28 Dezember 2020

Dante: Göttliche Komödie, Hölle 4. Gesang

 Mein Meister sprach: Du unterläßt zu fragen,  [Vergil]

Was es für Geister sind, die du hier siehest;

Doch sollst Du, eh wir weiter gehn, vernehmen,

Daß sie nicht sündigten. Und wenn Verdienste

Sie hatten, g'nügt es nicht, weil ohne Taufe

Sie starben, welche deines Glaubens Teil ist.

Und lebten sie noch vor dem Christentume,

So beteten zu Gott sie falscher Weise;

Und diesen bin ich selber beizuzählen.

Ob solchen Mangels, nicht ob andren Fehles,[23]

Sind wir verloren, und nur dadurch leidend,

Daß, ohne Hoffnung, wir in Sehnsucht leben. –

Als ich's vernommen, faßte tiefer Schmerz mich

Denn ich begriff, wie Seelen höchsten Wertes

In dieses Vorhofs Mittelzustand schwebten.

Sag' an, mein Meister, sage mein Gebieter,

Begann ich, um Bestätigung zu finden

Des Glaubens, welcher jeden Wahn vernichtet:

Ward einer je von hier befreit und selig

Durch fremdes, oder eigenes Verdienst? –

Und er, verstehend die verhüllte Rede,

Entgegnete: Noch neu in diesem Zustand

War ich, als ein Gewaltiger daher kam,

Um dessen Haupt sich Siegeszeichen wanden.

Er raubte uns des ersten Vaters Schatten

Und Abel seinen Sohn, Noah und Moses,

Der die Gesetze schrieb, und doch gehorchte,

Abra'm den Patriarchen, König David,

Israel mit dem Vater und den Kindern

Und Rahel auch, um die er lang geworben,

Viel andre noch, und alle macht' er selig.

Doch wissen sollst du, daß niemals vor ihnen

Die Seele eines Menschen ward errettet. –

Nicht hemmten, weil er sprach, wir uns're Schritte

Rastlos durchschritten wir vielmehr den Wald;

Ich sage, Wald, von ungezählten Schatten.

Und als wir lange Zeit noch nicht gegangen

Seit mich der Schlaf befiel, sah ich ein Feuer,

Das eine Finsternishalbkugel hellte.

Obwohl noch mäß'ge Fern' uns von ihm trennte,

So glaubt' ich dennoch sicher zu erkennen,

Daß auserles'ne Seelen dort verweilten.

O Meister, der du Wissenschaft und Kunst ehrst

Warum genießen diese solches Vorrecht,

Das von dem Los der übrigen sie sondert? –

Drauf er zu mir: Der ehrenvolle Namen,[24]

Der ihnen nachklingt dort im Erdenleben,

Gewinnet solche Gunst im Himmel ihnen. –

Da hört' ich einer Stimme Ruf erschallen:

Erweiset dem erhabnen Dichter Ehre!

Sein Schatten kehrt zurück, der uns verlassen. –

Als nun die Stimme schwieg und nicht mehr tönte,

Sah ich vier hohe Schatten sich uns nahn;

Ihr Antlitz zeigte Trauer nicht, noch Freude.

Mein Meister aber sagte rasch zu mir:

Sieh jenen mit dem Schwert in seiner Hand,

Der vor den andren hergeht als ihr Meister!

Das ist Homer, der königliche Dichter

Der zweit' ist der Satiriker Horaz,

Als dritter folgt Ovid, Lucan als letzter.

Weil jeder nun mit mir den Namen teilt,

Den du die Einzelstimme nennen hörtest,

Tun sie mir Ehr' an, und so ist's geziemend. –

So sah versammelt ich die schöne Schule

Der Meister des erhabensten Gesanges,

Der ob den andren, gleich dem Adler, fliegt.

Als miteinander etwas sie gesprochen,

Da wandten sie zu mir sich, freundlich grüßend;

Mein Meister aber lächelte darob.

Und mehr der Ehr' erzeigten sie mir noch;

Denn ihrer Schar gesellten sie mich zu,

So daß ich Sechster ward im Kreis der Weisen.

Inzwischen näherten wir uns der Flamme,

Und sprachen, was sich zu verschweigen ziemet,

So wie sich's ziemte, dort es zu besprechen.

Zum Fuße einer stolzen Burg gedieh'n wir,

Die siebenfache Mauern rings beschließen

Und die zur Wehr ein schöner Bach umgibt.

Den überschritten wir gleich festem Boden;

Durch sieben Tore traten dann wir ein

Und fanden uns auf frisch begrünter Matte.

Die Geister dort, sie blickten ernst und ruhig,

Es lag in ihrem Ausdruck hohe Würde,

Sie sprachen selten und mit sanfter Stimme.

Wir wählten einen Platz, der licht und offen

Zur Seite sich erhob, so daß von dort aus

Wir all die Scharen deutlich überschauten.

Uns gegenüber auf dem grünen Teppich

Wies mir mein Führer dann die großen Geister;

Weshalb ich noch mich rühm, und glücklich preise.

Elektra sah ich unter viel Gefährten,

Wovon Aeneas ich erkannt' und Hektor,

Cäsar im Waffenschmuck mit Falkenaugen.

Ich sah Cammilla und Penthesilea,

Latinus auch den König, und die Tochter

Lavinia, welche fern den andren saßen.

Den Brutus sah ich, der Tarquin vertrieben,

Lucretia, Julia, Martia und Cornelia,

Und einsam und abseits den Saladin. –

Als etwas höher ich die Wimper hob,

Sah ich den Meister aller die da wissen,

Umgeben rings von Philosophen-Schülern;

Auf ihn nur schauen ehrerbietig alle.

Hier sah ich Sokrates sowohl als Plato,

Die vor den andren ihm am nächsten stehn.

Auch Demokrit, dem alles gilt für Zufall,

Und Thales, Anaxagoras, wie Zeno,

Empedokles und Heraklit, den dunklen,

Diogenes und Dioskorides,

Heilsamer Pflanzen Sammler, Orpheus, Linus,

Cicero, Seneca, den Sittenlehrer,

Euklid, den Geometer, Ptolemäus,

Hippokrates, Galen und Avicenna,

Averroës, den großen Kommentator.

Unmöglich kann ich einzeln alle nennen.

Zur Kürze treibt so sehr des Stoffes Länge,

Daß dem Geseh'nen oft mein Wort nicht nachkommt. –

Die Sechsgesellschaft mindert sich auf Zweie,

Und andre Pfade wählt der weise Führer.

Aus ruh'ger Luft komm' ich in die bewegte,

In ein Gebiet, wo nichts mehr ist, das leuchtet.

(Dante: Göttliche Komödie, Hölle  4. Gesang)

27 Dezember 2020

Homerische Frage

 "Die literaturwissenschaftliche Frage nach der Urheberschaft Homers wird die Homerische Frage genannt. Hauptsächlich geht es dabei um die Frage, ob Homer tatsächlich Verfasser nur der Ilias oder überhaupt der beiden Epen gewesen sei oder ob unter dem Namen „Homer“ verschiedene Dichter zusammengefasst worden seien, die ältere, mündlich überlieferte Sagen verschriftlicht kompiliert hätten.

Ein weiterer Aspekt der „Homerischen Frage“ ist die Datierung der beiden Epen: Hätte die deutlich jüngere Odyssee überhaupt noch während der Lebenszeit des Ilias-Autors geschrieben werden können? Teils wird hier jedoch davon ausgegangen, die Ilias sei ein Jugend- und die Odyssee ein Alterswerk Homers.

Literaturwissenschaftliche stilistische Analysen neigen heute aufgrund der hohen kompositorischen Kunst und durchgehenden sprachlichen Qualität beider Epen wiederum dazu, wie die antiken Autoren auf einen gemeinsamen Verfasser („Homer“) als wahrscheinlich zu folgern. "(Wikipedia: Homer)

Heutiger Stand der Forschung

  • "Die Tradition des mündlichen Improvisierens von Dichtung in der festen Form von Hexametern (siehe Milman Parry) entstand ca. 1550 v. Chr.
  • Der beliebte Sagenstoff der Troja-Geschichte existierte bereits 700 v. Chr.
  • Homer, ein begabter Einzelgänger, nutzt die (seit ca. 800 v. Chr. existierende) Schrift zur Stoffstrukturierung und schafft so eine (oder bei Annahme einer Verfasseridentität zwei) individuell geformte Gestaltung(en) von Ausschnitten des vorhandenen Sagenstoffes:
    • die Retardation der Eroberung Trojas in einer 51-Tage-Erzählung unter dem Schwerpunkt „Groll des Achilles“ = Ilias;
    • die geglückte Rückkehr des Troja-Kämpfers Odysseus in einer 40-Tage-Erzählung („Heimkehr des Odysseus“) = Odyssee.

Beide Epen wären so Produkte der Übergangszeit zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Beide Werke wurden unter Verwendung der Schrift konzipiert und festgehalten, aber bis zur abgeschlossenen Verschriftlichung der griechischen Überlieferung weiterhin mündlich durch Rhapsoden weiterverbreitet. Diese Hypothesen sind jedoch unvollständig belegt.

Die Datierung der mündlichen Dichtung auf 1550 v. Chr. beruht auf der ungesicherten Theorie einer indogermanischen epischen Tradition[1] (naturgemäß gibt es aus dieser Zeit keine Aufzeichnungen). Gewisse Vokabeln, Wendungen und metrische Besonderheiten des Textes deuten auf ein wesentlich älteres Sprachstadium, dies lässt sich durch die Annahme einer indogermanischen dichterischen Tradition erklären.[2] In der indogermanischen Sprachwissenschaft hat Homer deswegen eine sehr große Bedeutung." (Wikipedia: Homerische Frage)

Bemerkenswert scheint mir, dass sich die Frage nach dem Verfasser der Epen schon in der Antike stellte und andererseits, dass auch bei anderen überragenden Werken trotz bereits lange ausgeprägter Schriftlichkeit und solider schriftlicher Überlieferung die Frage nach dem Verfasser stellte, bei Shakespeare.

26 Dezember 2020

Homer: Odyssee

 Proömium

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,

Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung,

Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat

Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,

Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.

Aber die Freunde rettet' er nicht, wie eifrig er strebte;

Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben:

Toren! welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers

Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft.

Sage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.


Alle die andern, soviel dem verderbenden Schicksal entflohen,

Waren jetzo daheim, dem Krieg entflohn und dem Meere:

Ihn allein, der so herzlich zur Heimat und Gattin sich sehnte,

Hielt die unsterbliche Nymphe, die hehre Göttin Kalypso,

In der gewölbeten Grotte und wünschte sich ihn zum Gemahle.

Selbst da das Jahr nun kam im kreisenden Laufe der Zeiten,

Da ihm die Götter bestimmt, gen Ithaka wiederzukehren,

Hatte der Held noch nicht vollendet die müdende Laufbahn,

Auch bei den Seinigen nicht. Es jammerte seiner die Götter;

Nur Poseidon zürnte dem göttergleichen Odysseus

Unablässig, bevor er sein Vaterland wieder erreichte.

Dieser war jetzo fern zu den Aithiopen gegangen:

Aithiopen, die zwiefach geteilt sind, die äußersten Menschen,

Gegen den Untergang der Sonnen und gegen den Aufgang:

Welche die Hekatombe der Stier' und Widder ihm brachten.

Allda saß er, des Mahls sich freuend. Die übrigen Götter

Waren alle in Zeus' des Olympiers Hause versammelt.

Unter ihnen begann der Vater der Menschen und Götter;

Denn er gedachte bei sich des tadellosen Aigisthos,

Den Agamemnons Sohn, der berühmte Orestes, getötet;

Dessen gedacht er jetzo und sprach zu der Götter Versammlung:[441]

Welche Klagen erheben die Sterblichen wider die Götter!

Nur von uns, wie sie schrein, kommt alles Übel; und dennoch

Schaffen die Toren sich selbst, dem Schicksal entgegen, ihr Elend.

So nahm jetzo Aigisthos, dem Schicksal entgegen, die Gattin

Agamemnons zum Weib und erschlug den kehrenden Sieger,

Kundig des schweren Gerichts! Wir hatten ihn lange gewarnet,

Da wir ihm Hermes sandten, den wachsamen Argosbesieger,

Weder jenen zu töten noch um die Gattin zu werben.

Denn von Orestes wird einst das Blut Agamemnons gerochen,

Wann er, ein Jüngling nun, des Vaters Erbe verlanget.

So weissagte Hermeias; doch folgte dem heilsamen Rate

Nicht Aigisthos, und jetzt hat er alles auf einmal gebüßet.

Drauf antwortete Zeus' blauäugichte Tochter Athene:

Unser Vater Kronion, der herrschenden Könige Herrscher,

Seiner verschuldeten Strafe ist jener Verräter gefallen.

Möchte doch jeder so fallen, wer solche Taten beginnet!

Aber mich kränkt in der Seele des weisen Helden Odysseus

Elend, welcher so lang, entfernt von den Seinen, sich abhärmt

Auf der umflossenen Insel, der Mitte des wogenden Meeres.

Eine Göttin bewohnt das waldumschattete Eiland,

Atlas' Tochter, des Allerforschenden, welcher des Meeres

Dunkle Tiefen kennt und selbst die ragenden Säulen

Aufhebt, welche die Erde vom hohen Himmel sondern.

Dessen Tochter hält den ängstlich harrenden Dulder,

Immer schmeichelt sie ihm mit sanft liebkosenden Worten,

Daß er des Vaterlandes vergesse. Aber Odysseus

Sehnt sich, auch nur den Rauch von Ithakas heimischen Hügeln

Steigen zu sehn und dann zu sterben! Ist denn bei dir auch

Kein Erbarmen für ihn, Olympier? Brachte Odysseus

Nicht bei den Schiffen der Griechen in Trojas weitem Gefilde

Sühnender Opfer genug? Warum denn zürnest du so, Zeus?

(1. Gesang)


Inhaltsüberblick:

    "1. bis 4. Gesang

Der Rat der Götter beschließt, Odysseus die Heimkehr zu ermöglichen. Dafür wird der Götterbote Hermes zur Nymphe Kalypso gesandt, die Odysseus sieben Jahre lang auf ihrer Insel zurückgehalten hat. Unterdessen begibt sich die Göttin Athene in Odysseus’ Heimat Ithaka, wo seine Frau Penelope von zahlreichen Freiern bedrängt wird, einen von ihnen zu heiraten. In Gestalt des väterlichen Freundes Mentes überredet Athene Odysseus’ Sohn Telemachos, sich auf die Suche nach dem vermissten Vater zu machen. Dieser segelt daraufhin nach Pylos zu Nestor und begibt sich anschließend zu Menelaos nach Lakonien, um Informationen über seinen verschollenen Vater zu bekommen. Die Freier planen in der Zwischenzeit einen Mordanschlag auf Telemachos und bereiten einen Hinterhalt an der zwischen Ithaka und Samos gelegenen Insel Asteria vor.

5. bis 8. Gesang

Hermes gelingt es, Kalypso zu überreden, Odysseus ziehen zu lassen. Auf einem selbstgebauten Floß verlässt Odysseus Kalypsos Insel Ogygia. Doch als am 18. Tag das Phaiakenland bereits in Sichtweite ist, erregt sein Widersacher, der Meeresgott Poseidon, einen Sturm, der das Floß schwer beschädigt und zum Kentern bringt. Mit Unterstützung der Nymphe Ino Leukothea rettet sich Odysseus mit letzter Kraft schwimmend an die Küste Scherias, der Heimat der Phaiaken. Er begegnet am Strand der Königstochter Nausikaa, die ihm den Weg zum Palast ihrer Eltern weist. Diese nehmen Odysseus gastfreundlich auf.

9. bis 12. Gesang

Im zentralen Teil des Epos erzählt Odysseus im Haus des Phaiakenkönigs Alkinoos die Geschichte seiner Irrfahrten 
(siehe unten: 
Die Irrfahrten des Odysseus).

13. bis 16. Gesang

Nun werden die beiden Handlungsstränge, die Telemachie und die eigentliche Odyssee, zusammengeführt. Odysseus kehrt mit Hilfe der Phaiaken nach Ithaka heim, muss sich aber im Haus des treuen Sauhirten Eumaios verbergen, bis er den Kampf mit den Freiern wagen kann. Inzwischen bricht Telemachos aus Sparta auf. Ohne bei Nestor zu übernachten, begibt er sich, nachdem er abends Pylos erreicht, direkt auf sein Schiff und kehrt nach Ithaka zurück. Dem Anschlag der Freier, vor denen ihn Athene gewarnt hat, kann er entgehen. Er begibt sich zu Eumaios und trifft dort auf seinen Vater Odysseus.

Odysseus erschießt seine Gegner

17. bis 20. Gesang

Zu seinem Schutz verleiht Athene Odysseus die Gestalt eines Bettlers. Als solcher kehrt er nach 20 Jahren in sein Haus zurück, wo ihn zunächst nur sein alter sterbender Hund Argos wiedererkennt, später auch die alte Magd Eurykleia. Insgeheim bereitet sich Odysseus auf den Kampf mit den Freiern vor.

21. und 22. Gesang

Bei einem Bogenkampf gibt sich Odysseus zu erkennen und tötet mit Hilfe von Telemachos und Eumaios die Freier sowie die Mägde und Knechte, die sich als untreu erwiesen haben.

23. und 24. Gesang

Odysseus sieht nach 20 Jahren seine Frau Penelope wieder. Doch erst nachdem sie ihn mit einer List auf die Probe gestellt hat, erkennt sie in ihm den Gatten. Anschließend besucht Odysseus seinen alten Vater Laërtes. In der Unterwelt preisen Achilleus und Agamemnon, Odysseus’ Mitkämpfer vor Troja, dessen siegreiche Heimkehr. Die Göttin Athene schlichtet den Streit zwischen Odysseus und den Verwandten der getöteten Freier. "
(Wikipedia: Die 24 Gesänge)

Schluss des Epos:


Aber Odysseus fiel und Telemachos unter die Feinde,

Hauten und stachen mit Schwertern und langgeschafteten Spießen.

Und nun hätten sie alle vertilgt und zu Boden gestürzet;

Aber die Tochter des Gottes mit wetterleuchtendem Schilde,

Pallas Athene rief und hemmte die streitenden Scharen:

Ruht, ihr Ithaker, ruht vom unglückseligen Kriege!

Schonet des Menschenblutes und trennet euch schnell voneinander!

Also rief die Göttin; da faßte sie bleiches Entsetzen:

Ihren zitternden Händen entflogen die Waffen, und alle

Fielen zur Erd, als laut die Stimme der Göttin ertönte.

Und sie wandten sich fliehend zur Stadt, ihr Leben zu retten.

Aber fürchterlich schrie der herrliche Dulder Odysseus

Und verfolgte sie rasch, wie ein hochherfliegender Adler.

Und nun sandte Kronion den flammenden Strahl vom Olympos,

Dieser fiel vor Athene, der Tochter des schrecklichen Vaters.

Und zu Odysseus sprach die heilige Göttin Athene:

Edler Laertiad, erfindungsreicher Odysseus,[775]

Halte nun ein und ruhe vom allverderbenden Kriege,

Daß dir Kronion nicht zürne, der Gott weithallender Donner!

Also sprach sie, und freudig gehorcht' Odysseus der Göttin.

Zwischen ihm und dem Volk erneuete jetzo das Bündnis

Pallas Athene, die Tochter des wetterleuchtenden Gottes,

Mentorn gleich in allem, sowohl an Gestalt wie an Stimme.

(24. Gesang)


Kann dieses Werk vom selben Autor verfasst worden sein wie die Ilias? Zu welchem Zeitpunkt wäre die Entstehung eines Werks, das so deutliche Zeichen der Mündlichkeit trägt, überhaupt denkbar? Diese Fragen werden heute zusammengefasst als Forschungsgegenstand Homerische Frage behandelt.

25 Dezember 2020

Goethe-Schiller-Denkmal

"Um die literarische Ebenbürtigkeit zu betonen, sind die Dichter in gleicher Körpergröße dargestellt – obwohl Schiller mit 1,80 m[1] deutlich größer als Goethe mit 1,69 m war.[2]" (Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar)

Mendelsohn: Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich.

Odyssee in der Wikipedia 

Zu Mendelsohns Roman:

Der größte Schmerz, den Odysseus in der Unterwelt erlebt: Dass er seine Mutter nicht umarmen kann (weil sie nur noch ein Schatten ist). Bezug auf Corona (S.201)

Odyssee:

Auch besiegten mich nicht Krankheiten, welche gewöhnlich

Mit verzehrendem Schmerze den Geist den Gliedern entreißen.

Bloß das Verlangen nach dir und die Angst, mein edler Odysseus,

Dein holdseliges Bild nahm deiner Mutter das Leben!

Also sprach sie; da schwoll mein Herz vor inniger Sehnsucht,

Sie zu umarmen, die Seele von meiner gestorbenen Mutter.

Dreimal sprang ich hinzu, an mein Herz die Geliebte zu drücken,

Dreimal entschwebte sie leicht wie ein Schatten oder ein Traumbild

Meinen umschlingenden Armen; [...] (Odyssee, 11. Gesang vgl. Vergils Aeneis*)

Begegnung mit Achilles. "Lieber der Kleinste unter den Lebenden als der Herrscher über die Toten." (S.204) 

drauf antwortete jener und sagte:

Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus.

Lieber möcht ich fürwahr dem unbegüterten Meier,

Der nur kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun,

Als die ganze Schar vermoderter Toten beherrschen. (Odyssee 11. Gesang)*

*Parodistisch dazu Heinrich Heine

Der Vergleich der Ilias mit der Odyssee am Beispiel ihrer Helden scheint mir unwichtig. Wichtiger die Begegnung mit Agamemnon, die Warnung vor der Heimkehr, besser als Unbekannter kommen.

Zu Eindrücken bei der Lektüre:

Die Idee, die Interpretation der Odyssee in eine Erzählung einzukleiden, finde ich weiterhin gut: Natürlich macht es Spaß, am Rande der Erzählung in altes Bildungsgut eingeführt zu werden.
Ich habe mir die Ausgabe von Ilias und Odyssee meines Bruders (meine Taschenbuchausgaben habe ich fortgetan) geholt, um mir einen Überblick über den ersten Gesang zu verschaffen, und mich daran erfreut, wie genau Wolfs Theorie der Entstehung der Homerischen Epen zu dem historisch bezeugten Verfahren Lönnrots passt, mit dem er die Kalevala zusammengestellt hat. 
Aber als die Karikaturen von Studenten auftauchten, die der Professor mit den stehenden Epitheten versieht und als der Vater seinen ausführlichen Beitrag lieferte, da wurde mir das Ganze doch zu künstlich, allzu konstruiert, um eine angebliche Ähnlichkeit von heutiger Lebenswelt mit antiker Überlieferung aufzuzeigen.
Das ständige Eingreifen der Götter hatte sich mein Vater übrigens damit erklärt, dass zur Zeit Homers die Griechen sich ein Über-sich-hinaus-Wachsen eines einzelnen nicht ohne Eingreifen der Götter hätten erklären können.
Bei den Römern: vor der Entscheidung den Willen der Götter erkunden, weil man nicht gegen den Willen der Götter handeln darf, sonst wird man gestraft (Zeus über Ägisthos); Erklärung eines Scheiterns als Missgunst der Götter. (Weshalb hat Odysseus so viel Pech? Missgunst Poseidons. Weshalb schafft er es am Ende doch, nach Hause zu kommen? Hilfe Athenes und Begünstigung durch Zeus, der Poseidon beweisen will, dass immer noch er das Sagen hat.)
Und vermutlich wird mich die erzählerische Einkleidung noch durch die gesamte Interpretation tragen, obwohl mir die retardierenden Momente bei der Interpretation auf die Nerven gehen. 

Wie sehr Melville Homers Odyssee im Blick gehabt hat, weiß ich nicht. Die Ähnlichkeit und der Unterschied sind aber erstaunlich.

Teiresias' Weissagungen über das zukünftige Schicksal des Odysseus sie reichen weit über das Ende der Odyssee hinaus:

"Aber kommen wirst du und strafen den Trotz der Verräter.

Hast du jetzo die Freier, mit Klugheit oder gewaltsam

Mit der Schärfe des Schwerts, in deinem Palaste getötet,

Siehe, dann nimm in die Hand ein geglättetes Ruder und gehe

Fort in die Welt, bis du kommst zu Menschen, welche das Meer nicht

Kennen und keine Speise gewürzt mit Salze genießen,

Welchen auch Kenntnis fehlt von rotgeschnäbelten Schiffen

Und von geglätteten Rudern, den Fittichen eilender Schiffe.

Deutlich will ich sie dir bezeichnen, daß du nicht irrest.

Wenn ein Wanderer einst, der dir in der Fremde begegnet,

Sagt, du tragst eine Schaufel auf deiner rüstigen Schulter,

Siehe, dann steck in die Erde das schöngeglättete Ruder,

Bringe stattliche Opfer dem Meerbeherrscher Poseidon,

Einen Widder und Stier und einen mutigen Eber.

Und nun kehre zurück und opfere heilige Gaben

Allen unsterblichen Göttern, des weiten Himmels Bewohnern,

Nach der Reihe herum. Zuletzt wird außer dem Meere

Kommen der Tod und dich vom hohen behaglichen Alter

Aufgelöseten sanft hinnehmen, wann ringsum die Völker

Froh und glücklich sind. [...]"


Beim trotz Orpheus vielleicht berühmtesten Besuch der Unterwelt, bei Dante in der Göttlichen Komödie, sieht sich der noch Lebende dadurch geehrt, dass er zusammen mit seinem Führer Vergil* in den Kreis der illustrem Schatten aufgenommen wird, der von Homer, dem ersten, der in einem großen Epos einen Besuch der Unterwelt aufgenommen hat, angeführt wird:


"Mein Meister aber sagte rasch zu mir:
Sieh jenen mit dem Schwert in seiner Hand,
Der vor den andren hergeht als ihr Meister!
Das ist Homer, der königliche Dichter
Der zweit' ist der Satiriker Horaz,
Als dritter folgt Ovid, Lucan als letzter.
Weil jeder nun mit mir den Namen teilt,
Den du die Einzelstimme nennen hörtest,
Tun sie mir Ehr' an, und so ist's geziemend. –
So sah versammelt ich die schöne Schule
Der Meister des erhabensten Gesanges,
Der ob den andren, gleich dem Adler, fliegt.
Als miteinander etwas sie gesprochen,
Da wandten sie zu mir sich, freundlich grüßend;
Mein Meister aber lächelte darob.
Und mehr der Ehr' erzeigten sie mir noch;
Denn ihrer Schar gesellten sie mich zu,
So daß ich Sechster ward im Kreis der Weisen."

(Dante: Göttliche Komödie, 4. Gesang)


Vergil kann deshalb als Führer in die Unterwelt dienen, weil er im 6. Buch der Aeneis seinerseits (in Anknüpfung an Homer) einen Besuch in der Unterwelt beschrieben hat:

"Nach der Landung an der Westküste Italiens (Buch 6) steigt Aeneas mit der Sibylle von Cumae in die Unterwelt ab. Dort erfährt er durch Anchises von der künftigen Größe und dem Geschichtsauftrag Roms, der Stadt, die aus seiner Gründung entstehen wird. Außerdem begegnet er dort der durch Suizid gestorbenen Dido, die ihn jedoch ignoriert. Sie ist noch immer von der tiefen Wunde gezeichnet." (Wikipedia)

Anchises erläutert seinem Sohn die Gegebenheiten der Unterwelt:

"»Endlich kommst du! Die Liebe des Sohnes, erwartet vom Vater,

hat den beschwerlichen Weg überwunden. Ich darf jetzt dein Antlitz

sehen, bekannte Laute vernehmen und Antwort auch geben.[289]

War ich doch fest überzeugt, es werde so kommen, und zählte

sehnend die Tage. Mich trog nicht, trotz quälender Sorgen, mein Hoffen.

Was für Länder und Meere durchquertest du, bis ich dich heute

anschauen darf, und was für Gefahren hast du bestanden!

Was für Befürchtungen hegte ich, Libyen könnte dir schaden!«


Aber Aeneas erwiderte: »Vater, dein trauernder Schatten

ist wiederholt mir erschienen und trieb mich zum Gang in den Orkus.

Im Tyrrhenischen Meere liegen die Schiffe. Die Rechte

gib mir doch, bitte, Vater, entzieh dich nicht meiner Umarmung!«

Während der Worte strömten die Tränen ihm über das Antlitz.

Dreimal versuchte er jenem den Arm um den Nacken zu schlingen,

dreimal entwich den ins Leere greifenden Händen der Schatten,

ebenso leicht wie ein Windhauch, ebenso flüchtig wie Träume.*

(vgl. Odysseus' Versuch, seine Mutter zu umarmen in der Odyssee)

Nunmehr erblickte Aeneas im hinteren Teile des Tales

einen gesonderten Hain, ein Dickicht mit raschelnden Blättern,

und die Lethe, den Strom, der am Lande des Glückes entlangfließt.

Zahllos umdrängten Seelen das Ufer in wimmelnden Scharen,

wie auf den Wiesen bei wolkenlos heiterem Himmel im Sommer

Bienen auf vielerlei Blumen sich niederlassen und weiße

Lilien umschwärmen, die Landschaft erdröhnt vom lebhaften Summen.

Ahnungslos fühlte Aeneas bei diesem Anblick von jähem

Schreck sich durchzuckt, und er fragte, was dort für ein Fluß sich ergieße,

was für Leute in solcher Menge am Ufer sich drängten.

Antwort erteilte Anchises: »Die Seelen, die, göttlicher Weisung

fügsam, erneut sich verkörpern, trinken vom Wasser der Lethe,

schlürfen mit ihm Vergessenheit ein und Freiheit von Sorgen.

Lange schon möchte ich dir von ihnen erzählen, sie zeigen,

aufzählen dir die Nachkommen meines Geschlechtes: Mit größrer

Freude begrüßt du danach mit mir die Entdeckung Italiens.«
[290]

»Vater, so steigen denn wirklich von hier aus etliche Seelen

aufwärts und schlüpfen aufs neue in träge irdische Körper?

Weswegen streben die Elenden derart fanatisch zum Lichte?«


»Darlegen will ich es dir und deine Bedenken zerstreuen«,

gab Anchises zurück und erklärte der Reihe nach alles.

»Geistige Kraft durchdringt seit Beginn den Himmel, die Erde,

sämtliche Flächen des Wassers sowie die Titanengestirne

Sonne und Mond, sie durchflutet als Weltseele nährend die Teile,

treibt die gesamte Materie, verschmilzt mit dem riesigen Ganzen.

Diesem entstammen die Menschen, die Tiere, die fliegenden Wesen,

sämtliche Scheusale unter dem schimmernden Spiegel des Meeres.

Feurige Stärke und himmlischen Ursprung besitzen die Wesen,

werden beeinträchtigt nur von den schwachen, schädlichen Körpern,

werden entkräftet von irdischen Gliedern und sterblichen Leibern.

Daraus ergeben sich Furcht und Begierde, Kummer und Freude.

Düsterem Kerker verfallen, erkennen die Seelen die reine

Himmelsluft nicht. Sogar wenn das Leben erlosch an dem letzten

Tage, verloren die Armen nicht völlig das Übel, nicht restlos

wichen die Seuchen des Körpers. Es müssen in seltsamer Weise

viele lang haftende Schwächen des Leibes auch Wurzeln in Seelen

schlagen. So dulden die Seelen denn Qualen und sühnen durch Strafen

frühere Sünden: Ausgereckt hängen die einen im Luftraum,

Spielball der Winde; anderen werden die Flecken des Frevels

sauber getilgt in tiefen Gewässern oder im Feuer.

Jeder von uns unterliegt der eigenen Sühne. Im Anschluß

schickt man uns in das weite Elysium, wenige freilich,

die wir im Lande der Freude dann wohnen, bis uns der späte

Zeitpunkt nach Ablauf der Frist befreit von dem Schandfleck und unsre

himmlische Seele, das Feuer der reinen Höhe, zurückläßt.

Alle die Seelen hier ruft, sobald sie im Kreislaufe tausend

Jahre erfüllten, die Gottheit in Scharen zum Strome der Lethe.

Ohne Erinnerung sollen sie wieder die Wölbung des Himmels

sehen, den Wunsch zur Rückkehr in Körpergestalten empfinden.« [...]

(Aeneis 6. Gesang)


Das Büßen der Sünden fand Dante also bereits vorgebildet bei Vergil.


Vgl. dazu auch die Unterwelt in der finnischen Mythologie in der Kalevala.