten Himmel vor ihm aus, und halbtrunken im Konzertsaal aller Vögel horcht' er doppelselig bald auf die gefederten Sopranisten, bald auf seine Phantasien. Um nur seine über die Ufer schlagende Lebenskräfte abzuleiten, galoppierte er oft eine halbe Viertelstunde lang. Da er immer kurz vor und nach Sonnen-Untergang ein gewisses wollüstiges trunknes Sehnen empfunden hatte – die Nacht aber macht wie ein längerer Tod den Menschen erhaben und nimmt ihm die Erde –: so zauderte er mit seiner Landung in Auenthal so lang', bis die zerfließende Sonne durch die letzten Kornfelder vor dem Dorfe mit Goldfäden, die sie gerade über die Ähren zog, sein blaues Röckchen stickte und bis sein Schatten an den Berg über den Fluß wie ein Riese wandelte. Dann schwankte er unter dem wie aus der Vergangenheit herüberklingenden Abendläuten ins Dorf hinein und war allen Menschen gut, selbst dem Präfektus. Ging er dann um seines Vaters Haus und sah am obern Kappfenster den Widerschein des Monds und durch ein Parterre-Fenster seine Justina, die da alle Sonntage einen ordentlichen Brief setzen lernte [...]

Freilich du, mein Wutz, kannst Werthers Freuden aufsetzen, da allemal deine äußere und deine innere Welt sich wie zwei Muschelschalen aneinander löten und dich als ihr Schaltier einfassen; aber bei uns armen Schelmen, die wir hier am Ofen sitzen, ist die Außenwelt selten der Ripienist und Chorist unsrer innern fröhlichen Stimmung; – höchstens dann, wenn an uns der ganze Stimmstock umgefallen und wir knarren und brummen; oder in einer andern Metapher: wenn wir eine verstopfte Nase haben, so setzt sich ein ganzes mit Blumen überwölbtes Eden vor uns hin, und wir mögen nicht hineinriechen. [...]
Am 13. Mai ging er als Alumnus aus dem Alumneum heraus und als öffentlicher Lehrer in sein Haus hinein, und aus der zersprengten schwarzen Alumnus-Puppe brach ein bunter Schmetterling von Kantor ins Freie hinaus. Am 9. Julius stand er vor dem Auenthaler Altar und wurde kopuliert mit der Justel. Aber der elysäische Zwischenraum zwischen dem 13. Mai und dem 9. Julius! – Für keinen Sterblichen fällt ein solches goldnes Alter von acht Wochen wieder vom Himmel, bloß für das Meisterlein funkelte der ganze niedergetauete Himmel auf gestirnten Auen der Erde. [...]
Seine größte Sorgfalt verwandte er darauf, daß er die epischen Federn falsch schnitt, entweder wie Pfähle oder ohne Spalt oder mit einem zweiten Extraspalt, der hinausniesete; denn da alles in Hexametern, und zwar in solchen, die nicht zu verstehen waren, verfasset sein sollte: so mußte der Dichter, da ers durch keine Bemühung zur geringsten Unverständlichkeit bringen konnte – er fassete allemal den Augenblick jede Zeile und jeden Fuß und pes –, aus Not zum Einfall greifen, daß er die Hexameter ganz unleserlich schrieb, was auch gut war. Durch diese poetische Freiheit bog er dem Verstehen ungezwungen vor.

Leben des Schulmeisterlein Wutz, Text in: Jean Paul: Die unsichtbare Loge 2. Teil 55. Sektor Leben des Schulmeisterlein Wutz

02 Juni 2012

Jean Paul über Reisebeschreibungen

"Denn da unser Enzyklopädist nie das innere Afrika oder nur einen spanischen Maulesel-Stall betreten, oder die Einwohner von beiden gesprochen hatte: so hatt' er desto mehr Zeit und Fähigkeit, von beiden und allen Ländern reichhaltige Reisebeschreibungen zu liefern – ich meine solche, worauf der Statistiker, der Menschheit-Geschichtschreiber und ich selber fußen können – erstlich deswegen, weil auch andre Reisejournalisten häufig ihre Beschreibungen ohne die Reise machen – zweitens auch, weil Reisebeschreibungen überhaupt unmöglich auf eine andre Art zu machen sind, angesehen noch kein Reisebeschreiber wirklich vor oder in dem Lande stand, das er silhouettierte: denn so viel hat auch der Dümmste noch aus Leibnizens vorherbestimmten Harmonie im Kopfe, daß die Seele, z. B. die Seelen eines Forsters, Brydone, Björnstähls – insgesamt seßhaft auf dem Isolierschemel der versteinerten Zirbeldrüse – ja nichts anders von Südindien oder Europa beschreiben können, als was jede sich davon selber erdenkt und was sie, beim gänzlichen Mangel äußerer Eindrücke, aus ihren fünf Kanker-Spinnwarzen vorspinnt und abzwirnt."
Jean Paul: Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal

Jean Paul lässt große Teile seines Romans Titan in Italien spielen und liefert eindrucksvolle Schilderungen römischer Bauwerke, obwohl er nie in Italien war.