31 Juli 2019

Thor Heyerdahl: Kontiki

Thor Heyerdahl: Kontiki, 1949

"Es gab keine Brücke hier, und der Wasserlauf war reißend und tief. Die Indianer aber waren gerne bereit, uns und den Jeep auf einem Floß überzusetzen. Am Ufer drunten lag das Weltwunder. Armdicke Stämme waren mit Bambus und Pflanzenfasern zu einer Art Floß zusammengebunden, doppelt so lang und so breit wie unser Jeep eine Planke unter jedem Rad, und mit angehaltenem Atem fuhren wir den Jeep hinaus auf das Balkenwerk. Wenngleich die meisten Balken im Schlammwasser untertauchten, so trugen sie dennoch den Jeep und uns und noch vier halbnackte Schokolademänner, die uns mit langen Stangen hinausstakten.
"Balsa?" fragten Herrmann und ich wie aus einem Munde.
"Balsa", nickte einer von den Kerlen und gab den Stämmen respektlos einen Fußtritt.
Die Strömung ergriff uns und wirbelte uns den Fluss hinunter, während die Leute an den richtigen Stellen stakten und so das Floß in Kurs hielten, schräg über den Strom hinüber und in das schnellere Wasser auf der anderen Seite hinein. Das war unsere erste Begegnung mit dem Balsaholz und unsere erste Fahrt auf einem Balsafloß. (Tor Heyerdahl: Kontiki, S. 51)

Die Mannschaft für das Floß ist beisammen. 

"Keine zwei von den Burschen hatten einander früher gesehen, und alle waren in ihrem Typ restlos verschieden. Auf diese Art konnten nämlich einige Wochen auf dem Floß vergehen, bevor sie ihrer gegenseitigen Geschichten müde wurden. Keine Sturmwolke mit Tiefdruck und Unwetter lag drohender vor uns als die Gefahr eines psychischen Schiffbruchs, wenn sechs Mann monatelang auf ein treibendes Floß beschränkt waren. Hier war ein guter Witz oft ebenso wichtig wie eine Schwimmweste." (S. 62)

Das Floß wird aus den Küstengewässern herausgeschleppt.
"Der Schlepper lag in der Nähe, und da wir ängstlich besorgt waren, das Floß möglichst weit weg zu halten, setzten wir unser kleines aufgeblasenes Gummiboot zu Wasser. Das hüpfte wie ein Fußball über die Wellen und tanzte mit Erich, Bengt und mir los, bis wir die Strickleiter zum "Guardian Rio" zu fassen bekamen und an Bord klettern konnten. Bengt verdolmetschte unsere genaue Position auf der Karte. Wir waren jetzt 50 Seemeilen von Land, nordwestlich von Callao, und mussten in den ersten Nächten noch Laternen tragen, um nicht von Küstendampfern gerammt zu werden. Weiter draußen würden wir keinem Schiff mehr begegnen, denn es gab keine Route, die diesen Teil des Pazifiks durchschnitt. (S.77)

"Die Steuerung bedeutete augenblicklich unser größtes Dilemma. Das Floß war wohl genauso gebaut, wie ist die Spanier beschrieben, aber heutzutage konnte uns kein Mensch mehr einen praktischen Einführungskurs im Segeln auf Indianerflößen geben. Das Problem war zwar unter den Experten an Land gründlich diskutiert worden, aber mit mageren Resultaten. Sie verstanden genauso wenig davon wie wir selbst.
Da der Südost rasch an Särke zunahm, wurde es notwendig, den Kurs des Floßes so zu halten, dass das Segel von Achtern gut gefüllt wurde. Wenn das Floß die Seite zu stark gegen den Wind drehte, schlug plötzlich das Segel um und drängte auf Last und Volk und Hütte, während sich das ganze Floß wendete und denselben Kurs zurücknahmen. Das wurde ein schwerer Gefechtsgang, wenn dann drei Männern mit dem Segel rauften und die anderen an dem langen Steuerruder arbeiteten, Um die Nase des Floßes herum und wieder an den Wind zu bekommen. Und sobald wir ist fertig gebracht hatten, musste der Steuermann aufpassen wie ein Schießhund, das nicht im gleichen Augenblick das ganze Theater von vorne los ging.
Das 6 m lange Steuerruder lag frei zwischen zwei Haltepflöcken auf einem mächtigen Klotz am Achterende." (S.79)


Nachher stellten sie fest dass man im Normalfall das Steuer fest anbinden konnte und das Steuern mit Senkbrettern zwischen den Balsaholzstämmen abstimmen konnte ohne großen Kraftaufwand, indem man diesn Bretter leicht anhob oder leicht weiter nach unten drückte. Heyerdahl ist der Überzeugung, dass die Inkas so gesteuert haben.


Fortsetzung bei Gelegenheit

Thor Heyerdahl: "Ich habe die Bedeutung der Zeit nie begreifen können. 
Ich glaube nicht, dass sie existiert. Ich habe das immer und immer wieder empfunden, wenn ich allein und draußen in der Natur war."

28 Juli 2019

Felix Dahn: Fredigundis II

Erstes Buch [...]


Drittes Buch Drittes Kapitel.

Mißmutig erwachte am andern Morgen König Chilperich. –
»Wie ich geschlafen habe? Schlecht! Ganz schlecht!« erwiderte er auf die zärtliche Frage seiner Königin und sprang aus den Decken. »Mich schmerzt der Kopf! Das viele unnütze Trinken! Dieser Barbaren gute Meinung und gute Stimmung kann sich auch ihr König nur durch zahllose Becher ertrinken. – Und dann hab' ich schwer geträumt.« – »Wovon? Ich verstehe mich darauf, Träume auszulegen.« – »Das verbieten aber die Priester. Steht auch in der Schrift! Wenn ich nicht irre im Buche...–« – »Aber sie selbst deuten Träume. Wenn sie Kirchen und Klöster gestiftet haben wollen, dann erscheinen ihnen gar fleißig die Heiligen und geben ihnen Auftrage an den – Seckel des guten Königs! In den paar Tagen meiner Herrlichkeit hat der heilige Martinus mich schon mit vier solcher Aufträge beehrt durch Mönche und Diakone, denen er erschien. Wovon hast du geträumt?« – »Von: – ihr.« – »Ja, wie soll ich das raten? Von welcher?Allzugroß ist bisher die Zahl deiner Gespielinnen gewesen, oh böser Chilperich.« – »Von der jüngst – – Verstorbenen.« – »Von Toten träumen – das bedeutet Glück.« – »Ja, man sagt's. Aber an der Leiche stand drohend Frau Brunichildis und schwang ein nacktes Schwert und forderte zornig – die reichen Perlenschnüre zurück. Ich erschrak und gab sie ihr.« – »Das ist gut. Perlen bedeuten Schmerzen, Thränen, dem, der sie verlangt, Freudenthränen, dem, der sie unverlangt geschenkt erhalt – wie ich.« – Wenig getröstet schlug Chilperich die Vorhänge auseinander, welche die Fensteröffnung schlossen, »O weh. Du hast kein Glück beim Himmel. Gestern noch schönster Sonnenschein – heute alles bewölkt – so schwül schon am Morgen, das giebt ein Gewitter.« – »Willkommen sei's! Bei Blitz und Donner gewannst du meinen Gürtel, bei Blitz und Donner gewinn' ich deine Krone. – Übrigens, wer wird auf Wetterzeichen achten? Meine Großmutter konnte Hagel hexen!« Lachend stieg Fredigundis aus dem Bett und rief durch einen Metallhammer ihre Dienerinnen, ihr beim Ankleiden behilflich zu sein.
Chilperich ging aus dem Gemach. »Wie sie die Mägde herum befehligt! Als sei sie von jeher von zwölf Händen bedient worden.« –
Als er zurückkam, fand er Fredigundis voll angekleidet; nur der dunkelrote Königsmantel fehlte noch; ihr Haar, mit Galsvinthas Perlen durchflochten, flutete auf ein prachtvolles Gewand von weißer Seide. Sie war zauberschön; sehr behaglich schlürfte sie aus einer großen Silberschale Milch.
Einigermaßen erheiterte sich bei dem Anblick seiner strahlend schönen Königin Chilperichs umdüsterte Stirn. »Verdruß! Nichts als Verdruß. Und Schwierigkeiten! Herzog Drakolen läßt sich durch einen Eilenden entschuldigen: er liege krank zu Chartres.« – »Das ist erlogen, lieb Männchen. Er reist mit – ihm. Wollte sagen: mit König Sigibert.« – »Woher weißt du –?« – »Genug, ich weiß es! Gieb acht: – der ist dir nicht treu.« – »Ich staune über dein Erraten; es ist wahr: er schwankt insgeheim wohl schon lang. Aber du kennst ihn ja nicht
– wie –?« – »Du sollst doch nicht umsonst dein Seelenheil gewagt haben, als du der Hexe Enkelin gefreit.« – »Und daß von Sigibert, von der heißblütigen Gotin noch gar keine Antwort auf unsern, das heißt auf meinen Brief gekommen, das macht mich stutzig.« – »Laß ihnen doch Zeit! Die beiden können nicht so rasch denken, Schatz, und so klug schreiben wie wir.« – »Und Prätextatus ...«
– »Nun? Was mit ihm?« – »Macht Schwierigkeiten. Er weigert sich, dich zu konsekrieren,«– »Der Unverschämte! Er allein – von allen Priestern dieser Stadt – hat sich noch nicht bei mir gemeldet. – Befiehl ihm, König.« – »Ich kann nicht. Er stützt sich auf einen Kanon. Vor der Konsekration, einem heiligen Akt, müßtest du gebeichtet und Absolution empfangen haben,« – »Wenn's weiter nichts ist! So beicht' ich denn! Ihm will ich beichten. Schaff' ihn nur her.« Chilperich erschrak. »Nein, das thue nicht, Fredigundis!« – »Warum nicht?« – »Weil – ! Weil – ! Du weißt –, verschweigst du – wissentlich – eine Sünde und erlistest dir so die Absolution, – das ist eine Todsünde.« – »Ich werde ihm aber nichts verschweigen.« Er sah sie erstaunt an. »Wüßte ich's nicht gewiß,« – murmelte er – »fehlte ihr nicht noch heute das Büschel Haare, – ich würde irre. –«
»Nein!« sagte er laut. »Er hat durch seine Weigerung die Gunst verwirkt, dich konsekrieren zu dürfen. Ich habe schon einen Diakon gewonnen – ich versprach ihm, die Untersuchung niederzuschlagen wegen – wegen einer jungen Nonne, die – sehr plötzlich starb. Der weiht dich ohne Beichte und Absolution.«
Fredigundis schmollte. »Ich wäre aber gerade durch Prätextatus gern geweiht worden. Das wäre ihm recht geschehen. Und du lässest ihn dir trotzen – ungestraft?«
– »Nein! Ich hab ihn vorläufig einsperren lassen im Kloster des heiligen Anianus. Ich bin übrigens ganz froh, einen Vorwand zu finden, nein zu sagen, falls sie ihn demnächst zum Nachfolger des Bischofs vorschlagen.«
– »Gut, Männchen.« – »Ich kann ihm nicht in die Augen sehen, – vor ihr,« murrte Chilperich für sich.
Wenige Stunden darauf setzte sich der Krönungszug in Bewegung.
Das Volk drängte in dichten Massen, obwohl der Himmel sich verfinstert hatte und die schwer geballten Gewitterwolken sich jeden Augenblick zu entladen drohten. Schon pfiffen einige kurze Windstöße durch die Straßen, den Staub des Seine-Muschelkalks – es hatte sehr lange nicht geregnet – zu hohen Säulen emporwirbelnd und die Düsterheit, so unheimlich um die Mittagsstunde, noch mehrend. Leise rollte schon der Donner, als der Zug aus den Thoren des Palastes trat.
»Hörst du? Der Himmel grollt!« sprach Chilperich, der heute an Krone und Königsmantel schwer zu tragen schien. »So laß die Hörner schmettern, ihn zu übertönen. Vorwärts, König Chilperich, schreite rascher! – Du trägst die Krone schon: aber meine weiße Stirne brennt danach, sie dort am Altare zu empfangen. – Auf, Sohn Theudebert; Euer lieber Vater hört nicht, – er träumt! So gebt denn Ihr das Zeichen!«
Der Jüngling winkte mit der Rechten nach rückwärts: hell fielen Hörner und Trompeten ein. Fredigundis ergriff Chilperichs linke Hand und schritt stolzen Ganges aus; mechanisch begleitete ihre Schritte der Gemahl.
So ging langsam der Zug vorwärts; nur selten drang der leise murrende Donner durch das Geschmetter der Trompeten, das Psallieren der Priester und das Heilrufen des dichtgedrängten Volkes; kein Regentropfen fiel: es war erdrückend schwül. Chilperich sah sehr bleich; er wischte mit einem Schweißtuch wiederholt die Stirn. Fredigundis strahlte in Schönheit, in Stolz; huldvoll zwar, aber doch sehr vornehm dankte sie manchmal, mit kaum merklichem Nicken des leuchtenden Hauptes, dem ihr zujubelnden Volk. »Wie schön sie ist!« – »Wie zauberschön!« Unaufhörlich drang dieser Ruf an ihr Ohr; sie lächelte still vor sich hin.
Plötzlich gellte dicht in ihrer Nähe ein Schrei.
»Sie ist's! Wirklich! Sie ist es! Fredigundis, unselig Kind! Halt ein! Kehr' um! Laß von ihm! Du bist verloren!« Nur einzelne dieser Worte vernahm sie.
Denn alsbald entstand ein Getümmel an jener Stelle. Das Volk schalt und lärmte. Eine alte Frau ward zu Boden gestoßen. Ein Mann im Hirtengewand schützte sie vor der Menge, die über die Störung erbost war. Als er die Alte wieder aufgerichtet hatte und in eine Nebengasse fortführte, sah Fredigundis von der Seite der Greisin Züge.
»Was ist dort?« fragte Chilperich, der, in tiefes Sinnen versunken, die Augen auf den Boden gerichtet, neben ihr ging. »Nichts! Eine Besessene wohl. – Wir sind zur Stelle – gieb doch acht! – die Stufen!« Der König war über die unterste Stufe des Domes gestolpert. Fredigundis hielt ihn ab vom Straucheln. Stets einen Schritt, eine Stufe voran stieg sie hinauf.
Als sie auf der Freiplatte vor der Basilika standen, schoß der erste Blitz aus dem schwarzen Gewölk: ein hellkrachender Donnerschlag folgte unmittelbar darauf und heller Feuerschein. In dem Glockenturm, der neben dem Dome stand, hatte es gezündet: die Glocke, die früheste im Frankenreich, war eine kostbare Seltenheit damals! Sie ward von außen durch Hammerschläge gerührt und hätte nun die Krönung mit feierlichem Zeichen begrüßen sollen: sie gab statt dessen einen furchtbaren Klang von sich; sie stürzte, vom Strahle gestreift, aus ihrem hölzernen Gerüst, schlug die Lattendecke des Turmes durch, fiel, furchtbar erdröhnend, wie schreiend und wie stöhnend, auf den Marmorestrich des Turmbodens und zersprang hier in hundert Stücke. Entsetzt schrie das Volk auf und wollte auseinanderstieben, konnte aber nicht, so dicht gedrängt standen die Haufen.
»Bleibt!« rief Fredigundis mit lauter, befehlender Stimme, »bleibt, freudige Franken! Ihr seht, es brennt nicht mehr: der Regen hat bereits gelöscht. – Vorwärts! dem Dom ist nichts geschehen: – in den Dom!« Und sie zog Chilperich an der Hand in das weitoffene Doppelthor hinein. Sie hatte recht. Der plötzlich nach jenem ersten Blitz herniederflutende Regen hatte den Brand des Turmdaches sofort gelöscht. Das Paar schritt nun an den Hauptaltar, von Chorknaben mit brennenden Wachskerzen geleitet; die schwangen dabei Rauchfässer und sangen eintönige, aber sehr süß melodische Weisen.
Nachdem der Diakon, welcher den Bischof und den Archidiakon vertrat, ein kurzes Gebet über das Paar gesprochen, schickte er sich an sie zu segnen. Schon erhob er feierlich beide Hände, da scholl von dem Eingang her ein Getön streitender, zankender Stimmen. »Halt! Ihr stört jetzt! Wartet bis nach der Krönung!« – »Nein! Wir können nicht warten! Platz! Gebt Raum! Im Namen König Sigiberts.«
Bei diesem Wort wichen die Höflinge zurück, die den Eindringenden den Weg versperrt, und alsbald standen auf der untersten Stufe des Altars zwei vollgewaffnete Männer, die, – der Staub und Schmutz auf ihren Reitermänteln und an ihren Knieriemen zeigten es, – nach langem, scharfem Ritt wohl soeben von den Rossen gesprungen waren; statt der Speere trugen sie lange weiße Stäbe in den Händen.
»Halt' ein, du Priester!« rief der eine von ihnen mit lauter Stimme.
»Hör' uns, König Chilperich,« schloß der zweite.
Unbeschreibliche Verwirrung entstand in den Reihen der Höflinge rings um den Altar. Einen flammenden Zornesblick warf Fredigundis auf die beiden Störer. »Wer sind die Frechen?« fragte sie tonlos. »Nieder mit ihnen, mein Sohn Theudibert!« Dieser fuhr ans Schwert. Aber der König rief: »Charigisel! – Sigila! – Das sind die Boten Sigiberts.«
Da stieß Theudibert das halbgezückte Kurzschwert in die Scheide zurück.
»Ja, und Frau Brunichildens,« rief Sigila, der Gote. »Und also sprechen sie zu dir, König Chilperich: ›Laß, laß ab von diesem Weibe! Steh' ab von dem Frevel, sie mit der Frankenkrone zu schmücken. Du weißt es nicht, bethörter Fürst, aber vernimm es jetzt – und vernehmt es all, ihr Franken – dieses Weib hier ist eine Mörderin: die Mörderin der Königin Galsvintha.‹«
Laut auf schrie alles Volk – der Diakon stürzte hinweg von dem Altar. Chilperich wankte und hielt sich aufrecht an einer der Altarsäulen: er sah auf Fredigundis. Diese war sehr blaß geworden: aber hoch aufgerichtet stand sie da.
»Und der Beweis?« fragte sie mit lauter stolzer Stimme. »Ja, der Beweis für solch fürchterliche Anklage?« rief Theudibert, vortretend. »Der Beweis?« wiederholte Chilperich sich ermannend, aufgerichtet durch Fredigundens ruhigen Trotz. »Dir, o Bruder unseres Herrn, nicht jenem Weib antworten wir,« sprach Charigisel. – »Der Beweis ist voll erbracht!« »Sofort nach Empfang deines Briefes,« fuhr Sigila fort, »flog Frau Brunichildis, trotz ihres tödlichen Wehs, gefaßt wie eine Heldin, allein, an den Ort der That. König Sigibert war auf der Jagd abwesend, er folgte erst am dritten Tag. – Sie selbst untersuchte, prüfte alles, vernahm alle Leute, auch die beiden gefangenen Landkrämer. Diese hatten, – selbst auf der Folter – jede Schuld geleugnet. Nun forderte die Königin sie auf, nachzuweisen, wo sie den Tag über gewesen. Sie fingen damit an, daß sie am frühen Morgen Villa Amica aufgesucht und dort den Bewohnern allerlei verkauft hätten!« –
Charigisel fiel ein: »Auf die Frage, was, sagten sie: unter anderem der stolzen Herrin der Villa ein Paar Bastschuhe, wie sie sonst nur Bäuerinnen tragen.«
Um Fredigundens Lippen zuckte es leise: es war wohl Hohn.
»Frau Brunichildis,« ergänzte Sigila, »ließ den in dem Gang vor dem Schlafgemach gefundenen Bastschuh bringen, ihnen vorlegen – sie erkannten nicht nur den Schuh ... –« »Ein Bastschuh sieht aus wie der andre,« lachte Chilperich. »Wohl!« erwiderte Charigisel. »Aber sie führten deren noch mehrere Paare mit sich und sie wiesen an dem gefundenen das gleiche Abzeichen nach, – die gleiche Hausmarke ihres Heimathofes – wie an ihrem ganzen Vorrat.«
Theudibert warf einen raschen Blick auf Fredigundis. Diese fühlte den Blick, wie sie tausend Augen auf sich gerichtet wußte.
»Und darauf hin,« sprach sie ruhig, »hat die Gotin die von ihr bestochenen Angeber freigelassen, nicht wahr? Und auf das Zeugnis von zwei gebrandmarkten Landfahrern –« »Noch mehr!« rief Sigila. »Die Freigelassene Suavigotho, die das verhüllte Weib in der Mordnacht in dem Gange traf, hat, noch bevor sie an Herrn Sigibert gesandt ward, durch Zufall die Herrin von Amicavilla an deiner Seite reiten sehen, o König. Sie will beschwören, daß diese jenem Weib höchst ähnlich sah.« [...]

(Felix Dahn: Fredigundis)

16 Juli 2019

Barbara Honigmann: Georg

 "zugewandt und zugleich dezent [...] obgleich sie ihm selbst als Kind oft unverständig gegenüberstand" (Hanna Engelmeier in der taz) schreibt Honigmann über ihren Vater Georg (Perlentaucher).
"Wie Honigmann ihren Vater frei von Sentimentalitäten in den Griff bekommt, hat den Rezensenten [Lothar Müller in der SZ) beeindruckt."

Er lebte in einer Wohnung, wo die Toilette nicht mehr auf dem Treppenabsatz war, wohl aber das einzige Telefon des Hauses im Besitz der Hauswirtin war, der er beim Einzug hatte unterschreiben müssen, dass seine Gäste keinen Krach machen. 
Ich selbst habe zwar Jahrzehnte ohne Telefon gelebt, aber diese Verhältnisse nur als Besucher kennengelernt und in den 60er Jahren vornehmlich in der DDR, wo es galt, sich beim Hauswirt im Hausbuch einzutragen, bis man das beim Rat des Kreises zu erledigen hatte.
Mein Sohn schrieb dann in den 80er-Jahren ins Gästebuch meines Vetters "die DDR mit Gänsefüßchen" (weil er sie aus der Hörzu so kannte). Das waren die Zeiten, als ich die Besuche von der "Nationalen Front", die ich als Besucher meiner Tante des öfteren erhalten hatte, schon als Anwerbungsversuch als IM zu interpretieren gelernt hatte. 
Doch auch als ich im Zug der Studentenbewegung meine Zweifel an der Vorbildlichkeit der BRD*-Demokratie entwickelt hatte, war ich offenbar keiner energischeren Annäherung samt Erpressung wert.

Die Verwendung der Abkürzung BRD in Arbeitsmaterialien für Schüler wurde 1977 in einer Rezension noch als bedenklich vermerkt.


12 Juli 2019

Jugendbücher über Welten zwischen Leben und Tod

Die Darstellung JUGENDLITERATUR: Im Reich zwischen Leben und Tod von TILMAN SPRECKELSEN der FAZ vom 12.7.19 scheint mir so interessant, dass ich sie unbedingt hier verlinken möchte.
Der Anfang des Textes hier als Anregung zum Weiterlesen:
"„Harry Potter“, „Tintentod“, Marishas Pessls „Niemalswelt“ und viele andere: Aktuelle Kinder- und Jugendbücher spielen verblüffend häufig in einem Reich zwischen Leben und Tod. Warum sind solche Bücher so beliebt?
Fünf Jugendliche feiern ohne Eltern in einem Ferienhaus, dann setzen sie sich ins Auto und fahren auf der engen Küstenstraße. Einem entgegenkommenden Laster weichen sie gerade noch aus. Sie kehren ins Ferienhaus zurück und feiern weiter. Bis plötzlich ein Unbekannter vor der Tür steht und sie darüber informiert, dass sie alle tot sind, gestorben beim Zusammenstoß mit dem Laster. Oder jedenfalls fast: Sie befinden sich in einem Schwebezustand zwischen Tod und Leben, dazu verdammt, den vergangenen Tag immer aufs Neue durchzustehen, so lange, bis sie einen aus ihrer Mitte auswählen, der weiterleben darf. Die übrigen vier aber werden dann endgültig gestorben sein.
 So setzt „Niemalswelt“ ein, der erste Jugendroman der amerikanischen Bestsellerautorin Marisha Pessl [...]" [Die Links sind von mir hinzugefügt.]

Paul Heyse: Über das Theater

"[...] Noch immer ist das deutsche Theater ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ein Tummelplatz der verwegensten Experimente, von dem völlig banausischen Streben beherrscht, durch Neues und Unerhörtes dem Sensationsverlangen einer urteilslosen Menge entgegenzukommen, die statt dichterischer Genüsse im Theater nur sinnliche Aufregung, Befriedigung einer rohen Schaulust und Zerstreuung nach den Geschäften des Tages sucht. So ist es gekommen, daß es auf das Wort des Dichters im Theater immer weniger ankommt, daß reich und bunt ausgestattete Pantomimen und Schattenspiele großen Zulauf haben und in neuester Zeit die Kinematographentheater immer massenhafter die eigentlichen Bühnen verdrängen, deren Repertoire sogar sie sich aneignen, ohne daß bei dieser stummen Aktion das aus den niedersten Schichten bestehende Publikum so wie die sogenannten Gebildeten nur den geringsten Mangel empfänden. Was aber die noch bestehenden rezitierenden Theater betrifft, so ist es bei der ungeheuer wachsenden Konkurrenz zumal in der Reichshauptstadt, deren Vorherrschaft in der Bühnenwelt des Deutschen Reichs immer unbestrittener und unheilvoller wird, kein Wunder, daß die Bühnenleiter mit allen Mitteln in der Befriedigung dieser Bedürfnisse des Publikums sich zu überbieten suchen, worin diejenigen, die für neue Stücke sorgen, sie bereitwillig unterstützen. Im Gebiet des Sittlichen ist eine so schrankenlose Freiheit eingerissen, daß sogar der in der Jugend erwachende Geschlechtstrieb als »Frühlings Erwachen« in einzelnen Szenen, die durch keinerlei dramatische Handlung verbunden sind, auf die Bühne gebracht werden konnte – ein Äußerstes an Spekulation auf die niederen Triebe der Menge, zu dem selbst die zügellosesten Dramatiker unserer romanischen Nachbarn sich nie verirrt haben. Und dies unter dem Beifall eines Publikums, das sich aus sogenannten Gebildeten zusammensetzt und für »Kulturträger« gehalten sein will. Auch in anderer Weise geschieht manches Bedenkliche. Gewiß ist die Wiederbelebung langbegrabener wertvoller Dramen in hohem Grade verdienstlich. Doch bleibt es gefährlich, das vollständige Lebenswerk eines Dramatikers in großen Zyklen vorzuführen, da auch völlig verfehlte, niemals lebendig gewordene Sachen darunter zu sein pflegen, die man ruhig ihrer Verschollenheit überlassen sollte, dies alles nur, um auch dem Bildungsphilister Gelegenheit zu geben, mitsprechen zu können, wenn von gewissen sonst nur den Eingeweihten bekannten Werken die Rede ist. Damit es aber der bildungseifrigen Menge nicht zu beschwerlich werde, an dem völlig Fremden Interesse zu gewinnen, wird die Darstellung mit der ausgesuchtesten szenischen Kunst verblüffender Effekte zu einer Wirkung gebracht, die freilich mit dem, was der Phantasie des alten Dichters vorschwebte, nicht das mindeste mehr zu tun hat. Statt der tragischen Erschütterung durch die Macht echter Dichterkraft wird der Zuschauer mit sinnlichem Gaukelwerk überrumpelt und die Masse durch Massenwirkungen darüber getäuscht, daß sie unter dem Namen einer alten Kunst nur ein modernes Regiekunststück kennen gelernt hat. Das Äußerste hierin ist in den Aufführungen der großen griechischen Tragödien in Zirkustheatern geschehen, die man unter dem Namen von »Volksschauspielen« (sic) dem heutigen Publikum zum besten gegeben hat. Difficile est satiram non scribere.
Hin und wieder freilich erscheint auch, zumal in der letzten Zeit, ein Stück, das von einem feinen, echt dichterischen Geist beseelt ist und im Gedränge der lauten und lärmenden Konkurrenz bescheiden seinen Platz zu gewinnen sucht. Daß es ihn findet und zu behaupten vermag, ist ein erfreuliches Zeichen für den unverlöschbaren Trieb des deutschen Volkes nach dem, was man früher »Poesie« zu nennen pflegte, ein Wort, das heutzutage nicht mehr im Kurs ist, ein Trieb, der noch immer bei den Ausführungen klassischer Stücke zu seinem Rechte kommt, wie die ausverkauften Häuser bei solchen unvergänglichen Werken beweisen.
Und auch an Bühnenleitern fehlt es nicht, die die Verantwortlichkeit und Verwilderung unserer Theaterzustände beklagen und nach Mitteln ausspähen, ihr ein Ende zu machen. Dies zeigt sich unter anderem in mancherlei Bestrebungen, eine sogenannte Volksbühne zu schaffen, auf der unsere klassischen Dramen und unter den neueren nur sittlich gesunde Werke der Menge dargeboten werden sollen. Auch die Freilichttheater, die allerdings nur auf einen beschränkten Spielplan angewiesen waren, sollen dem gleichen Zwecke dienen. Ob es gelingen möchte, durch solche Bestrebungen unserem deutschen Volk das einzuflößen, was ihm bitter not tut: ein starkes nationales Gemeinbewußtsein, ein stolzes Selbstgefühl gegenüber den nachbarlichen Kulturvölkern, die es nicht bloß im politischen Leben, sondern auch auf ihrem Theater nicht daran fehlen lassen, wird hoffentlich nicht allzulange ein frommer Wunsch bleiben. [...]"
(Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, 10. Bühnenschriftsteller und Theater)

11 Juli 2019

Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse - Erste Liebe

"[...] Hier möge genügen zu sagen, daß das Eis zwischen mir und dem schwer verkannten jungen Wesen überaus schnell ins Schmelzen kam. Zwar behielt sie äußerlich ihre zurückhaltende Miene und den kühlen Blick der Augen bei, doch erkannte ich bald, daß unter der scheinbar stolzen Ruhe und Gleichgültigkeit sich ein scheues, warmblütiges Temperament verbarg, das Tasten und Suchen einer jungen Menschenseele, die den Rätseln des Lebens furchtsam gegenübersteht und ihr inneres Leben der Welt nicht enthüllen will. Eben diese äußere Sicherheit in den Formen bei der inneren geistigen Ratlosigkeit, die sich hin und wieder in unbewachten Augenblicken verriet, machte ihr Wesen so anziehend. Es war die erste »problematische« Mädchennatur, die mir begegnete. Kein Wunder, daß sie bald mein ganzes Inneres erfüllte und Kopf und Herz zugleich gefangen nahm.
So wenig Anlagen ich zum blöden Schäfer hatte und so kecklich anderen Mädchen gegenüber ich den Verliebten zu spielen verstand, wo ich nichts empfand, in diesem Falle versagten mir Mut und Selbstgefühl völlig, auch nur so weit mich mit meinem geheimen Herzenszustand hervorzuwagen, wie jeder gute Jüngling der Schwester seines Freundes den Hof machen darf. Auch trug ich diese Liebe ohne jede Hoffnung, daß sie je erwidert werden könne, mit mir herum. Doch lebte ich nur von einem Landbesuch zum andern, wo ich dann vierundzwanzig Stunden unter einem Dache mit ihr zubrachte, da es bald eingeführt war, daß ich Sonnabend nachmittags hinausging, die Nacht mit Felix und seinem Vetter in ihren Mansardenzimmern bei allerlei kleinen Rauch- und Trinkorgien halb durchwachte und den Sonntag darauf mit den Geschwistern unter den herrlichen alten Bäumen des Parks mich herumtrieb.
Man wird begreifen, daß bei diesem Gastrecht im Hause der Eltern – der Name des »Goldsohns« war mir von der Mutter, die mich in jeder Weise verhätschelte, wie in jener Novelle beigelegt worden – meine grüne junge Lyrik so üppig wie jedes andere Unkraut gedieh. Damals stand ich ganz im Banne Heines. Was an schwermütigen, desperaten oder todesschaurigen Versen entstand, wurde dann an den Klubabenden vorgelesen. So waren Felix meine Gefühle für seine Schwester, ohne daß der Name je genannt wurde, von Anfang an kein Geheimnis, und die Gedichte wurden zwischen uns nur in bezug auf ihren poetischen Wert oder Unwert besprochen.
Der gute Junge war aber endlich unvorsichtig genug, Mitleid mit meinem Zustande zu fühlen, und eines Nachts, als wir aus dem Klub nach Hause gingen und Endrulat uns verlassen hatte, eröffnete er mir, er habe mit seiner Schwester von mir gesprochen, und sie habe ihm gestanden, daß ihr meine Liebe längst kein Geheimnis mehr sei, und daß sie sie erwidere.
So unerhört und unfaßbar mir dieses Glück erschien, war ich doch keinen Augenblick im Zweifel, daß ich Manns genug sein würde, es festzuhalten. Am nächsten Sonntag, da mir die Liebste zum erstenmal ohne ihre sichere Haltung, mit beklommenem Atem und geröteten Wangen gegenübertrat, bat ich sie, mit mir in den Garten zu gehen. Dort fragte ich sie ohne Umschweife, ob ich glauben dürfe, was ihr Bruder mir gesagt, und als sie wortlos mit einem entschlossenen Nicken ihres reizenden Kopfes es bestätigte, sagte ich ihr alles, was ich seit der brüderlichen Enthüllung mir zurechtgedacht hatte. Wir standen beide in unserem siebzehnten Jahr, ich um wenige Monate älter, übrigens aber im Nachteil gegen sie, die so herangereift war, daß sie jeden Augenblick einem Bewerber ihre Hand gewähren konnte, während ich im günstigsten Falle, ehe ich daran denken durfte, sie heimzuführen, eine Wartezeit wie Jakob um Rahel durchzumachen hatte.
Wie konnten wir auch hoffen, selbst wenn die Eltern ohne jedes Standesvorurteil dem Goldsohn, dessen Vater ein schlechtbesoldeter Professor war, ihr Freifräulein gegönnt hätten, daß sie auf eine so weite, unsichere Aussicht hin zu einem Eingehen auf unsere Wünsche geneigt sein würden? [...]"
(Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Erste Liebe)

Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse - Grillparzer und Hebbel

"[...] Unter den vielen neuen Bekanntschaften, die mein Tagebuch verzeichnet, sei nur zweier erwähnt: Grillparzers und Hebbels.
Über beide hatte ich im »Literaturblatt zum deutschen Kunstblatt« mich ausgesprochen, über den Altmeister der österreichischen Dramatiker, der damals in Norddeutschland so gut wie verschollen war, mit andächtiger Bewunderung. Ich hatte ihn gleichsam neu entdeckt und zum erstenmal, da die Rettich mir seine sämtlichen, noch zerstreut erschienenen Dramen geschenkt hatte, mit tiefstem Interesse studiert. Er hatte wohl von meinem Aufsatz Kenntnis genommen und ihn mir gedankt. Nun empfing er mich, da Lewinsky mich zu ihm führte, mit einer Freundlichkeit, die mir das Herz aufgehen ließ. Ich genoß bei dem ehrwürdigen Greise eine unvergeßliche Stunde, und als ich bei meinem zweiten Besuch mich von ihm verabschiedete und er mich mit väterlicher Güte umarmte, war ich nahe daran, wie er selbst in jungen Jahren einem Größeren gegenüber, von meiner inneren Bewegung mich zu Tränen fortreißen zu lassen.
Anders verlief mein Besuch bei Hebbel. Dessen Gedichte hatte ich respektvoll, aber ohne Verhüllung dessen, was ich für die Grenzen seiner Begabung hielt, besprochen, das Gewaltsame und Grüblerische seines Wesens auch in der Lyrik, die dialektische Marotte hervorgehoben, mit der er allem Einfachen aus dem Wege ging, und die Unfähigkeit, »Geist und Natur auf ungetrennter Spur« sich verbinden zu lassen. Ich war also nicht auf den freundlichsten Empfang gefaßt, zumal ich darauf bestanden hatte, daß die Rolle meiner Gräfin von der Esche der Rettich zuerteilt werden sollte.
Ich fand aber den merkwürdigen langen blonden Mann zwar etwas einsilbig, doch ohne jede Spur einer Empfindlichkeit gegen den dreisten jungen Kollegen. Eine gewisse befangene Höflichkeit auf seiner Seite verschwand bald, und ein interessantes Gespräch kam in Gang, an dem dann auch die Frau teilnahm. Da ich sein großes Talent anerkannte, so problematisch mir auch das meiste, was er hervorgebracht, erschien – die grandiosen »Nibelungen« waren noch nicht gedichtet –, konnte ich ihm einen aufrichtigen guten Willen zeigen, der ihm nach der Vorstellung, die er sich von mir gemacht, sichtlich wohltat. [...]"
(Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Wien)

Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse - Fontane in München und "Sittliche Rücksichten"

"[...] Gegen Ende Februar des Jahres 1859 war Fontane nach München gekommen. Geibel hatte auch ihn für uns zu gewinnen gesucht, und auch Dönniges war lebhaft dafür gewesen. Ich hatte bei einem der Symposien (am 14. März) von seinen Balladen und »Männern und Helden« vorgelesen und großen Beifall auch beim Könige damit geerntet. Er gewährte dann unserem Freunde am 19. März eine Audienz und ließ ihn zu dem Symposion am 24. März laden. Hier las Fontane unter anderem dem anwesenden von der Tann das Gedicht vor, das er in der Zeit, da dieser in Schleswig-Holstein sich die ersten Lorbeern geholt, auf ihn gedichtet hatte (»Hurra, Hurra! von der Tann ist da«). Seine Poesie und seine Person erweckten die wärmste Sympathie von allen Seiten. Weshalb es trotzdem zu einer Berufung nicht gekommen ist – die übrigens dem eingefleischten Märker auf die Länge schwerlich behagt haben würde – vermag ich nicht zu sagen. [...]"

 "Sittliche Rücksichten"

"[...] Fräulein von Küster, Tochter eines früheren preußischen Gesandten in München, die der jungen Kronprinzessin nach ihrer Ankunft in München attachiert worden war, um die noch sehr kindliche Bildung der reizenden jungen Frau ein wenig zu vervollkommnen. (Sie hatte dabei gewisse sittliche Rücksichten zu nehmen, deren man sonst gegenüber jungen Frauen überhoben zu sein pflegt. So erzählte man, es sei ihr zur Pflicht gemacht worden, beim Vorlesen von Romanen und Novellen das Wort »Liebe« stets durch »Freundschaft« zu ersetzen.)  [...]"

(Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Die Symposien)

Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse - Kunstauffassung

Sein Verständnis der Kunst
"[...] Daß diesen anarchischen Tendenzen unter anderem auch der Vers im Drama zum Opfer fallen sollte, weil »wirkliche Menschen« nicht in Versen sprächen, konnten wir nur belächeln, da uns Hamlet, Lear und Shylock denn doch sehr reale Personen dünkten, und im »Zerbrochenen Krug« selbst moderne Lustspielfiguren ihr Lebensrecht behaupteten, obwohl ihnen ihr Verfasser durch den Vers eine »höhere Wirklichkeit« verliehen hatte.
Darin aber zeigten wir uns nicht nur als Idealisten, sondern als »Ideologen« im Sinne Napoleons, daß es uns völlig an Geschick und Neigung fehlte, in die Zeit hineinzuhorchen und uns zu fragen, welchen ihrer mannigfachen Bedürfnisse, sozialen Nöte, geistigen Beklemmungen wir mit unserer Poesie abhelfen könnten. Da auch wir mitten in der Zeit lebten, konnten wir uns denselben Influenzen, die den Zeitgenossen zu schaffen machten, nicht entziehen, und auch unsere künstlerische Arbeit trug gelegentlich die Spuren ihres Einflusses. Doch war es dann keine bewußte Spekulation, als soziale Nothelfer uns Dank zu verdienen, sondern das eigenste Bedürfnis, uns mit schwebenden Problemen abzufinden, und vor allem blieben wir der alten Maxime treu, daß die Kunst auch das Zeitliche im Licht des Ewigen (sub specie aeternitatis) darzustellen habe.
Und so erschien uns für unser Interesse keine Zeitschranke zu bestehen, da das Menschenwesen seit Anbeginn einer höheren Kultur in seinen Grundtrieben sich gleich geblieben ist. Im Gegensatz gegen die Forderung einer sogenannten Aktualität betonten wir den Anspruch alles »allgemein Menschlichen«, dichterisch gestaltet zu werden, vorausgesetzt, daß es ein »ungemein Menschliches« sei. [...]"
(Paul Heyse: Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, Das Krokodil)

Louisa May Alcott: Little Women "THE PICKWICK PORTFOLIO"

Ergänzung zu: 
https://fontanefan3.blogspot.com/2019/04/louisa-may-alcott-little-women.html
Die Mädchen gründen eine literarische Gesellschaft
und verfassen Gedichte in - vor allem von heute aus gesehen - recht anspruchsvoller, würdiger, feierlicher Sprache.


"THE PICKWICK PORTFOLIO" MAY 20, 18
POET'S CORNER ANNIVERSARY ODE
Again we meet to celebrate
With badge and solemn rite,
Our fifty-second anniversary,
In Pickwick Hall, tonight.
We all are here in perfect health,
None gone from our small band:
Again we see each well-known face,
And press each friendly hand.

Our Pickwick, always at his post,
With reverence we greet,
As, spectacles on nose, he reads
Our well-filled weekly sheet.
Although he suffers from a cold,
We joy to hear him speak,
For words of wisdom from him fall,
In spite of croak or squeak.

Old six-foot Snodgrass looms on high,
With elephantine grace,
And beams upon the company,
With brown and jovial face.
Poetic fire lights up his eye,
He struggles 'gainst his lot.
Behold ambition on his brow,
And on his nose, a blot.

Next our peaceful Tupman comes,
So rosy, plump, and sweet,
Who chokes with laughter at the puns,
And tumbles off his seat.
Prim little Winkle too is here,
With every hair in place,
A model of propriety,
Though he hates to wash his face.
The year is gone, we still unite
To joke and laugh and read,
And tread the path of literature
That doth to glory lead.
Long may our paper prosper well,
Our club unbroken be,
And coming years their blessings pour
On the useful, gay 'P. C.'.
[...]

"THE PUBLIC BEREAVEMENT
It is our painful duty to record the sudden and mysterious disappearance of our cherished friend, Mrs. Snowball Pat Paw. This lovely and beloved cat was the pet of a large circle of warm and admiring friends; for her beauty attracted all eyes, her graces and virtues endeared her to all hearts, and her loss is deeply felt by the whole community. When last seen, she was sitting at the gate, watching the butcher's cart, and it is feared that some villain, tempted by her charms, basely stole her. Weeks have passed, but no trace of her has been discovered, and we relinquish all hope, tie a black ribbon to her basket, set aside her dish, and weep for her as one lost to us forever.

A sympathizing friend sends the following gem:
A LAMENT (FOR S. B. PAT PAW)
We mourn the loss of our little pet,
And sigh o'er her hapless fate,
For never more by the fire she'll sit,
Nor play by the old green gate.
The little grave where her infant sleeps
Is 'neath the chestnut tree.
But o'er her grave we may not weep,
We know not where it may be.
Her empty bed, her idle ball,
Will never see her more;
No gentle tap, no loving purr
Is heard at the parlor door.
Another cat comes after her mice,
A cat with a dirty face,
But she does not hunt as our darling did,
Nor play with her airy grace.
Her stealthy paws tread the very hall
Where Snowball used to play,
But she only spits at the dogs our pet
So gallantly drove away.
She is useful and mild, and does her best,
But she is not fair to see,
And we cannot give her your place dear,
Nor worship her as we worship thee. A.S."

09 Juli 2019

Justinus Kerner - sein Haus in Weinsberg

Im Justinus-Kerner-Haus in Weinsberg (Öhringer Str.3) erlebte ich eine ausgezeichnete Führung, von der ich hier nach und nach einige Eindrücke vermitteln will. Dass es erhalten blieb, ist dem Justinus-Kerner-Verein zu danken, der es erwarb und zur Gedenkstätte ausbaute (wie auch weitere Gebäude, z.B. sein Gästehaus im Garten, das Alexanderhäuschen).

Justinus Kerner (Wikipedia) war in erster Linie Arzt, Dichter war er nur nebenbei. 
Sein Bruder Karl, der Innenminister, war aufgrund seiner Reformen und seiner politischen Arbeit "10 mal wichtiger" (so mein Führer durchs Haus), "aber er war kein Schöngeist und wurde deshalb nicht so berühmt". 
In die deutsche Geistesgeschichte ist er primär als Freund von Uhland, Schwab, Lenau und den anderen Mitgliedern des Seracher Dichterkreises eingegangen. Als solcher ist er weiterhin in Baden-Württemberg gut bekannt. Zahlreiche Schulen sind nach ihm benannt. Eine europäische Berühmtheit wurde er aber durch sein Buch über die "Seherin von Prevorst", seine Patientin, die zahlreiche Geistererscheinungen erlebte und fest daran glaubte. 
Seherin von Prevorst

Kerner hat sich dafür eingesetzt, die Burgruine  Weibertreu zu erhalten. Es finden sich Pläne im Haus, wo die Burg vollständig wiedergegeben ist.


Danach hat er eine Reihe von Büchern über Geistererscheinungen geschrieben und geriet in den Ruf, selbst an Geister zu glauben. 

Dazu trug bei, dass er einen Turm der Stadtmauer Weinsberg, der abgerissen werden sollte, (für 7 Gulden) erwarb und dort seine Gäste unterbrachte. Die erzählten dann von Geistererscheinungen. Eine Besucherin, die nicht an Geister glaubte, traute sich dennoch, in dem Turm zu übernachten. Sie wurde dann sehr durch einen Geist ohne Kopf erschreckt (es soll der Landrat gewesen sein, der sich diesen groben Scherz erlaubte) und reiste sofort ab. 
Ein sehr beliebtes Instrument von Kerner war die Maultrommel. Er hat sie benutzt, um Patienten zu heilen. Insofern war er der erste Musiktherapeut.



In Kerners Haus lebte ein Storch, der sich am Flügel verletzt hatte, für viele Jahre als Haustier.

(Dieser Bericht soll nach und nach insbesondere durch Bilder ergänzt werden.)

Mehr zu Theobald Kerner vom Hausführer Dr. Bernd Liebig