31 August 2017

Johnson: Jahrestage (27.8.-31.8.1967)

"Die Ostdeutschen an der Macht sagen: Soeben führen wir die Fünftagewoche zu 43¾ Stunden ein, eine einzigartige sozialistische Errungenschaft. Die amerikanische Nazipartei sagt: Die Leiche unseres Führers gehört der Partei. Die Frau des verhafteten Unteroffiziers sagt: Das kann doch nicht wahr sein, mein Mann ist kein Spion. Die New York Times sagt: In den U. S. A. wurde die Vierzigstundenwoche 1938 eingeführt.
Und das Wetter in Nord-Viet Nam war wieder gut genug für Bombenangriffe, und das Pentagon läßt durchblicken, daß die ja ihre eigenen Maschinen in China verstecken, und gestern morgen überfielen drei Männer das Schuyler Arms Hotel in der 98. Straße, schossen den Nachtportier an und entkamen mit 68 Dollar. Das war gegen drei Uhr, zwei Blocks von hier.
"Und die New York Times widmet der Tochter Stalins, beginnend auf der ersten Seite, mehr als acht volle Spalten, 184 Zoll. Diese ungeratene Tochter Etzels saß demnach bei den Goten auf Long Island, in einem Garten unter einer Schwarzeiche, und sagte: Sie sei im allgemeinen für die Freiheit." (27.8.67)


"Jerichow zu Anfang der dreißiger Jahre war eine der kleinsten Städte in Mecklenburg-Schwerin, ein Marktort mit zweitausendeinhunderteinundfünfzig Einwohnern, einwärts der Ostsee zwischen Lübeck und Wismar gelegen, ein Nest aus niedrigen Ziegelbauten entlang einer Straße aus Kopfsteinen, ausgespannt zwischen einem zweistöckigen Rathaus mit falschen Klassikrillen und einer Kirche aus der romanischen Zeit, deren Turm mit einer Bischofsmütze verglichen wird; lang und spitz läuft er zu, und wie die Mütze eines Bischofs hat er Schildgiebel an allen vier Stirnen. Um den Marktplatz im Norden, zur See hin, standen ein Hotel, die Bürgermeisterei, eine Bank, die Raiffeisenkasse, Wollenbergs Eisenwarenlager, Papenbrocks Haus und Handlung, die alte Stadt, hier gingen Nebenstraßen ab, Kattrepel, Kurze Straße, die Bäk, Schulstraße, Bahnhofstraße. Am südlichen Ende, um Kirche und Friedhof herum, war die erste Stadt gewesen, fünf Gänge zwischen Fachwerkhäusern, bis sie abbrannte, 1732, erst im neunzehnten Jahrhundert wieder zugestellt mit gedrungenen Backsteinhäusern, Schulter an Schulter unter sparsamen Dächern, da steht heute das Postamt, das Konsumkaufhaus, die Ziegelei hinter dem Friedhof, die Ziegeleivilla. [...] 
Cresspahl schrieb eine offene Postkarte nach Richmond und gab sie dem Hoteldiener zum Einwerfen. Er besuchte den Rechtsanwalt Jansen. Er ging nach Rande und aß im Hotel Stadt Hamburg zu Abend. Er las alle Anzeigen im Gneezer Tageblatt auf der Seite für Jerichow und Umgebung. Er ging nicht langsamer, wenn er an Papenbrocks Einfahrt vorbeikam, aber seine Gänge brachten ihn da vorbei, und er wußte nach einer Weile, daß der junge Mann, der im Hof beim Sackabladen die Aufsicht führte, Horst Papenbrock war, der Erbe, damals 31 Jahre. Zwischen fliehendem Kinn und fliehender Stirn war Horsts Gesicht so spitz wie ein Fisch. Cresspahl sah den alten Papenbrock durchs offene Fenster am Schreibtisch, schwitzend über seinem behaglichen zarten Bauch, so heftig nickend vor Höflichkeit, als dienerte er im Sitzen. Offenbar handelte er mit der vornehmen Kundschaft nicht gern, oder nicht lange, Papenbrock, der so knausrig war, daß er sich einen Personenwagen nicht leistete und die Familie im Lieferauto zum Kaffeetrinken nach Travemünde fuhr. Meine Mutter sah Cresspahl nicht. Er sah meine Großmutter in der Bäckerei verkaufen helfen, eine ergebene flinke Alte mit einer etwas süßlichen Redeweise, besonders zu Kindern. Hier grüßte Cresspahl im Vorbeigehen, durch die offene Tür.

und ich war nie ein Schaf, Gesine.
Dich haben sie auf die Seite geschmissen, dir haben sie die Pfoten zusammengebunden, dir haben sie den Hals mit Knien gegen die Tenne gedrückt, dir haben sie mit einer stumpfen Schere die Wolle abgerissen, und du hast das Maul nicht aufgemacht, Louise geborene Utecht aus der Hageböcker Straße in Güstrow, du Schaf.

Cresspahl wußte, das Horst Papenbrock und der Ackerbürger Griem Nazis waren und zu ihren Schlägereien nach Gneez mußten, weil die Sozialdemokraten in Jerichow ihre Nachbarn, Verwandten, Stadtverordneten waren. Er wußte, daß Papenbrock mit seiner Getreidehandlung, seiner Bäckerei, seinen Lieferungen aufs Land der reichste Mann in Jerichow war, und daß er außerdem noch Geld verlieh. Er wußte, daß die Geschichte hier lediglich eine Franzosenschanze hinterlassen hatte, an der Küste, acht Kilometer entfernt." (28.8.67)

"Das Haus, in dem Miss Cresspahl ihr Geld verdient, besteht aus einem zwölfstöckigen Sockel, der von einer Straße bis zur anderen reicht, und darüber einer gestaffelten Terrasse, auf die ein glatter Turm aufsetzt. Das Glas zwischen den blanken Rippen ist mit blaugrauen Bändern umwickelt. Die meisten Fenster sind von Jalousiestäben blind, noch schimmert wenig Neonlicht zwischen den Ritzen. Von der gegenüberliegenden Straßenseite, den Kopf im Nacken, sollte sie ihre beiden Fenstereinheiten ausmachen können, aber sie verzählt sich regelmäßig. Auf der Ebene der Straße ist die äußere Schicht des Hauses zur Hälfte eingerichtet als eine gewöhnliche Bank hinter übermannshohen Schaufenstern, die weder getönt noch gerillt noch verhängt sind und den Blick hineinziehen zu den kunstledernen Sitzmöbeln, Rauchertischen, Schreibtischen auf Teppichinseln, Schreibpulten, Schalterreihen unter dem Auge automatischer Kameras, der hochpolierten Pfannentür des Tresorraums. Die Bank, ein Wohnzimmer so groß wie ein Wartesaal, ist noch leer. In der anderen Hälfte des Hauses sitzt zu ebener Erde ein Restaurant, das seine Kunden mit lindgrünen Vorhängen vor dem Licht des Tages schützt. Der Haupteingang mit seinen vier Schwingtüren zieht so viele Leute vom Bürgersteig, daß der Trott der Passanten an dieser Stelle aus dem Schritt kommt. Hinter einer Wand aus hellem Marmor mündet das Foyer nach links in drei Fahrstuhlgassen, im Hintergrund geht der Trakt der Hausmeisterei ab, die rechte Wand nimmt ein langer Stand mit Zeitungen, Süßigkeiten und Rauchwaren ein. Jede Fahrstuhlgasse wird einzeln vom Aufseher gesteuert, dessen blaugraue Uniform über dem Herzen in gestickter Schreibschrift den Namen des Unternehmens trägt. Es gelingt ihr, ihm zuzunicken. Beim Eintreten in eine Kabine, über der Grünlicht eine Aufwärtsfahrt anzeigt, sieht sie die in den Fußboden eingelassene Nummer des Hauses, die dem Benutzer anzeigen soll, ob er es verwechselt hat. Unter den etwa fünfundzwanzig Insassen sieht sie heute kein bekanntes Gesicht. Als die stählernen Doppeltüren vor ihr zusammenklappen, ist es neun Minuten vor neun Uhr.
Die Nachrichtentoten dieses Tages sind zwanzig Amerikaner, fünfzehn Südvietnamesen, achtundneunzig Nordvietnamesen, die letzteren geschätzt. Aus der Liste der amtlichen Toten führt die Zeitung nur zwei an, die zufällig aus dem Staat New York waren, als verschlüge die genaue Gesamtzahl ja doch nichts gegen einhundertfünfundneunzig Millionen Landesbürger. Der erschossene Nazi darf auf einem militärischen Ehrenfriedhof begraben werden, denn ihm ist lediglich Mordhetze gegen Neger und Juden nachzuweisen. Eine Mrs. Hart ist dagegen, dies Grab neben denen derer zu wissen, die im Krieg gegen die Nazis gefallen sind. In Westfalen hat ein Prozeß begonnen gegen vier Deutsche, die im Konzentrationslager Mauthausen Häftlinge in eiskaltem Wasser ertränkt haben sollen. Mindestens eine Million amerikanischer Hausfrauen sind alkoholsüchtig. Und diesmal ist die Tochter Stalins in der Zeitung, weil sie für ein Fernsehinterview nicht 250 000 Dollar haben will. Sie macht es für umsonst. Sie scheint erheblichere Einkünfte vorauszusehen.

– Und wie war es im Büro, Gesine?

Mrs. Williams ist wieder da, und sie war nun nicht in Griechenland, aus Angst vor dem Militär. Die Angestellten wurden in einem dritten Rundschreiben aufgefordert, in der Mittagspause die Tische abzuschließen und Taschen bei jedem Gang mitzunehmen, wegen neuer Diebstähle auf dem neunten Stockwerk. Das neueste Gerücht ist, wir hätten Xerox gekauft. Mein Chef mußte am Nachmittag nach Hawaii, sein Sohn kommt dahin von Süd-Viet Nam zur Erholung." (29.8.67)

"»Liebe Gesine.
Ich habe bis acht auf dich gewartet, dann hat Pamela Blumenroth mich zum Übernachten eingeladen. Bitte ruf nicht an.
Keine Post, außer für mich.
Was du brauchst ist im Eisschrank.
Mrs. Ferwalter ist sauer auf dich oder mich. Sie hat seit einer Woche nicht angerufen.
Wir müssen was mit D. E. machen. Er glaubt nicht, daß du allein in New Jersey warst.
Der Telefonverwechsler hat wieder zugeschlagen. Diesmal nannte er sich George und wollte mit einer Luise sprechen. Der Anruf kam aus Rhode Island.
Warst du allein in New Jersey?
Wenn du etwas Neues über den Zustand von Mahalia Jackson liest, bring es mir mit.
Diesen Griem in Jerichow, hast du den gekannt? Lebt der noch?
Ich habe in Wahrheit nur bis halb acht gewartet. Was ist das eigentlich für ein Büro, wo Leute behalten werden bis acht in der Nacht? Lohnt sich das für uns?
Mit affektioniertem Gruß,
Mary Fenimore Cressp. Cooper.«

Für »Eisschrank« benutzt sie ein britisches Slangwort, aus Treue zu London-Südost.
Was machen die Chinesen? In London fangen sie Streit an mit der Polizei und gehen mit Baseballschlägern, Eisenstäben und Äxten auf sie los. Der die Axt hält, ist ein schmächtiger Junge mit einer Brille, ein Schulkind." (30.8.67)



"Was für eine Person stellt Gesine sich vor, wenn sie an die New York Times denkt wie an eine Tante?
Eine ältere Person. Auf der Oberschule in Gneez wurden so Lehrerinnen bezeichnet, vorgeschrittenen Alters, humanistisch gebildet, die in gutem Willen den Lauf der Dinge mißbilligten, in Gesprächen unter vier Augen, wehrlos. Sie hatten einmal den Lauf der Dinge ändern wollen durch ein Studium an den wilhelminischen Universitäten, durch Zelten und Wasserwandern mit Männern ohne Trauschein, durch eigene Arbeit zum Kummer ihrer bürgerlichen Familien, deren Glaubenssätze sie im eigenen Alter, grauhaarig, auf derben Sohlen und womöglich in Hosen wandernd, gegen den Wandel der Zeiten verteidigten: Es schickt sich nicht, eine Revolution in den Sattel zu heben, vielleicht hat sie nicht genug Reitstunden gehabt. Man muß doch auch ans Pferd denken. Es ist wahr, eine solche Äußerung im Unterricht hätte ihnen Entlassung aus dem Schuldienst eingetragen. Sie wurden Tanten mit Nachsicht genannt, nicht unfreundlich, nicht ohne Mitleid. [...]
Ihre Manieren sind nützlich, sind bildend.
Sie brüllt nicht, sie hält Vortrag.
Auf fünfzehn mal dreiundzwanzig Zoll, acht Spalten, bietet sie über zwanzig Geschichten zur freien Auswahl.
Sie nennt einen Angeklagten noch nicht schuldig. Von den täglichen zwei Morden in der Stadt erwähnt sie nur die lehrreichen.
Sie nennt den Präsidenten nicht bei seinem Vornamen, allenfalls das Opfer eines Mordes.
Sie erwähnt Hörensagen als Hörensagen.
Sie läßt noch zu Wort kommen, wen sie verachtet. [...]
Sie ist unparteiisch gegen alle Arten der Religion.
Sie bewahrt die Reinheit der Sprache, noch in den Anzeigen ihrer Kunden verbessert sie.
Sie bietet dem Leser höchstens zwei Seiten Reklame ohne eine Nachricht an (außer am Sonntag).
Sie flucht nicht, noch daß sie den Namen Gottes fälschlich gebraucht.
Sie gesteht gelegentlich Irrtümer ein.
Sie kann sich mäßigen und einen Mörder einen umstrittenen Charakter nennen, vom Brigadegeneral aufwärts.
Sie hat die guten Formen mit dem Löffel gegessen. Warum sollten wir ihr nicht vertrauen?"
(31.8.67)

Wieland den Leugnern des menschengemachten Anteils am Klimawandel ins Stammbuch

Aber die Natur der Dinge hängt nicht, wie das Glück oder Unglück der Menschheit, von den Begriffen der Großen ab. Sie können nicht verhindern, daß die Strafen der Natur nicht unfehlbar auf die Verachtung eines jeden Gesetzes der Natur folgen; [...]
»Die vollkommensten Gesetze«, sagte Sokrates, »sind diejenigen, welche man nicht ungestraft übertreten kann, weil sie uns durch die natürlichen und unvermeidlichen Folgen ihrer Übertretung bestrafen«
(Wieland: Der goldene Spiegel 2. Teil)

Der zukünftige Prinzenerzieher hatte offenbar schon von Sokrates den pädagogischen Grundsatz der "natürlichen Folgen"* gelernt. 

*"natürliche Folgen: treten ohne dazutun des Erziehers ein" (Lia Konstantini)

29 August 2017

Wieland: Sultan Isfandiar und sein Ratgeber Eblis (in: Der goldene Spiegel)

»Isfandiar war, wie gesagt, Azors und Alabandens einziger Sohn, und der jüngste von verschiedenen, welche seine Sultaninnen ihm geboren hatten. Er wurde, ungeachtet der Entfernung seiner Mutter von dem Herzen des Königes, bei Hof erzogen – wie die scheschianischen Prinzen damals erzogen zu werden pflegten.« »Dies ist gerade, was wir wissen wollen«, sagte Schach-Gebal. »Er hatte die geschicktesten Lehrmeister in allen den Wissenschaften und Künsten, welche sich (wie man zu sagen pflegt) für einen Prinzen schicken. Er lernte von der Mathematik so viel, daß er ein Dreieck kunstmäßig von einem Viereck unterscheiden konnte. Er wußte, zum Beweise seiner geographischen Kenntnisse, die Namen aller Flüsse, Seen, Berge, Provinzen und Städte von Scheschian herzusagen; und, um eine Probe seiner Stärke in der Philosophie zu geben, verteidigte er in seinem dreizehnten Jahre öffentlich einen sehr tiefsinnigen Beweis, daß ein Ding – ein Ding ist, und so lang und so fern als es ist was es ist, nicht zugleich etwas andres sein kann als es ist. Sein Lehrer in der Staatswissenschaft hatte nichts Angelegeners, als ihm die ausgebreitetste Kenntnis von dem Umfang und den Rechten der höchsten Gewalt, und von den unzählbaren Mitteln und Wegen, wie man sich mit guter Art des Eigentums seiner Untertanen bemächtigen kann, beizubringen. Hingegen nahm sich sein Lehrer in der Moral sehr in Acht, die Zärtlichkeit seines Ohres durch Erwähnung des unangenehmen Wortes Pflichten zu beleidigen. Er bildete sich ein, es vortrefflich gemacht zu haben, wenn er dem Prinzen, in zierlich gedrehten Perioden oder durch rührend ausgemalte Beispiele, Gerechtigkeit und Wohltätigkeit als die höchsten Tugenden eines Fürsten vorschilderte. Aber der Ton, worin er von diesen Tugenden schwatzte, das unbesonnene und übertriebene Lob, womit er einige Fürsten wegen ziemlich zweideutiger Handlungen dieser Art unter die Götter versetzte, mußte natürlicher Weise eine verkehrte Wirkung bei seinem Untergebenen tun. Der junge Isfandiar machte sich von Gerechtigkeit und Wohltätigkeit einen Begriff, der für das Glück seiner künftigen Untertanen gänzlich verloren ging. Er glaubte, die Ausübung dieser Tugenden hange bloß von seiner Willkür ab; und er mutmaßte auch nicht von ferne, daß sie allein durch ihre unzertrennliche Verbindung zu Tugenden werden, und daß die unermüdete Bestrebung, beide in dem ganzen Umfang des Regentenamtes auszuüben, eine so wesentliche Fürstenpflicht sei, daß derjenige, welcher sie funfzig Jahre lang in der höchsten Vollkommenheit ausgeübt hätte, beim Schlusse seines Lebens kein andres Lob verdient hätte, als das Zeugnis seine Schuldigkeit getan zu haben. Kurz, der höfische Mentor hatte keinen Begriff davon, daß man einem jungen Fürsten die Ausübung aller Tugenden, von welchen das Wohl seiner Untergebenen und die möglichste Vollkommenheit seines Staates abhängt, unter der Gestalt von Verbindlichkeiten vorstellen müsse, deren Forderungen eben so dringend als unverletzlich sind; es sei… [...]

Eblis (so nannte sich der Kamfalu), dessen Herz keine Vermutung hatte, daß es eine höhere Art von Wollust gebe als die Befriedigung der Sinne und das eigennützige Vergnügen des gegenwärtigen Augenblicks – Eblis hatte sich ein System gemacht, aus welchem Wahrheit, Tugend, Zärtlichkeit, Freundschaft, kurz, jedes schönere Gefühl und jede edlere Neigung, verbannt waren. ›Alles ist wahr‹, sagte er, ›je nachdem wir es ansehen; von unserer innerlichen Stimmung und von dem Gesichtspunkt, woraus wir sehen, hängt es lediglich ab, ob uns ein Gegenstand schön oder häßlich, gut oder böse scheinen soll. Tugend ist eine Übereinkunft der feinern Köpfe, durch einen angenommenen Schein von Gerechtigkeit, Uneigennützigkeit und Großmut dem großen Haufen Zutrauen und Ehrfurcht einzuflößen. Sie bedient sich dazu einer gewissen hoch tönenden Sprache, gewisser edler Formen und schlauer Wendungen, welche sie unsern Neigungen und Handlungen gibt, um das Ziel unsrer Leidenschaften desto sicherer zu erhalten, je behutsamer wir es den Augen der Welt zu entziehen wissen. Müßige oder bezahlte Pedanten haben diese Sprache, diese Formen in einen wissenschaftlichen Zusammenhang räsoniert. Blöde Köpfe sind einfältig genug gewesen, diese Zeichen für Sachen anzusehen, und unter diesen leeren Formen gleichsam einen Körper zu suchen. Narren haben sich zu allen Zeiten vergebens oder auf Unkosten ihrer Vernunft bemüht, uns die Tugend, von welcher jene schwatzten, in ihrem Leben zu zeigen. Aber ein dreifacher Tor müßte der sein, der einen Freund auf Unkosten seiner selbst glücklich machen, – der den Augenblick, das Einzige was in seiner Gewalt ist, einem Traume von Zukunft aufopfern, – oder für andre leben wollte, wenn er sie nötigen kann für ihn da zu sein!‹ Diese abscheuliche Moral« – »Ich besorge, Danischmend, es ist die Moral von zwei Fünfteln meiner Rajas, Omras und Mollas«, sagte der Sultan. »Das verhüte der Himmel«, versetzte Danischmend. »Aber dessen bin ich versichert, daß es, wenn unser Herz uns nicht, wider Willen unsrer Köpfe, zu bessern Leuten machte, die Moral aller Erdenbewohner wäre.« »Mir deucht«, sprach die schöne Nurmahal, »nichts beweiset besser, wie wahr es ist, daß nur die schönen Seelen der Tugend fähig sind, als der Ton, in welchem Eblis von dieser ihm unbekannten Gottheit spricht. ›Ein dreifacher Tor müßte der sein, der seinen Freund auf Unkosten seiner selbst glücklich machen wollte.‹ Ja wohl, Eblis! ein dreihundertfacher Tor müßt er sein. Aber dies weiß Eblis nicht – denn woher sollt er es wissen können? – daß der Fall, den er setzt, gar nicht möglich ist. Ein Freund kann für seinen Freund nichts auf Unkosten seiner selbst tun, – denn dieser Freund ist er selbst.
(Wieland: Der goldene Spiegel 2. Teil 1. Kapitel)

Hat die Morallehre des Eblis nicht sehr viel Ähnlichkeit mit dem, was uns Neoliberale als die Lehre von der unsichtbaren Hand von Adam Smith einreden wollen? 
Und ähnelt die schöne Seele mit ihrer "Versöhnung von Pflicht und Neigung" nicht erstaunlich dem, was heute als Gutmenschentum verspottet wird?

28 August 2017

Wieland: Bürgerkrieg (in: Der goldene Spiegel)

"[...] Während dieses Streites, der mit aller Wut und Langwierigkeit eines Bürgerkrieges geführt wurde, erfuhr Scheschian die Drangsale der Anarchie zum zweiten Mal in einem Grade, der entsetzlich gewesen sein muß, da er mit der Stufe der Verderbnis, zu welcher die Nation herab gesunken war, in Verhältnis stand. Etliche Jahre lang schien alles Gefühl von Moralität in jeder Seele bis auf den letzten Funken erloschen zu sein, und den ungeheuern Leichnam des Staats einer scheußlichen Verwesung überlassen zu haben. Auch würde dies, allem Ansehen nach, das Schicksal von Scheschian gewesen sein, wofern nicht der Schutzgeist der Menschheit zu einer Zeit, da man alle Hoffnung aufzugeben anfing, den unglücklichen Rest einer einst so großen und blühenden Nation mit mitleidigen Augen angesehen hätte.« [...]"
(Wieland: Der goldene Spiegel 2. Teil Kapitel 4)


Wer könnte im Fall Syriens den "Schutzgeist der Menschheit" spielen. Es gibt wohl genügend viele Zuschauer, die Mitleid empfinden, aber es greifen nur die ein, die ein eigenes Interesse befriedigen wollen.

27 August 2017

Politisches Barometer in Wieland: Der goldene Spiegel

"Indessen ist wahrscheinlich, daß sich eine Wissenschaft erfinden ließe, wie man, unter gegebenen Umständen, für jedes Land den Tag, die Stunde, und den Augenblick ausrechnen könnte, wo der Staat unter einer gewissen Summe von Übeln – (die Dazwischenkunft irgend eines wohltätigen Wunderwerks ausbedungen) – einsinken müßte; und nichts ist mehr zu wünschen, als daß zum Besten des menschlichen Geschlechts ein Preis auf Erfindung eines solchen politischen Barometers gesetzt werden möchte.« 
Indessen ist wahrscheinlich, daß sich eine Wissenschaft erfinden ließe, wie man, unter gegebenen Umständen, für jedes Land den Tag, die Stunde, und den Augenblick ausrechnen könnte, wo der Staat unter einer gewissen Summe von Übeln – (die Dazwischenkunft irgend eines wohltätigen Wunderwerks ausbedungen) – einsinken müßte; und nichts ist mehr zu wünschen, als daß zum Besten des menschlichen Geschlechts ein Preis auf Erfindung eines solchen politischen Barometers gesetzt werden möchte.«
Schach-Gebal hatte, wie man vielleicht schon bemerkt haben wird, gewisse Launen, worin er, bei allem seinem Witz, Dinge zu sagen fähig war, welche seinem Oheim Schach-Baham Ehre gemacht hätten. Die Wahrheit zu sagen, er hörte zuweilen nur mit halbem Ohr, und dies war gerade, was ihm diesmal begegnete. Sobald er hörte, daß Danischmend seinen Diskurs mit einer Reflexion anfing, überließ er sich, ohne ganz unachtsam darauf zu sein, den Gedanken, die sich von ungefähr anboten, bis ihn der politische Barometer, wie ein elektrischer Schlag, auf einmal wieder zur Aufmerksamkeit weckte. Die Idee gefiel ihm. »Höre Danischmend«, rief er, »der Einfall, den du da hattest, ist vortrefflich. Wenn es nur an einem Preise liegt, so setze ich zehntausend Bahamdor für den Erfinder aus. Du kannst morgen dem Präsidenten meiner Akademie Nachricht davon geben.«
Nurmahal und Danischmend sahen einander verstohlner Weise an; aber der Ton des Sultans war zu ernstlich, als daß es ratsam gewesen wäre, ihn mit Lächeln zu beantworten. Sie zogen sich also mit Hülfe einer kleinen Grimasse so gut aus der Sache, als es in der Eile möglich war. Danischmend versicherte Seine Hoheit, der zehente Teil des versprochnen Preises werde hinlänglich sein, die Philosophen von Indostan in Tätigkeit zu setzen; und Schach-Gebal ergetzte sich nicht wenig an dem Gedanken, seine Regierung durch eine so sinnreiche und nützliche Erfindung verherrlicht zu sehen. Nach einer kleinen Weile fuhr Danischmend, auf Befehl des Sultans, in seiner Erzählung fort.
»Aus Mangel des politischen Lastenmessers, welcher das Glück gehabt hat den Beifall Ihrer Hoheit zu erhalten, läßt sich dermalen nicht genau bestimmen, wie lange Scheschian unter Isfandiars Regierung noch hätte schmachten können, wofern dieser unweise Fürst durch einen Schritt, der in den damaligen Umständen des Reichs durch nichts gerechtfertiget werden konnte, die fatale Stunde nicht selbst herbei gerufen hätte."
(Wieland: Der goldene Spiegel 2. Teil 4. Kapitel)

25 August 2017

Uwe Johnson: Jahrestage (20.-26.8.67)

Hier kann man den Beginn von Uwe Johnsons Jahrestage bestellen. Man erhält dann einen Monat lang täglich die Tageseinträge Johnsons für die Tage ab dem 20.8.1967.
Der Link: http://www.suhrkamp.de/jahrestage_1448.html

August 1967
Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen. Der straffe Überschlag, schon weißlich gestriemt, umwickelt einen runden Hohlraum Luft, der von der klaren Masse zerdrückt wird, als sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden. Die zerplatzende Woge stößt Kinder von den Füßen, wirbelt sie rundum, zerrt sie flach über den graupligen Grund. Jenseits der Brandung ziehen die Wellen die Schwimmende an ausgestreckten Händen über ihren Rücken. Der Wind ist flatterig, bei solchem drucklosen Wind ist die Ostsee in ein Plätschern ausgelaufen. Das Wort für die kurzen Wellen der Ostsee ist kabbelig gewesen.
Das Dorf liegt auf einer schmalen Nehrung vor der Küste New Jerseys, zwei Eisenbahnstunden südlich von New York. [...] (undatiert)

"[...] Sie ist jetzt vierunddreißig Jahre. Ihr Kind ist fast zehn Jahre alt. Sie lebt seit sechs Jahren in New York. In dieser Bank arbeitet sie seit 1964.
Ich stelle mir vor: Unter ihren Augen die winzigen Kerben waren heller als die gebräunte Gesichtshaut. Ihre fast schwarzen Haare, rundum kurz geschnitten, sind bleicher geworden. Sie sah verschlafen aus, sie hat seit langem mit Niemandem groß gesprochen. Sie nahm die Sonnenbrille erst ab hinter dem aufblitzenden Türflügel. Sie trägt die Sonnenbrille nie in die Haare geschoben. [...]" (21.8.1967)

"Der Zeitungsstand auf dem Broadway, an der Südwestecke der 96. Straße, ist ein grünes Zelt, herumgebaut um einen Kern aus Aluminiumkästen. Links sind die hiesigen Zeitschriften in Bahnen überlappt ausgelegt, rechts neben dem Eingang die Stapel der Tageszeitungen, rechts außen die Einfuhren aus Europa, gesichert mit verkrusteten Gewichten. Der Stand zeigt den Leuten, die um die Straßenecke leben, das Wetter an; wenn er mit Stangen und Tuch mehr Dach ansetzt, ist bald Regen zu erwarten. Der alte Mann mit der speckigen Schirmmütze, der die Morgenschicht arbeitet, nimmt sich das Recht auf seine Laune. Seine rechte Hand ist verstümmelt; er besteht aber darauf, daß die Kunden ihm das Geld zwischen die krummen Finger stecken, und jeden Morgen übt er, Münzen mit dickem Daumen aus der krüppligen Handgrube zu drücken. An diesem Morgen grüßt er nicht zurück.
Er kennt diese Kundin: sie kommt an allen Arbeitstagen um zehn Minuten nach acht aus der 96. Straße, sie bringt immer die passende Münze, sie versucht die Titelzeilen der New York Times zu lesen, wenn sie die Zeitung unter dem Gewicht hervorzupft. Sie geht meist mit leeren Händen zur Arbeit, mit der Zeitung unterm Ellenbogen läuft sie in die Ubahnstation hinunter zu immer dem selben Zug (den er gleich darauf durch die Gitter in der Mitte des Broadway einfahren hört). Sie sagt guten Morgen, als hätte sie es auf einer Schule im Norden gelernt; sie ist aber nicht im Land geboren. Der Händler kennt auch das Kind dieser Kundin vom Sonnabend, wenn beide mit dem Einkaufswagen die Straße abfahren; das Kind, ein zehnjähriges Mädchen mit einem ähnlich kugeligen Kopf, aber sandblonden, ausländischen Zöpfen, sagt guten Morgen, als hätte es das auf der 75. Schule einen Block weiter gelernt, und kommt heimlich an Sonntagmorgen, sich eine Zeitung zu holen, die ganz und gar aus gezeichneten Bilderstreifen besteht. Davon weiß die Kundin nichts, noch daß das Kind selten bezahlen muß. Die Kundin kauft keine Zeitung als die New York Times." (22.8.67)


"Im August 1931 saß Cresspahl in einem schattigen Garten an der Travemündung, mit dem Rücken zur Ostsee, und las in einer englischen Zeitung, die fünf Tage alt war.
Er war damals in seinen Vierzigen, mit schweren Knochen und einem festen Bauch über dem Gürtel, breit in den Schultern. In seinem graugrünen Manchesteranzug mit Knickerbockers sah er ländlicher aus als die Badegäste um ihn, er betrug sich vorsichtig und seine Hände waren klobig, aber der Kellner sah es, wenn er die Hand hob, und setzte ihm das Bier bald neben die Hand, nicht ohne Redensarten. Darauf antwortete Cresspahl mit leisem, vergeßlichem Knurren. Er sah an seiner zerknitterten Zeitung vorbei auf einen Tisch in der sonnigen Mitte des Gartens, an dem eine Familie aus Mecklenburg saß, jedoch in einer zerstreuten Art, als habe er seine veralteten Nachrichten satt. Er war damals füllig im Gesicht, mit trockener schon harter Haut. In der Stirn war sein langer Kopf schmaler. Sein Haar war noch hell, kurz in kleinen wirbligen Knäueln. Er hatte einen aufmerksamen, nicht deutbaren Blick, und die Lippen waren leicht vorgeschoben, wie auf dem Bild in seinem Reisepaß, den ich ihm zwanzig Jahre später gestohlen habe.
Er war vor fünf Tagen aus England abgefahren. [...] Er hatte auf der Reise noch einmal gesehen, wo er ein Kind gewesen war, wo er das Handwerk gelernt hatte, wo er zum Krieg eingezogen wurde, wo die Kapp-Putschisten ihn in einen Kartoffelkeller gesperrt hatten, wo jetzt die Nazis sich mit den Kommunisten schlugen. Er hatte nicht vor, noch einmal zu kommen. [...](23.8.67)
24. August, 1967    Donnerstag
Über Nord-Viet Nam sind fünf Kriegsflugzeuge abgeschossen worden. Siebzehn Mann sind amtlich tot im Süden, und einer von ihnen war Anthony M. Galeno aus der Bronx.
In der Bronx hat die Polizei ein Waffenlager ausgehoben, Panzerfaust, Maschinenpistole, Dynamit, Sprengpulver, Handgranaten, Gewehre, Flinten, Pistolen, Zündkapseln. Die vier Sammler, private Patrioten, wollten zunächst den Kommunisten Herbert Aptheker umbringen und dann die Nation vor ihren übrigen Feinden schützen.
Als Gesine Cresspahl im Frühjahr 1961 in diese Stadt kam, sollte es für zwei Jahre sein. Der Gepäckträger hatte das Kind auf seinen Karren gestellt und fuhr es mit Schwung durch die vergammelte Halle der Französischen Linie; das Kind nahm beide Hände auf den Rücken, als er seine ausstreckte und die Kappe abnahm. Marie war fast vier Jahre alt. Sie hatte nach sechs Tagen auf See den Mut verloren, in dem neuen Land auf den Rhein, auf den Kindergarten in Düsseldorf, auf die Großmutter zu hoffen. Gesine dachte an Marie immer noch als an »das Kind«, das Kind konnte sich kaum gegen sie wehren. Sie war besorgt, dieser Umzug könne vereitelt werden durch das Kind, das unter seinem weißen Kapotthut finster und verschüchtert gegen das Schmutzlicht der 48. Straße West blinzelte. Sie hatte zwanzig Tage Zeit, eine Wohnung zu finden, und an jedem wehrte sich das Kind gegen New York. Das Hotel fand eine deutschsprachige Aufpasserin für sie, eine steifnackige betagte Schwarzwälderin in einem teerschwarzen Kleid voller Rüschen und Knopfleisten, die mit dünnem Sopran Lieder von Uhland singen konnte, aber die Emigrantin hatte mehr von ihrem Dialekt behalten als von dem Hochdeutsch, das vor fünfundzwanzig Jahren in Freudenstadt gesprochen wurde; das Kind antwortete ihr nicht. Das Kind zog mit Gesine durch die Stadt, ließ sie nicht von der Hand, stand dicht an sie gedrückt in den Bussen und Ubahnen, wachsam bis zum Mißtrauen, und ließ sich erst im späten Nachmittag von eintönigen Fahrtbewegungen in den Schlaf tölpeln. [...]"


"Das Kind [...] mißt vier Fuß zehn Zoll. Ihre Schrift hat die Bogen und Schleifen der amerikanischen Vorlage. Beim Malnehmen schreibt sie den Multiplikator unter, nicht neben den Multiplikanden. Sie denkt in Fahrenheitgraden, in Gallonen, in Meilen. Ihr Englisch ist dem Gesines überlegen in der Artikulation, der Satzmelodie, dem Akzent. Deutsch ist für sie eine fremde Sprache, die sie aus Höflichkeit gegen die Mutter benutzt, in flachem Ton, mit amerikanisch gebildeten Vokalen, oft verlegen um ein Wort. Wenn sie achtlos Englisch spricht, versteht Gesine sie nicht immer. Wenn sie fünfzehn ist, will sie sich taufen lassen, und sie hat die Nonnen in der Privatschule am oberen Riverside Drive dazu gebracht, sie M’ri zu nennen statt Mary. Allerdings sollte sie von dieser Schule verwiesen werden, weil sie die Plakette GEHT RAUS AUS VIET NAM nicht im Unterricht abnehmen wollte. Sie steigt aus der blauen Schuluniform mit dem Wappen auf dem Herzen, sobald sie nach Hause kommt; sie hat eine Vorliebe für enge Hosen aus weißem Popelin, deren Saum sie mit einem Schälmesser abtrennt, und für Turnschuhe. Sie hat kaum eine Freundschaft aus den sechs hiesigen Jahren aufgegeben, sie spricht noch von Edmondo aus dem spanischen Harlem, der seine Gefühle schon im Kindergarten bloß mit Schlägen ausdrücken konnte und 1963 fürs Leben in eine Klinik kam. In vielen Wohnungen entlang des Riverside Drive und der West End Avenue ist sie über Nacht geblieben. Sie ist begehrt als Aufpasserin für kleine Kinder, sie ist aber streng gegen kleine Kinder, bisweilen derb. Sie hat das Ubahnsystem Manhattans im Kopf, sie könnte als Auskunftperson gehen. Was sie in ihrem Zimmer auf der Maschine schreibt, bewahrt sie auf in einer Mappe, die sie mit unfälschbaren Schleifen zubindet. Sie geht heimlich an den Kasten mit Gesines Fotografien, sie hat sich von ihrem Taschengeld ein Bild kopieren lassen, auf dem Jakob und Jöche zu sehen sind, vor der Lokomotivführerschule in Güstrow. Sie hat ihre Freunde in Düsseldorf vergessen. Westberlin kennt sie aus der Zeitung. Viele Geschäfte auf dem Broadway sind ihr tributpflichtig, Maxies mit Pfirsichen, Schustek mit Scheibenwurst, der Schnapsladen mit Kaugummi. Sie wippt in den Knien, wenn sie sich versprochen hat und gesagt, daß Neger eben Neger sind, sie wippt in den Knien und bewegt die aufgestellten Handflächen wie schiebend gegen Gesine und sagt: O. K.! O. K.! [...]
Marie sagt:
– Meine Zöpfe sind nicht deine Zöpfe, und ich schneide sie ab, wann ich will.
– Mein Großvater war wohlhabend.
– Mrs. Kellogg rasiert sich.
– Ich kann Blut sehen. Ich will Ärztin werden.
– Meine Mutter denkt, daß die Neger gleiche Rechte haben, und da hört sie auf zu denken.
– Neger haben auch einen anderen Körperbau als wir.
– Präsident Johnson ist in der Hand des Pentagons.
– James Fenimore Cooper ist der Größte.
– Mein Vater war Delegierter bei der Internationalen Fahrplankonferenz in Lissabon. Er vertrat die Deutsche Demokratische Republik.
– Düsseldorf-Lohausen ist eine Drehscheibe des internationalen Luftverkehrs.
– Meine Freunde in England schreiben mir zwölfmal im Jahr.
– Meine Mutter ist im Bankfach.
– Meine Mutter ist aus einer Kleinstadt an der Baltischen See, man muß sie das nicht fühlen lassen.
– Meine Mutter hat die schönsten Beine auf dem ganzen Fünferbus, oberhalb der 72. Straße.
– Väter haben so einen verhungernden Blick.
– Bring our boys home!
– Schwester Magdalena ist eine Sau.
– John Vliet Lindsay ist der Größte.
– Meine Mutter fliegt immer mit mir in derselben Maschine, damit wir zusammen sterben.
– Wenn John Kennedy lebte, wäre alles besser.
– Meine besten Freunde sind Pamela, Edmondo, Rebecca, Paul und Michelle, Stephen, Annie, Kathy, Ivan, Martha Johnson, David W., Paul-Erik, Bürgermeister Lindsay, Mary-Anne, Claire und Richard, Mr. Robinson, Esmeralda und Bill, Mr. Maxie Fruitmarket, Mr. Schustek, Timothy Shuldiner, Dmitri Weiszand, Jonas, D. E. und Senator Robert F. Kennedy.
– Meine Mutter kennt den schwedischen Botschafter.
– Heirate doch, aber ich will keinen Vater.
– Ich kann Spanisch besser als meine Mutter.
– Nach zwei Jahren wollte meine Mutter zurück nach Deutschland, und ich habe gesagt: Wir bleiben." (25.8.1967)


"Sie standen eine Weile gegenüber dem Haus aus gelben Steinen, um dessen Fuß ein Band exotischer Stiermuster geschlungen war. Zu wohnen an dieser Stelle schien so weit vom Griff, Gesine begann Teile ihres Geldes in Bestechungssummen aufzuteilen, sah sich in umständlichen, gefährlichen Verhandlungen.
 
Wenn ich jetzt dich vorschicken könnte
Du sagst: Es soll Ihr Schade nicht sein, mein Herr. Du sagst: Die Vorzüge dieser Wohnlage bewegen mich, mein Herr, Ihnen meine Erkenntlichkeit zu versprechen.
So hast du nie reden können.
 
Die Wohnung beginnt mit einem winzigen Flur, dessen linke Seite eine Küche in der Wand hat und mit dem wuchtigen Kühlschrank endet. Der Flur öffnet sich nach rechts in ein großes Zimmer, in dem zwei Mädchen Taschenbücher in Kartons packten, in Gesines Alter, eine mit einem dänischen, eine mit einem schweizerischen Akzent, die beide zuerst das Kind begrüßten, ernsthaft und höflich, wie eine Person. Dies Zimmer geht mit zwei Fenstern in den hellen freien Raum über der Straße, auf den Park. Nach rechts ist die Wohnung fortgesetzt mit einem kleineren Zimmer hinter Flügeltüren mit verhängten Glasscheiben, und es hat ein Fenster gegen den Park. Hier hatte die Dänin ihr Bett. Auf der anderen Seite des Flurs, neben dem Bad, das ein Fenster auf den Park hat, ist hinter einer festen Tür das frühere Zimmer der Schweizerin, mit einem Fenster auf den Park. Im Winter ist durch das kahle Geäst das Steilufer New Jerseys zu sehen, und die Breite des Flusses, dunstige Luft können die architektonische Wüste auf der anderen Seite verwischen in das Trugbild unverdorbener Landschaft, in die Einbildung von Offenheit und Ferne. Die beiden Mädchen waren Stewardessen, die nach Europa versetzt werden sollten. Sie wollten ihre Möbel zurücklassen können auf ein Jahr. Sie wollten die Wohnung gleich übergeben. Sie sollte nichts kosten als die Miete. Sie fragten Marie, ob sie hier bleiben wolle, und Marie sagte: »Yes«. Der Hausverwalter, ein schwerer förmlicher Neger mit einem strahlenden britischen Akzent, gab auf den Cent genau auf Gesines Anzahlung heraus. Die Mädchen luden zum Mittagessen ein und ließen sich beim Packen helfen und halfen die Koffer aus dem Hotel holen, und das Kind schien betrübt, als sie nachts zum Flugplatz fuhren. Die kamen nicht wieder nach einem Jahr, aber wir besuchen die Dänin in den Ferien. Wir hatten eine Wohnung, und fragten nicht weiter. " (26.8.1967)



FAZ über die Jahrestage im Rückblick 50 Jahre nach Entstehung der Chronik aus der New York Times, die einen wichtigen Teil des 4-bändigen Romans ausmacht. 

Uwe Johnson und Jahrestage im ZUM-Wiki

Kommentar zu Jahrestage

mehr zu Uwe Johnson in diesem Blogbeitrag

23 August 2017

Wieland: Zur Beurteilung des Sultans Azor (in: Der goldene Spiegel)

"Azor war weder ehrgeizig noch begierig nach dem Eigentum seiner Untertanen, weder launisch, noch hartherzig, noch grausam. Weit entfernt zu verlangen, daß seine unüberlegtesten Einfälle für Gesetze und Göttersprüche gelten sollten, oder, wie viele seines Standes, sich einzubilden, daß Scheschian bloß um seinetwillen aus dem Chaos hervorgegangen sei, und seine Untertanen für eben so viele Sklaven anzusehen, deren Glück oder Unglück, Sein oder Nichtsein, nur in so fern als es sich auf seinen Vorteil beziehe, in Betrachtung komme, – war er der leutseligste, der mitleidigste und wohltätigste Fürst seiner Zeit. Unwissenheit in den Pflichten seines Standes, Unwissenheit in der Kunst zu regieren, wollüstige Trägheit, und allzu großes Vertrauen zu seinen Günstlingen, die er als seine Wohltäter ansah, weil sie ihm die Last der Regierung abnahmen, Fehler der Erziehung, Schwachheiten des Herzens und des Temperaments, nicht Laster waren es,die ihm die Liebe seiner Völker und die Hochachtung der Nachwelt entzogen haben. Seine größten Fehler waren, daß er mit eignen Augen bloß durch fremde sah; daß seine Ohren nur angenehme Dinge hören wollten; daß er nur sprach was man ihm auf die Zunge legte; und, wenn er auch, entweder durch die natürliche Schärfe seines Geistes, oder durch die Bemühungen irgend eines ehrlichen Narren, der seinen Kopf wagte ihm die Augen zu öffnen, zuweilen eine gute Entschließung faßte, – zu viel Mißtrauen gegen seine eigenen Einsichten und zu viel Gefälligkeit für seine Günstlinge hatte, um seiner Entschließung treu zu bleiben. Indessen muß man gestehen, daß auch das Schicksal nicht ohne alle Schuld an den Fehlern seiner Regierung war. Die Gebrechen und Untugenden Azors würden wenig geschadet haben, wenn es lauter weise und tugendhafte Personen um ihn her versammelt hätte. Er würde solche Leute, wenn sie übrigens eben so witzig und unterhaltend gewesen wären als seine Günstlinge, eben so wert gehalten haben, sich ihnen eben so gänzlich überlassen haben, und Scheschian würde glücklich gewesen sein. Aber freilich zeigt uns die Geschichte des ganzen Erdkreises kein einziges Beispiel, daß ein schwacher und untätiger Fürst, durch einen Schlag mit einer Zauberrute, bei seinem Erwachen auf einmal von lauter Walsinghams und Süllys umgeben gewesen wäre, und wir sind wohl nicht berechtigt, ein solches Wunder vom Schicksal zu erwarten.«" (Wieland: Der goldene Spiegel 1. Teil 11. Kapitel)

21 August 2017

Wieland: Vom Gebrauch der Vernunft (in: Der goldene Spiegel)

Hier fiel der Sultan Danischmenden in die Rede. »Du berührst«, sagte er, »einen Punkt, über den ich schon lange gewünscht habe etwas Gewisses bei mir selbst festsetzen zu können. Es ist, wie du wohl bemerkt hast, nicht ratsam die Quelle von solchen Übeln zu verstopfen, die aus dem Mißbrauch einer Sache entstehen, wovon der Gebrauch gut ist. Und gleichwohl ist das Übel, von dem du sprichst, von einer so gefährlichen Art, daß man schlechterdings genötigt ist seinem Fortgange zu steuern. Ich möchte wohl hören, was du mir in diesem Falle zu tun raten wolltest.«
»Sire« (antwortete Danischmend), »die Frage, worüber ich meine Meinung sagen soll, hätte vorlängst besser als zwanzig andre verdient von unsrer Akademie zu einer Preisfrage gemacht zu werden. Ich unterstehe mich nicht zu sagen, daß ich die Auflösung davon gefunden habe; und mir deucht, diejenigen, welche sie so leicht finden, möchten sich wohl nie die Mühe genommen haben, ihre Tiefe zu erforschen. Doch vielleicht ist sie eine von den Fragen, deren Auflösung gar nicht einmal möglich ist, oder, welche sich wenigstens nicht anders als durch einen kühnen Schnitt auflösen lassen.
Der Fall dünkt mich dieser zu sein: Wir befinden uns zwischen zwei Übeln, wovon wir schlechterdings genötigt sind eines zu wählen; es fragt sich also, welches wir wählen sollen?
Hier, deucht mich, kann zuversichtlich als ein unstreitiger Grundsatz angenommen werden: daß in einem solchen Falle, wenn das eine Übel einen unendlichen und unheilbaren Schaden tut, das andere hingegen unter gewissen Bedingungen ins unendliche vermindert werden kann, notwendig das letztere gewählt werden müsse.
Dies vorausgesetzt kommen hier zwei Übel in Betrachtung: der Schade, der aus dem Mißbrauch der Vernunft und des Witzes, wenn ihnen völlige Freiheit gelassen wird, entspringen kann und wird; und derjenige, der daher entstehen muß, wenn diese Freiheit durch irgend eine Art von Zwangsmitteln eingeschränkt wird. Nun sage ich: Den Gebrauch der Vernunft und des Witzes in einem Staat einschränken, ist eben so viel, als Unwissenheit und Dummheit mit allen ihren Wirkungen und Folgen in dem besagten Staate verewigen, falls sich die Nation noch in einem barbarischen Zustande befindet; oder, wenn sie sich bereits zu einem gewissen Grade der Erleuchtung empor gehoben hat, sie in Gefahr setzen, von Stufe zu Stufe wieder in diese Barbarei zurück zu sinken, die den Menschen zu den übrigen Tieren herab würdiget, ja gewisser Maßen unter sie erniedriget. Denn, wie soll diese Grenzlinie, in welche man Vernunft und Witz einschränken will, gezogen werdenWer soll sie bestimmen? Was für Regeln sollen dazu festgesetzt werden? Wer soll Richter sein, ob diese Regeln in jedem vorkommenden Falle beobachtet oder überschritten werden? Wodurch will man verhindern, daß der Richter nicht seine eigene Denkungsart, seine Vorurteile, seinen persönlichen Geschmack, vielleicht auch seine Leidenschaften und besondern Absichten, zur Richtschnur oder zum Beweggrunde seiner Urteile mache? Wird die Vernunft und der Witz der Nation nicht dadurch von dem Grade der Erkenntnis oder Unwissenheit, der Redlichkeit oder Unlauterkeit des Richters, oder von der ungereimten Voraussetzung, daß ihn seine Weisheit und Rechtschaffenheit nie verlassen werde, abhängig gemacht? Wenn wir denken dürfen, warum sollten wir nicht über alles denken dürfen? Und ist denken nicht etwas andres als nachsprechen? Kann man denken ohne zu untersuchen? oder untersuchen ohne zu zweifeln? Und wenn sich dieses Recht zu zweifeln bis man untersucht hat, und zu untersuchen eh man irgend ein Urteil faßt, nicht auf alle Gegenstände erstreckt; wenn man annehmen wollte, daß es solche gebe, welche man nicht untersuchen dürfe, weil schädliche Folgen daher entspringen könnten: würde die Nation nicht immer in Gefahr schweben, daß es ihren Obern einmal einfallen könnte, die Untersuchung alles dessen für schädlich zu erklären, was sie bloß ihres eignen Vorteils wegen nicht untersucht haben wollten? Die Jahrbücher des menschlichen Geschlechts belehren uns, daß unsre Obern zuweilen Tyrannen gewesen sind, oder wenigstens schwach genug, sich von irrigen Meinungen und von Leidenschaften, eigenen oder fremden, beherrschen zu lassen. Auf welchem seichten Grunde würde demnach die öffentliche Glückseligkeit stehen, wenn es von der Willkür etlicher weniger Sterblichen abhinge, die großen Triebfedern des allgemeinen Besten der Menschheit, Vernunft und Tugend, nach ihren besondern Begriffen und Absichten einzuschränken?
Was ich von der Vernunft gesagt habe, gilt in seiner Art auch von dem Witze, dessen wichtigster Gebrauch ist, alles was in den Meinungen, Leidenschaften und Handlungen der Menschen mit der gesunden Vernunft und dem allgemeinen Gefühl des Wahren und Schönen einen Mißlaut macht, das ist, alles wasungereimt ist, als belachenswürdig darzustellen. Jede Einschränkung dieses Gebrauchs ist ein Freiheitsbrief für die Torheit, und ein stillschweigendes Geständnis, daß es ehrwürdige Narrheiten gebe. Unvermerkt würden sich noch andre Torheiten hinter diese verstecken; denn ihre Familie ist zahlreich, und manche sehen einander so ähnlich, daß es sehr leicht ist eine für die andere anzusehen. Was anders würde also aus der Einschränkung der Vernunft und des Witzes erfolgen, als daß, unter dem bleiernen Zepter der Dummheit, Aberglaube und Schwärmerei, Tyrannei über Seelen und Leiber, Verfinsterung der Vernunft, Verderbnis des Herzens, Ungeschliffenheit der Sitten, und zuletzt allgemeine Barbarei und Wildheit die Oberhand gewinnen würden?
Und dies würde nicht etwa bloß eine zufällige Folge, es würde die notwendige und unvermeidlicheWirkung davon sein, wenn man den freien Lauf der Vernunft und des Witzes hemmen, und es in die Gewalt einzelner Personen geben wollte, den Zügel, womit man sie gefesselt hätte, nach ihrem Gutbefinden anzuziehen oder nachzulassen.
Nun lassen Sie uns auf der andern Seite sehen, ob der Schaden, welchen man von dieser Freiheit zu besorgen hat, so beträchtlich ist, daß er gegen den Schaden ihrer Unterdrückung in Betrachtung kommen kann; und ob er nicht vielmehr unter gewissen Bedingungen sich nach und nach ins unendliche vermindern muß?
Es ist wahr, die Freiheit der Vernunft, des Witzes, der Einbildungskraft, und dessen was man Laune nennt, kann und wird zuweilen gemißbraucht werden, um Weisheit und Tugend selbst in ein falsches Licht zu stellen, und vielleicht die ehrwürdigsten Gegenstände, um unwesentlicher Gebrechen willen, lächerlich zu machen. Man hat überdies einige Beispiele, daß etwas ungereimt Scheinendes bei anwachsender Einsicht wahr befunden worden, und also aufgehört hat ungereimt zu sein. Es ist also möglich, daß die Freiheit, welche dem Mutwillen des Witzes gelassen würde, den Fortgang der Wahrheit selbst aufhalten könnte. Aber alle diese Übel, so groß man sie auch immer sich einbilden mag, sind zufällig und selten; der Nachteil, den sie der menschlichen Gesellschaft bringen können, wird durch tausend entgegen wirkende Ursachen teils verhütet, teils unmerklich gemacht, und, was das wichtigste ist, er muß, vermöge der Natur der Sache, immer abnehmen. Der Krieg zwischen Vernunft und Witz, und ihren ewigen Feinden Unverstand und Dummheit, ist ein Übel wie alle andre Kriege. Er bringt zwar zufälliger Weise allerlei schädliche Ausbrüche hervor, und es sind immer viele, die auf diese oder jene Weise darunter leiden: aber er ist ein notwendiges Übel, welches durch seine Folgen das größte Gut befördert. Jede neue Eroberung, die von jenen über diese gemacht wird, schwächt den Feind, befestigt die rechtmäßige Oberherrschaft, und beschleuniget den Anbruch jener glückseligen Zeiten, deren Unmöglichkeit noch niemand bewiesen hat, und welche (wenn es auch unwahrscheinlich wäre, daß sie jemals kommen würden) dennoch das große Ziel aller Freunde der Menschheit sein müssen; der Zeiten, wo Polizei, Religion und Sitten, Vernunft, Witz und Geschmack einträchtig zusammen wirken werden, die menschliche Gattung glücklich zu machen.« (Wieland: Der goldene Spiegel 1. Teil Kapitel 10)

Wieland: Von der Regierungszeit König Azors (in: Der goldene Spiegel)

Azor, ein Sohn der schönen Lili, bestieg nach dem Tode seines namenlosen Vaters den Thron unter den glücklichsten Vorbedeutungen. Er war der schönste junge Prinz seiner Zeiten, einnehmend in seinem Bezeigen, sanft von Gemütsart, geneigt Vergnügen zu machen, und sich denjenigen völlig zu überlassen, welche die Werkzeuge des seinigen waren. Das Volk, gewohnt von allem nach dem Eindrucke der auf seine Sinne gemacht wird, zu urteilen, erwartete von der Regierung eines so guten Prinzen goldne Zeiten, und hatte unrecht; es betete ihn zum voraus deswegen an, und hatte unrecht; es hassete und verachtete ihn zwanzig Jahre hernach eben so unmäßig als es ihn geliebt hatte, und hatte sehr unrecht.« [...]
»Der junge Azor war wie die meisten Menschen (Prinzen oder nicht) mit einer Anlage geboren, aus welcher, unter den bildenden Händen eines Weisen, ein vortrefflicher Privatmann, und vielleicht sogar ein guter König hätte hervorkommen mögen. Freilich war er keiner von diesen mächtigen und seltnen Geistern, die sich selbst bilden; die mitten unter einer rohen oder verderbten Nation, in einem unglücklichen Zeitalter, ohne einen andern Anführer oder Gehülfen als ihren eigenen Genius, die Wege der Unsterblichkeit gehen, durch die natürliche Erhabenheit und Scharfsicht ihres Geistes den ganzen Umkreis der menschlichen Angelegenheiten übersehen, und, kurz, die großen Grundregeln einer weisen Regierung in ihrem eigenen Verstande, so wie in ihrem Herzen das Urbild jeder königlichen Tugend finden.« »Allergnädigster Herr«, sagte Danischmend, »ich bitte um Vergebung; aber es ist mir unmöglich, die schöne Nurmahal nicht zu unterbrechen. Der Verfasser, aus dem sie diese prächtige Periode entlehnt hat, glaubte vermutlich etwas sehr Schönes gesagt zu haben; aber es ist bloßer Schall. Es gibt keine so wundervolle Menschen als er uns bereden will; und Prinzen sind, bei allen ihren Vorteilen vor uns andern, im Grunde doch, wie man sagen möchte, nur eine Art von – Menschen. Um der menschlichen Natur und dem guten Sultan Azor das gebührende Recht angedeihen zu lassen, wollen wir lieber ohne alle Wörterpracht heraus sagen: Er befand sich nicht in den glücklichen Umständen, welche sich vereinigen müssen, um aus einem jungen Prinzen von der besten Anlage einen vortrefflichen Fürsten zu bilden. So war es in der Tat; und ich bin erbötig im Notfall gegen die ganze Akademie von Dely zu behaupten: Daß von Erschaffung der Welt an (welches schon lange sein mag) kein einziger großer Mann gelebt hat, der sich ohne Anführer, ohne Beispiele, und ohne Gehülfen, bloß durch die Stärke seines eigenen Genius gebildet hätte.« [...]
Man kann aus dieser Probe sicher schließen, wie gut er in den Pflichten, die mit dieser Krone verbunden waren, müsse unterrichtet gewesen sein. In der Tat waren diese Pflichten für Personen, welche einen so angenehmen Gebrauch von ihrem Leben zu machen wußten, als man es an dem Hofe zu Scheschian gewohnt war, allzu beschwerlich, als daß nicht ein jedes, das man damit beladen wollte, geeilet haben sollte, sich einer so mühsamen Bürde so bald nur immer möglich wieder auf die Schultern einer andern Person zu entledigen. Der junge König überließ den größten Teil davon seiner Mutter; seine Mutter ihrem Günstlinge; der Günstling seinem ersten Sekretär; der erste Sekretär seiner Mätresse; die Mätresse einem Bonzen, welcher, unter dem Vorwand an ihrer Seele zu arbeiten, Gelegenheit fand sich sehr tief in die Angelegenheiten der Welt zu mischen, und endlich eine große Rolle zu spielen, ohne einen andern Beruf dazu zu haben, als einen lächerlichen Ehrgeiz, und die Neigung zum Ränkeschmieden, die damals ein unterscheidendes Merkmal der Personen seines Standes in Scheschian war. [...]
»Die Pflichten eines Königs also, sind: Einem jeden sein Recht so bald und so wohlfeil als möglich widerfahren zu lassen, und alle Ungerechtigkeiten, die er nicht verhindern kann, zu bestrafen; die tauglichsten Personen zu den öffentlichen Ehrenstellen und Ämtern zu befördern; die Verdienste zu belohnen; die Staatseinkünfte weislich anzuwenden; und seinen Völkern sowohl innerliche Ruhe als Sicherheit vor auswärtigen Feinden zu verschaffen. [...]
Die Natur bildet (ordentlicher Weise wenigstens) keine Fürsten; dies ist ein Werk der Kunst, und ohne Zweifel ihr höchstes und vollkommenstes Werk: aber man hatte sich begnügt den guten Azor zu einem liebenswürdigen Edelmanne zu bilden. Da er also genötigt war, seine wichtigsten Geschäfte andern zu übertragen, und da es unmöglich ist, ohne die Kenntnisse, welche ihm mangelten, eine gute Wahl zu treffen: wie konnte sich Azor, jung und unerfahren wie er war, anders helfen, als sie denjenigen zu überlassen, von denen er am günstigsten dachte, weil sie die meiste Gewalt über sein Herz hatten? [...]
Was diejenigen, denen das gemeine Wohl zu Herzen ging, am empfindlichsten beleidigte, war die Gleichgültigkeit des Hofes bei solchen Zufällen, wodurch ganze Provinzen, in den kläglichsten Notstand gesetzt wurden. In einigen richtete, zum Exempel, das Austreten gewisser Flüsse von Zeit zu Zeit die schrecklichsten Verwüstungen an. In andern hatte der Mißwachs, aus Mangel gehöriger Vorsorge und Polizei, Hunger und Seuchen veranlaßt, wodurch ganze Gegenden zum Grabe ihrer elenden Bewohner wurden. Die Hälfte der Unkosten, welche man während dieser öffentlichen Not auf die gewöhnlichen und auf außerordentliche Hoflustbarkeiten verwendete, wäre hinlänglich gewesen, allem diesem Elende zuvorzukommen; [...]
Aber weder Azor noch Alabanda wußten, daß diese hunderttausend Unzen Silbers, die an einem einzigen Feste in mutwilliger Üppigkeit verschwendet wurden, den Wert des Brotes ausmachten, welches an eben diesem Tage zweimal hunderttausend Familien hätte sättigen sollen, wenn es nicht mit einer unmenschlichen Hartherzigkeit diesen von Arbeit, Kummer und Dürftigkeit entkräfteten Menschen, und ihren vor Hunger weinenden Kindern, aus dem Munde gerissen worden wäre, um von demjenigen, der sich ihren allgemeinen Vater nennen ließ, in Sardanapalischen Gastmälern verzehrt, und unter die Genossen und Werkzeuge seiner tyrannischen Ausschweifungen verteilt zu werden.«

»Dies ist ein so abscheulicher Gedanke«, rief Schach-Gebal, »daß ich lieber heute noch in die Kutte eines Derwischen kriechen, oder, wie ein gewisser König, sieben Jahre lang ein Ochse sein und Gras fressen, als länger Sultan bleiben wollte, wenn ich Ursache hätte zu glauben, daß ich mich in diesem Falle befinden könnte.« Nach einer so nachdrucksvollen Erklärung würde es nicht nur sehr unhöflich, sondern wirklich grausam gewesen sein, dem guten Sultan zu entdecken, daß er sich schon oft in diesem Falle befunden habe. Man versicherte ihn also einhellig des Gegenteils, mit dem gebührenden Dank für diese abermalige Probe seiner Menschlichkeit, [...] (Wieland: Der goldene Spiegel Kapitel 7 bis Kapitel 10)

Wieland: Ratschläge für den Herrscher (in: Der goldene Spiegel)

"Was sollen wir tun, damit die äußerste Verfeinerung der Künste, des Geschmacks, der Leidenschaften, der Sitten und der Lebensart, mit Einem Worte, der Luxus, einer großen Nation so wenig als möglich schade? – Die Natur, Madam, zeigt uns gegen jedes Übel, dem sie uns unterwürfig gemacht hat, auch ein zulängliches Mittel. Sollte es in diesem Fall anders sein? Ich denke, nein. Wenn wir den größten und nützlichsten, folglich den wichtigsten Teil der Nation vor der Ansteckung bewahren können, so haben wir sehr viel, und in der Tat alles getan, was man von einer[76] weisen Regierung fodern kann. Zu gutem Glücke ist nichts leichter. Der größte Teil der Nation von Scheschian ist derjenige, der zum Ackerbau und zur Landwirtschaft bestimmt ist. Die Natur selbst, in deren Schoß er lebt, erleichtert uns die Mühe unendlich; wir haben beinahe nichts zu tun, als ihr nicht vorsetzlich entgegen zu arbeiten. Lassen Sie diese guten Leute ihres Daseins froh werden. Geben Sie nicht zu, daß sich alle übrige Stände unter unzähligen Vorwänden vereinigen, sie auszurauben und zu unterdrücken; daß das unersättliche Geschlecht der Pachter und Einzieher der königlichen Einkünfte, daß Beamte, Richter, Prokuratoren und Sachwalter, Edelleute, Bonzen und Bettler, so unbescheiden und unbarmherzig an ihnen saugen, bis ihnen nur die Haut auf den Knochen übrig bleibt. Lassen Sie dieser unentbehrlichsten und unschuldigsten Klasse von Menschen so viel von den Früchten ihrer Arbeit, daß sie mit frohem Mut arbeiten, daß sie Zeit zur Ruhe, Zeit zu ihren ländlichen Festen und Ergetzungen übrig haben. Wenn allzu großer Überfluß auch diesem Stande, wie allen übrigen, schädlich ist: so lassen Sie uns nicht vergessen, daß zu wenige oder ungesunde Nahrung, daß Mangel an aller Gemächlichkeit, daß Nacktheit, Kummer und Elend ihm ungleich verderblicher sind. Stimmen wir immer die Glückseligkeit unsers Landvolkes um etliche Grade tiefer herab als die Glückseligkeit der Kinder der Natur war; aber lassen wir ihnen so viel, daß es ihnen, ohne alles natürliche Gefühl verloren zu haben, möglich sei mit ihrem Zustande zufrieden zu sein. Unter uns gesagt, schöne Lili, das sind wir ihnen schuldig, in einem unendliche Mal verbindlichern Grade schuldig, als wir es sind unsre Spielschulden zu bezahlen. Aber wenn dies auch nicht wäre, so sind wir es dem Staate, dem ganzen Scheschian schuldig. Denn es gibt kein anderes Mittel (ich fordre alle Ihre Staatskünstler, Goldmacher und Projektmacher heraus, mir ein andres zu nennen), den allgemeinen Wohlstand eines großen Reiches auf einen festen Grund zu setzen als dieses. Wenn das Landvolk Ursache hat zufrieden zu sein, so verlassen Sie Sich wegen des übrigen auf die Zauberei der Natur. Sie hat für unverdorbene Sinne Reizungen, deren Macht unsern ausgearteten unbegreiflich ist. [...] 

Sie sehen, schöne Lili, wie wenig das Glück der zwei besten Dritteile von Scheschians Einwohnern dem Sultan unserm Herrn kosten wird. Ich verlange nichts für sie, als Sicherheit bei ihrem Eigentum, und Schutz vor Unterdrückung; die Natur hat alles übrige auf sich genommen.  [...] 
Die Vorteile davon werden sich auf mehr als Eine Weise auch über den angesteckten Teil verbreiten. Von Zeit zu Zeit werden unsre Großen, werden die reichen und üppigen Bewohner der Hauptstädte, von Überdruß, langer Weile, und von der Notwendigkeit eine abgenützte Gesundheit auszubessern, aufs Land geführt werden; unvermerkt werden sie Geschmack an den einfältigen, aber mit der menschlichen Natur so fein zusammen gestimmten Freuden des Landlebens gewinnen; unvermerkt werden sie eine Menge von Vorurteilen und die dicke Haut der Fühllosigkeit, die sich gleichsam um ihr Herz gezogen hatte, abstreifen; sie werden sich mit neuen Bildern und nützlichen Wahrnehmungen bereichert sehen,  [...] 
Noch mehr. Die Natur ist fruchtbar. Das Landvolk, sobald es nach seiner Weise glücklich ist, vermehrt sich ins unendliche. Das Land wird eine unerschöpfliche Quelle, woraus die Städte (und bei Gelegenheit vielleicht auch der Adel) mit gesundem frischem Blute wieder angeschwellt werden, welches den Staat in immer währender Jugend und Stärke erhält. Aus den jungen Schwärmen, welche diese Bienenstöcke ausstoßen, werden sich die übrigen Stände ergänzen, und so werden die Verheerungen, die der Luxus anrichtet, beinahe unmerklich bleiben." (Wieland: Der goldene Spiegel 1. Teil 6. Kapitel)

15 August 2017

Wieland: Die Geschichte vom Emir 3. Teil - Von der Lebensweise des Volkes (in: Der goldene Spiegel)

»Die Sittenlehre deines – wie heißt er? ist eine vortreffliche Sittenlehre«, sagte der Sultan zu Danischmenden: »ich habe gut auf sie geschlafen! Aber itzt würdest du mir, weil ich noch keine Lust zu schlafen habe, einen Gefallen tun, wenn du deine Erzählung ohne weitere Sittenlehre zu Ende bringen wolltest.«
Danischmend antwortete wie es einem demütigen Sklaven zusteht, und setzte seine Erzählung also fort.
»›Dieses‹, sagte der Alte, indem er seine Täfelchen wieder zusammen legte, ›sind die Grundsätze, nach welchen wir leben. Wir ziehen sie, so zu sagen, mit der Milch unsrer Mütter ein, und durch Beispiel und Gewohnheit müßten sie uns zur andern Natur werden, wenn sie auch an sich selbst der Natur nicht so ganz gemäß wären als sie es sind. Kannst du dich nun noch länger wundern, daß ich in einem Alter von achtzig Jahren fähig bin meinen Anteil an den Vergnügungen des Lebens zu nehmen? [...]
›Den übrigen Teil unsrer Gesetzgebung‹, fuhr der Alte fort, ›welcher unsre Polizei betrifft, werde ich dir am besten durch eine Beschreibung unsrer Lebensart und unsrer Sitten begreiflich machen. Unsre kleine Nation, welche ungefähr aus fünfhundert Stammfamilien besteht, lebt in einer vollkommenen Gleichheit; indem wir keines andern Unterschiedes bedürfen, als den die Natur selbst, die das Mannigfaltige liebt, unter den Menschen macht.[...]
Wir nähren und bekleiden uns von unsern eigenen Produkten, und das Wenige, was uns abgeht, tauschen wir von den benachbarten Beduinen gegen unsern Überfluß ein. Unsrer Jugend überlassen wir die Sorge für die Herden. Vom zwölften bis zum zwanzigsten Jahre sind alle unsre Knaben Hirten, alle unsre Mädchen Schäferinnen, denn der weise Psammis urteilte, daß dieses die natürlichste Beschäftigung für das Alter der Begeisterung und der empfindsamen Liebe sei. Der Ackerbau beschäftigt die Männer vom zwanzigsten bis zum sechzigsten Jahre; und die Gärtnerei ist den Alten überlassen, welche darin von den Jünglingen der mühsamsten Arbeiten überhoben werden. Der Seidenbau, die Verarbeitung der Baumwolle und Seide, die Wartung der Blumen, und die ganze innere Haushaltung gehört unsern Frauen und Töchtern zu. Jede Familie lebt so lange beisammen, als die gemeinschaftliche Wohnung sie fassen und das väterliche Gut sie ernähren kann. Geht dieses nicht mehr an, so wird eine junge Kolonie errichtet, die sich in einem benachbarten Tale anpflanzt. Denn die Araber (deren Schutz wir mit einem mäßigen Tribut erkaufen, und welche die Natur in uns um so mehr zu ehren scheinen, als es ihnen wenig nützen würde uns auszurotten) haben uns einen größern Umfang von Land überlassen, als wir in etlichen Jahrhunderten bevölkern werden. [Hervorhebung von Fontanefan] [...]
Unsre Kinder werden vom dritten bis zum achten Jahre größten Teils sich selbst, das ist, der Erziehung der Natur überlassen. Vom achten bis zum zwölften empfangen sie so viel Unterricht, als sie vonnöten haben, um als Mitglieder unsrer Gesellschaft glücklich zu sein. Wenn sie richtig genug empfinden und denken, um unsre Verfassung für die beste aller möglichen zu halten, so sind sie gelehrt genug. Jeder höhere Grad von Verfeinerung würde ihnen unnütze sein. Mit Antritt des vierzehnten Jahres empfängt jeder angehende Jüngling die Gesetze des weisen Psammis; er gelobet vor den Bildern der Huldgöttinnen, ihnen getreu zu sein; und dieses Gelübde wiederholt er im zwanzigsten, da er mit dem Mädchen, welches er in seinem Hirtenstande geliebt hat, vermählt wird. Denn die Liebe allein stiftet unsre Heiraten. Im dreißigsten Jahr ist ein jeder verbunden, zu seiner ersten Frau die zweite, und im vierzigsten die dritte zu nehmen, wofern er nicht hinlängliche Ursachen dagegen anführen kann, wovon wir kein Beispiel haben. Diese Vorsicht war vonnöten, weil die natürliche Proportion in der Anzahl der Jünglinge und Mädchen durch Verschickung eines Teils der ersten beträchtlich vermindert wird. Wir haben Sklaven und Sklavinnen; aber mehr zum Vergnügen, als um einen andern Nutzen von ihnen zu ziehen. Wir erkaufen sie in ihrer ersten Jugend von den Beduinen; eine untadelige Schönheit ist alles worauf wir dabei sehen. Wir erziehen sie wie unsre eigenen Kinder; sie genießen des Lebens so gut als wir selbst; ihre Kinder sind frei, und sie selbst sind es von dem Augenblick an, da sie uns verlassen wollen. Sie sind in nichts als in ihrer Kleidung von uns unterschieden, welche zierlicher ist als die unsrige; und das einzige Vorrecht, welches wir uns über sie heraus nehmen, ist, daß sie uns bedienen wenn wir ruhen, und daß ihre vornehmste Beschäftigung ist uns Vergnügen zu machen. [...]
Sind wir zu tadeln, daß wir uns nicht aus allen Kräften der Natur entgegen setzen, die uns glücklich machen will?‹ [...]
Kaum hatten sie hier auf einem Sofa, der rings herum lief, Platz genommen, so sah sich der Alte von einer Menge schöner Enkel umgeben, die, wie schwärmende Bienen, um ihn her wimmelten, ihn zu grüßen und an seinen Liebkosungen Anteil zu haben. Die kleinsten wurden von liebenswürdigen Müttern herbei getragen, unter denen keine war, die in ihrem einfachen und reizend nachlässigen Putze, die weiten Ärmel von ihren schneeweißen Armen zurück geschlagen, und ihren holdseligen Knaben an den leicht bedeckten Busen gelehnt, nicht das schönste Bild einer Liebesgöttin dargestellt hätte. [...]
Der Kontrast des hohen Alters mit der Kindheit, durch die sichtbare Verjüngerung des einen und die liebkosende Zärtlichkeit der andern, und durch eine Menge kleiner Schattierungen, die sich besser empfinden als beschreiben lassen, gemildert; das gesunde und fröhliche Aussehen dieses Greises; die Aufheiterung seiner ehrwürdigen Stirne; das stille Entzücken, das sich beim Anblick so vieler glücklichen Geschöpfe, in denen er sich selbst vervielfacht sah, über alle seine Züge ausgoß; die liebreiche Gefälligkeit, mit welcher er ihre beunruhigende Lebhaftigkeit ertrug, oder womit er die kleinsten auf den Armen der schönen Mütter mit seinen weißen Haaren spielen ließ; – alles zusammen machte ein lebendiges Gemälde, dessen Anblick die Güte der Moral des weisen Psammis besser bewies als die scharfsinnigsten Vernunftsgründe hätten tun können. 
Der Emir selbst, so sehr die ungestüme Herrschaft einer groben Sinnlichkeit die sanftern und edlern Gefühle der Natur in ihm erdrückt hatte, fühlte bei diesem Anblick sein verhärtetes Herz weicher werden, und ein flüchtiger Schimmer von Vergnügen fuhr über sein Gesicht hin; ein Vergnügen, gleich dem himmlischen Lichtstrahl, der plötzlich in den nachtvollen Abgrund einfallend, den verdammten Seelen einen flüchtigen Blick in die ewigen Wohnungen der Liebe und der Wonne gestatten würde, um die Qual ihrer Verzweiflung vollkommen zu machen.
(Der goldene Spiegel 1. Teil 5. Kapitel)

Wieland: Die Geschichte vom Emir 2. Teil - Die Lehren des Psammis (in: Der goldene Spiegel)

Am nächsten Tag hat sich der Emir so weit über seine mangelnde Fähigkeit, sich mit dem Mädchen zu vergnügen, beruhigt, dass er daran geht, sich zu erkundigen, woher es kommt, dass der achtzigjährige Greis so munter und lebendig ist, während es ihm an Lebenskraft fehlt:


 Ich bitte dich, erkläre mir dieses Rätsel. Was für ein Geheimnis besitzest du, welches solche Wunder wirken kann?‹
›Ich kann dir mein Geheimnis mit drei Worten sagen‹, erwiderte der Alte lächelnd: ›Arbeit, Vergnügen und Ruhe, jedes in kleinem Maße, zu gleichen Teilen vermischt, und nach dem Winke der Natur abgewechselt, wirken dieses Wunder, wie du es zu nennen beliebst, auf die begreiflichste Weise von der Welt. Eine nicht unangenehme Mattigkeit ist der Wink, den uns die Natur gibt, unsre Arbeit mit Ergetzungen zu unterbrechen, und ein ähnlicher Wink erinnert uns von beiden auszuruhen. Die Arbeit unterhält den Geschmack an den Vergnügungen der Natur, und das Vermögen sie zu genießen; und nur derjenige, für den ihre reinen untadelhaften Wollüste allen Reiz verloren haben, ist unglücklich genug, bei erkünstelten eine Befriedigung zu suchen, welche sie ihm nie gewähren werden. Lerne an mir, werter Fremdling, wie glücklich der Gehorsam gegen die Natur macht. Sie belohnt uns dafür mit dem Genuß ihrer besten Gaben. Mein ganzes Leben ist eine lange, selten unterbrochne Kette von angenehmen Augenblicken gewesen; denn die Arbeit selbst, eine unsern Kräften angemessene und von keinen verbitternden Umständen begleitete Arbeit, ist mit einer Art von sanfter Wollust verbunden, deren wohltätige Einflüsse sich über unser ganzes Wesen verbreiten. [...]
›Eine alte Überlieferung sagt uns, daß unsre Vorfahren von griechischer Abkunft gewesen, und durch einen Zufall, an dessen Umständen dir nichts gelegen sein kann, vor einigen Jahrhunderten in diese Gebirge geworfen worden. Sie pflanzten sich in diesen angenehmen Tälern an, welche die Natur dazu bestimmt zu haben scheint, eine kleine Anzahl von Glücklichen vor der Mißgunst und den ansteckenden Sitten der übrigen Sterblichen zu verbergen. Hier lebten sie, in zufriedener Einschränkung in den engen Kreis der Bedürfnisse der Natur, dem Anschein nach so armselig, daß selbst die benachbarten Beduinen sich um ihr Dasein wenig zu bekümmern schienen. Die Zeit löschte nach und nach den größten Teil der Merkmale ihres Ursprungs aus; ihre Sprache verlor sich in die arabische; ihre Religion artete in einige abergläubische Gebräuche aus, von welchen sie selbst keinen Grund anzugeben wußten; und von den Künsten, die der griechischen Nation einen unverlierbaren Rang über alle übrige gegeben haben, blieb ihnen nur die Liebe zur Musik, und ein gewisser angeborner Hang zum Schönen und zu geselligen Vergnügungen, welcher die Grundlage abgab, worauf der weise Gesetzgeber ihrer Nachkommen einen kleinen Staat von glückseligen Menschen aufzuführen wußte. [...]
Er fand unsre kleine Nation fähig, glücklich zu sein; ›und Menschen‹, sagte er zu sich selbst, ›welche etliche Jahrhunderte sich an dem Unentbehrlichen begnügen lassen konnten, verdienen es zu sein: ich will sie glücklich machen.‹ Er verbarg sein Vorhaben eine geraume Zeit, weil er weislich glaubte, daß er die ersten Eindrücke durch sein Beispiel machen müsse. Er pflanzte sich unter uns an, lebte in seinem Hause so, wie du uns hast leben gesehen, machte unsre Leute mit Bequemlichkeiten und Vergnügungen bekannt, die ihre Begierden reizen mußten, und kaum ward er gewahr daß er diesen Zweck erhalten habe, so legte er die Hand an seinen großen Entwurf. Ein Freund, der ihn begleitet hatte und von allen schönen Künsten in einem hohen Grade der Vollkommenheit Meister war, half ihm die Ausführung beschleunigen. Viele von unsern Jünglingen, nachdem sie die nötige Vorbereitung von ihnen erhalten hatten, arbeiteten unter ihrer Aufsicht mit unbeschreiblicher Begeisterung. Wilde Gegenden wurden angebaut; künstliche Wiesen und Gärten voll fruchttragender Bäume blühten in Gegenden hervor, die mit Disteln und Heidekraut bedeckt gewesen waren; und Felsen wurden mit neu gepflanzten Weinreben beschattet. [...]
Jeder von uns empfängt beim Antritt seines vierzehnten Jahres, an dem Tage, da er in dem Tempel der Huldgöttinnen das Gelübde tun muß, der Natur gemäß zu leben, einige Täfelchen aus Ebenholz, auf welchen diese Sittenlehre mit goldnen Buchstaben geschrieben ist. Wir tragen sie immer bei uns, und sehen sie als ein Heiligtum und gleichsam als den Talisman an, an welchen unsre Glückseligkeit gebunden ist. Wer sich unterfinge andre Grundsätze einführen zu wollen, würde als ein Vergifter unsrer Sitten und als ein Zerstörer unsers Wohlstandes auf ewig aus unsern Grenzen verbannt werden. Höre, wenn es dir gefällt, was ich dir davon vorlesen will.   ›Das Wesen der Wesen‹, so spricht Psammis im Eingange seiner Gesetze, ›welches, unsichtbar unsern Augen und unbegreiflich unserm Verstande, uns sein Dasein nur durch Wohltaten zu empfinden gibt, bedarf unser nicht, und fodert keine andre Erkenntlichkeit von uns, als daß wir uns glücklich machen lassen. Die Natur, die zu unsrer allgemeinen Mutter und Pflegerin von Ihm bestellt ist, flößet uns mit den ersten Empfindungen auch die Triebe ein, von deren Mäßigung und Übereinstimmung unsre Glückseligkeit abhängt. Ihre Stimme ist es, die durch den Mund ihres Psammis mit euch redet; seine Gesetze sind keine andern als die ihrigen. Sie will, daß ihr eures Daseins froh werdet. Freude ist der letzte Wunsch aller empfindenden Wesen: sie ist dem Menschen, was Luft und Sonnenschein den Pflanzen ist. Durch süßes Lächeln kündigt sie die erste Entwicklung der Menschheit im Säugling an, und ihr Abschied ist der Vorbote der Auflösung unsers Wesens. Liebe und gegenseitiges Wohlwollen sind ihre reichsten und lautersten Quellen: Unschuld des Herzens und der Sitten das sanfte Ufer, in welchem sie dahin fließen.
Diese wohltätigen Ausflüsse der Gottheit sind es, was ihr unter den Bildern vorgestellt sehet, denen euer gemeinschaftlicher Tempel heilig ist. Betrachtet sie als Sinnbilder der Liebe, der Unschuld und der Freude. So oft der Frühling wieder kommt, so oft Ernte und Herbst angehen und geendigt sind, und an jedem andern festlichen Tage versammelt euch in dem Myrtenhaine; bestreuet den Tempel mit Rosen, und kränzet diese holden Bilder mit frischen Blumen; erneuert vor ihnen das unverletzliche Gelübde, der Natur getreu zu bleiben; umarmet einander unter diesen Gelübden, und die Jugend beschließe das Fest, unter den frohen Augen der Alten, mit Tänzen und Gesang. Die junge Schäferin, wenn ihr Herz aus dem langen Traume der Kindheit zu erwachen beginnt, schleiche sich einsam in den Myrtenhain, und opfre der Liebe die ersten Seufzer, die ihren sanften Busen heben; die junge Mutter mit dem lächelnden Säugling im Arme wandle oft hierher, ihn zu den Füßen der holden Göttinnen in süßen Schlummer zu singen.
Höret mich, ihr Kinder der Natur! – denn diesen und keinen andern Namen soll euer Volk künftig führen.
Die Natur hat alle eure Sinne, hat jedes Fäserchen des wundervollen Gewebes eures Wesens, hat euer Gehirn und euer Herz zu Werkzeugen des Vergnügens gemacht. Konnte sie euch vernehmlicher sagen, wozu sie euch geschaffen hat?
Wär es möglich gewesen, euch des Vergnügens fähig zu machen, ohne daß ihr auch des Schmerzesfähig sein mußtet, so – würde es geschehen sein. Aber so viel möglich war hat sie dem Schmerz[58] den Zugang zu euch verschlossen. Solang ihr ihren Gesetzen folget, wird er eure Wonne selten unterbrechen; noch mehr, er wird euer Gefühl für jedes Vergnügen schärfen, und dadurch zu einer Wohltat werden; er wird in euerm Leben sein was der Schatten in einer schönen sonnigen Landschaft, was die Dissonanz in einer Symphonie, was das Salz an euern Speisen.
Alles Gute löset sich in Vergnügen auf, alles Böse in Schmerz. Aber der höchste Schmerz ist das Gefühl sich selbst unglücklich gemacht zu haben‹, – (hier holte der Emir einen tiefen Seufzer) – ›und die höchste Lustdas heitre Zurücksehen in ein wohl gebrauchtes, von keiner Reu beflecktes Leben.

Niemals möge unter euch, ihr Kinder der Natur, das Ungeheuer geboren werden, das eine Freude darin findet, andre leiden zu sehen, oder unfähig ist sich ihrer Freude zu erfreuen! Nein, ein so unnatürliches Mißgeschöpf kann nicht zum Vorschein kommen, wo Unschuld und Liebe sich vereinigen, den Geist der Wonne über alles was atmet auszugießen. Freuet euch, meine Kinder, eures Daseins, eurer Menschheit; genießet, so viel möglich, jeden Augenblick eures Lebens: aber vergesset nie, daß ohne Mäßigung auch die natürlichsten Begierden zu Quellen des Schmerzes, durch Übermaß die reineste Wollust zu einem Gifte wird, das den Keim eures künftigen Vergnügens zernaget. Mäßigung und freiwillige Enthaltung ist das sicherste Verwahrungsmittel gegen Überdruß und Erschlaffung. Mäßigung ist Weisheit, und nur dem Weisen ist es gegönnt, den Becher der reinen Wollust, den die Natur jedem Sterblichen voll einschenkt, bis auf den letzten Tropfen auszuschlürfen. Der Weise versagt sich zuweilen ein gegenwärtiges Vergnügen, nicht weil er ein Feind der Freude ist, oder aus alberner Furcht vor irgend einem gehässigen Dämon, der darüber zürnte wenn sich die Menschen freuen; sondern, um durch seine Enthaltung sich auf die Zukunft zu einem desto vollkommnern Genusse des Vergnügens aufzusparen. [...]
Psammis hat euch neue Quellen angenehmer Empfindungen mitgeteilt: durch ihn genießet ihr, von der täglichen Arbeit ermüdet, einer wollüstigen Ruhe; durch ihn ergetzen liebliche Früchte, in diesen fremden Boden verpflanzt, euern Gaumen; durch ihn begeistert euch der Wein, zu höherer Fröhlichkeit, zu offenherzigem Geschwätze und geistreichem Scherz, ohne welche dem geselligen Gastmahle seine beste Würze fehlt. In der Liebe, die ihr nur unter der niedrigen Gestalt des Bedürfnisses kanntet, hat er euch die Seele des Lebens, die Quelle der schönsten Begeisterung und der reinsten Wollust des Herzens bekannt gemacht. O meine Kinder! welche Lust, welches angenehme Gefühl sollt ich euch versagen? Keines, gewiß keines das euch die Natur zugedacht hat! Ungleich den schwülstigen Afterweisen, welche den Menschenzerstören wollen, um – eitles lächerliches Bestreben! – einen Gott aus seinen Trümmern hervor zu ziehen! Ich empfehle euch die Mäßigung; aber aus keinem andern Grunde, als weil sie unentbehrlich ist, euch vor Schmerzen zu bewahren, und immer zur Freude aufgelegt zu erhalten. Nicht aus Nachsicht gegen die Schwachheit der Natur erlaub ich, – nein, aus Gehorsam gegen ihre Gesetze befehl ich euch, eure Sinne zu ergetzen. [...]
Vervielfachet euer Wesen, indem ihr euch gewöhnet in jedem Menschen das Bild euerer eigenen Natur und in jedem guten Menschen ein andres Selbst zu lieben.
Schmecket so oft ihr könnt das reine göttliche Vergnügen andre glücklicher zu machen; – und du, Unglückseliger, dem von diesem bloßen Gedanken das Herz nicht zu wallen anfängt, fliehe, fliehe auf ewig aus den Wohnungen der Kinder der Natur!‹«
Schach-Gebal war über der Sittenlehre des weisen Psammis unvermerkt so gut eingeschlafen, daß die schöne Nurmahal für ratsam hielt, die Fortsetzung der Geschichte des Emirs auf die künftige Nacht auszusetzen.
(Der goldene Spiegel 1.Teil 4. Kapitel)