29 März 2014

Schiller an Goethe

"Ich habe mich schon lange vor dem Augenblick gefürchtet, den ich so sehr wünschte, meines Werks los zu seyn; und in der That befinde ich mich bei meiner jetzigen Freiheit schlimmer als der bisherigen Sclaverei. Die Masse, die mich bisher anzog und fest hielt, ist nun auf einmal weg, und mir dünkt, als wenn ich bestimmungslos im luftleeren Raume hinge. Zugleich ist mir als wenn es absolut unmöglich wäre, daß ich wieder etwas hervorbringen könnte; ich werde nicht eher ruhig seyn, bis ich meine Gedanken wieder auf einen bestimmten Stoff mit Hoffnung und Neigung gerichtet sehe. Habe ich wieder eine Bestimmung, so werde ich diese Unruhe los seyn, die mich jetzt auch von kleineren Unternehmungen abzieht."
          Schiller an Goethe, Jena, den 19. März 1799

Ich weiß nicht, wie gut die Links oben rechts auf den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe wahrgenommen werden. Deshalb hier ein Zitat daraus, das sehr modern klingt.
Man könnte hochtrabend vom Fluch der Freiheit sprechen, der sich so sehr von der Muße (otium) der Antike unterscheidet. 

27 März 2014

Diotimas Nächte

Diotima hatte schlaflose Nächte; in diesen Nächten schwankte sie zwischen einem preußischen Industriechef und einem österreichischen Sektionschef. In der Verklärung des Halbtraums zog Arnheims großes, durchglänztes Leben an ihr vorüber. Sie flog an der Seite des geliebten Mannes durch einen Himmel neuer Ehrungen, aber dieser Himmel hatte ein unangenehmes Preußischblau. In der schwarzen Nacht lag der gelbe Körper des Sektionschefs Tuzzi inzwischen noch neben dem ihren. Sie ahnte es bloß, wie ein schwarzgelbes Symbol alter kakanischer Kultur, wenn er von solcher auch nur wenig besaß. Die Barockfassade am Palast des Grafen Leinsdorf, ihres erlauchten Freundes, war dahinter, die Nähe Beethovens, Mozarts, Haydns, des Prinzen Eugen schwebte wie Heimweh darum, das sich schon vor der Flucht wieder zurücksehnt. Diotima konnte sich zu dem Schritt aus dieser Welt hinaus nicht ohneweiters entschließen, obgleich sie ihren Gatten deshalb beinahe haßte. In ihrem schönen, großen Leib saß die Seele hilflos wie in einem weiten blühenden Land.
»Ich darf nicht ungerecht sein« sprach Diotima zu sich. »Der Amts- und Berufsmensch ist wohl nicht mehr wach und weit und empfangend, aber in seiner Jugend hätte er vielleicht doch die Möglichkeit dazu gehabt.« Sie erinnerte sich an Stunden aus der Bräutigamszeit, obgleich Sektionschef Tuzzi schon damals kein Jüngling mehr gewesen war. »Er hat durch Fleiß und Pflichttreue seine Stellung und Persönlichkeit errungen« dachte sie gutmütig; »er ahnt doch selbst nicht, daß dies auf Kosten des Lebens seiner Persönlichkeit geschehen ist.«
Seit ihrem gesellschaftlichen Sieg dachte sie nachsichtiger von ihrem Gatten, und ihre Gedanken machten darum noch ein Zugeständnis. »Niemand ist reiner Verstandes- und Nützlichkeitsmensch; jeder begann damit, daß er mit einer lebenden Seele lebte« überlegte sie. »Aber der Alltag versandet ihn, die gewöhnlichen Leidenschaften ziehen über ihn hin wie ein Brand, und die kalte Welt ruft in ihm jene Kälte hervor, in der seine Seele dahinsiecht.« Vielleicht war sie zu bescheiden gewesen, um ihm das rechtzeitig mit Strenge vorzuhalten. Es war so traurig. Es kam ihr vor, daß sie niemals den Mut finden werde, Sektionschef Tuzzi in den Skandal einer Scheidung zu verwickeln, der ihn, mit seinem Amt verflochten wie er war, aufs tiefste erschüttern mußte.
»Dann lieber Ehebruch!« sagte sie sich plötzlich.
Ehebruch, diesen Gedanken hatte Diotima seit einiger Zeit gefaßt. [...]
Allerdings, Diotima hatte bisher noch nie über jenes peinlich Kokottenhafte und unschön Leichtsinnige hinwegkommen können, das an allen Ehebruchsschilderungen haftete, die sie kannte. Sie vermochte sich selbst in einer solchen Lage nicht recht vorzustellen. Die Klinke eines Absteigequartiers zu berühren, erschien ihr wie das Tauchen in einen Pfuhl. Mit rauschenden Röcken fremde Stiegen hinaufzuhuschen: eine gewisse moralische Geruhsamkeit ihres Körpers wehrte sich dagegen. In Eile gegebene Küsse widersprachen ihrer Natur genau so wie flüchtig flatternde Liebesworte. Eher war sie für Katastrophen. Letzte Gänge, in der Kehle ersterbende Abschiedsworte, tiefe Konflikte zwischen der Pflicht der Geliebten und der Mutter, das entsprach viel besser ihrer Anlage. Aber sie besaß wegen der Sparsamkeit ihres Gatten keine Kinder, und die Tragödie sollte gerade vermieden werden. So entschloß sie sich, wenn es so weit käme, für Renaissancemuster. Eine Liebe, die mit dem Dolch im Herzen lebt. Das konnte sie sich nicht genau vorstellen, aber es war zweifellos etwas Aufrechtes; mit geborstenen Säulen, über denen Wolken fliegen, als Hintergrund. Schuld und Überwindung des Schuldgefühls, Lust, gesühnt durch Leid, zitterte in diesem Bild und erfüllte Diotima mit einer unerhörten Steigerung und Andacht. »Wo ein Mensch seine höchsten Möglichkeiten findet und seine reichste Kraftentfaltung erfährt, dort gehört er auch hin,« dachte sie »denn dort nützt er zugleich der tiefsten Lebenssteigerung des Ganzen!« [...]
In der Nacht fließen die Gedanken bald im Hellen, bald durch Schlaf, wie Wasser im Karst, und wenn sie nach einer Weile wieder ruhig zum Vorschein kamen, hatte Diotima den Eindruck, sie habe das vorangegangene Schäumen bloß geträumt. Der kochende kleine Fluß, der hinter dem dunklen Gebirgsstock lag, war nicht der gleiche wie der stille Strom, in den Diotima schließlich hineinglitt. Zorn, Abscheu, Mut, Angst waren verronnen, es durfte solche Gefühle nicht geben, es gab sie nicht: in den Kämpfen der Seelen hat niemand Schuld! [...]
Man kann Königreiche gewinnen oder verlieren, aber die Seele rührt sich nicht, und man kann nichts tun, um sein Schicksal zu erreichen, aber zuweilen wächst es aus der Tiefe des Wesens, still und täglich, wie der Gesang der Sphären. Diotima lag dann so wach wie zu keiner anderen Stunde, aber voll Vertrauen. Diese Gedanken, mit ihrem dem Auge entzogenen Schlußpunkt, hatten den Vorzug, sie selbst in den schlaflosesten Nächten nach ganz kurzer Weile einzuschläfern. Wie eine samtene Vision spürte sie ihre Liebe in das unendliche Dunkel übergehen, das über die Sterne hinausreicht, untrennbar von ihr, untrennbar von Paul Arnheim, durch keine Pläne und Absichten zu berühren. Sie fand kaum noch Zeit, nach dem Glas Zuckerwasser zu greifen, das sie zur Bekämpfung ihrer Schlaflosigkeit auf dem Nachttischlein stehen hatte, aber immer erst in diesem letzten Augenblick benutzte, weil sie es in denen der Aufregung vergaß. Der leise Laut des Trinkens perlte wie das Flüstern von Liebenden hinter einer Wand neben dem Schlaf ihres Gatten, der nichts davon hörte; dann legte sich Diotima andächtig in die Polster zurück und versank in das Schweigen des Seins.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 94

26 März 2014

Aus den Lebensregeln reicher Leute

Soviel Aufmerksamkeit und Bewunderung, wie Arnheim sie fand, hätte einen anderen Mann vielleicht mißtrauisch und unsicher gemacht; er hätte sich einbilden können, sie seinem Gelde zu verdanken. Aber Arnheim hielt Mißtrauen für ein Zeichen von unadeliger Gesinnung, das sich ein Mann auf seiner Höhe nur auf Grund eindeutiger kaufmännischer Auskünfte gestatten dürfe, und außerdem war er überzeugt, daß Reichtum eine Charaktereigenschaft sei. Jeder reiche Mann betrachtet Reichtum als eine Charaktereigenschaft. Jeder arme Mann gleichfalls. Alle Welt ist stillschweigend davon überzeugt. Nur die Logik macht einige Schwierigkeiten, indem sie behauptet, daß Geldbesitz vielleicht gewisse Eigenschaften verleihen, aber niemals selbst eine menschliche Eigenschaft sein könne. Der Augenschein straft das Lügen. Jede menschliche Nase riecht unweigerlich sofort den zarten Hauch von Unabhängigkeit, Gewohnheit, zu befehlen, Gewohnheit, überall das Beste für sich zu wählen, leichter Weltverachtung und beständig bewußter Machtverantwortung, der von einem großen und sicheren Einkommen aufsteigt. Man sieht es der Erscheinung eines solchen Menschen an, daß sie von einer Auslese der Weltkräfte genährt und täglich erneuert wird. [...]
Arnheim hatte zum Beispiel oft darüber nachgedacht, daß ihn doch eigentlich jeder technische oder kaufmännische Abteilungsleiter seines Hauses an besonderem Können beträchtlich übertreffe, und er mußte es sich jedesmal versichern, daß, von einem genügend hohen Standpunkt betrachtet, Gedanken, Wissen, Treue, Talent, Umsicht und dergleichen als Eigenschaften erscheinen, die man kaufen kann, weil sie in Hülle und Fülle vorhanden sind, wogegen die Fähigkeit, sich ihrer zu bedienen, Eigenschaften voraussetzt, welche nur die wenigen besitzen, die eben schon auf der Höhe geboren und aufgewachsen sind. Eine andere, nicht geringere Schwierigkeit für reiche Leute ist die, daß alle Leute Geld von ihnen wollen. Geld spielt keine Rolle; das ist richtig, und einige tausend oder zehntausend Mark sind etwas, dessen Dasein oder Fehlen ein reicher Mann nicht empfindet. Reiche Leute versichern dann auch mit Vorliebe bei jeder Gelegenheit, daß das Geld am Werte eines Menschen nichts ändere; sie wollen damit sagen, daß sie auch ohne Geld soviel wert wären wie jetzt, und sind immer gekränkt, wenn ein anderer sie mißversteht. Leider widerfährt ihnen das gerade im Verkehr mit geistvollen Menschen nicht selten. Solche besitzen merkwürdig oft kein Geld, sondern nur Pläne und Begabung, aber sie fühlen sich dadurch in ihrem Wert nicht gemindert, und nichts scheint ihnen näher zu liegen, als einen reichen Freund, für den das Geld keine Rolle spielt, zu bitten, daß er sie aus seinem Überfluß zu irgendeinem guten Zweck unterstütze. Sie begreifen nicht, daß der reiche Mann sie mit seinen Ideen unterstützen möchte, mit seinem Können und seiner persönlichen Anziehungskraft. Man bringt ihn auf diese Weise außerdem in einen Gegensatz zu der Natur des Geldes, denn diese will die Vermehrung genau so, wie die Natur des Tieres die Fortpflanzung anstrebt. Man kann Geld in schlechte Anlagen stecken, dann geht es auf dem Feld der Geldehre zugrunde; man kann damit einen neuen Wagen kaufen, obgleich der alte noch so gut wie neu ist, in Begleitung seiner Polopferde in den teuersten Hotels der Weltkurorte absteigen, Renn- und Kunstpreise stiften oder für hundert Gäste an einem Abend soviel ausgeben, daß davon hundert Familien ein Jahr lang leben könnten: mit alledem wirft man das Geld wie ein Sämann zum Fenster hinaus, und es kommt vermehrt bei der Tür wieder herein. Es aber im stillen für Zwecke und Menschen verschenken, die ihm nichts nützen, das läßt sich nur mit einem Meuchelmord am Geld vergleichen. Es kann sein, daß diese Zwecke gut und diese Menschen unvergleichlich sind; dann soll man sie mit allen Mitteln fördern, nur nicht mit Geldmitteln. Das war ein Grundsatz Arnheims, und seine beharrliche Anwendung hatte ihm den Ruf eingebracht, an der geistigen Entwicklung der Zeit schöpferisch und tätig Anteil zu haben. Arnheim konnte auch von sich sagen, daß er wie ein Sozialist denke, und viele reiche Leute denken wie Sozialisten. Sie haben nichts dagegen, daß es ein Naturgesetz der Gesellschaft sei, dem sie ihr Kapitel verdanken, und sind fest überzeugt, daß es der Mensch ist, der dem Besitz seine Bedeutung leiht, und nicht der Besitz dem Menschen. Sie diskutieren ruhig darüber, daß in der Zukunft der Besitz aufhöre, wenn sie nicht mehr da sind, und werden in der Meinung, daß sie einen sozialen Charakter besäßen, noch dadurch bestärkt, daß nicht selten charaktervolle Sozialisten, in überzeugter Erwartung des ohnehin unausbleiblichen Umsturzes, bis dahin lieber bei reichen Leuten verkehren als bei armen.
Man könnte auf diese Weise lange fortfahren, wenn man alle Beziehungen des Geldes schildern wollte, die Arnheim bemeisterte. Die wirtschaftliche ist eben keine Tätigkeit, die sich von den übrigen geistigen Tätigkeiten absondern ließe, und es war wohl natürlich, daß er seinen geistigen und künstlerischen Freunden, wenn sie ihn dringend darum baten, außer Ratschlägen auch Geld gab; aber er gab ihnen nicht immer und niemals viel. Sie versicherten ihm, daß sie auf der ganzen Welt nur ihn darum zu bitten vermöchten, weil er allein auch die dazu nötigen geistigen Eigenschaften besäße, und er glaubte es ihnen, denn er war überzeugt, daß das Bedürfnis nach Kapital alle menschlichen Beziehungen durchdringe und so natürlich sei wie das Bedürfnis nach Atemluft, während er andererseits auch ihrer Auffassung, daß das Geld eine spirituelle Macht sei, entgegenkam, indem er diese nur mit feinfühliger Zurückhaltung anwandte. Und weshalb wird man überhaupt bewundert und geliebt? Ist das nicht ein schwer zu ergründendes Mysterium, rund und zart wie ein Ei? Wird man wahrer geliebt, wenn es wegen eines Schnurrbarts geschieht, als wenn es wegen eines Automobils geschieht? Ist die Liebe, die man erregt, weil man ein sonnengebräunter Sohn des Südens ist, persönlicher als die, die man dadurch erregt, daß man ein Sohn eines der größten Unternehmer ist? Arnheim trug in jener Zeit, wo fast alle modischen Männer sich glatt rasieren ließen, genau so wie früher einen kleinen, spitzen Kinn- und einen kurz geschorenen Schnurrbart: dieses kleine, fremd ansitzende und doch zu ihm gehörende Gefühl in seinem Gesicht erinnerte ihn, aus Gründen, die ihm selbst nicht klar waren, wenn er allzu selbstvergessen vor eifrigen Zuhörern sprach, in einer angenehmen Weise an sein Geld.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 92

Dem Zivilverstand ist auch auf dem Weg der Körperkultur schwer beizukommen

  Der General saß schon lange Zeit auf einem der Stühle, die man rings um den geistigen Turnierplatz an die Wand gerückt hatte, sein »Gönner«, wie er Ulrich gern nannte, neben ihm, und zwischen beiden war ein Stuhl frei, auf dem zwei labende Kelchgläser standen, die sie am Büfett erbeutet hatten. Des Generals hellblauer Rock hatte sich im Sitzen emporgeschoben und bildete über dem Bauch Runzeln wie eine besorgte Stirn. Die beiden Männer schwiegen und hörten einem Gespräch zu, das vor ihnen geführt wurde. 

»Beauprés Spiel« sagte jemand »muß man genial nennen; ich habe ihn im Sommer hier und im Winter zuvor an der Riviera spielen gesehn. Wenn er einen Fehler macht, hilft ihm das Glück. Er macht sogar oft Fehler, sein Spiel widerspricht im Aufbau einem realen Tenniswissen; aber dieser gottbegnadete Mensch steht außerhalb normaler Tennisgesetze.«

»Ich ziehe wissenschaftliches Tennis dem intuitiven vor,« wurde eingewendet »Braddock zum Beispiel. Vielleicht gibt es keine Vollkommenheit, aber Braddock ist nahe dabei.«
Der erste Redner entgegnete: »Das Genie Beauprés, sein planloses, geniales Durcheinander ist auf dem Höhepunkt, wenn das Wissen versagt!«
Ein dritter Mann: »Genie ist vielleicht doch etwas zu viel gesagt.«
»Wie wollen Sie es nennen? Es ist das Genie, das einem Mann im unwahrscheinlichsten Moment die richtige Art der Ballbehandlung eingibt!«
»Ich würde auch sagen,« half der Braddockianer »Persönlichkeit muß sich zeigen, ob ein Tennisschläger in der Hand gehalten wird oder Völkerschicksale.«
»Nein, nein; Genie ist zuviel!« verwahrte sich der Dritte.
Der Vierte war ein Musiker. Er sagte: »Sie haben ganz unrecht. Sie übersehen das reale Denken, das im Sport liegt, weil Sie offenbar noch an die Überschätzung des logisch-systematischen gewöhnt sind. Das ist ungefähr ebenso veraltet wie das Vorurteil, daß Musik eine Gefühlsbereicherung sei und der Sport eine Willensschule. Aber reine Bewegungsleistung ist so magisch, daß der Mensch sie nicht ungeschützt vertragen kann; das sehen Sie im Kino, wenn die Musik fehlt. Und Musik ist innere Bewegung, sie fördert die Bewegungsphantasie. Wenn man das Magische an der Musik erfaßt hat, wird man sich nicht eine Sekunde bedenken, dem Sport Genie zuzusprechen; nur Wissenschaft hat kein Genie, das ist Gehirnakrobatik!«
»Also habe ich recht,« sagte der Anhänger Beauprés »wenn ich Braddocks wissenschaftlichem Spiel das Genie abspreche.«
»Sie übersehen,« verteidigte diesen sein Anhänger »daß man da von einer neuen Belebung des Begriffes Wissenschaft ausgehen muß!«
»Welcher von beiden schlägt eigentlich den anderen?« fragte jemand.
Niemand wußte es; beide hatten einander schon öfters besiegt, aber niemand hatte die genauen Zahlen im Kopf.
»Fragen wir Arnheim« schlug jemand vor.
Die Gruppe löste sich auf. Das Schweigen auf den drei Stühlen dauerte an. Endlich sagte General Stumm nachdenklich: »Entschuldige, ich habe die ganze Zeit zugehört, aber alles das könnte man doch auch von einem siegreichen General sagen, die Musik ausgenommen? Warum finden Sie es eigentlich an einem Tennisspieler genial und an einem General barbarisch?« Er hatte, seit ihm sein Gönner den Rat gab, es bei Diotima mit Körperkultur zu versuchen, verschiedene Male darüber nachgedacht, wie er diesen hoffnungsvollen Zugang zu den Zivilideen, trotz seiner ursprünglichen Abneigung dagegen, doch benutzen könnte, aber die Schwierigkeiten waren, wie er leider jedesmal wahrnehmen mußte, auch in dieser Richtung ungewöhnlich groß.
 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 93

Man muß mit seiner Zeit gehn

 Dr. Arnheim hatte den angemeldeten Besuch zweier leitenden Beamten seiner Firma erhalten und lange konferiert; im Salon lagen am Morgen, unaufgeräumt und des Sekretärs harrend, die Akten und Berechnungen umher. Arnheim mußte Beschlüsse fassen, die Delegaten sollten einen Nachmittagszug zur Rückkehr benützen, und er genoß heute wie immer solche Umstände, denn sie gewährleisteten unter allen Bedingungen eine gewisse Spannung. »In zehn Jahren« überlegte er »wird die Technik so weit sein, daß die Firma ihre eigenen Reiseflugzeuge hat; dann werde ich auch aus einer Sommerfrische im Himalaja meine Leute dirigieren können.« Da er seine Beschlüsse schon über Nacht gefaßt und sie bei Tageslicht nur noch einmal zu prüfen und gut zu heißen hatte, war er in diesem Augenblick frei; er hatte sich das Frühstück aufs Zimmer kommen lassen und gab sich bei der Morgenzigarre geistiger Entspannung hin, indem er nun der Zusammenkunft bei Diotima gedachte, die er am Abend vorher etwas vorzeitig hatte verlassen müssen. Es war diesmal eine höchst unterhaltsame Gesellschaft gewesen; sehr viele der Besucher unter dreißig, höchstens fünfunddreißig Jahre alt, fast noch Boheme, aber doch schon bekannt und von den Zeitungen zur Kenntnis genommen; nicht nur Einheimische, sondern auch Gäste aus aller Welt, die von der Kunde angezogen worden, daß in Kakanien eine Frau aus den höchsten Kreisen dem Geiste eine Gasse in die Welt bahne. [...]
Er schüttelte bloß den Kopf, wenn er sich an die Gespräche erinnerte, die er hatte anhören müssen; reichlich verrückt fand er sie, aber »man muß der Jugend nachgeben,« sagte er zu sich »man wird unmöglich, wenn man sie einfach ablehnt.« Er fühlte sich also, wenn man so sagen darf, ernsthaft belustigt davon, denn es war ein bißchen viel auf einmal gewesen. [...]
Was sie für famose Worte hatten! Das intellektuelle Temperament forderten sie. Den rapiden Denkstil, der der Welt an die Brust springt. Das zugespitzte Hirn des kosmischen Menschen. Was hatte er denn sonst noch gehört? Die Neugestaltung des Menschen auf Grund eines amerikanischen Weltarbeitsplans, durch das Medium der mechanisierten Kraft. Den Lyrismus, verbunden mit dem eindringlichsten Dramatismus des Lebens. Den Technismus; einen Geist, der des Zeitalters der Maschine würdig ist. Blériot – hatte einer ausgerufen – schwebe soeben über dem Ärmelkanal mit fünfzig Kilometern Stundengeschwindigkeit! Dieses Fünfzig-Kilometer-Gedicht müßte man schreiben und die ganze andere, mulmige Literatur auf den Mist schicken! [...]
Den Akzelerismus forderten sie, das ist die maximale Steigerung der Erlebensgeschwindigkeit auf Grund sportlicher Biomechanik und zirkusspringerischer Präzision! [...]
Aus der Frage, ob ein Kunstwerk oder die Not zehntausender Menschen wichtiger sei, wurde die Frage, ob zehntausend Kunstwerke die Not eines einzigen Menschen aufwiegen? Ganz robuste Künstler verlangten, daß der Künstler sich nicht so wichtig nehmen dürfe; fort mit seiner Selbstverherrlichung, er werde hungrig und sozial, war ihre Forderung! Das Leben sei das größte und einzige Kunstwerk, sagte jemand. Eine Kraftstimme warf ein: Nicht Kunst macht einig, sondern Hunger! [...]
Solche Gespräche haben einen eigentümlichen Gang, als ob man die Parteien mit verbundenen Augen in einem Vieleck aufstellte und mit einem Stock bewaffnet gerade vorgehen hieße; es ist ein wirres und ermüdendes Schauspiel ohne Logik. Aber ist es nicht ein Abbild des Ganges der Dinge im Großen: Auch der erfolgt nicht aus den Verboten und Gesetzen der Logik, denen höchstens die Wirksamkeit einer Polizei zukommt, sondern aus den ungeordneten Triebkräften des Geistes. [...]
Der General [General Stumm von Bordwehr], als der einzige Offizier, fühlte sich offenbar nicht ganz am Platze und beklagte sich über die Wandelbarkeit der öffentlichen Meinung, weil einige Ausführungen über die Heiligkeit des Menschenlebens Beifall fanden. »Ich verstehe diese Leute nicht«, mit solchen Worten hatte er sich an Arnheim gewandt und ihn, als einen international hervorragenden Geist um Aufklärung gebeten. »Ich verstehe nicht, warum diese neuen Leute mit solcher Unkenntnis von ›Blutgeneralen‹ sprechen? [...]
Der Feldwebel, wenn Sie mir dieses untergeordnete Beispiel gestatten, muß sich natürlich um das Wohlergehen jedes einzelnen Mannes in seiner Kompanie kümmern; der Stratege dagegen rechnet mit dem Menschentausend als kleinster Einheit und muß auch zehn solcher Einheiten auf einmal opfern können, wenn es ein höherer Zweck verlangt. Ich finde, daß es keine Logik hat, wenn man das in dem einen Fall einen Blutgeneral und in dem andern eine ewige Gesinnung nennt, und bitte Sie, es mir zu erklären, wenn das möglich ist!« [...]
Seine eigene Lage war in diesem Kreis auch keine ganz leichte gewesen. Er hatte trotz aller Geltung manche böse Bemerkung zu hören bekommen, als wäre sie gegen ihn selbst gerichtet, und was verdammt wurde, war oft nicht weniger als das, was er in seiner Jugend geliebt hatte, gerade so wie diese jungen Leute nun die Ideen ihrer Generation liebten. Er erlebte es als ein sehr eigentümliches Gefühl, man könnte es beinahe unheimlich nennen, von jungen Leuten geehrt zu werden, die im gleichen Atem eine Vergangenheit, an der er selbst heimlich beteiligt war, rücksichtslos verhöhnten; Arnheim verspürte dabei Elastizität, Verwandlungsfähigkeit, Unternehmungslust in sich, fast könnte man sagen, die kühne Rücksichtslosigkeit eines gut verborgenen schlechten Gewissens. Er überlegte blitzschnell, was ihn von dieser neuen Generation trennte. Die jungen Leute widersprachen einander in allem und jedem, eindeutig gemeinsam war ihnen nur, daß es der Objektivität, der geistigen Verantwortung, der ausgeglichenen Person zu Leibe ging [...]
Er bewunderte, wie Heine, einen Mann seiner eigenen Zeit bekämpfend, Erscheinungen da vorweggenommen hatte, die jetzt erst in vollem Ansehen standen, und es regte ihn zu eigenen Leistungen an, als er sich nun dem zweiten Vertreter großer deutscher idealistischer Gesinnung, dem Dichter des Generals zuwandte. Das war nach dem mageren der fette Geistesschlag. Sein feierlicher Idealismus entsprach jenen großen tiefen Blasinstrumenten in den Orchestern, welche in die Höhe gestellten Lokomotivkesseln gleichen und ein ungefüges Grunzen und Schollern hervorbringen. Sie decken mit einem Ton tausend Möglichkeiten zu. Sie pusten große Pakete voll der ewigen Gefühle aus. Wer in einer von diesen Arten in Versen zu blasen vermag, – dachte Arnheim nicht ganz ohne Bitterkeit – gilt bei uns heute für einen Dichter, im Unterschied vom Literaten. Warum also wirklich nicht gleich für einen General? Solche Leute stehen doch mit dem Tod auf bestem Fuß und brauchen beständig einige Tausend Verstorbener, um den Augenblick des Lebens mit Würde zu genießen. Aber da hatte jemand behauptet, daß sogar des Generals Hund, der in einer Rosennacht den Mond anheult, zur Rede gestellt, antworten könnte: Was wollt ihr, es ist ja doch der Mond, und es sind die ewigen Gefühle meiner Rasse; genau wie einer der Herrn, die dafür berühmt seien! Ja, er könnte eigens noch hinzufügen, daß sein Gefühl ohne Zweifel erlebnisstark sei, sein Ausdruck reich bewegt und doch so einfach, daß ihn das Publikum verstehe, und was seine Gedanken anlange, so treten sie wohl hinter sein Gefühl zurück, aber das entspreche ganz und gar den geltenden Forderungen und sei in der Literatur noch nie ein Hindernis gewesen. [...]
»Diese heraldischen Herrschaften, die sich nicht einmal selbst erhalten können,« dachte er »gehören im Grunde genommen in einen Naturschutzpark, gemeinsam mit den letzten Wisenten und Adlern!«
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 89 

25 März 2014

Begegnungen

[Meine 1.Lektüre August 1966]

Ein Liebespaar wird von den beiden Grafen Leontin und Friedrich belauscht, die versteckt über ihm in einem Baum sitzen.

Er:  Ach, in wenigen Stunden scheidet uns das eiserne Schicksal wieder, und Berge und Täler liegen zwischen zwei gebrochenen Herzen. 
Sie:  Ja, und in dem einen Tale ist der Weg immer so kotig und kaum zum Durchkommen. 
Er: Und an meinem neuen schönen Parutsch gerade auch ein Rad gebrochen. Aber genießen wir doch die schöne Natur! An ihrem Busen werd ich so warm! 
Sie: O ja. 
Er: Es geht doch nichts über die Einsamkeit für ein sanftes, überfließendes Herz. Ach! die kalten Menschen verstehen mich gar nicht! 
Sie: Auch Sie sind der einzige, mein edler Freund, der mich ganz versteht. Schon lange habe ich Sie im stillen bewundert, diesen wie soll ich sagen? diesen edlen Charakter, diese schönen Sentimentre Sentiments wollen Sie sagen, fiel er ihr ins Wort und rückte sich mit eitler Wichtigkeit zusammen. 

O Jemine! flüsterte Leontin wieder, mir juckt der Edelmut schon in allen Fingern, ich dächte, wir prügelten ihn durch. 
Die beiden Sentimentalen hatten einander indes mit den Armen umschlungen und sahen lange stumm in den Mond. 
Nun sitzt die Unterhaltung auf dem Sande, sagte Leontin, der Witz ist im abnehmenden Monde. 
Aber zu seiner Verwunderung hub er von neuem an: O heilige Melancholie! du sympathische Harmonie gleichgestimmter Seelen! So rein, wie der Mond dort oben, ist unsere Liebe! 
Währenddessen fing er an, heftig an dem Busenbande des Mädchens zu arbeiten, die sich nur wenig sträubte. 
Nun, sagte Leontin, sind sie in ihre eigentliche Natur zurückgefallen, der Teufel hat die Poesie geholt. Das ist ja ein verwetterter Schuft, rief Friedrich, und fing oben auf seinem Baume an, ganz laut zu singen. 

Die Sentimentalen sahen sich eine Weile erschrocken nach allen Seiten um, dann nahmen sie in der größten Verwirrung Reißaus. Leontin schwang sich lachend, wie ein Wetterkeil, vom Baume hinter ihnen drein und verdoppelte ihren Schreck und ihre Flucht. Unsere Reisenden waren nun wahrscheinlich verraten und mußten also auf einen klugen Rückzug bedacht sein. Sie zogen sich daher auf den leeren Gängen des Gartens an den Spazierengehenden vorüber und wurden so, vom Dunkel begünstigt, von allen entweder übersehen oder für Ballgäste gehalten. 
Als sie, schon nahe am Ausgange, eben um die Ecke eines Ganges umbiegen wollten, stand auf einmal das schöne Fräulein, die mit einer Begleitung von der andern Seite kam, dicht vor ihnen. Der Mondschein fiel gerade sehr hell durch eine Öffnung der Bäume und beleuchtete die beiden schönen Männer. Das Fräulein blieb mit sichtbarer Verwirrung vor ihnen stehen. 
Sie grüßten sie ehrerbietig. Sie dankte verlegen mit einer tiefen, zierlichen Verbeugung, und eilte dann schnell wieder weiter. Aber sie bemerkten wohl, daß sie sich in einiger Entfernung noch einmal flüchtig nach ihnen umsah.

Joseph Freiherr von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, 6. Kapitel

24 März 2014

Es gibt nichts, was dem Geist so gefährlich wäre wie seine Verbindung mit großen Dingen.

Es gibt nichts, was dem Geist so gefährlich wäre wie seine Verbindung mit großen Dingen. Ein Mensch wandert durch einen Wald, besteigt einen Berg und sieht die Welt unter sich ausgebreitet, betrachtet sein Kind, das man ihm zum erstenmal in die Arme legt, oder genießt das Glück, irgendeine Lage einzunehmen, die allgemein beneidet wird; wir fragen: was mag dabei in ihm vorgehen? [...]
Draußen überzieht die durchseelte, durchsonnte, vertiefte oder große Stunde die Welt mit einem galvanischen Silber bis in alle Blättchen und Äderchen; an ihrem anderen, persönlichen Ende aber macht sich bald ein gewisser, innerer Stoffmangel merklich, es entsteht dort sozusagen ein großes, leeres, rundes »O«. Dieser Zustand ist das klassische Symptom der Berührung mit allem Ewigen und Großen wie des Verweilens auf den Höhepunkten der Menschheit und Natur. [...]
Man könnte die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen darum auch als ein Gesetz von der Erhaltung der geistigen Materie bezeichnen, und es scheint ziemlich allgemein zu gelten. Die Reden hochgestellter, im Großen wirkender Personen sind gewöhnlich inhaltsloser als unsere eigenen. Gedanken, die in einer besonders nahen Beziehung zu besonders würdigen Gegenständen stehen, sehen gewöhnlich so aus, daß sie ohne diese Begünstigung für sehr zurückgeblieben gehalten würden. Die uns teuersten Aufgaben, die der Nation, des Friedens, der Menschheit, der Tugend und ähnlich teuere tragen auf ihrem Rücken die billigste Geistesflora. Das wäre eine sehr verkehrte Welt; aber wenn man annimmt, daß die Behandlung eines Themas desto unbedeutender sein darf, je bedeutender dieses Thema selbst ist, dann ist es eine Welt der Ordnung. [...]
Es gab einflußreiche Industrien, wie die des Fußballspiels oder des Tennis, aber man zögerte noch, ihnen an den technischen Hochschulen Lehrstühle aufzustellen. Alles in allem: ob nun der selige Raufbold und Admiral Drake seinerzeit die Kartoffel aus Amerika eingeführt hat, womit das Ende der regelmäßigen Hungersnöte in Europa begann, oder ob das der weniger selige, sehr gebildete und ebenso rauflustige Admiral Raleigh getan hat oder ob es namenlose spanische Soldaten gewesen sind oder gar der brave Gauner und Sklavenhändler Hawkins – lange Zeit ist es niemand eingefallen, wegen der Kartoffeln diese Männer für bedeutender zu halten als etwa den Physiker Al Schîrasî, von dem man nur weiß, daß er den Regenbogen richtig erklärt hat; aber mit dem bürgerlichen Zeitalter hatte eine Umwertung im Range solcher Leistungen begonnen, und zur Zeit Arnheims war sie schon weit gediehen und wurde nur noch durch ältere Vorurteile gehemmt. Die Quantität der Wirkung und Wirkung der Quantität, als neuer, sonnenklarer Gegenstand der Verehrung, kämpfte noch mit einer veraltenden und erblindeten adeligen Verehrung der großen Qualität, aber in der Vorstellungswelt waren schon die tollsten Kompromisse daraus entstanden, wie gleich die Vorstellung des großen Geistes selbst, die so, wie wir sie im letzten Menschenalter kennen gelernt haben, eine Synthese von eigener und Kartoffelbedeutung sein mußte, denn  [...] man wartete auf einen Mann, der die Einsamkeit des Genies haben sollte, aber dabei doch die Gemeinverständlichkeit einer Nachtigall.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 88

Glenn Tucker: Tecumseh

Tecumseh strebte eine Vereinigung aller indianischen Stämme im Kampf gegen die Weißen an.
Glenn Tucker macht glaubhaft, dass er ein ungewöhnlich begabter Redner war, wohl der beste indianische Redner seiner Zeit, dass Kanada seinen Fortbestand Tecumsehs Kampf an der Seite der britischen Truppen verdankte und dass Tecumseh asketisch der einen Aufgabe Abehr des Vordringens der Weißen lebte.

Was mir nicht mehr bewusst war, ist, dass er als Jugendlicher eine Zeit lang mit dem besten Waldläufer seiner Zeit, Daniel Boone, als Adoptivkind eines Shawnee Häuptlings zusammenlebte.

23 März 2014

Moosbrugger tanzt

Moosbrugger saß indessen noch immer in einer Untersuchungszelle des Landesgerichts. Sein Verteidiger hatte frischen Wind in die Segel bekommen und bemühte sich bei den Behörden, die Causa nicht so rasch zum letzten Federstrich kommen zu lassen.
Moosbrugger lächelte dazu. Er lächelte aus Langweile. Die Langweile wiegte seine Gedanken. Gewöhnlich löscht sie sie ja aus; aber die seinen wiegte sie; diesmal; es war ein Zustand, wie wenn ein Schauspieler in der Garderobe sitzt und auf seinen Auftritt wartet. Wenn Moosbrugger einen großen Säbel gehabt hätte, würde er ihn jetzt genommen und dem Stuhl den Kopf abgeschlagen haben. Er würde dem Tisch den Kopf abgeschlagen haben und dem Fenster, dem Kübel und der Türe. Er würde dann allem, dem er den Kopf abschlug, seinen eigenen aufgesetzt haben, denn es gab in dieser Zelle nur seinen eigenen Kopf, und das war schön. Er konnte sich ihn vorstellen, wie er auf den Dingen saß, mit dem breiten Schädel, dem Haar, das sich wie ein Fell vom Scheitel in die Stirn zog. Er hatte die Dinge dann gern. [...]
Moosbrugger glaubte nicht an Gott, sondern an seine persönliche Vernunft. Die ewigen Wahrheiten hießen bei ihm verächtlich: der Richter, der Pfaffe, der Gendarm. Er mußte sich seine Sache allein machen, und da hat man schon manchmal den Eindruck, daß einem alle den Weg verstellen! Er sah vor sich, was er oft gesehen: die Tintenfässer, das grüne Tuch, die Bleistifte, dann das Kaiserbildnis an der Wand und wie sie alle dasaßen; in seiner Anordnung kam ihm das wie ein Schnappeisen vor, zugedeckt mit dem Gefühl, es muß so sein, statt mit Gras und Blättern. [...]
»Das nächste Mal werde ich mir das genauer anschauen müssen,« dachte Moosbrugger »sonst verstehen sie mich ja doch nicht.« Und dann lächelte er streng und sprach wie ein Vater über sich mit den Richtern, der von seinem Sohn sagt: er taugt nichts, sperrt ihn nur tüchtig ein, vielleicht nimmt er sich dann zusammen! Natürlich ärgerte er sich jetzt zuweilen über die Anordnungen im Gefängnis. Oder es tat ihm etwas weh. Aber dann konnte er sich dem Gefängnisarzt vorführen lassen oder dem Direktor, und so kam alles doch wieder in eine gewisse Ordnung und Ruhe, wie das Wasser über einer toten Ratte, die hineingefallen ist. Freilich stellte er sich das nicht gerade unter diesem Bild vor; aber einen Eindruck, wie ein großes, spiegelndes Wasser ausgebreitet zu sein, das durch nichts zu stören ist, den hatte er jetzt fast immer, wenn er auch die Worte dafür nicht hatte.
Die Worte, die er hatte, waren: – Hmhm, soso.
Der Tisch war Moosbrugger.
Der Stuhl war Moosbrugger.
Das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür war er selbst.
Er meinte das keineswegs verrückt und ungewöhnlich. Die Gummibänder waren einfach weg. Hinter jedem Ding oder Geschöpf, wenn es einem anderen ganz nah kommen möchte, ist ein Gummiband, das sich spannt. Sonst könnten ja auch am Ende die Dinge durcheinander hindurchgehen. Und in jeder Bewegung ist ein Gummiband, das einen nie ganz das tun läßt, was man möchte. Diese Gummibänder waren nun mit einemmal fort. [...]
Er beherrschte jetzt alles und herrschte es an. Er brachte alles in Ordnung, ehe man ihn tötete. Er konnte denken, woran er wollte, augenblicklich war es so fügsam wie ein gut erzogener Hund, zu dem man »Kusch!« sagt. Er hatte, obgleich er eingesperrt war, ein ungeheures Gefühl der Macht. Pünktlich kam die Suppe. Pünktlich wurde er geweckt und spazierengeführt. Alles in der Zelle war pünktlich streng und unverrückbar. Das kam ihm manchmal ganz unglaublich vor. In einer merkwürdigen Umkehrung hatte er den Eindruck, diese Ordnung gehe von ihm aus, obwohl er wußte, daß sie ihm auferlegt war. Andere Leute haben solche Erlebnisse, wenn sie im Sommerschatten einer Hecke liegen, die Bienen summen, die Sonne klein und hart durch den milchhellen Himmel zieht; die Welt dreht sich dann wie ein mechanisches Spielwerk um solche Leute. In Moosbrugger besorgte das schon der geometrische Anblick, den ihm seine Zelle bot. [...]
Weiter konnte es Moosbrugger auch nicht verstehn; der Raum zwischen Freundlichkeit und Genughaben ist eben schmal, und wenn es einmal so anfängt, dann wird es rasch entsetzlich eng. Er erinnerte sich sehr gut, daß die Leute, die sich in Fremdworten ausdrücken können und immerzu über ihn zu Gericht saßen, ihm oft vorgehalten hatten: »Aber deswegen bringt man einen anderen doch nicht gleich um?!« Moosbrugger zuckte die Achseln. Es sind schon Leute wegen ein paar Kreuzern umgebracht worden oder für nichts, weil ein anderer es sich gerade so eingebildet hat. [...]
er würde gerne gewußt haben, warum ihm von Zeit zu Zeit so eng wurde oder wie man das nennen soll, so daß er sich mit Gewalt Platz schaffen mußte, damit ihm das Blut wieder aus dem Kopf rinnen konnte. Er dachte nach. Aber war es nicht mit dem Nachdenken selbst gerade so? Wenn eine gute Zeit dafür begann, hätte er vor Vergnügen nur lächeln mögen. Da juckten nicht mehr die Gedanken unter dem Schädel, sondern plötzlich war nur noch ein einziger Gedanke da. Der Unterschied war so groß wie zwischen dem Watscheln eines kleinen Kindes und dem Tanz eines schönen Weibsbilds. [...]
Ein Tropfen von Moosbruggers Blut war in die Welt gefallen. Man konnte das nicht sehen, weil es finster war, aber er fühlte, was im Unsichtbaren vor sich ging. Wirres richtete sich dort draußen gleich. Krauses wurde glatt. Ein lautloser Tanz löste das unerträgliche Surren ab, mit dem ihn die Welt sonst oft quälte. Alles, was geschah, war jetzt schön; so wie ein häßliches Mädel schön wird, wenn es nicht mehr allein dasteht, sondern von anderen an der Hand gefaßt wird, von einem Reigen mitgedreht wird und das Gesicht eine Treppe hinaufgerichtet hat, von der schon andere herunterblicken. Das war sonderbar, und wenn Moosbrugger die Augen öffnete und sich die Leute ansah, die in einem solchen Augenblick, wo ihm alles tanzend gehorchte, gerade, in seiner Nähe waren, so kamen auch sie ihm schön vor. Dann waren sie nicht gegen ihn verschworen, bildeten keine Mauer, und es zeigte sich, daß es nur die Anstrengung war, ihn übertrumpfen zu wollen, was das Gesicht von Menschen und Dingen wie eine Last verzerrte. Und dann tanzte Moosbrugger vor ihnen. Tanzte würdig unsichtbar, er, der im Leben mit niemand tanzte, von einer Musik bewegt, die immer mehr zu Einkehr und Schlaf wurde, zum Schoß der Gottesmutter und schließlich zur Ruhe Gottes selbst, zu einem wunderbar unglaubwürdigen und tödlich gelösten Zustand; tanzte tagelang, ohne daß es jemand sah, bis alles außen, aus ihm heraus war, steif und fein wie ein Spinngewebe, das der Frost unbrauchbar gemacht hat, an den Dingen hing. Wenn man das nicht mitgemacht hat, wie will man dann über das andere urteilen?! Nach den leichten Tagen und Wochen, wo Moosbrugger fast aus seiner Haut schlüpfen konnte, kamen immer wieder die langen Zeiten der Einkerkerung. Die Staatskerker waren nichts dagegen. Wenn er dann denken wollte, zog sich alles bitter leer in ihm zusammen. Die Arbeiterheime und Volksbildungsvereine, wo man ihm sagen wollte, wie er denken solle, haßte er; der sich noch erinnerte, wie die Gedanken große Stelzschritte in ihm machen konnten! Auf Bleisohlen schleppte er sich dann durch die Welt, in der Hoffnung, einen Ort zu finden, wo es wieder anders werden sollte. [...]
Heute konnte er dieser Hoffnung nur noch herablassend nachlächeln. Es war ihm niemals gelungen, die Mitte zwischen seinen zwei Zuständen zu finden, bei der er vielleicht hätte bleiben können. Er hatte genug davon. Er lächelte großartig dem Tod entgegen.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 87

Das Schweigen des Sammlers


Jaume Cabrés
Buch ist für Florian Borchmeyer nicht weniger als der "wohl wichtigste" Roman Spaniens seit vielen Jahren. Und das, obgleich er nicht mal genau zu sagen weiß,... 
Rezensionsnotiz von Frankfurter Allgemeine Zeitung (zitiert nach Perlentaucher)

"Mit seiner Ausdruckskraft hätte Cabre eine einzigartige und bleibende Geschichte über eine Freundschaft, eine Liebe und eine Geige schreiben können. Denn das Besondere liegt oft im (scheinbar) Einfachen, und das ist schwierig genug.

Alle Leser, die genau einen einzigen Cabre lesen möchten, sollte[n] bitte zu "Die Stimmen des Flusses" greifen. Das dafür aber umsomehr. 

(Kundenrezension)


Lektürenotizen

Mir ist mit Xènia der erste Mensch begegnet, den ich mir auch außerhalb von Literatur vorstellen kann. Bei Homer gibt es gar keinen, aber bei einem Autor des 20./21. Jh. überrascht es mich.
Ich suche aber weiter. 

Mit dem Testament der Mutter hat für mich das Marionettenhafte der Figuren sich gelockert. 

Sara ist liebenswert, und das Verhältnis zu Sara gibt [dem Erzähler] Adrià menschliche Züge.
Allenfalls das rechtfertigt die Fiktion, er schriebe einen Text, der in Wirklichkeit  eine Mischung von personalem Erzählen und innerem Monolog ist. 

Und es geschieht wohl bewusst, dass Cabré an der Stelle, wo er erstmals eine sympathische Figur einführt, so ausdauernd davon handelt, dass die Figuren eines fiktionalen Textes einem Interesse abnötigen müssen, wenn man etwas mit dem Text etwas anfangen kann. 

Sonst kommt es zu leicht zum "An jenem Tage lasen wir nicht weiter". Freilich nicht im Sinne des Danteschen Kontextes.

Zwei Rezensionen:



22 März 2014

Alle Wege zum Geist gehen von der Seele aus, aber keiner führt zurück

Ungefähr zu dieser Zeit begann Arnheim auch seine Schriften zu veröffentlichen, und das Wort Seele tauchte in ihnen auf. Man kann vermuten, daß er es wie eine Methode, einen Vorsprung, als Königswort gebrauchte, denn sicher ist, daß Fürsten und Generale keine Seele haben, und von Finanzleuten war er der erste. Gewiß ist auch, daß dabei ein Bedürfnis eine Rolle spielte, sich gegen seine sehr vernünftige engere Umwelt, namentlich gegen die im Geschäftlichen überlegene Führernatur seines Vaters, neben dem er allmählich die Figur des alternden Kronprinzen zu spielen begann, in einer dem Geschäftsverstande unzugänglichen Weise zu verteidigen. Und ebenso gewiß ist es, daß sein Ehrgeiz, alles Wissenswerte zu beherrschen, – ein Hang zur Polyhistorie, dem in solchem Ausmaße, wie es seinem Bedürfnis entsprach, kein Mensch gewachsen wäre – in der Seele ein Mittel fand, um alles, was sein Verstand nicht beherrschen konnte, zu entwerten. [...]
er leugnete nicht den Nutzen des Wissens, ja im Gegenteil, er machte selbst Eindruck durch sein emsiges Zusammentragen, wie es nur ein Mann vermag, dem dazu alle Mittel zu Gebote stehn, aber nachdem er diesen Eindruck gemacht hatte, erklärte er, daß sich über dem Bereich des Scharfsinns und der Genauigkeit ein Reich der Weisheit befinde, das nur noch seherisch erkannt werden könne; er beschrieb den Willen, der Staaten und Weltgeschäfte gründet, um verstehen zu lassen, daß er bei aller Größe nichts sei wie ein Arm, der von einem im Unsichtbaren schlagenden Herzen bewegt werden muß; er erklärte, seinen Zuhörern die Fortschritte der Technik oder den Wert der Tugenden in der allergewöhnlichsten Weise, wie es jeder Bürger sich vorstellt, um aber hinzuzufügen, daß solcher Gebrauch der Natur- und Geisteskräfte doch nur verhängnisvolle Unkenntnis bleibe, wenn man nicht ahne, daß sie die Erregungen eines Ozeans sind, der tief unter ihnen liege und von den Wellen kaum geritzt werde. Und er trug solche Äußerungen im Stil von Erlassen des Statthalters einer vertriebenen Königin vor, der seine Weisungen von ihr persönlich empfangen hat und die Welt nach ihnen ordnet. Vielleicht war dieses Ordnen seine eigentliche und heftigste Leidenschaft, ein Machtdrang, der weit alles überschritt, was selbst ein Mensch in seiner Stellung sich gewähren konnte, und unmittelbar dazu führte, daß der in den Bezirken der Wirklichkeit so mächtige Mann mindestens einmal im Jahr sich auf sein Schloß in der Mark zurückziehen und seinem Sekretär ein Buch ins Stenogramm diktieren mußte. Jene sonderbare Ahnung, die zuerst und am lebhaftesten in seinen schwärmerischen Jugendstunden hervorgekommen war, hatte sich diesen Weg gebahnt, aber sie suchte ihn zuweilen auch noch unmittelbar, wenngleich mit geschwundener Kraft, heim. Inmitten der Weltgeschäfte befiel es ihn dann wie eine süße Lähmung und Klostersehnsucht, die ihm zuflüsterte, daß alle Widersprüche, alle großen Ideen, alle Welterfahrungen und -anstrengungen nicht nur so Eines seien, wie man es ungenau als Kultur und Humanität versteht, sondern auch in einer wild-wörtlichen und flimmernd untätigen Bedeutung, so wie man an einem kränkelnd schönen Tag die Hände kreuzen, über Fluß und Wiesen hinschauen und nimmer sich lösen mag. In diesem Sinne war sein Schreiben ein Kompromiß. Und weil es nur eine Seele gibt und diese nicht greifbar, sondern im Exil und von dort sich nur auf eine einzige, so merkwürdig undeutliche oder vieldeutige Weise meldend, dagegen unzählige, schlechthin unendlich viele, und alle Fragen der Welt, auf die man diese königliche Botschaft anwenden kann, so entstand mit den Jahren jene ernste Verlegenheit für ihn, in die alle Legitimisten und Propheten geraten, wenn es zu lange dauert. Arnheim brauchte sich nur in der Einsamkeit zum Schreiben hinzusetzen, so führte die Feder geradezu mit gespenstischer Ergiebigkeit seine Gedanken von der Seele zu den Problemen des Geistes, der Tugenden, der Wissenschaft und der Politik, die, aus unsichtbarer Quelle bestrahlt, in einer deutlichen und magisch einheitlichen Beleuchtung erschienen. Dieser Ausdehnungsdrang hatte Berauschendes, dafür war er aber an jene Spaltung des Bewußtseins gebunden, die bei vielen die Voraussetzung der schriftlichen Schöpfung ist, indem der Geist alles ausschaltet und vergißt, was ihm nicht ins Konzept paßt; im Angesicht eines Unterredners sprechend und durch dessen Person den Beziehungen der Erde verbunden, würde sich Arnheim niemals so weit ausgelassen haben, aber über ein Papier gebeugt, das bereitlag, seine Anschauung widerzuspiegeln, ließ er es sich mit Freuden an einem gleichnishaften Ausdruck von Überzeugungen genug sein, die nur zum geringsten Teil fest, zum größeren ein Nebel von Worten waren, dessen einziger, übrigens nicht unbeträchtlicher Wirklichkeitsanspruch darin bestand, daß er unwillkürlich an immer den gleichen Stellen aufstieg. Wer ihn deshalb tadeln möchte, sollte bedenken, daß eine doppelte geistige Persönlichkeit zu besitzen, schon längst nicht mehr ein Kunststück ist, das nur Narren fertigbringen, sondern daß im Tempo der Gegenwart die Möglichkeit politischer Einsicht, die Fähigkeit, einen Zeitungsartikel zu schreiben, die Kraft, an neue Richtungen in Kunst und Literatur zu glauben, und unzähliges andere ganz und gar auf der Begabung gegründet ist, für bestimmte Stunden gegen seine Überzeugung überzeugt zu sein, von dem vollen Bewußtseinsinhalt einen Teil abzuspalten und diesen zu einem neuen Vollüberzeugtsein auszubreiten. Es bedeutete auf diese Weise noch einen Vorzug, daß Arnheim ganz ehrlich niemals von dem überzeugt war, was er sagte.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 86

19 März 2014

Der Königskaufmann und die Interessenfusion Seele - Geschäft II

[...] es gibt vielleicht auf der ganzen Welt kein anderes Mittel, ein Ding oder Wesen schön zu machen, als es zu lieben. [...]
er konnte sich aber, nach vielfach wiederholter Befragung seines Inneren, trotzdem nicht dem Ergebnis verschließen, daß er liebte. Und das war eine sonderbare Sache, denn ein Herz, das gegen fünfzig Jahre alt ist, ist ein zäher Muskel, der sich nicht mehr so einfach ausdehnen mag wie der eines Zwanzigjährigen in der Zeit der Liebesblüte, und es bereitete ihm beträchtliche Unannehmlichkeiten. [...]
Das Allgemeingültige, das er immer seinen Handlungen zu geben bestrebt war, als ein vor ganz Europa lebender Mensch, zeigte sich ihm mit einemmal als etwas Uninnerliches. Vielleicht ist das nur natürlich, wenn etwas für alle gelten soll; das Befremdliche war aber die Umkehrung dieses Schlusses, die sich Arnheim gleichfalls aufdrängte, denn wenn das Allgemeingültige uninnerlich ist, dann ist umgekehrt der innere Mensch das Ungültige, und so verfolgte Arnheim jetzt nicht nur auf Schritt und Tritt der Drang, irgend etwas unrichtig Schmetterndes, unvernünftig Illegitimes zu tun, sondern auch noch die Belästigung, daß dies im Sinne irgendeiner Übervernunft das Richtige wäre. Seit er das Feuer wieder kennengelernt hatte, das ihm die Zunge verdorrte, überwältigte ihn das Gefühl, er habe einen Weg, den er ursprünglich gegangen, vergessen, und die gesamte Ideologie eines großen Mannes, die ihn erfüllte, sei nur der Notersatz für etwas, das ihm verlorengegangen war. [...]
Nur kam ihm heute vor, so abgerundet und mannigfaltig sein Leben sich ihm auch darstellte, es hätte darin von allem doch gerade das eine ihn ganz anders nachwirkend ergriffen, was zuerst unter allem als das Unwirklichste erschienen war: eben jener romantisch ahnungsvolle Zustand, der ihm eingeflüstert hatte, nicht nur der lebhaft bewegten Welt, sondern noch einer anderen anzugehören, die wie ein angehaltener Atem in ihr schwebte. Diese schwärmerische Ahnung, die ihm nun durch Diotima wieder in ihrer ganzen Ursprünglichkeit gegenwärtig war, gebot jeder Tätigkeit und Regsamkeit Stille, der Tumult der jugendlichen Widersprüche und die hoffnungsvollen wechselnden Aussichten machten dem Tagtraum Platz, daß alle Worte, Geschehnisse und Forderungen in ihrer von der Oberfläche abgewandten Tiefe ein und dasselbe seien. In solchen Augenblicken schwieg selbst der Ehrgeiz, die Ereignisse der Wirklichkeit waren fern wie der Lärm vor einem Garten, ihn dünkte, die Seele sei aus ihren Ufern getreten und nun erst wahrhaft anwesend. [...]
Um den kleinsten Volontär, der in einem Weltgeschäft tätig ist, kreist die Welt, und Erdteile gucken ihm über die Schulter, so daß nichts, was er tut, ohne Bedeutung ist; um den einsamen Verfasser in seinem Zimmer kreisen dagegen höchstens die Fliegen, er mag sich anstrengen, wie er will. Das ist so einleuchtend, daß vielen Menschen in dem Augenblick, wo sie anfangen, in Lebensmaterial zu schaffen, alles, was sie früher bewegt hat, »nur Literatur« zu sein scheint, das heißt, es übt bestenfalls eine schwächliche und verworrene, meistens aber eine widerspruchsvolle, sich selbst aufhebende Wirkung aus, die in gar keinem Verhältnis zu dem Aufheben steht, das man von ihrer Veranstaltung macht.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 86

Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte?

Denn ein Gedanke, der nicht einen praktischen Zweck hat, ist wohl eine nicht sehr anständige heimliche Beschäftigung; namentlich aber solche Gedanken, die ungeheure Stelzschritte machen und die Erfahrung nur mit winzigen Sohlen berühren, sind unordentlicher Entstehung verdächtig. Früher hat man ja wohl von Gedankenflug gesprochen, und zur Zeit Schillers wäre ein Mann mit solchen hochgemuten Fragen im Busen sehr angesehen gewesen; heute dagegen hat man das Gefühl, daß mit so einem Menschen etwas nicht in Ordnung sei, wenn das nicht gerade zufällig sein Beruf ist und seine Einkommensquelle. Man hat die Sache offenbar anders verteilt. Man hat gewisse Fragen den Menschen aus dem Herzen genommen. Man hat für hochfliegende Gedanken eine Art Geflügelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt, und dort vermehren sie sich in ihrer Weise immer unübersichtlicher, und das ist ganz recht so, denn kein Mensch braucht sich bei dieser Ausbreitung mehr vorzuwerfen, daß er sich nicht persönlich um sie kümmern kann. Ulrich in seiner Achtung vor Fachlichkeit und Spezialistentum, war im Grunde entschlossen, nichts gegen eine solche Teilung der Tätigkeiten einzuwenden. Aber er gestattete sich immerhin noch selbst zu denken, obgleich er kein Berufsphilosoph war, und augenblicklich malte er sich aus, daß das auf den Weg zum Bienenstaat führen werde. Die Königin wird Eier legen, die Drohnen werden ein der Wollust und dem Geist gewidmetes Leben führen, und die Spezialisten werden arbeiten. Auch eine solche Menschheit ist denkbar; die Gesamtleistung möchte vielleicht sogar gesteigert werden. Jetzt hat jeder Mensch sozusagen noch die ganze Menschheit in sich, aber das ist offenkundig schon zuviel geworden und bewährt sich gar nicht mehr; so daß das Humane fast schon der reinste Schwindel ist. Es käme für den Erfolg vielleicht darauf an, bei der Zerteilung neue Vorkehrungen zu treffen, damit in einer besonderen jener Arbeitergruppen auch eine geistige Synthese entsteht. [...]
Mit einem Wort, es geschah viel, es war eine bewegte Zeit, die um Ende 1913 und Anfang 1914. Aber auch die Zeit zwei oder fünf Jahre vorher war eine bewegte Zeit gewesen, jeder Tag hatte seine Erregungen gehabt, und trotzdem ließ sich nur noch schwach oder gar nicht erinnern, was damals eigentlich los gewesen war. Man konnte es abkürzen. Das neue Heilmittel gegen die Lues machte –; in der Erforschung des Pflanzenstoffwechsels wurden –; die Eroberung des Südpols schien –; die Steinachexperimente erregten –; man konnte auf diese Weise gut die Hälfte der Bestimmtheit weglassen, es machte nicht viel aus. Welche sonderbare Angelegenheit ist doch Geschichte! Es ließ sich mit Sicherheit von dem und jenem Geschehnis behaupten, daß es seinen Platz in ihr inzwischen schon gefunden hatte oder bestimmt noch finden werde; aber ob dieses Geschehnis überhaupt stattgefunden hatte, das war nicht sicher. Denn zum Stattfinden gehört doch auch, daß etwas in einem bestimmten Jahr und nicht in einem anderen oder gar nicht stattfindet; und es gehört dazu, daß es selbst stattfindet und nicht am Ende bloß etwas Ähnliches oder seinesgleichen. Gerade das ist es aber, was kein Mensch von der Geschichte behaupten kann, außer er hat es aufgeschrieben, wie es die Zeitungen tun, oder es handelt sich um Berufs- und Vermögensangelegenheiten, denn in wieviel Jahren man pensionsberechtigt sein wird oder wann man eine bestimmte Summe besitzen wird oder ausgegeben hat, das ist natürlich wichtig, und in solchem Zusammenhang können auch Kriege zu Denkwürdigkeiten werden. Sie sieht unsicher und verfilzt aus, unsere Geschichte, wenn man sie in der Nähe betrachtet, wie ein nur halb festgetretener Morast, und schließlich läuft dann sonderbarerweise doch ein Weg über sie hin, eben jener »Weg der Geschichte«, von dem niemand weiß, woher er gekommen ist. Dieses Der Geschichte zum Stoff Dienen war etwas, das Ulrich empörte.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 83

18 März 2014

"A stupid Hungarian has never been found"

"A stupid Hungarian has never been found". An dieses Wort Alan Bullocks fühle ich mich erinnert, wenn ich Minutennovellen von István Örkény lese. Denn dort kommen öfter dumme Ungarn vor wie z.B. der, der zum bleibenden Gedenken an den gemeinsamen Aufenthalt der letzten vier Ungarn unter einem Kirschbaum vorschlägt, einen Stein in die Luft zu werfen.
Dann einigen sich die vier darauf, einen eingetrockneten Kirschkern zu pflücken. Auch nicht gerade ein Geniestreich, wie man in "Der letzte Kirschkern" nachlesen kann. 
Wer jetzt glaubt, Bullock wäre widerlegt, hat nichts verstanden: die Minutennovellen sind durchweg Fiktion

"Beiträge zur geselligen Unterhaltung sind Örkénys Minutennovellen gerade deshalb, weil sie zu keinem Ende kommen", schreibt Hannelore Schlaffer in der Frankfurter Rundschau vom 28.11.2002.

17 März 2014

In Alexandria

Wir hatten kaum geankert, als man mir schon den Besuch des Major-Generals der Flotte, Besson Bey, ankündigte, der, durch den Seraskier Kandias von meiner Ankunft unterrichtet, mit großer Zuvorkommenheit mir eine Wohnung in seinem Hotel auf dem neuen Ibrahimsplatze anbot und mir zugleich ankündigte, daß seine Equipage mich, sobald ich bereit sein würde, am Ufer erwarte.
Dieser hoch von Mehemed Ali geehrte Franzose, die eigentliche Seele der hiesigen Marine, ist derselbe ehemalige französische Kapitän Besson, welcher Napoleon in Rochefort anbot, ihn nach Amerika zu führen, und als der Kaiser, trotz allem Flehen Bessons, bei dem für ihn so schicksalsschweren Entschluß verblieb, sich dem Edelmut der Engländer anzuvertrauen! noch einen Tag vor dem Kaiser allein absegelte und – auf seiner ganzen Fahrt keinem einzigen feindlichen Schiffe begegnete!
Ich bat nur um einige Zeit, das Chaos meiner Sachen auf dem Schiff zu ordnen, und als ich nach einer halben Stunde am neuen Quai ans Land stieg (ohne irgendeine Belästigung der dienstbeflissenen Popülace zu empfinden, wie sie zum Beispiel in Algier und mehreren andern Hafenstädten so peinlich wird), fand ich bereits einen eleganten englischen Wagen mit zwei arabischen Pferden bespannt und mehrere riesige Kamele zum Transport meiner Effekten vor. Sehr zufrieden, wieder festen Boden unter mir zu fühlen, sprang ich eilig in die Britschka und rollte im raschen Trabe durch die engen Gassen des noch türkisch gebliebenen Teiles der Stadt, mit seinem ebenso bunten als schmutzigen Gewühl, seinen roten, weißen und grünen Soldaten mit blitzendem Gewehr und – wie H. v. Prokesch so treffend sagt – seinen orientalischen Schichten von Gestank und Wohlgerüchen. So gelangte ich bis zum Frankenquartier, dessen nettes, reinliches Ansehn und seine ganz im europäischen Stil erbauten Paläste jede Stadt unseres zivilisierteren Weltteils zieren würden, obgleich ein Teil des Bodens, auf dem sie stehen, erst kürzlich dem Meere abgewonnen wurde. Hier wohnen auch sämtliche fremde Konsuln, deren des Bairams wegen aufgezogne ungeheure Flaggen den festlichen Anblick des Ganzen um so mehr erhöhten, da nach allen diesen Fahnen, die an hohen Mastbäumen auf den obersten Terrassen der Häuser wehen, leichte Wendeltreppen, gleich Schneckentürmen, bis an die höchste Spitze der Masten hinaufführen.
Der liebenswürdige General empfing mich an der Pforte seines Hotels,  [...]

16 März 2014

Graf Leinsdorf äußert sich über Realpolitik Ulrich gründet Vereine - 81. Kapitel

»Also nicht wahr,« erläuterte er »ich habe doch soeben gesagt, die Realpolitik darf sich nicht von der Macht der Idee, sondern sie muß sich vom praktischen Bedürfnis leiten lassen. Die schönen Ideen würde natürlich jeder gerne verwirklichen, das versteht sich doch ganz von selbst. Also soll man gerade das nicht tun, was man gern möchte! Das hat schon Kant gesagt.« »Wahrhaftig!« rief der also Belehrte überrascht. »Aber ein Ziel muß man doch haben?!« »Ein Ziel? Bismarck wollte den preußischen König groß sehen: das war sein Ziel. Er hat nicht von Anfang an gewußt, daß er dazu Österreich und Frankreich bekriegen und das Deutsche Reich gründen werde.« »Erlaucht wollen also sagen, daß wir Österreich groß und mächtig wünschen sollen und weiter nichts?« »Wir haben noch vier Jahre Zeit. In diesen vier Jahren kann sich alles Mögliche ergeben. Man kann ein Volk auf die Beine stellen, aber gehen muß es dann selbst. Verstehen Sie mich? Auf die Beine stellen, das müssen wir tun! Die Beine eines Volkes sind aber seine festen Einrichtungen, seine Parteien, seine Vereine und so weiter und nicht das, was geredet wird!« »Erlaucht! Das ist ja, wenn es auch nicht ganz so klingt, ein wahrhaft demokratischer Gedanke!« »Na ja, aristokratisch ist er vielleicht auch, obwohl meine Standesgenossen mich nicht verstehn. [...]
Ein anderer kam ihm nach und erzählte folgendes: Wenn er durch die Straßen gehe – noch viel aufregender sei es aber, wenn man auf der Elektrischen fährt –, zähle er schon seit Jahren an den großen lateinischen Buchstaben der Geschäftsschilder die Balken (A bestehe zum Beispiel aus dreien, M aus vieren) und dividiere ihre Zahl durch die Anzahl der Buchstaben. Bisher sei das durchschnittliche Ergebnis gleichbleibend zweieinhalb gewesen; ersichtlich sei dies aber keineswegs unverbrüchlich und könne sich mit jeder neuen Straße ändern: so wird man von großer Sorge bei Abweichungen, von großer Freude beim Zutreffen erfüllt, was den läuternden Wirkungen ähnle, die man der Tragödie zuschreibt. Wenn man dagegen die Buchstaben selbst zähle, so sei, wovon sich der Herr nur überzeugen möge, die Teilbarkeit durch drei ein großer Glücksfall, weshalb die meisten Aufschriften geradezu ein Gefühl der Nichtbefriedigung hinterlassen, das man deutlich bemerkt, bis auf jene, die aus Massenbuchstaben, das heißt aus solchen mit vier Balken, bestehn, zum Beispiel WEM, die unter allen Umständen ganz besonders glücklich machen. Was folge daraus, fragte der Besucher. Nichts anderes, als daß das Ministerium für Volksgesundheit eine Verordnung herausgeben müsse, die bei Firmenbezeichnungen die Wahl von vierbalkigen Buchstabenfolgen begünstige und die Verwendung einbalkiger wie O, S, I, C möglichst unterdrücke, denn sie machten durch ihre Unergiebigkeit traurig! Ulrich sah sich den Menschen an und wahrte Raum zwischen sich und ihm; aber jener machte eigentlich nicht den Eindruck eines Geisteskranken, sondern war ein den »besseren Ständen« angehöriger Mann von einigen dreißig Jahren, der intelligent und freundlich dreinsah. Er erklärte ruhig weiter, daß Kopfrechnen eine unentbehrliche Fähigkeit in allen Berufen sei, daß es der modernen Pädagogik entspreche, den Unterricht in die Form eines Spiels zu kleiden, daß die Statistik schon oft tiefe Zusammenhänge viel früher sichtbar gemacht habe, als man ihre Erklärung besaß, daß der tiefe Schaden, den die Lesebildung anrichte, bekannt sei und daß schließlich die große Erregung, die seine Feststellungen bisher noch jedem bereitet hätten, der sich entschloß, sie zu wiederholen, für sich selbst spräche. Wenn das Ministerium für Volksgesundheit veranlaßt würde, sich seiner Entdeckung zu bemächtigen, so würden andere Staaten bald nachfolgen, und das Jubiläumsjahr könnte sich zu einem Segen der Menschheit gestalten. Ulrich gab allen solchen Leuten den Rat: »Gründen Sie einen Verein; Sie haben dazu fast noch vier Jahre Zeit, und wenn es Ihnen gelingt, wird sich Se. Erlaucht gewiß mit seinem ganzen Einfluß für Sie einsetzen!«
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 81