29 Juli 2017

Ebner-Eschenbach: Die Kapitalistinnen

Zwei Schwestern, Elise und Johanna leben zusammen. Elise ist sehr auf Ordnung und Reinlichkeit bedacht. Johanna liest gerne und liest gern vor.

[...] Dieselbe Genauigkeit, deren sich Elise im Punkte des Reinhaltens der Wohnung befliß, wurde von Fräulein Johanna in einem andern, im Geldpunkte beobachtet. Die Schwestern hatten nach dem Verlaufe von mehr als drei Dezennien, in denen Elise einer Mädchenschule vorgestanden, Johanna Lehrerin in wohlhabenden Häusern gewesen war, eine hübsche Summe zurücklegen können. Das Glück, das ihnen für redliche Arbeit redliche Entlohnung bescherte, zeigte sich auch darin, daß es sie in der Person ihres Onkels Christian Moser einen tüchtigen Schatzmeister finden ließ, dem sie ihre Ersparnisse anvertraut und der mit ihnen geschickt manipuliert hatte. Als der alte Herr starb, fand sich bei ihm in einem großen Umschlag, auf dem geschrieben stand: »Depot, Eigentum meiner Nichten, der Fräulein Elise und Johanna Moser«, ein Kapital von nicht weniger als zwanzigtausend Gulden in Wertpapieren. Dabei ein Zettel, an die Schwestern gerichtet, des Inhalts: »Rate euch, nach meinem Tode die Verwaltung eures Vermögens meinem Sohne, eurem Vetter Julius, zu übergeben, denn was Geldangelegenheiten betrifft, seid ihr wie die neugeborenen Kinder.« Elise stimmte dieser Behauptung mit vielen freundlich-demütigen Bücklingen zu; Johanna war nicht so ganz von ihrer Richtigkeit durchdrungen, ersuchte aber dennoch, im Vereine mit der Schwester, Herrn Julius Moser, das Kapital in seiner Verwahrung zu behalten. Er wollte jedoch nichts davon wissen; er war ein mürrischer, mit Geschäften überhäufter Mann. »Kauft euch eine kleine Wertheimische Kasse und legt euer Geld hinein«, sagte er. »Alle Jahr zweimal will ich kommen, die Kupons abschneiden und einlösen. Ihr habt euch um nichts als nur darum zu kümmern, daß ihr mit eurem Einkommen auskommt«, er lächelte über seinen Wortwitz, »und die Kassenschlüssel nicht verliert.« Als er ihnen dann die Papiere ausgeliefert hatte, waren die Schwestern nach Hause gewandert, und der Weg, den sie von der Hohenbrücke bis in die Singerstraße zurücklegen mußten, war ihnen lang und gefahrvoll erschienen. Johanna hatte das Paket unter den Arm genommen, und dicht neben ihr, an der Kapitalienseite, marschierte Elise. Mehrmals ermahnte diese ihre Schwester: »Nimm dich zusammen; mach's nicht so auf fällig, mach kein so verstörtes Gesicht.« Sie selbst aber, die Mutigere, fühlte ihr Innerstes erbeben, als zwei Arbeiter vorbeikamen und einer den andern anstieß und fragte: »Was tragen denn die?« Die Frage bezog sich auf einige hinter den Fräulein einherschreitende Marktweiber, ließ diese gleichgültig und versetzte jene in einen fieberhaften Zustand. Die arglose Johanna, die sonst auch den Fremdesten das Beste zutraute, immer in Erwartung von etwas Angenehmem, besonders von angenehmen Überraschungen lebte, war heute eitel Sorge und Verdacht. Bei der Heimkehr empfand sie sogar Mißtrauen gegen den biederen Hausmeister, als er sie an der Treppe begrüßte, und bildete sich ein, er habe das Paket in ihren Armen mit sonderbar verlangenden Blicken angesehen. 
Den Nachmittag und Abend brachten die Damen mit Beratungen über den Ankauf der Wertheimischen Kasse zu, die auf Wunsch des Vetters angeschafft werden sollte. Provisorisch legte man das Geld in den Wäschekasten zwischen die Leintücher, nachdem Elise diese Gelegenheit benützt hatte, um den Schrank von oben bis unten auszuräumen und durchzufegen. Spät kamen die Schwestern zur Ruhe, und kaum eingeschlafen, erwachte Johanna mit Herzklopfen, weil ihr träumte, die Wohnungstür, die Elise doch vor ihren Augen versperrt und verriegelt hatte, sei von selbst aufgesprungen, und herein sei der Hausmeister getreten, im Kostüm Rinaldo Rinaldinis und mit einer Kanone in jeder Hand.
In aller Gottesfrüh begann am nächsten Tage die Beratung von neuem. »Eine Kasse anschaffen, – leicht gesagt; aber wie bringt man sie herein, ohne daß die Leute es merken?« meinte Elise. »Und wenn die Leute merken, daß man eine Kasse hat, vermuten sie gleich, daß etwas drin ist. Und das ist sehr gefährlich.«
Dagegen wendete Johanna ein, daß es doch strafbarer Leichtsinn wäre, die Kapitalien dem Wäscheschrank bleibend anzuvertrauen.
Man war noch zu keinem Resultat gelangt, als die in Rede stehende Kasse von selbst erschien. Herr Julius Moser schickte sie seinen Basen zum Präsent, durch zwei kurz angebundene, sehr resolute Männer. Rasch hatten die beiden Zyklopen den besten Platz für die Kasse ausgemittelt: in der Ecke des zweiten Zimmers, zu Füßen von Johannas Bett. Ohne viel zu fragen, stellten sie das schlanke, eiserne Ding dort auf, unterrichteten die Damen im Gebrauch der Schlüssel, überreichten sie samt den Dubletten, nahmen ihr Trinkgeld in Empfang und entfernten sich.
Elise hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Spuren wegzutilgen, die die staubigen Stiefel des unerwarteten Besuches auf dem Fußboden hinterlassen hatten. Johanna holte die Kapitalien aus dem Schrank. Sie befreite die Obligationen von ihrer groben Umhüllung, und als sie bemerkte, daß dieselben nachlässig gefaltet waren, ergriff sie das Falzbein. Mit einem Mute, den Elise nur anstaunen konnte, handhabte Johanna die großen, prächtigen Bogen, glättete sie und legte sie wieder vierfach, jetzt aber Kante auf Kante, zusammen. Dann holte sie aus ihrem Vorrat an Schreibpapier das stärkste herbei und verlegte sich auf die Fabrikation von Kuverts, wie sie, so zierlich ausgeschnitten, so fest geklebt, nirgends und um keinen Preis zu kaufen gewesen wären. Jedes derselben hatte eine Aufschrift erhalten: Obligation Nummer Eins, hieß es auf der ersten; Obligation Nummer Zwanzig auf der letzten. Sie bildeten einen erfreulichen Anblick, solange sie auf dem Tische zum Trocknen ausgelegt blieben, und eine stattliche Reihe im Tresor, in dem Johanna sie endlich aufstellte.
Danach hatte sie das Tabernakel verschlossen und die Schlüssel an sich genommen, mit dem Vorsatze, sich in keiner Stunde des Lebens von ihnen zu trennen. Als sie sich zur Ruhe begab, legte sie das kleine Bund unter ihr Kissen, und konnte in dieser Nacht, wie schon in der vorigen, lange nicht einschlafen. Die Worte des Vetters: »Verliert die Schlüssel nicht!« summten ihr im Ohre; das Gefühl der übernommenen Verantwortlichkeit lag ihr schwer auf dem Herzen.
Am Morgen erwachte sie später als gewöhnlich. Die Bedienerin, die täglich kam, um Elise bei der Hausarbeit zu unterstützen, war seit geraumer Weile da und machte sich am Ofen in Johannas Zimmer zu schaffen, als diese die Augen aufschlug.
Sie fuhr empor, – ihr erster Blick fiel auf die Kasse, ihr erster Gedanke war: Wo sind die Schlüssel? ... »Elise«, rief sie plötzlich, »Elise!«
Die Schwester kam herbeigeeilt, und Johanna, die Stimme zum Geflüster senkend, fragte:
»Die Schlüssel?... Hast du sie genommen?«
»Gott bewahre!« erwiderte Elise. »Du hast sie, – unter deinem Kopfpolster hast du sie.«
»Nein!« hauchte Johanna, »ich habe schon gesucht ...«
Elise überlief's, aber sie faßte sich. »Wir wollen noch einmal suchen, besser suchen.«
Es geschah, die Schlüssel wurden gefunden, man lachte, man neckte einander wegen des ausgestandenen Schreckens.
Auf einmal rief's aus der Gegend des Ofens: »Fräul'n, haben Sie mir das zum Unterzünden herg'rieht?« ... Eine kohlengeschwärzte Hand hob sich in die Höhe und schwenkte Papiere in der Luft.
»Was denn, Resi? Was ist's denn?« fragte Elise, von einer unbestimmten Bangigkeit durchzittert.
Resi erhob sich aus ihrer kauernden Stellung, kam auf die Damen zugetrampelt und präsentierte eine Anzahl durcheinandergeworfener Papierbogen, bei deren Anblick den Schwestern der Atem stillstand.
»Johanna!« rief Elise.
»Elise!« rief Johanna.
»Wo haben Sie das hergenommen?« preßte Elise, zur Bedienerin gewendet, hervor.
Die Frau wunderte sich über die Frage und besonders über die Art, in der sie gestellt wurde. Wo sollte sie »das« hergenommen haben? Vom Sessel halt, auf dem »das« gelegen, vom Sessel beim Ofen, neben dem Kanapee.
»Gut«, murmelte Elise, »gehen Sie jetzt nur in die Küche.« Resi gehorchte.
Regungslos bis zur Unheimlichkeit starrte Johanna vor sich hin: »Sessel!... Dort habe ich sie hingelegt«, sprach sie abgebrochen und tonlos, »hingelegt, – um sie dann hineinzulegen in die ... Du weißt.«
»Hast du's denn nicht getan?« fragte Elise.
»Es scheint, – nein«, erwiderte Johanna und drückte das Haupt in die Kissen.
Elise setzte sich; ein kalter Schauer nach dem andern lief ihr über den Rücken. »Schwester«, sagte sie, »so hätten wir denn vergessen, die Kapitalien in die Kuverts zu tun, bevor wir die Kuverts in die Kasse taten.«
Johanna sah die Schwester dankbar an für dieses großmütige »Wir«. »Es scheint so, – obwohl ich es mir nicht denken kann. Viel eher schiene es mir möglich, liebe Schwester...« Die tiefe Zerknirschung, unter deren Last sie eben noch geseufzt hatte, machte einer freundlichen Ahnung Platz, »daß unsre Obligationen im Tresor liegen und daß diese hier andre sind, mit denen uns jemand« – ihre Augen begannen zu leuchten, und sie schloß innigst gerührt – »eine angenehme Überraschung gemacht hat.« Elise fuhr zürnend empor: »Mit deinen Überraschungen – das ist eine fixe Idee! Überraschung – ja! Die Resi war nahe dran, uns eine Überraschung zu machen, – aber eine, von der wir uns unser Lebtag nicht mehr erholt hätten.«
»Du hast recht«, versetzte Johanna, »und wir sind diesem Weibe zu ewigem Danke verpflichtet. Wenn die Klugheit uns auch rät, ihr zu verschweigen, wie groß der Dienst ist, den sie uns geleistet hat – weil sie sonst allen Respekt vor uns verlieren könnte –, wollen wir sie doch belohnen. Wir wollen ihren Gehalt erhöhen.« –
So aufregend waren für die Schwestern die ersten Tage nach dem Antritt der Selbstverwaltung ihres Vermögens gewesen. Und noch gar manche böse Stunde folgte. Den Kassenschlüsseln schien eine eigene satanische Kunst innezuwohnen, sich unsichtbar machen zu können; sie verschwanden einem unter der Hand, – aus der Hand. Und die Raubattentate, die Einbruchdiebstähle, von denen man täglich hörte, die waren auch nicht danach angetan, viel beizutragen zur Seelenruhe alleinstehender Kapitalistinnen. [...]

Die beiden Schwestern erfahren, dass ihre Wertpapiere enorm im Wert gesunken sind, und wenden sich in ihrer Not an einen Grafen, den sie kennen und der Bankpräsident ist. Der gibt ihnen ein Schreiben an einen der ihm unterstellten Direktoren mit.

 [...] Alle Türen öffneten sich vor den Überbringerinnen eines Schreibens des Herrn Präsidenten an den Herrn Direktor.
Dieser, Herr Eduard Plößl, ein kleiner, breiter, feierlicher Mann mit langem, braunem Bart und einer Glatze, die sogleich Elisens Vertrauen und Sympathie erregte, weil sie so schön glänzte, empfing die Schwestern in seinem Bureau und bot ihnen Sitze an, auf die sie sich niederließen, während er den Brief seines Chefs aufmerksam durchstudierte. Nach einer Weile sprach er: »Der Graf empfiehlt mir dringend, mich Ihrer Sache anzunehmen, meine Damen. Mein Rat soll Ihnen bestens zugehen, – bedaure nur den geringen reellen Nutzen. Sie haben böhmische Bodenkreditaktien?«
»Jawohl«, erwiderte Johanna, »Böhmische Bodenobligationen, Herr Direktor.«
Er sah die Schwestern eine Weile prüfend an. Der Anteil, den er ihnen anfangs nur pflichtgemäß geschenkt hatte, steigerte sich und bekam allmählich etwas Inniges, etwas Väterliches.
In der Verhandlung, die sich nun entspann, legte Herr Plößl eine unerschöpfliche Geduld an den Tag; er gab auf zehnmal wiederholte Erkundigungen zehnmal dieselben Auskünfte und machte es den Damen endlich klar, daß es nur zwei Möglichkeiten für sie gab: ihre Papiere zu behalten und den Verlust des ganzen Vermögens auf die Hoffnung hin zu wagen, daß die Liquidation hintangehalten werden könne, oder sich rasch zum Verkauf zu entschließen und ein kleines, aber sicheres Kapital zu retten. »Ich rate dringend zum letzteren«, sagte der Geschäftsmann, »und zwar rate ich zum allerdings verlustvollen Umtausch Ihrer Papiere gegen Grundentlastungsobligationen.«
»Was Sie uns raten, das werden wir tun«, versicherte Johanna.
«Überlegen Sie's heute noch, und für morgen bitte ich wieder um Ihren Besuch – mit den Papieren –, wenn Sie sich zum Verkauf entschließen.«
»Und unsere Renten in dem Falle?« fragte Elise. »Wie würden sie sich zu den bisher genossenen verhalten?«
»Kaum wie ein Drittel zu einem Ganzen«, erwiderte Herr Plößl.
Im Laufe des Nachmittags kamen die Schwestern heim.
»Es war ein trauriger, aber ein stolzer Tag«, sprach Johanna. »Mein Glaube an die Güte der Menschen ist neuerdings befestigt worden... Dieser Graf!... Hast du bemerkt, wie sein Benehmen gegen uns sogleich viel freundlicher und ordentlich respektvoll wurde, als er vernahm, daß wir in Unglück geraten sind? Und dieser Herr Direktor, ist das ein gewiegter, scharfsinniger Geschäftsmann, und dabei wie teilnehmend und fürsorglich... Er hat ein goldenes Herz.«
»Und seine Glatze glänzt wie Silber«, versetzte Elise.
»Wir haben unser Geld verloren, aber einen alten Gönner erprobt und einen neuen Freund gewonnen«, fuhr Johanna fort; »solche Erfahrungen kann man nicht teuer genug bezahlen.«
»Besonders, wenn man's hat«, meinte die praktische Elise. »Wir haben es aber eigentlich nicht. Wir sind jetzt arm.«
»Tut nichts«, entgegnete Johanna, völlig verzückt vor Hoheit der Gesinnung. »Der fromme Maler, Fra Angelico de Fiesole, nennt arm sein den Schatz, der vor vielen unnützen Bedürfnissen sicherstellt.«
»Er wird vermutlich in seinem Kloster mit Kost und Kleidung versorgt worden sein und dort auch freies Quartier gehabt haben...« Elise sah sich traurig um in der blanken Stube. »Wir – werden unsere liebe Wohnung verlassen müssen.«
»Wer weiß!« sprach Johanna. »Es sollte mich nicht wundern, wenn die Hausfrau uns einen Teil des Mietzinses erließe, sobald sie von unserm Mißgeschick erfährt.«
»Wie bringen wir aber das übrige herein?«
»Wir fangen wieder an, Lektionen zu geben.«
»Wenn wir jemand finden, der sie nimmt.«
»Der Herr Direktor empfiehlt uns seiner Familie.«
»Wenn er eine hat.«
»Der Herr Graf verwendet sich zu unsern Gunsten bei seinen zahlreichen Konnexionen; es wird uns an Beschäftigung nicht fehlen.«
»Aber vielleicht an der Kraft, sie auszuüben. Wir sind nicht mehr jung; wo ist die Zeit, in der wir noch Fünfzigerinnen waren?« warf Elise ein.
Alle ihre Bedenken jedoch vermochten nicht, Johannas Hoffnungsfreudigkeit und Zuversicht zu erschüttern. Den ganzen Abend baute sie an ihren Luftschlössern fort.
Am folgenden Morgen allerdings, als sie die Kuverts mit den Obligationen aus der Kasse nahm und, der Ordnung wegen, auch noch die erst in sechs Jahren fälligen Kupons dazu legte, da wurde sie sehr betrübt und weich, und die Schwestern getrauten sich nicht, einander anzusehen auf dem dornenvollen Wege zur Bank.
Dort angelangt, erhielten sie sogleich Audienz bei ihrem huldreichen Beschützer. Johanna überreichte ihm die Wertpapiere und bat ihn, mit denselben nach seinem Gutdünken zu verfahren, während Elise mit nervösem Kopfnicken ihre Zustimmung erteilte.
»Das heißt so viel, als Sie sind entschlossen zum Verkaufe?«
»Entschlossen« –»Entschlossen«, sprachen die Schwestern nacheinander.
Herr Plößl gab seinen Beifall zu erkennen, setzte sich, öffnete das erste Kuvert, zog Obligation Nummer Eins hervor, –stutzte, sagte lebhaft: »Nu!« und griff nach Obligation Nummer Zwei.  [...] 

25 Juli 2017

Ebner-Eschenbach: Unverbesserlich

Die Konstellation ist äußerst ungünstig: Ein uneheliches Kind wird von der Mutter im Dorf zurückgelassen. Zwar nimmt sich der Geistliche seiner an, es kann die Schule besuchen und ist guten Willens, aber es bleibt Außenseiter, und selbst der Geistliche muss feststellen, dass trotz aller Reue nach Verfehlungen es doch immer wieder zu Rückfällen kommt, bis auch er das harte Urteil ausspricht: "Unverbesserlich".
Gibt es angesichts der allgemeinen Ablehnung im Dorf noch eine Chance?
Realistisch ist das nicht.

Unverbesserlich

Erzählung (1910)

"Sie waren Zwillingsgeschwister, Fräulein Monika und Pfarrer Emanuel, hatten jüngst ihr sechzigstes Jahr erreicht und gehörten zur kleinen Gemeinde der einsamen Menschen. Was verliebt sein heißt, hatte Monika nie erfahren, obwohl sie einstens sehr nahe daran war, sich zu verheiraten. Aber nur aus Hochachtung. Was in ihrem Bruder vorgegangen, ob er Kämpfe zu bestehen gehabt hatte, ob die Entsagung ihm so leicht geworden wie ihr, davon wußte sie nichts. Nur einmal, als sie etwas gedankenlos sich und ihn als Muster einer lautersten Lebensführung hinstellte, sprach er lächelnd:
«Vielleicht die Folge einer Mangelhaftigkeit unserer Naturen. Es kommt vor. Cicero soll nie geliebt haben.» [...]

Das Wickelkind, das sie mitgebracht hatte, war das schönste, das man sehen konnte. Es hatte rabenschwarze, große Augen, eine Gesichts- und Hautfarbe wie hellbrauner Samt und – unglaublich! – den Kopf schon ganz bewachsen mit dunklen Löckchen. Es befand sich auch im Besitz einer reichen Ausstattung an Wäsche und Decken, an Bändern und Spitzen sogar. Daß es auf den Namen Eduard getauft worden, hatte man gleich gehört. Neugierige wollten aber noch mehr erfahren und fragten: «Na, und wer ist denn der Vater?»
«Was weiß ich?» erhielten sie zur Antwort.
«Vielleicht der Teufel», sprach eine Alte.
«Vielleicht», kam's lachend zurück, und die Übermütige küßte und herzte ihr Kind.
Als sie aber eines Morgens so plötzlich verschwand, wie sie erschienen war, vergaß sie es mitzunehmen. Man hörte nie mehr etwas von ihr. Der fremd klingende Name, den sie ihrem Söhnchen gegeben, verwandelte sich im Munde der Leute in ein kosendes «Edinek».
Aber ein anderer Name, mit dem er später verhöhnt oder gegeißelt werden sollte, lautete «Teufelsbrut» und blieb sein einziges mütterliches Erbe. [...]
Einen Ministranten, wie er als Knabe war, konnte der geistliche Herr sich nie wieder erziehen, und ein gewissenhafter Besucher der Kirche blieb er bis heute. Er trat auch alljährlich mit solcher Andacht in den Beichtstuhl und an den Tisch des Herrn, daß Pater Emanuel ihn immer wieder hervorholte aus der Reihe der Unverbesserlichen, in die er ihn notgedrungen so oft gestellt hatte. [...]
«Was soll das heißen – ‹Es› hat dich gezogen, ‹es› hat dich gestoßen? Es gibt kein ‹Es›, das zieht und stößt. Der Mensch hat einen freien Willen, Eduard.»
«Ja, hochwürdiger Herr Pfarrer, den hab ich, o den hab ich! Ich tu immer wollen, und immer das Beste; aber was nachher herauskommt, dafür kann ich nichts.»
«Schäm dich, einen solchen Unsinn zu reden», zürnte Emanuel. «Aber du bist gar nicht mehr fähig, dich zu schämen, du bist unverbesserlich, und den Unverbesserlichen geb ich auf.»
Edinek erschrak. In dieser Weise hatte der geistliche Herr noch nie zu ihm gesprochen. Schlecht stand es mit ihm, wenn der Übergütige also zu ihm sprach. Immer bereit, ins Äußerste zu stürzen, als wär's das Nächste, erwiderte er stockend, schluckend und in naiver, ehrlicher Verzweiflung:
«Wird schon so sein, werden schon recht haben, die Leut, die mich Teufelsbrut schimpfen... Wird schon so sein, das Verfluchte, das mich zwingt, wird schon der Teufel sein.»
«Laß dich nicht zwingen, laß dich nicht unterkriegen, widersteh der Versuchung!»
«Wenn ich nur nicht eine so teuflische Natur hätt, hochwürdiger Herr.»
«Natur! Verschone mich mit deiner Natur. Weißt du, wozu sie da ist, deine Natur? – Um überwunden zu werden, dazu!» [...]"

23 Juli 2017

Katrin Tempel: Mandeljahre

Katrin Tempel: Mandeljahre 

Der Roman konzentriert sich auf die Jahre 1907 - 1945 und die Kaffeefabrik Quieta in Bad Dürkheim, nimmt aber auch das Zeitgeschehen in den Blick. Die Rahmenhandlung spielt im Erscheinungsjahr des Romans 2015.

Kaffee in Dürkheim  Quieta-Reklamemarke

Homepage von Katrin Tempel

daraus:
Das Rosenthal Kaffeeservice aus dem Roman auf dem Foto in Die Rheinpfalz 14.5.2015:

"Das für Dürheimer Bürger besonders Reizvolle an der Geschichte sind Schauplätze wie die Drogerie in der Kurgartenstraße als erste Produktionsstätte des Ersatzkaffees (heute Pizzeria Da Carlo). Ein weiterer ist die Winzergenossenschaft Vier Jahreszeiten oder das ehemalige Quieta-Firmengebäude, in dem jetzt die Limburgschule beheimatet ist.Vielleicht findet sich in dem einen oder anderen Dürkheimer Haushalt noch ein Rosenthal-Kaffeeservice, das man damals für Quieta-Rabattmarken bekommen konnte."
(Rheinpfalz)

Historische Filmausschnitte von Quieta und DüKa

Inspirationen zu Mandeljahre (private Filmausschnitte)


Dürkheimer Wurstmarkt (Wikipedia)

Leseprobe:

"[...] Neugierig blätterte sie weiter. Ihr Blick fiel auf das Bild einer sehr jungen, schmalen Frau in einem langen Kleid, die vor dem Schaufenster eines Ladens stand, über dem sie den Namen Stutzmann entziffern konnte. War das die Frau, die einige Jahre später die Zwillinge im Arm gehalten hatte? Womöglich war sie auf diesem Bild nicht einmal verheiratet. Sie sah müde aus.


April 1907
„Wie sehe ich aus?“
Nervös strich sich Marie ein weiteres Mal die Handschuhe über dem Handrücken glatt und blickte aus dem Fenster der Kutsche. Die Anreise mit dem Zug nach Mannheim war noch recht bequem gewesen, doch nun zog sich der Weg in die Kurstadt Bad Dürkheim erheblich.
„Und wann kommen wir endlich an? Ich habe das Gefühl, ich bin so dreckig wie noch nie in meinem Leben! Der Dampf der Lokomotive hat sicher alles beschmutzt!“
Beruhigend legte ihr Bruder ihr die Hand auf den Arm und sah sie ernsthaft von oben bis unten an. „Liebste Marie, du siehst wie immer fabelhaft aus. Niemand würde vermuten, dass du schon seit gestern unterwegs bist. Du wirst alle verzaubern, wie du es immer tust.“
„Ich muss nicht alle verzaubern, ich muss nur Carl Hauer verzaubern“, erklärte Marie und sah wieder aus dem Fenster. „Sonst war die ganze Fahrt vergeblich, und wir haben völlig umsonst die Familienersparnisse für die Reise ausgegeben.“ [...]"



Gradierwerk Bad Dürkheim



"Zum Römer", wo die Hochzeit von Marie gefeiert wird

17 Juli 2017

Kleist: Der Zweikampf

"Herzog Wilhelm von Breysach, der, seit seiner heimlichen Verbindung mit einer Gräfin, namens Katharina von Heersbruck, aus dem Hause Alt-Hüningen, die unter seinem Range zu sein schien, mit seinem Halbbruder, dem Grafen Jakob dem Rotbart, in Feindschaft lebte, kam gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts, da die Nacht des heiligen Remigius zu dämmern begann, von einer in Worms mit dem deutschen Kaiser abgehaltenen Zusammenkunft zurück, worin er sich von diesem Herrn, in Ermangelung ehelicher Kinder, die ihm gestorben waren, die Legitimation eines, mit seiner Gemahlin vor der Ehe erzeugten, natürlichen Sohnes, des Grafen Philipp von Hüningen, ausgewirkt hatte. Freudiger, als während des ganzen Laufs seiner Regierung in die Zukunft blickend, hatte er schon den Park, der hinter seinem Schlosse lag, erreicht: als plötzlich ein Pfeilschuß aus dem Dunkel der Gebüsche hervorbrach, und ihm, dicht unter dem Brustknochen, den Leib durchbohrte. [...]" (H.v.Kleist)

Herr Rau hat mich auf diese mir recht ungeläufige Erzählung Kleists hingewiesen. (sieh Wikipediaartikel) Ich finde den ersten Satz, aber auch die Erzählung selbst, so bemerkenswert, dass ich gern meinerseits darauf hinweise.
Die Handlung ist nicht nur grob unwahrscheinlich, sondern auch von Gewalt und extremen Gefühlen geprägt. Dazu passt der gleichsam gewaltsame Stil mit seinen extrem geschachtelten Perioden. 

15 Juli 2017

Bill Bryson: Notes from a small Island

Bill Bryson (deutsch)

Notes from a small Island (englisch)

Kundenrezensionen (deutsch)

"Bryson also pays homage to the humble self-effacing fortitude of British people under trying times such as the world wars and Great Depression, as well as the various peculiarities of Britain and British English (such as not understanding, on his first arrival, what a counterpane was, and assuming it was something to do with a window. It is a British English word that means quilt.)" (en:Wikipedia)

Bryson über englischen Humor (S.227): Auf einem Bahnhof war totales Chaos, alle Anzeigetafeln waren leer, es kamen Gerüchte auf, aufgrund derer man hin und her hetzte und sich in Züge setzte, die nicht abfuhren.
Unsicher, ob er wieder auf einen dauerhaft geparkten Zug reinfallen könnte, fragte Bryson den einzigen Passagier, den er im Zug entdeckte und der sich durch einen langen roten Bart auszeichnete, 'mit dem man eine Matratze hätte füllen können', "Sind Sie schon lange hier?"
Der Bärtige: "Wie man's nimmt. Als ich einstieg, war ich jedenfalls frisch rasiert."


Wikipedia Commons, Strich von Fontanefan
"If you draw an angled line between Bristol and the Wash, you divide the country into two halves with roughly twenty-seven million people of each side. Between 1980 and 1985 the southern half lost 103,600 jobs. In the northern half in the same period they lost 1,032,000 jobs, alsmost exactly ten times as many. And still factories are shutting. [...] So I ask again: What do all those people in all those houses do - and what, more to the point, will their children do?" (Notes from a small Island, S. 212 Copyright 1995)

Die möglichen Folgen des Brexit sind dabei nicht eingerechnet. Ich möchte die Frage aber "more to the point" zu einer Linie west-östlich durch das Mittelmeer stellen und mich speziell auf den Handel der EU mit Afrika und auf Deutschlands Rolle als Exportweltmeister beziehen: Was werden die Menschen in 20 Jahren in Afrika tun, wenn wir an unserer Politik festhalten?


"Liverpool became the third richest city in the empire. Only Glasgow and London had more millionaires. By 1880 it was generating mor tax revenue than Birmingham, Bristol, Leeds and Sheffield together [...]" (S.239)

"Blackpool [...] attracts more visitors every year than Greece and has more holiday beds than the whole of Portugal." (S.268) "I read somewhere once that half of all visitors to Blackpool have been there at least ten times." (S.269)
"The town went into decline when cheap air travel arrived in the 1960s and the same workers decamped to the Mediterranean coastal resorts due to competitive prices and the more reliable weather.[28] Today Blackpool remains the most popular seaside resort in the UK; however, the town has suffered a serious drop in numbers of visitors which have fallen from 17 million in 1992 to 10 million today.[29] Similarly Pleasure Beach Blackpool was the country's most popular free attraction with 6 million visitors a year but has lost over a million visitors since 1998 and has recently introduced a £5 entrance fee. Today, many visitors stay for the weekend rather than for a week at a time." (Wikipedia zu Blackpool, 2017)

Saltaire (S.207) Coronation Street (S.226) Paul Theroux (S.244) Port Sunlight (S.241)  
Durham (S.294)  Ashington Group (S.296) Edinburgh (S.302)

Mehr zu diesem Buch und Brysons Fortsetzung 20 Jahre später.

14 Juli 2017

Marie von Ebner-Eschenbach

Wikipedia

Werke

Briefwechsel

"Sie folgte offenbar dem von ihr geprägten Aphorismus „Briefe von geliebten Menschen verbrennt man gleich oder nie“ – und entschied sich oft genug für „gleich“. Von den Angehörigen jener Freundinnen, die sie überlebte (und sie überlebte eigentlich alle), pflegte Marie von Ebner-Eschenbach ihre Briefe zurückzuverlangen und auch zu bekommen. Mit Josephine von Knorrs Erben hingegen stand sie nicht auf vertrautem Fuße, und so überdauerte dieser Schatz hundert Jahre hinter den Mauern von Schloss Stiebar.
Knapp achthundert der mehr als tausend Briefe, die die beiden Frauen – nach der Rekonstruktion der Herausgeberinnen – im Laufe ihrer Lebensfreundschaft gewechselt haben, sind erhalten. Der erste Brief, ein Brieflein, datiert von 1851; es geht um eine Verabredung zum Theater. Man kennt einander aus Wien, wo die Familien beider Damen den Winter zubringen, im Sommer weilt die verheiratete Baronin Ebner-Eschenbach, vormals Comtesse Dubsky, vorzugsweise auf dem mährischen Familiensitz Zdislawitz, ihrem Geburtsort, während die zeitlebens ledig gebliebene „Sephine“ Freiin von Knorr nach Gresten geht, ein Treffpunkt von Künstlern, Wissenschaftlern und Schauspielerinnen. „Löwenjägerei“ nennen die Freundinnen die Sammelleidenschaft für prominente Salon-Raubtiere.

Vergebliche Warnung vor freigeistiger Lektüre 
Für Ebner-Eschenbach wirkt die drei Jahre Ältere zunächst als Vorbild, als formsichere Lyrikerin ebenso wie als für eine Aristokratin außergewöhnlich gebildete junge Frau, die ihr Lektüretipps gibt, Dickens und Byron empfiehlt und durchaus Brisantes wie Beecher Stowes „Onkel Toms Hütte“. Die Dichterinnen schicken einander ihre Werke, bitten um strengste Kritik. Unablässig liest, lernt, studiert Marie Ebner, schreibt einen verlorengegangenen Gesellschaftsroman, „Die große Welt“. Sie beneidet „Sephine“ um ihre Bekanntschaft mit der berühmten Betty Paoli, einer „Dichterin vom Wirbel bis zur Zehe“, mit der sie sich später anfreunden sollte. Die Baronesse von Knorr stellt auch den Kontakt zu Grillparzer her, der Marie Ebners Mentor wird." (Briefe verbrennt man gleich oder nie)

Aphorismen
Sag etwas, das sich von selbst versteht, zum ersten Mal, und Du bist unsterblich.

Geduld mit der Streitsucht der Einfältigen! Es ist nicht leicht zu begreifen, daß man nicht begreift.

Alt werden, heißt sehend werden.

Der Gescheitere giebt nach! Ein unsterbliches Wort. Es begründet die Weltherrschaft der Dummheit.

Wenn es einen Glauben giebt, der Berge versetzen kann, so ist es der Glaube an die eigene Kraft.

Ehen werden im Himmel geschlossen, aber daß sie gut gerathen, darauf wird dort nicht gesehen.

Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen.

Die Leute, denen man nie widerspricht, sind entweder die, welche man am meisten liebt, oder die, welche man am geringsten achtet.

Die eingebildeten Übel sind die unheilbarsten.

Wir sollen immer verzeihen, dem Reuigen um seinetwillen, dem Reuelosen um unseretwillen.

Wir entschuldigen nichts so leicht als Thorheiten, die uns zuliebe begangen wurden.

Unerreichbare Wünsche werden als »fromme« bezeichnet. Man scheint anzunehmen, daß nur die profanen in Erfüllung gehen.

Sich mit Wenigem begnügen ist schwer, sich mit Vielem begnügen noch schwerer.

Die Bescheidenheit, die zum Bewußtsein kommt, kommt ums Leben.

Man fordre nicht Wahrhaftigkeit von den Frauen, so lange man sie in dem Glauben erzieht, ihr vornehmster Lebenszweck sei – zu gefallen.

An das Gute glauben nur die Wenigen, die es üben. [daher: "Gutmensch"]

Die Menschen, denen wir eine Stütze sind, die geben uns den Halt im Leben.

In jede hohe Freude mischt sich eine Empfindung der Dankbarkeit.

Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.

Wenn mein Herz nicht spricht, dann schweigt auch mein Verstand, sagt die Frau. Schweige, Herz, damit der Verstand zu Worte komme, sagt der Mann.

Der Gläubige, der nie gezweifelt hat, wird schwerlich einen Zweifler bekehren.

Eltern verzeihen ihren Kindern die Fehler am schwersten, die sie selbst ihnen anerzogen haben.

Der herbste Tadel läßt sich ertragen, wenn man fühlt, daß Derjenige, der tadelt, lieber loben würde.

Der Gedanke an die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge ist ein Quell unendlichen Leids – und ein Quell unendlichen Trostes.

Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: – alle dummen Männer.

Der alte Satz: Aller Anfang ist schwer, gilt nur für Fertigkeiten. In der Kunst ist nichts schwerer als Beenden und bedeutet zugleich Vollenden.

Eine Vernunftehe schließen, heißt in den meisten Fällen, alle seine Vernunft zusammennehmen, um die wahnsinnigste Handlung zu begehen, die ein Mensch begehen kann.

Wenn Du durchaus nur die Wahl hast zwischen einer Unwahrheit und einer Grobheit, dann wähle die Grobheit; wenn jedoch die Wahl getroffen werden muß zwischen einer Unwahrheit und einer Grausamkeit, dann wähle die Unwahrheit.

Verwöhnte Kinder sind die unglücklichsten; sie lernen schon in jungen Jahren die Leiden der Tyrannen kennen.

Er ist ein guter Mensch! sagen die Leute gedankenlos. Sie wären sparsamer mit diesem Lobe, wenn sie wüßten, daß sie kein höheres zu ertheilen haben.

Du wüßtest gern, was Deine Bekannten von Dir sagen? Höre, wie sie von Leuten sprechen, die mehr werth sind als Du.

Ausnahmen sind nicht immer Bestätigung der alten Regel; sie können auch die Vorboten einer neuen Regel sein.

Die Frau verliert in der Liebe zu einem ausgezeichneten Manne das Bewußtsein ihres eigenen Werthes; der Mann kommt erst recht zum Bewußtsein des seinen durch die Liebe einer edlen Frau.

Der Schwächling ist bereit, sogar seine Tugenden zu verleugnen, wenn sie Anstoß erregen sollten.

Ein wahrer Freund trägt mehr zu unserem Glück bei, als tausend Feinde zu unserem Unglück.

Wohl Jedem, der nur liebt, was er darf, und nur haßt, was er soll.

Wenn man nicht aufhören will, die Menschen zu lieben, muß man nicht aufhören, ihnen Gutes zu thun.

Nicht tödtlich, aber unheilbar, das sind die schlimmsten Krankheiten.

Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann.

Soweit die Erde Himmel sein kann, soweit ist sie es in einer glücklichen Ehe.

Der Staat ist am tiefsten gesunken, dessen Regierung schweigend zuhören muß, wenn die offenkundige Schufterei ihr Sittlichkeit predigt.

In jede hohe Freude mischt sich eine Empfindung der Dankbarkeit.

Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.

Wenn mein Herz nicht spricht, dann schweigt auch mein Verstand, sagt die Frau. Schweige, Herz, damit der Verstand zu Worte komme, sagt der Mann.

Die Natur hat leicht verschwenden; auch das scheinbar ganz nutzlos Verstreute fällt zuletzt doch in ihren Schoß.

Je kürzer der Fleiß, je länger der Tag.

Die meisten Menschen ertragen es leichter, daß man ihnen zuwider handelt, als daß man ihnen zuwider spricht.

Die Unschuld des Mannes heißt Ehre; die Ehre der Frau heißt Unschuld.

Gedanken, die schockweise kommen, sind Gesindel. Gute Gedanken erscheinen in kleiner Gesellschaft. Ein göttlicher Gedanke kommt allein.

Eitelkeit ist mächtiger als Scham.

Liebe ist Qual, Lieblosigkeit ist Tod.

Im Alter sind wir der Schmeichelei viel zugänglicher als in der Jugend.

Da zuletzt doch alles auf den Glauben hinaus läuft, müssen wir jedem Menschen das Recht zugestehen, lieber das zu glauben, was er sich selbst, als was Andere ihm weiß gemacht.

Genug weiß Niemand, zu viel so Mancher.

Bis zu einem gewissen Grade selbstlos sollte man schon aus Selbstsucht sein.

Man darf anders denken als seine Zeit, darf sich nicht anders kleiden.

Wir können uns nie genug darüber wundern, wie so wichtig den Andern ihre eigenen Angelegenheiten sind.

Die Kraft verleiht Gewalt, die Liebe leiht Macht.

Frieden kannst Du nur haben, wenn Du ihn giebst.

Die einzigen von der Welt unbestrittenen Ehren, die einer Frau zu Theil werden können, sind diejenigen, die sie im Reflex der Ehren ihres Mannes genießt.

Das Meiste haben wir gewöhnlich in der Zeit gethan, in der wir meinten, zu wenig zu thun.

Beim Genie heißt es: Laß Dich gehen! Beim Talent: Nimm Dich zusammen!

Wir werden vom Schicksal hart oder weich geklopft; kommt auf das Material an.

Kein Mensch weiß, was in ihm schlummert und zu Tage kommt, wenn sein Schicksal anfängt, ihm über den Kopf zu wachsen.

Einen mit Weisheit Gesalbten darf man nie warm werden lassen, sonst trieft er.

Das scheinbar am unnöthigsten gebrachte, thörichtste Opfer steht der absoluten Weisheit immer noch näher als die klügste That der sogenannten berechtigten Selbstsucht.

Die Katzen halten keinen für eloquent, der nicht miauen kann.

Einen Menschen kennen, heißt ihn lieben oder ihn bedauern.

Es giebt wenig aufrichtige Freunde – die Nachfrage ist auch gering.

Der von Schaffensfreude spricht, hat höchstens Mücken geboren.

Die Wunden, die unserer Eitelkeit geschlagen werden, sind halb geheilt, wenn es uns gelingt, sie zu verbergen.

Wir sind leicht bereit, uns selbst zu tadeln, unter der Bedingung – daß Niemand einstimmt.

So weit Deine Selbstbeherrschung geht, so weit geht Deine Freiheit.

Der sich gar zu leicht bereit findet, seine Fehler einzusehen, ist selten der Besserung fähig.

Wir sind in Todesangst, daß die Nächstenliebe sich zu weit ausbreiten könnte, und richten Schranken gegen sie auf – die Nationalitäten.

Wer hat nicht schon das, was er sich zutraut, für das gehalten, was er vermag?

Immer wird die Gleichgültigkeit und die Menschenverachtung dem Mitgefühl und der Menschenliebe gegenüber einen Schein von geistiger Überlegenheit annehmen können.

Ein Hauptzweck unserer Selbsterziehung ist: die Eitelkeit in uns zu ertödten, ohne welche wir nie erzogen worden wären.

Nichts schwerer als Den gelten lassen, der uns nicht gelten läßt.

Nenne Dich nicht arm, weil Deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind; wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat.

weitere Aphorismen

Jane Austen

FAZ zu Jane Austen

z.B.:
Emma
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/jane-austens-sidekicks-mrs-elton-15076900.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

Pride and Prejudice
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/jane-austens-sidekicks-lady-catherine-de-bourgh-15054243.html

Northanger Abbey
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/jane-austen-isabella-thorpe-aus-northanger-abbey-15089287.html

Mansfield Park

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/jane-austens-sidekicks-mrs-norris-15067963.html

08 Juli 2017

Kinderträume

"[...] Die thematische Verarbeitung dagegen und das Dichten versteht der Traum des Kindes besser. Tausend kleine Dinge und Vorkommnisse des wachen Lebens, die den abgestumpften Erwachsenen gänzlich kalt lassen, die er nicht einmal mehr sieht und, wenn er sie sieht, nicht bemerkt, rühren dem Kinde, weil es noch frisch fühlt und weil ihm die Erdendinge neu sind, bis in die Seele und erzeugen Traumspiegelungen im Schlafe. Ich kann aus meiner Erfahrung berichten, dass mir ein Eisengitter um ein Haus, ein flüchtiger Blick in ein Kellergeschoss in der darauffolgenden Nacht ernste, tiefsinnige Träume verursachten, dass auf grössere Neuigkeiten, zum Beispiel auf den erstmaligen Anblick strömenden Wassers, ein wahrer Traumsturm folgte. Und wie golden schon die Landschaftsbilder in den Träumen des Erwachsenen leuchten mögen, die Landschaften, die der Traum des Kindes malt, sind noch viel seliger und süßer. Die Träume meiner zwei ersten Lebensjahre sind meine schönste Bildersammlung und mein liebstes Poesiebuch. [...]"
(Carl Spitteler: Die Träume des Kindes)