31 Juli 2018

Die Woche mit Frau Cresspahl: „Bedankmichbrief“ an Anita Gantlik

Am 21. Juli 1968 wird Marie Henriette Cresspahl elf Jahre alt. Zum ersten Mal feiert sie nicht mit einer Kindergesellschaft, sondern mit ihrer Mutter und D. E. Der hat den Geburtstag für sie ausgerichtet, denn „wenn wir Prag hinter uns haben“, wird ihre Mutter ihn heiraten, und sie müssen „es lernen zu dritt“. D. E., Anita als Erichson bekannt, wirft sich ordentlich ins Zeug. Er singt nicht nur das Lied, „mit dem in Mecklenburg die Geburtstagskinder geweckt werden: Ich freue mich, daß du geboren bist“. [...]

Als Anita Gantlik in die neunte Klasse der Fritz-Reuter-Schule eintritt, muss sie schon lange auf eigenen Füßen stehen. Mutter und Geschwister sind bei Kriegsende ums Leben gekommen, als Elfjährige wurde sie von drei russischen Soldaten vergewaltigt. Sie hat einen Vater, „der sie zurückließ in der bäuerlichen Knechtschaft und seinen Sold von der Polizei in Jerichow für sich behielt, als wünsche er der Tochter ein Verkommen und Verrecken“. Diesem Vater verdankt sie auch ihre Staatsbürgerschaft, denn der Nazi-Sympathisant hatte seine polnische Familie nach der Besetzung Polens zu „Reichsbürgern“ erklären lassen, „weil ihm das gefällt, wie deutsche Panzer ein deutsches Dorf flachlegen“.
Dennoch schafft Anita es auf die Oberschule in Gneez, und sie schafft es auch, aus der bäuerlichen Knechtschaft herauszukommen, denn sie übersetzt für die russischen Soldaten, auch während der Schulstunden. [...]
Als bei ihr im Alter von sechzehn Jahren eine verschleppte Gonorrhoe festgestellt wird, behandelt sie in der Seuchenbaracke eine Ärztin, „die konnte sie sich leicht vorstellen mit einem Hakenkreuz am Kittel. Denn Anita wurde angefahren, als sei sie schuld, weil eine andere zu Tage getreten war. […] Anita wurde beglückwünscht, weil sie davongekommen war ohne Schmerzen: – stellen Sie sich nicht so an.“ Diese Wort richten sich an eine Sechzehnjährige, deren Diagnose bedeutet, sie wird keine Kinder bekommen können. Anita läuft aus der Seuchenbaracke davon und liegt die ganzen Sommerferien über krank im Bett. Danach befreit sie sich vom Opfertum ihrer Tante, schließt ihr Zimmer ab und trägt Kleider erwachsener Frauen, „mit Stoffen aus Wolle und reiner Rohseide“, auf Annäherungsversuche reagiert sie kühl mit der Frage: „Wozu?“ [...]
Anitas Bekanntschaft mit Gesine verläuft zögernd und muss lange ohne das Geständnis einer Freundschaft auskommen. Anita fühlt sich fremd an der neuen Schule, zu ihren Mitschüler*innen sagt sie die falschen Dinge, und sie orientiert sich nicht an der eigenen Klasse, sondern an den Jahrgängen darüber: „Haben wir einander bekannt, als Freudinnen bestimmt zu sein? Wir haben uns gehütet.“ [...]
Erst als Anita 1952 nach Westberlin gegangen ist, gestehen Gesine und sie sich ihre Freundschaft, und Anita ist ihr eine gute Freundin:
Als Jakob zu Tode gekommen und begraben war, betrug Anita sich harsch zu mir, die Patin. Sie meinte, eine Anwesenheit auf dem Friedhof wäre mir nützlich gewesen.“
Zu Anitas Verdruss tritt Gesine aus der Kirche aus, wird Marie nicht getauft, doch das Patenamt für die vaterlose Tochter ihrer Freundin tritt sie trotzdem an, denn „wenn sie enttäuscht war und betrübt“ über die Nicht-Mitgliedschaft in der evangelischen Kirch, „so unsretwegen.“ Vor beider Umzug nach New York besuchen sie Anita in Westberlin, weil Gesine den „Emigranten aus karelischen Landen“ begutachten soll, der Anita heiraten will. Vor allem will die wissen, ob er die Kinderlosigkeit tatsächlich wird ertragen können, zu der ihre Geschlechtskrankheit sie verdammt hat. Das Urteil der Freundin fällt offensichtlich positiv aus, denn die Hochzeit mit Aggie Brüshaver als zweiter Trauzeugin und Alex im Konfirmationsanzug wird eine festliche Angelegenheit.
Marie dachte an Berlin noch lange als eine von windigem Sonnenlicht durchflutete Stadt, dahin fährt man zum Heiraten.“
(FAZ 28.7.18)

Die Woche mit Frau Cresspahl: Tanzstunde, Tagebuch, Irrungen, Wirrungen

"Im Frühjahr 1947 schwebt das Damoklesschwert des Erwachsenwerdens in Form von Tanzstunden über Gesine Cresspahl, die sich „zweimal in der Woche in einem Gneezer Hotel unterweisen lassen muss in bürgerlichen Balzritualen. Denn als bürgerliches Kind hat Marie Abs sie eingestuft und in Abwesenheit des Vaters darf sie zwar die Konfirmation, nicht aber die Etikette verweigern. So lange Heinrich Cresspahl nicht zurück ist, wird Gesine zu vornehmer Erziehung in Auftrag genommen“ und angehalten. Mit Erfolg: Die feine Gneezer Gesellschaft betrachtet sie als eine der ihren, auch wegen des schwarzen Mantels, den Marie Abs ihr hat schneidern lassen. Nur aus „Gehorsam gegen Frau Abs“ nimmt Gesine Cresspahl überhaupt an den Tanzstunden teil [...]  
Vor allem, wenn man ganz andere Sorgen hat, wie einen Vater in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, dessen Rückkehr mit dem Tagebuch festgeschrieben werden soll. Dieses Tagebuch ist „nicht so recht“ eines, es ist eine Wortliste, zum Teil auf Russisch, verborgen vor Jakob und Marie Abs. Endlich erfahren wir, was es mit den Jahrestagen auf sich hat: „hier macht ein Schreiber in ihrem Auftrag für jeden Tag eine Eintragung an ihrer Statt, mit ihrer Erlaubnis, nicht jedoch für den täglichen Tag“. Eines der Worte ist Rips, das Material des Kleides aus Gesine Cresspahls New Yorker Gegenwart, an dem ihr Chef zu ihrer Pein meint den Welthandel erklären zu müssen. Im Wort-Tagebuch meint es aber ihre Lehrerin Bettina Riepschläger, die gleich nach Abitur und zweimonatigem Kurs auf Gesines Klasse losgelassen wurde. Da blond und hübsch, wird sie Jakob verschwiegen, genauso wie Rips nichts von ihm erfährt. Jetzt, da Anne-Dörte endlich zu den gräflichen Verwandten in den Westen gegangen ist, muss nicht gleich die nächste kommen, so denkt sie es sich wohl. 
(FAZ 7.7.18)
[...] Mitten im Schuljahr kommt es Anfang 1949 an der Fritz-Reuter-Oberschule zu einer kleinen Rebellion: Gesine Cresspahl und Pius Pagenkopf setzen sich gemeinsam an einen Tisch in der letzten Reihe! Sowohl der Zeitpunkt als auch die Geschlechterkombination sind aus Sicht der Mathematiklehrerin Habelschwerdt ein Unding – „allenfalls im vorderen Feld des Klassenraums können ein Mädchen, ein Junge nebeneinander geduldet werden“ – und so wird Direktor Kliefoth gerufen, um die Ordnung wiederherzustellen. Der aber lässt die beiden Unruhestifter Poe übersetzen, straft Lise für ihr hysterisches Kichern ab und gibt beiden die Note eins, was einer unausgesprochenen Zustimmung gleichkommt. Gesine und Pius sitzen weiter nebeneinander in der letzten Reihe und gelten „fortan als Liebespaar“, auch wenn sie es nicht sind. Die beiden haben einen stillschweigenden Pakt geschlossen, nicht von den eigentlichen Objekten der Begierde zu sprechen, beiden nützt der Status als Paar. [...]
Alles machen sie gemeinsam, aber sie werden nicht das Paar, für das die anderen sie halten, nicht, als Gesine bei Pius übernachtet, nicht in den gemeinsamen Ferien. Vielleicht ist der Grund, dass sie „einander nie die Hand geben“. Und Pius ergänzt im imaginären Gespräch„Aus Spaß Gesine, das war mir zu wenig.“"
(FAZ 21.7.18)

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Emanuel zu Hause, seine Befragung durch den Pfarrer

Achtes Kapitel 
Emanuel wurde zunächst im Gefängnis des Amtsgerichts seiner Kreisstadt inhaftiert. Er sollte sich wegen Vagabundierens, wegen Kurpfuscherei und Verübung öffentlichen Unfugs in wiederholten Fällen verantworten. Das Verhör setzte aber den Richter mehr als Emanuel in Verlegenheit, denn er konnte, trotz aller Fragen, das Zugeständnis der zu erweisenden strafbaren Handlungen aus dem Beklagten weder herausbekommen noch sich auf andere Weise davon überzeugen. »Sie maßen sich an, Kranke, und wären sie mit unheilbaren Übeln behaftet, gesund zu machen?« hatte die erste Frage des Richters gelautet: die Antwort aber lautete: »Nein!« – »Sie pflegen unwissenden Leuten weiszumachen, daß Sie gleichsam in einer besonderen Sendung von Gott auf dieser Erde erschienen seien. Wollen Sie diese Behauptung auch mir gegenüber aufrechterhalten?« [...]
Zwei Tage nachher befand sich Quint in einer nahen Irrenanstalt zur Beobachtung. Ein Assistenzarzt stellte die sonderbarsten Fragen an ihn. Er wollte wissen, wie alt er sei. Er wollte das Datum des gegenwärtigen Tages wissen, die Jahreszahl. Er gab ihm Rechenexempel auf. Er vergewisserte sich, ob Quint die Uhr kannte. Er führte den armen Menschen ans Fenster und ließ ihm das Licht in die Augen fallen, um festzustellen, ob die Pupille sich verengte, was richtig geschah. Und plötzlich nahm er, gleichsam in einer Anwandlung von Mitleid und Menschenfreundlichkeit, ein blankes Markstück aus seiner Geldbörse und händigte es Emanuel ein. Es rollte aber gleich darauf aus der Rechten des Narren zur Erde herunter. Nun zeigte sich allerdings, daß Quint zwar auf Befehl des Arztes das Geld von der Erde hob, aber auch, wie er es unter keiner Bedingung annehmen und behalten wollte. Ihn dennoch dahin zu vermögen, gelang dem Arzte durch keinerlei List: er drohte, er lachte, er stellte sich zornig, er gab schließlich vor, beleidigt zu sein. Quint beharrte bei seiner Weigerung. Alsdann nach der Ursache seines Betragens gefragt, sagte er, er möchte um keinen Pfennig reicher als unser Heiland auf Erden sein. Es schien beinahe, als wollte er mehr sagen, aber da faßte ihn schon ein Wärter an, und der Arzt hatte sich bereits einer schreienden Patientin zugewandt, die einige Wärterinnen in weißen Schürzen nur mit Mühe festhalten konnten. Quint wurde in seine Zelle zurückgeführt. Das psychiatrische Gutachten hatte die Ansicht vertreten, daß der pp. Quint zu den Sonderlingstypen gehöre, im übrigen aber als gesund und höchstens mit Zeichen leichten Schwachsinns behaftet anzusprechen wäre: doch könne man ihm die volle Verantwortung für seine Handlungen schwerlich aufbürden, weshalb er am besten in die Hut des elterlichen Hauses zu stellen und ganz besonderer Aufsicht zu empfehlen sei. [...]
In dieser ihm vertrauten, heimischen Gegend überfiel den armen Emanuel mehr und mehr eine fürchterliche Beängstigung. Der Gendarm, der vollkommen gleichgültig war, dachte auch nicht entfernt daran, als er sah, wie Quint seine Lippen bewegte, daß sich nur immer mit Inbrunst der eine Anruf: »Mein Gott, mein Gott!« aus seinem gequälten Inneren freimachen wollte. Das Grauen aber nahm zu in der Seele Quints. Es kam ihm vor, als müsse er mit jedem Schritt, von Stufe zu Stufe, in ein unterirdisches, lichtloses Foltergewölbe hinuntersteigen, wo jede Hoffnung, jeder Glaube und alle Liebe seit Jahrmillionen erloschen ist. Es kam ihm vor, als wenn Jesus Christus dort unten vollkommen machtlos sei, und seine Seele wand sich in Zweifeln. Sollen wir einen Augenblick bei dem eigentümlichen Zustand verweilen, der das Wesen des sonderbaren Schwärmers ergriff, beengte und gleichsam rückbildete, so sei erinnert, wie sehr die Welt der Jugend an den Kreis von Sinneseindrücken gebunden bleibt, die wir im Heimatskreise empfangen haben, und wie diese Welt, auch wenn sie lange versunken gewesen ist, durch die alten Eindrücke bis zu einem qualvollen oder, je nachdem, beseligenden Grade wieder gegenwärtig gemacht werden kann. Emanuel war unter dem Drucke der ausgesuchten Verachtung seiner Umwelt herangewachsen. Verachtung schien ihm das natürliche Erbe des Menschen zu sein. Ohne daß er jemals davon ein besonderes Wesen machte, litt er unsäglich unter allen Formen dieser Verachtung und Geringschätzung, wie sie ihm täglich, stündlich, im Hause wie außer dem Hause, entgegenkam. So stark, so furchtbar empfand er diese Herabwürdigung, daß er, im zehnten Jahre etwa, zu der festen Ansicht reifte, wie Verachtung des Nächsten eine der schwersten und furchtbarsten Sünden sei. Sie hatte bei ihm zunächst die völlige Selbstverachtung zur Folge gehabt: eine Selbstverachtung, die ihn mehr als einmal über die irdische Einsamkeit hinaus in eine tiefere, ewige, das heißt in den Tod treiben wollte. Und irgendwann, gerade in einem solchen gefährlichen Augenblick, hatte ihn die Gestalt des Heilands zuerst berührt und ihm den wundervollen Trost des göttlichen Menschensohnes gegeben. Er wurde von da ab des armen Verachteten einziger Freund. Was Wunder, wenn dieser sich, der Verachtete, an seinen gütigen Freund und Tröster schloß, mit verzehrender Inbrunst ohnegleichen. Während einer Reihe von Jahren wußte nicht einmal die Mutter Emanuels von dem göttlichen Umgang, den ihr Sohn im geheimen genoß. Da es sich aber nicht um einen Menschen von Fleisch und Blut, sondern doch nur um ein Gebilde handelte, das aus einer mühsam entzifferten Schrift ein phantastisches Leben gewann, so wurde vielleicht mit dieser gewaltsam erzeugten Traumeswelt der Grund zu seiner späteren, so verhängnisvollen Torheit gelegt.  [...]

Neuntes Kapitel 
Von den Halbbrüdern Quints war der jüngste, Gustav, zwölfjährig; dieser hing ihm im stillen an. In den ersten Tagen, als der Vater erzwingen wollte, daß Emanuel in der ärmlichen und verwahrlosten Werkstelle mit dem Halbbruder August zusammen arbeite, ging er Emanuel überall an die Hand. August, der tüchtigste Arbeiter in der Familie, war ihm dagegen keineswegs freundlich gesinnt, obgleich Emanuel immer alles getan hatte, um ihm ein Verständnis zu ermöglichen für dasjenige Fremde und Sonderbare des eigenen Wesens, woran jener sich immer aufs neue stieß. Emanuel an der Hobelbank zu sehen, war allerdings ein Anblick von einem gewissen Widersinn, der einen nachdenksamen Beobachter stutzig machen, einen Tischlergesellen zum Lachen reizen oder empören mußte. August fand sich daher empört, und mit der Moral seiner eigenen Tüchtigkeit stand er nicht an, dem trägen und wenig geschickten Bruder von früh bis spät zu Leibe zu gehen.   [...]
Der kurze und bärtige Mensch mit dem dunklen Haar, der, seiner Mutter zuliebe, nicht einmal, trotzdem er schon vierundzwanzig Jahre zählte, die übliche Wanderung angetreten hatte, fühlte sehr wohl in Emanuel irgendein geistiges Wesen, das zu begreifen ihm nicht gegeben war: ein Etwas, das er heimlich bewunderte, während er sich es geringzuschätzen, ja zu verachten den äußeren Anschein gab. Und er merkte auch wohl, wie es seiner Mutter in dieser Beziehung nicht anders ging. Auch sie begriff die Narrheiten ihres Sohnes nicht, aber man konnte ihr anmerken, sie war im Grunde nicht ohne einen gewissen schwankenden Respekt vor ihm. Es war ein Respekt, der sich sogar in seltenen, unbewachten Momenten geradezu in Mutterstolz umsetzte und gelegentlich, etwa einer Nachbarin oder dem Schullehrer gegenüber, mit lebhaften Worten überraschend zutage trat. So kam es, daß in der Seele des arbeitsamen Burschen August, der stets an die Werkstatt gefesselt war, während Emanuel immer wieder ein freies und oft müßiges Kommen und Gehen durchsetzte, sich schließlich, mit vieler Bitterkeit, die Sache so darstellte, als ob er alle Lasten zu tragen, Emanuel dagegen nur zum Vergnügen berufen sei, und es ihm schien, dieser sei in jeder Beziehung, sogar in der Liebe und Sorge der Mutter, unrechtmäßig bevorzugt.   Diese Ansicht befestigte sich indessen noch, als am dritten Tage nach der Heimkehr Emanuels der junge Pastor des Ortes mit kurzem Gruß in die Werkstatt trat und, August nur auf eine flüchtige Weise beachtend, sogleich mit Emanuel freundlich zu reden begann. Es war in seinem Verhalten nichts davon zu bemerken, als ob er gekommen wäre zum Zwecke einer gehörigen Abkanzelung. Im Gegenteil zeigte eine gewisse Vorsicht im Verkehr mit Emanuel, die er August gegenüber vermissen ließ, ebendieselbe geheime Achtung, die Augusts durch Mißgunst geschärfter Blick bei allen Menschen wahrnehmen wollte, die mit seinem Bruder in Verkehr traten. Während er, August, dem frischen und jovialen Geistlichen gegenüber in eine stumme Befangenheit hineingeriet, entging es ihm nicht, wie Emanuel gerade hier mit Wort und Gebärde eine ruhige Freiheit an den Tag legte. Vollends ganz unbegreiflich erschien ihm jedoch, was es mit einem Briefe für Bewandtnis haben sollte, den der geistliche Herr aus der Tasche zog, unter allerlei freundlichen Fragen, die er stellte, und schließlich mit einer in liebenswürdigster Form gehaltenen Einladung an Emanuel, ihn am Nachmittag – zu einer Tasse Kaffee, hatte der Bruder deutlich gehört! – zu besuchen. Nachdem sich der Pastor, der eilig war, mit einem Händedruck von dem Narren verabschiedet hatte, hörten ihn beide Brüder noch jenseit des Flurs in die Wohnstube eintreten, wo alsbald die laute Stimme des resoluten Herrn abwechselnd mit den Stimmen von Vater und Mutter hörbar ward. Und August konnte nun erst recht nicht begreifen, warum, wie er deutlich vernahm, der Pastor den Vater mit ganz entschiedenen Worten vermahnte, er möge unbedingt gegen Emanuel nachsichtig sein und sich durchaus zu keiner rohen Züchtigung ferner hinreißen lassen.
Der alte Quint war übrigens ohnedies schon erheblich verändert. Allerlei Zeichen, die sich im Laufe der letzten drei Tage bemerkbar gemacht hatten, waren nicht ganz ohne Eindruck geblieben auf ihn. Schon vom zweiten Tage ab hatten sich nämlich Leute aus nahen Dörfern bis zu dem Häuschen der Quints hindurchgefragt. Sie erklärten dem alten verdutzten Faulenzer und Maulmacher, der einen Hobel fast nie mehr anfaßte, ganz bestimmt gehört zu haben, daß sein Sohn ein berühmter Wunderdoktor sei. Nur selten gelang es, sie abzuweisen, ohne daß vorher, vom Vater gerufen, der Sohn Emanuel selber erschien, wo sie dann meistens ein an Ehrfurcht grenzendes Wesen vorkehrten.
Was aber vor allem Mutter, Vater und Bruder Emanuels zu verblüffen geeignet gewesen war, hatte der Briefträger am Morgen des dritten Tages aus seiner Ledertasche gezogen: etwa siebzig Briefe mit der Adresse Emanuel Quint. Die Mehrzahl von diesen Briefen war infolge eines gedruckten Berichtes geschrieben worden, der in einem sozialistischen Blättchen des Kreises gestanden hatte und darin, mit etwa vierzig kleinen Zeilen, Emanuels erste Predigt, sein Verschwinden und seine Rückkehr ironisch, aber nicht unsympathisch behandelt war. Auch des sonderbaren Rufs eines Wundertäters, dessen er bei gewissen Leuten genoß, war gedacht worden. Unter den Briefen gelangte auch, rot angestrichen, die Nummer der »Volksstimme« an Emanuel, die den Bericht enthielt, und ein Schreiben des Redakteurs, worin er seinen Besuch anmeldete.
Emanuel selber befand sich bei alledem in einem Zustand verzweifelter Bitternis. Seine Seele vermochte sich aus einem Gewirr zahlloser grauer und fester Fäden, in die sie, gleichwie die Motte in das Netz einer Spinne, geraten war, nicht loszuwinden. Als hätte er irgendein ätzendes, zauberkräftiges Gift auf die Zunge genommen, das, alles an ihm zwerghaft verkleinernd, ihn wieder in den armen und elenden Jungen verwandelt hätte, den trostlos Gottverlassenen, der er früher gewesen war.
Es war gegen vier Uhr nachmittags, als Emanuel sich nach dem Pastorhaus auf den Weg machte. Die Mutter hatte ihn, so gut es ging, mit den Stiefeln des Vaters und einem alten Rock herausgestutzt, den ihr vor vielen Jahren einmal ein Gastwirt für ihren Mann geschenkt und den sie heimlich aufbewahrt hatte.
Der Pastor empfing Emanuel freundlich.[...]
Hiergegen wandte der Pastor ein, daß immerhin, wie ja auch Emanuel wissen müsse, von Jesu sowohl als von den Aposteln Kranke durch Handauflegen geheilt worden seien. Der Heiland habe sogar Lazarum, Jairi Töchterlein und den Jüngling zu Nain von den Toten erweckt. Hier sah der Geistliche, wie Emanuel Quint kaum merkbar den Kopf schüttelte, und fragte ihn, warum er diese Bewegung gemacht habe. »Warum und zu welchem Zwecke«, gab jener zurück, ohne die Frage zu beantworten, »hätte der Heiland wohl den Mann, den Jüngling und das Kind in diese bejammernswürdige Welt zurückerweckt, die sie ja bereits überwunden hatten?« Der Pastor begriff zunächst diese überraschende Frage nicht. »Ich würde denken«, fuhr der Narr in Christo zu reden fort, »er habe es als Weltenrichter getan und um die Toten durch das erneute Leben für Sünden, die sie begangen hätten, zu strafen. Aber wer hat des Menschen Sohn zum Weltenrichter gemacht? Er kannte den Vater, der in ihm war, wie ich den Vater kenne, der in mir ist. Dieser Vater läßt regnen über Gerechte und Ungerechte und läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, wie in meinem Herzen geschrieben steht. Herr Pastor: er läßt seine Sonne aufgehen! das ist nicht etwa vor allem diese, die hier auf die Bücherregale scheint, es ist nur die geistliche Sonne des Vaters, die auch den Bösen und Ungerechten zuteil wird. Wenn ich nun aber an den glaube, der nach dem Wort des Apostels Paulus nicht die Gerechten gerecht macht, sondern die Ungerechten und Gottlosen – ja, die Gottlosen! –, so frage ich mich: was wollte er Lazaro, Jairi Töchterlein und dem Jüngling zu Nain, da er sie doch nicht strafen wollte, als er sie auferweckte, tun? Nein! wahrlich, ich sage Ihnen, Herr Pastor: der Gottessohn hat diese Toten nicht auferweckt, außer aber ins ewige Leben! Des Menschen Sohn aber wollte und konnte sie nicht aufwecken. Es ist dem Menschensohne nicht gegeben, Tote aufzuwecken und Kranke gesund zu machen, außer durch menschliche Arzenei. Dem Menschensohn ist es allein gegeben zu leiden und mitzuleiden, das heißt zu lieben, das heißt barmherzig zu sein.« »Du begibst dich auf ein gefährliches Feld, mein Freund«, sagte der Geistliche, indem er warnend den Finger hob, »du bist dir doch wohl bewußt, daß du im Begriff stehst, nichts Geringeres als die Wundertaten unseres Herrn Jesu zu leugnen. Du stellst dich damit zur Heiligen Schrift und zur gesamten christlichen Kirche in Widerspruch.« »Der Herr hat gesagt«, erwiderte Quint, mit tiefen, fieberisch glänzenden Augen, »lasset die Toten ihre Toten begraben. Er hat nicht gesagt, er wolle die leiblich Toten zum Leben im Fleisch und zum geistlichen Tode auferwecken. Was die Schrift aber anbetrifft, so ist sie von irrenden Menschenhänden niedergeschrieben. Der Buchstabe tötet, und nur der Geist ist es, der lebendig macht. Wenn nun der Geist den Buchstaben nicht lebendig macht, so bleibt er tot. Der Geist ist immer mehr als der Buchstabe. Der Buchstabe aber steht im Buch, der Geist dagegen ist in  mir. Alle, die zu lesen verstehen, lesen Buchstaben, aber was wäre der Geist, sollte er in den kleinen Maßen der Buchstaben eingekerkert sein? Das Gewand des Vaters sind nicht Buchstaben, das Gewand des Sohnes sind ebensowenig Buchstaben: beider Gewand ist die Ewigkeit. Und also, Herr Pastor, meine ich: der Vater in mir, der Sohn in mir ist das Wunder, sonst nichts. Ihr Reich ist nicht von dieser Welt. Und weltliche Wunder des Menschensohnes, was sollten sie gelten gegen das himmlische Wunder des Gottessohnes. Und wie der Sohn allein den Vater kennet, so kennet der Sohn allein den Sohn. Und auch der Vater kennet allein den Sohn und sich selber, auch hinter dem toten Vorhang, der sie verbirgt, den Worten der Schrift und ihren Buchstaben. [...]
Der Pastor rief, als Quint sich entfernt hatte, seine Frau zu sich ins Zimmer herein. Sie sahen den Narren durch den Vorgarten schreiten. »Siehst du den langen Menschen, Frau?« fragte er, auf Emanuel hinweisend. – »Na, ganz natürlich«, sagte die Pastorin, »sehe ich ihn!« – »Sage mir mal, wie kommt er dir vor? Was würdest du nach seinem Gang und seinem Äußeren von ihm halten?« – Die Pastorin, die ein junges, gewecktes Weibchen war, sagte unwillkürlich herauslachend: »Ich würde denken, daß es einer ist, der den Gendarm mehr fürchtet als Gott!« – »Meine Liebe«, gab ihr der Pfarrherr zur Antwort, »dieser stromerhaft aussehende Kerl hat mich minutenlang auf eine mir noch nicht vorgekommene Art und Weise verwirrt gemacht. Fasse nur mal meine beiden Hände!« – »Aber Männchen«, sagte die Frau, »sie sind ja kalt und ganz feucht!« – »Ja, denn dieser Mensch behauptet, er sei nichts Geringeres als Jesus Christus von Nazareth.«
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint , Kapitel 8 und 9)

26 Juli 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 7

Die Polizisten hegten Emanuels wegen Fluchtverdacht. Wahrscheinlich war ihnen das Auftauchen und Verschwinden Quints und sein Entweichen mit dem böhmischen Josef von preußischer Seite mitgeteilt worden. Deshalb wurden dem armen Sünder, den man mit den Worten: »Da ist der Verführer!« in der Kammer gegriffen hatte, Handschellen angelegt. Den beiden Scharfs, die mit großer Heftigkeit forderten, daß man sie ebenfalls binden möge, gelang es indessen nicht, Fluchtverdacht zu erwecken, und sie mußten, mit Qualen im Herzen, ohne Fesseln und in großem Abstand von Quint, der vorangeführt wurde, mit dem zweiten Polizisten den Weg nach der preußischen Grenze antreten. [...]
In der Seele des Narren regte sich eine schwere und qualvolle Bitterkeit. Er war von dem reinen Geiste der Schrift und nebenher von reiner Menschenliebe erfüllt gewesen, und wiederum brach, wie so oft, die ganze Verachtung der Welt über ihn herein. Sie war diesmal für ihn noch unbegreiflicher, je weniger die Entehrung, in die man ihn durch die Fessel gestoßen hatte, irgendeinen begreiflichen Sinn zu enthalten schien. Man führte ihn wie ein reißendes Tier. Seine Empörung wollte aufwallen, wenn er hinter sich Getrappel, Gespräch und Geschrei vernahm und Worte, die Vermutungen ausdrückten, ob Diebstahl, Totschlag oder Raubmord die Ursache seiner Verhaftung sei. Die Mitläufer nahmen kein Blatt vor den Mund, und der arme Quint, dessen ärgster Fehler – man weiß allerdings, daß Müßiggang aller Laster Anfang ist – vielleicht eine gewisse Scheu vor der Arbeit war, mußte Proben eines Freimuts mit jeder Minute hinnehmen, die seine etwas zu hohe Stirn, seine spitze Nase, seinen roten Bart, seine langen Arme und Beine, ja sogar seine Sommersprossen betrafen. Einige meinten, er sei ein Giftmörder. Da aber fühlte er, sofern er schreien wollte: ich bin es nicht!, würde der Schrei wie von Steinen zurückhallen. [...]
Es kam ihm vor, als wanderten hinter ihm Gebilde aus Erz, aus Stein oder aus Ton, Tote, die in sich kein Leben hatten! Vergessene, Verlassene und Begrabene, die irgendwann einmal vielleicht dazu bestimmt sein könnten, durch den Liebesodem des Schöpfers geweckt und zu dem gemacht zu werden, was er war. Und immer heller strahlte in seiner Seele ein göttliches Glück, bis er manchmal unwillkürlich den bläulichen Gottestischrock an sich zog, wie um das innere Leuchten zu verbergen. Und dann dachte er sich: Ich bin ein Licht! Warum sehen sie eigentlich nicht, daß ich leuchte? Doch wohl, weil sie unrettbar mit dem schwarzen Star des Todes behaftet sind. Warum sehen sie eigentlich nicht, daß sie mir in unaussprechlicher Weise Gutes tun, indem sie mir Ähnliches zu erfahren geben wie ihm, dem Heiland, dem ich nachleben, den ich von innen her immer besser ergründen will? Machen sie mich nicht mit ihrer Härte, mit ihrem Hohn, mit ihrer Unwissenheit und Gleichgültigkeit dem Heiland ähnlicher, so daß ich in einem Gebiet meines Wesens, meiner Erfahrung, meiner Schmerzensempfindung ihm gleich geworden bin? [...]
Der deutsche Gendarm, dem Quint in der Nähe der Pichlerbaude übergeben werden sollte, brach, als er seiner ansichtig wurde, in ein joviales Gelächter aus, in das sogleich die Herren aus Böhmen sowie die Menge der Mitläufer einstimmten. Er sagte dabei mit Bezug auf das lange Haar des Toren, das in der Zeit des Einsiedlerlebens nicht gekürzt worden war, es sei aber nun wirklich die allerhöchste Zeit für das Haareschneiden, und diese Worte riefen deshalb eine noch lautere humoristische Wirkung hervor, weil es fast so schien, als ob der vierschrötige Kavallerist als Barbier und nur zum Zwecke gekommen wäre, Emanuel Quinten das Haar zu schneiden, und dieser wiederum nur zu dem Zweck, eben diese Arbeit von ihm verrichten zu lassen. Noch war das Gelächter nicht gänzlich verstummt, als plötzlich ein Knabe, der etwa elf Jahre alt sein mochte, sich dicht vor Quint hindrängte und ihm einen Keil Roggenbrotes, der mit Fett bestrichen war, zureichte. Der grübelnde Tor sah ihn an und, wie es schien, erwachte nun erst ins Leben zurück. Als er die Absicht des blassen, hager aufgeschossenen Jungen begriffen hatte, vergaß der Narr, daß er Handschellen um die Knöchel trug, und wollte, merklich gerührt, wie segnend die Rechte auf seinen Scheitel tun. Die somit entstandene Bewegung, die kläglich genug zu sehen war, konnte von dem Jungen nicht anders gedeutet werden, als habe der arme Sünder das Brot entgegenzunehmen vergeblich versucht, und es ward ihm zugleich zu Gemüte geführt, daß er in seiner herzlichen Aufwallung gerade den Umstand, nämlich die Fessel um Menschenhände, vergessen hatte, durch den sein Mitleid besonders erregt worden war. So erlitt die gute Tat eine unerwartete, kurze Verzögerung und erregte das von dem Jungen gefürchtete Aufsehen. Jäh schoß ihm das Blut ins Angesicht. Aber nur einen Augenblick beherrschte ihn Ratlosigkeit, dann hatte er bereits die zerlumpte Seitentasche im Rock des Sträflings bemerkt und blitzschnell den Kanten Brot dort festgesteckt. Jetzt sah man zwei braune, nackte Füße, eiligen Laufs, die Sohlen nach rückwärts geworfen, über die Kammwiese sich entfernen und schließlich verschwinden. [...]
Während des Abstiegs ins Hirschberger Tal hinunter hatte Emanuel die Brüder Scharf neben sich. Der Gendarm hegte kein Mißtrauen. Er hatte sich eine von den Zigarren angezündet, die er aus freundlichst präsentierten Zigarrentaschen zu sich gesteckt hatte, und indem er sein schweres Pferd behaglich am Zügel mit sich zog, ließ er die Häftlinge unbesorgt voranschreiten. Natürlich waren die Brüder froh, wieder mit Quint vereint zu sein, zugleich aber zitterten sie vor großer Entrüstung über das, was ihnen, und vor allem, was Quint widerfahren war. [...]
Die Nachfolge Jesu, sagte Quint hierauf, müsse ein jeder für seinen Teil aufnehmen und durchführen und es könne und müsse hierbei nur einer, der Heiland selbst, der Führer sein. Er aber, Quint, werde sich niemals so weit vermessen und vergessen, irgendwo in der Welt der Erste zu sein, wo der Heiland der Letzte gewesen wäre. Sie waren bis an eine Stelle gelangt, wo der Gendarm auszuruhen beabsichtigte, und plötzlich erklang sein donnerndes: »Halt!« Die Häftlinge standen still und erwarteten den Beamten, der prustend und gutmütig fluchend näherkam, um sich auf einer Bank niederzulassen, die man zum Gebrauch fremder Touristen hier aufgestellt hatte. »Ruht euch aus, Kerls«, sagte er, »wir haben noch weit! Wenn euch nun nicht der Teufel geritten hätte, so brauchte ich jetzt, an den Feiertagen, nicht in den Bergen herumkriechen, was bei meinem Speck nämlich kein Vergnügen ist. – Na, ihr macht allerdings auch Gesichter wie neun Meilen schlechter Weg. Das weiß Gott!« Dies sagte er mit einem seltsam forschenden Blick seiner kleinen Augen, zugleich breit lächelnd und seinen behelmten Kopf schüttelnd. »Wenn man nur wüßte, was euch in die Kaldaunen gefahren ist? Ich glaube, ihr seid verrückt geworden. Ich hab' auch mal einen Kerl transportiert, der kam aber wirklich später ins Irrenhaus, der wollte mir immer einreden, daß er es schwarz auf weiß, ich weiß nicht von wem, bescheinigt in Händen habe, er werde lebendigen Leibes mit Wagen und Pferden gen Himmel kutschieren. Schließlich sollte der Wagen ja wohl, hol' mich dieser und jener! noch feurig sein. – Was ist denn los? Was habt ihr denn? Hol' mich dieser und jener! Glaubt ihr vielleicht, daß in drei Tagen die Welt untergeht? Bis dahin, o weh! da wird noch mancher Kognak getrunken werden! – Macht doch die Menschen nicht verrückt! Ihr macht ja das Gesindel in den Häusern da oben richtig wahnsinnig! Wer redet euch denn solchen Unsinn ein? Ich war doch wahrhaftig oft genug in der Garnisonskirche. Was Religion und was unser Herr Christus ist, weiß ich doch wahrscheinlich besser als ihr! Aber so 'n Blödsinn ist mir doch noch nicht vorgekommen.« »Herr Gendarm«, sagte Martin Scharf, »wir haben nichts getan, als wozu der Geist des Herrn uns getrieben hat. Wir sollen Zeugnis ablegen von Christo! Wir sollen es heute tun und nichts auf morgen verschieben, Herr Gendarm! Ja, wenn wir es eine Stunde verschieben wollten, wer weiß, die wäre vielleicht versäumt für die Ewigkeit.« – »Herr Gott ja, Mensch, glaubt ihr, wir haben auf euch gewartet? Wird nicht in allen Kirchen Sonntag für Sonntag für Jesum Christum Zeugnis abgelegt? Sonntag für Sonntag, in allen Kirchen! Bin ich ein Heide? Bin ich denn nicht ebensogut wie du ein Christ?« 
Anton Scharf aber, der die Zähne zusammenbiß, sah den Wachtmeister grimmig an, bevor er etwa dieses unüberlegt und heftig hervorbrachte:
»Es gibt auch solche, die falsch Zeugnis reden von Christo Jesu, es gibt solche genug und zu viel, die Christen heißen und andere Christen nennen und sind doch nichts als eitel Kinder der Welt.« Quint aber winkte ihm mit der Hand. Er sagte, als er des Wachtmeisters Auge nicht ohne Interesse auf sich gerichtet sah und Anton verstummt war, mit ruhiger Stimme: »Wir wollen uns lieber nicht vermessen, keiner von uns, zu sagen, er sei ein Christ. Der Christ ist der Christ. Es ist nur ein Christ: Christus der Heiland, wo aber sonst Christus ist, dort ist er verborgen! Was wäre die Welt, wenn Christus in dir, in Tausend und Hunderttausend, ja in Millionen anderer wäre? Sie wäre das Reich! Christ heißt nichts anderes als Christus sein. Wer kann sich vermessen und sagen: ich bin es?«
»Vorwärts, keine Müdigkeit vorschützen«, sagte nicht ohne eine gewisse Betretenheit der Gendarm, den sein Pferd schon mehrmals ungeduldig mit der Schnauze gestoßen hatte, stand auf und gab das Zeichen zum Aufbruch. »Ihr redet verkehrtes Zeug durcheinander, und was ihr quatscht, wißt ihr selber nicht. Steckt eure Nase in euer Handwerk hinein und macht die einfachen Leute nicht aufsässig! Es wird euch auch niemand hindern, wenn ihr Sonntag für Sonntag zweimal meinethalben – mir wär's zuviel! – zur Kirche geht.« [...]
Den Rest des Weges legten sie in der alten Ordnung zurück. Wieder versuchten die Brüder Scharf, Quint für eine Gemeinschaft zu gewinnen, die sie begründen wollten. Emanuel aber, der durch die seltsame Flamme des Glaubens, die aus den Augen Antons wiederum aufgeleuchtet hatte, beunruhigt war, sträubte sich mehr wie je wider den Gedanken, das Haupt irgendeiner Gemeinde zu sein. Er wurde sogar überaus zornig, indem er betonte, daß ihm nichts ferner liege, als die Legionen von Wortmachern um einen zu vermehren oder irgendeinem Aberglauben dieser Welt Nahrung zu geben. »Ich bin versöhnt mit Gott. Durch Jesum Christum bin ich versöhnet. Und wenn ich etwas durch die Tat zu bezeugen auf dieser Erde gehalten bin, so ist es eben diese Versöhnung mit meinem Gotte und dann die Versöhnung mit den Menschen. [...]

Die Häftlinge wurden für diese Nacht im Polizeigewahrsam zu Hainsdorf untergebracht, die Brüder gemeinsam in einem Raum, der Narr in Christo dagegen allein. Und als dieser nun bei Wasser und Brot in der feuchten und dunklen Zelle lag, hatte er einen Traum, aus dem er nach kurzer Zeit erwachte, um dann, bis zum Morgen, in einem Zustande tiefer Beseligung zu verharren. Quint hatte geträumt, der Heiland selber sei in sein Gefängnis zu ihm gekommen. [...]
Er wußte: so und nicht anders sah der Heiland, der Menschensohn, der Sohn Mariens, der König unter der Dornenkrone aus, der weder Gestalt noch Schöne hatte und für den gehalten werden mußte, der von Gott geschlagen und gemartert würde. Er kannte in seinem Gesicht jeden einzelnen Zug: so blickten die eingesunkenen Augen, so waren die rötlichen Brauen darüber gelegt, so saßen um die Winkel der Lider und um den Ansatz der feinen Nase, deren Flügel leise bebten, die Sommersprossen. [...]
Und auch auf den rauhen und bestaubten Füßen des Heilands, der barfuß von einer langen Wanderung zu kommen schien, waren die Male zu erkennen. Es ging eine Kraft von ihnen aus, die Quint wie ein Sturm des Mitleids und der Liebe zur Erde riß. Er konnte nicht anders, als immer wieder unter einer Sintflut von Tränen die beiden geliebten Füße küssen. Und nun war es, daß über Emanuel Quint eine weiche und ernste Stimme erscholl: »Bruder Emanuel, hast du mich lieb?« – »Ja«, sagte Emanuel, »mehr als mich selber!« [...]
Und wieder erklang die Stimme, genau wie vorher: »Bruder Emanuel, hast du mich lieb?« Und als der Träumende es beteuerte, setzte die Stimme weiter hinzu: »Emanuel Quint, so will ich für immer bei dir bleiben!« Hatte Quint vor einigen Augenblicken gemeint, als das Schloß des Gewahrsams sich knirschend umdrehte und auch als Hand und Kopf des Kommenden im Türspalt erschien, daß ein neuer armer Sünder hereingeführt würde, so fand er sich jetzt, kaum daß Sekunden verstrichen waren, bis in den siebenten Himmel verzückt, und indem er sich aufrichtete und seine Arme weit ausbreitete, geschah endlich das, was seinem Traume für ihn die Weihe des Wunders gab. Nämlich, indem Quint und die Gestalt des Heilands, wie Brüder, die sich lieben und lange vermißt haben, mit geöffneten Armen einander entgegenkamen, schritten sie ganz buchstäblich einer in den andern hinein, derart zwar, daß Quint den Körper des Heilands, das ganze Wesen des Heilands in sich eintreten und in sich aufgehen fühlte. Dieses Erlebnis war zugleich so unbegreiflich und wunderbar durch seine vollkommene Realität: denn es schien nicht anders, als daß wirklich fühlbar in jedem Nerven, jedem Pulsschlag, jedem Blutstropfen zuinnerst und innigst die mystische Hochzeit stattfand und Jesus in seinen Jünger einging und in ihm sich auflöste.  [...]
Als jener schwieg, erhob sich Martin Scharf von der Erde, auf die er sich, gleichwie sein Bruder, der böhmische Josef und Schwabe, geworfen hatte, und sprach in einem so neuen Ton, daß die ganze Gemeinde aufmerkte. Er ward nicht laut, aber was er sagte, geschah im Ton einer sicheren Mitteilung. »Singet«, sagte er, »jubilieret! der Herr, der Heiland ist unter uns! Es ist nicht mehr Zeit, die Brust zu schlagen, zu seufzen, zu wimmern und um Erhörung zu bitten. Die Verheißung erfüllet sich! Haben wir nicht seine Stimme gehört? Haben wir den Bräutigam nicht mit Augen gesehen? Die Braut, solange der Bräutigam ferne ist, hat sie Traurigkeit! Ist aber der Bräutigam nahe, so wird sie voll Freudigkeit. Ich bringe euch eine frohe Botschaft. Es ist nie irgend jemand zu euch gekommen mit einer solchen Botschaft wie wir: Jesus Christus ist auferstanden!« Es war niemand in der kleinen Gemeinde, den der Inhalt seiner Rede verwundert hätte. Zu oft war ihnen die frohe Botschaft verkündigt worden. Was sie indessen alle erbeben ließ, war die bebende Überzeugung in der Stimme des Redenden. Sie war so stark, daß man sich dadurch, wie von einer ungeheueren Neuigkeit, bei den altbekannten Worten erschüttert fand. »Fraget nicht weiter«, sagte Scharf, seine Mitteilung abbrechend, »aber halte sich ein jeder bereit! Jeder ziehe ein hochzeitlich Kleid an! Jeder horche bei Tag und Nacht und sorge, damit er nicht etwa im Schlafe liege, wenn der Ruf des Gerichts erschallt!« Und er hieß Kinder und Frauen heimgehen und behielt die verständigsten Männer zurück, um sich mit ihnen über jenes Geheimnis auszusprechen, das er bisher nur andeutungsweise verraten hatte. Bald saß er mit den Zurückgebliebenen um den Tisch herum und eröffnete ihnen nicht ohne Feierlichkeit, wie seiner Meinung nach in Emanuel Quint ein Mann, mit der vollen Kraft des apostolischen Geistes ausgestattet, auf der Erde erschienen sei.  [...]
Nach Verlauf einer Stunde war es in diesem Kreise ausgemacht, Quint habe den Vater Scharf durch bloße Berührung von seinen argen Schmerzen befreit und den Teufel vertrieben, der Martha Schubert gepeinigt hatte. Es war erwiesen, daß eine gelähmte Frau vor der Hütte der Schubertleute seinen Rock berührt und darauf mit beweglichen Gliedern, frisch und gesund den Heimweg genommen hatte. Niemand zweifelte, daß die hundertjährige Greisin, die mancher kannte, durch Quint Vergebung der Sünden erhalten hatte und vom Leben erlöst worden war. [...]
Wie mit der Geißel erbarmungslos vorwärtstreibend, steht hinter diesen Leuten das grausenvolle Gespenst der Not. Sie sehen Fremde und Feinde ringsum, die meistens drohend, bestenfalls mit kaltem und hämischem Blick der Überanstrengung ihrer Kräfte zuschauen. Und also nimmt schließlich die Angst ungeheure, mystische Formen an. Überall, nicht mit Unrecht, sehen die Armen raubtiermäßig verderbliche Mächte lauern und des Augenblicks warten, wo die Belauerten etwa auch nur vorübergehend Müdigkeit überfiele, wo denn sogleich immer ihr Schreckensschicksal entschieden ist. Angstvoll also, willenlos und gejagt, waren die Leutchen den überspannten Einbildungen der Brüder Scharf vollkommen preisgegeben und hatten ihren starken Beteuerungen weder im Guten noch im Bösen Widerstand entgegenzusetzen. Sie, die gewohnt waren, beständig um ein Leben zu ringen, das schon verloren war, unterließen es ebensowenig jemals, nach dem Strohhalm zu greifen, sooft er ihnen, statt des rettenden Balkens, geboten wurde, in ihrer dunklen Lebensflut. Jemand sagt, daß Hoffnung die andere Seele des Menschen ist. Wer dieser zweiten, höheren, lichteren Seele solcher Menschen Nahrung bot, war ihnen stets – wie konnte es anders sein? – aufs höchste willkommen: sogar der Verbrecher, der Lügner, der Scharlatan! Hier aber standen zwei Männer auf, die mit wilder Kraft und einem unverkennbaren heimlichen Freudenrausch von einem Ereignis zu reden wußten, das beinahe die Erfüllung aller Hoffnung selber war.  [...]
In diesen markanten alten Weberköpfen war Glaube noch Glaube, seinem innersten Wesen nach: das heißt etwas anderes als Forschung, Zweifel oder Erkenntnis. Und zu den Dingen, auf die sich ihr Glaube fest bezog, gehörte auch die Wiederkunft Jesu auf diese Erde und die Errichtung eines tausendjährigen, irdischen Gottesreichs: es sollte nun also wahrhaftig und wirklich nach den überzeugenden Worten der beiden fremden Brüder nahe bevorstehen.  [...]
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 7)

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 6

Einem bestimmten und überzeugten Wesen vermag der Zweifel, selbst in starken Naturen und gebildeten Seelen, auf die Dauer nicht standzuhalten, um wieviel weniger in einem glaubenswilligen Herzen, wie das des Lehrers war; und nachdem ihm die Scharfs immer wieder von der Predigt Quints auf dem Marktplatz der Kreisstadt, von dem Wunder, das er angeblich an ihrem Vater verrichtet hatte, von vielerlei Gebetserhörungen und wunderbaren Heilungen berichtet hatten, schien ihm die wundertätige Kraft des Gesuchten tatsächlich erwiesen zu sein: nur wußte er nicht, ob diese und seine Mission auf himmlischem oder satanischem Grunde beruhte oder vielleicht mesmeristischer Magnetismus, verbunden mit falsch verstandener, noch zu läuternder Heilandsliebe sei. Der Lehrer hatte die Brüder Scharf nach einiger Zeit in das Haus der Schuberts hinübergebracht, von wo aus sie dann während längerer Zeit ihre Nachforschungen anstellten, immer und von Stunde zu Stunde gewaltiger aufgeregt. Wer je erlebt hat, wie eine liebe, ersehnte Illusion, auf die man mit realen Bemühungen hinarbeitet, zuweilen gegen alle Vernunft ins Ungeheure wächst, den wird es auch keineswegs in Verwunderung setzen, daß bald das Schubertsche Haus zur Brutstätte vieler phantastischer Irrtümer und Gesichte geworden war. [...]
»Ich glaube nicht«, sagte die Frau, »daß er Unrechtes denkt oder tut und irgendwie Böses im Herzen trägt; ich habe auch nicht gesagt, ich hielte ihn für einen Propheten. Auch hält er sich selber nicht dafür. Mir kommt es vor, er spricht als Mensch, er handelt als Mensch und er wandelt schlechthin nur als ein Mensch.« Der Lehrer wiegte bedenklich seinen weichen Johanneskopf. »Es ist«, hub er wieder zu reden an, »nicht zu vermeiden, ihm für mancherlei die Verantwortung zuzuschieben, was, wie du ja ebenfalls weißt, geschehen ist. Tue ein jeder seine Pflicht und diene Gott im Verborgenen an dem ihm zugewiesenen Ort! Mich hat er nach meinem Wunsch und Willen und in Erhörung meiner Gebete in dieses entlegene Amt gesetzt, wo ich in dem Maße ihm näher zu sein glaube, als ich ferner gerückt von den Menschen bin. Gott hat mir bei meinem Wirken Segen gegeben und macht es mir täglich deutlich, wie ich für meine rings in ärmlichen Hütten verstreuten Bergbewohner und ihre Kinder nicht ganz ohne Nutzen bin. Daran, meine ich, lassen wir uns genügen.« [...]
Der böhmische Josef und Schwabe hatten den Tod der Greisin im Wirtshaus der Sieben Gründe bekannt gemacht und auch der erlösenden Wirkung mit besonders lauter Überzeugung Erwähnung getan, die der Wunderdoktor dabei, ihrer Meinung nach, ausgeübt hatte. Von da aus nahm das Gerücht in kurzer Zeit von Hütte zu Hütte seinen Weg, wobei auch die augenblickliche Herberge Quints, das Schulhaus, zugleich bekannt wurde. Und plötzlich, ehe es Stoppe hindern konnte, stieß Anton Scharf, zu leidenschaftlicher Glut der Zeugnisablegung hingerissen, das Fenster des Schulzimmers auf und schrie in die immer wachsende Menge hinaus, wie ein Wahnwitziger, Worte, die ihm aus der Geschichte der Apostel im Gedächtnis hafteten: »Denn Moses hat gesagt zu den Vätern: Einen Propheten wird euch der Herr euer Gott erwecken aus eueren Brüdern, gleich wie mich, den sollt ihr hören in allem, das er zu euch sagen wird. – Und es wird geschehen, welche Seele denselben Propheten nicht hören wird, die soll vertilget werden aus dem Volk!« Während nun alles dieses im Parterre und an der Vorderseite des Hauses vor sich ging, schlief der Prophet einen totenähnlichen Schlaf in der Giebelkammer. [...]
Emanuel war nun doch in seinem verhängten Zimmer von dem Lärm und Gepolter unten im Hause aufgewacht und lag horchend und grübelnd auf dem Rücken. Er deutete die Geräusche, die er schon bei den Schuberts kennengelernt hatte, sogleich auf sich und wußte, daß eine gläubige Menge, Hilfe aus aller Not von ihm fordernd, seiner wartete. Unwillkürlich die Hände faltend, betete er zu dem Göttlichen, tief versenkt in sich. Dies aber war stets das Wesen seines Gebetes, sich ganz nur als Werkzeug unter den Willen der Gottheit zu stellen. Er übersah den vergangenen Tag. Er hatte nicht das Gefühl, irgend etwas außer Gott im Leben gesucht zu haben noch auch vermöge eigenen Willens und klarer Absicht den Weg bis hierher gegangen zu sein; dennoch lautete seine Frage: »Bin ich auf rechtem Wege geschritten? Habe ich auch wirklich nicht meinen, sondern deinen Willen getan?« und er warf sich, im Geiste bemüht, den letzten Rest von eigenem Willen aus sich zu tilgen, aufs neue vor Gott aufs Angesicht und flehte: »Mache mich ganz nur zu einem Wort, einem Hauch, einem Blick, einem Herzschlag von dir! [...]
Wer kehrt zurück und wird mit Jubel empfangen von der Liebe des Vaters im Vaterhaus? Wer anders als der verlorene Sohn, der da ausgezogen war im Hochmut seines geringen Vermögens und mit den Schweinen Treber aß« – und Quint warf sich herum, rang seine Hände, drückte sein Angesicht in die Kissen und flüsterte weinend: »Ich habe gesündigt im Himmel und vor dir. Herr, Herr, ich bin nicht wert, daß ich dein Sohn heiße.« Unvermittelt gleichsam kam ein Gefühl der Zerknirschung über ihn, das mit dem glühenden Wunsche, für den Vater zu leiden, zu sterben, sich auszulöschen, verbunden war, – ein Gefühl von Schuld erfüllte ihn, deren Ursache ihm verborgen war, denn er hätte sich nicht erinnern können, jemals, wie der verlorene Sohn, mit eigenem Willen in die Fremde gegangen zu sein. Aber er zweifelte nicht an der eigenen Schuld. Und jetzt glaubte er zu begreifen, in diesem Rausch, nicht nur, warum die verirrten Schafe ihm nachfolgten, sondern auch, daß gerüstete Männer zu Pferd, mit Waffen zum Töten der Menschen, rastlos auf ihn fahndeten. Weshalb er gehetzt wurde wie ein Wild. Seine Schuld lag früher! Sie lag nicht im Irdischen. Nicht daß man Gott nachzufolgen sich bemühte, in Jesu Fußstapfen, war die Schuld, sondern daß man den Vater verlassen hatte. [...]
Es war eine tiefe Stille eingetreten, ehe Quint zu reden begann. Seine Predigt, in die das Piepsen der Sperlinge von draußen hereinschallte, ward aber an diesem Morgen in einem Ton gesprochen, der hinreißen mußte, wenn man auch ihren Inhalt meist nicht verstand. Die Kraft Jesu, begann er, sei in den Schwachen mächtig. Und der Apostel sage: wenn ich schwach bin, so bin ich stark, und also solle sich niemand fürchten etwa um seiner Schwäche willen oder weil er unwissend sei oder krank oder etwa arm. – Auch solle sich niemand fürchten, wenn er verfolgt werde von den Kindern der Welt. Jesus sei gekreuzigt, seine Apostel verfolgt und getötet worden. Aber es habe nichts auf sich mit denen, die den Leib töten. »Die da tot sind, werden getötet, die aber lebendig sind in Christo, können nicht getötet werden von den Toten. Wer Ohren hat zu hören, der höre!« fuhr er fort. »Wir wandeln im Fleisch, aber wir streiten nicht fleischlich. Wir sind der Friede, wir sind die Liebe Gottes, sonst nichts, wir sind der Geist! Christus ist in menschlichem Leibe auf Erden gewandelt. Er wandelt noch unter uns. Aber sofern wir ihn selbst mit Augen gesehen, mit den Händen berührt hätten, nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr, außer im Geist. [...]
Ihr Männer, lieben Brüder, und ihr Weiber, liebe Schwestern, fürchtet euch nicht darum, daß ich verfolgt werde. Wir haben das Zeugnis unseres Gewissens, daß wir in Einfältigkeit und göttlicher Lauterkeit, nicht in fleischlicher Weisheit auf der Welt mit Frieden wandeln. Unser Amt ist, Christum zu predigen, Versöhnung und Frieden. Haben wir Trübsal, so ängsten wir uns nicht. Ist uns bange, so verzagen wir nicht. Leiden wir Verfolgung, so werden unsere Seelen doch nicht gefangen! Werden wir unterdrückt, doch bleiben wir frei. Denn es ist keine Liebe und Sehnsucht so heiß in uns, so unwiderstehlich glühend als die, allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leibe zu tragen und das Leben des Herrn Jesu in unseren Herzen.« [...]
Dann war es, als sei draußen vor der Tür mit einemmal ein Habicht mitten unter Scharen von Spatzen hineingestürzt: so flogen die Menschen mit lautem Gekreisch auseinander. Sogleich pflanzte sich das Geschrei in den Hausflur fort, von wo sich die Menge unter Knüffen und Gepolter ins Freie wälzte. Nun stießen auch die Weiber im Schulzimmer gellende Schreckenslaute aus, wodurch eine jähe Panik entstand, die jedermann kopflos durch Tür und Fenster ins Freie trieb. Nachdem nun jene sich von ihrer Verblüffung erholt hatten, die noch im Zimmer geblieben waren, wußten sie nicht sogleich, was etwa die allgemeine Flucht verursacht hatte. Da tönte der Ruf »Polizei!«, mit lauter Stimme warnend gerufen, durchs Fenster herein. Es waren aber außer Quint, dem Lehrer und seiner Frau, außer Martha Schubert und den Gebrüdern Scharf auch Schwabe und der böhmische Josef im Zimmer geblieben. Dieser seufzte laut und kopfschüttelnd ein »Jaja!«, schob eine Schulbank zurecht, die im Durcheinander der allgemeinen Flucht beinahe umgestürzt worden war, und sagte dann, daß alle Menschen eben leider so und nicht anders wären. Er schloß mit einer Bibelerinnerung irgendwoher: der Geist sei willig, das Fleisch sei schwach. [...]
Inzwischen war die Lehrersfrau zweien österreichischen Gendarmen entgegengegangen, die sie durchs Fenster hatte herankommen sehen. [...]

(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 6)


24 Juli 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Jenseits der Grenze

Wikipedia: Der Narr in Christo Emanuel Quint  (Vorsicht: Spoiler)

Als Quint von der Polizei verfolgt wird, schließt er sich einem wegekundigen Schmuggler, dem böhmischen Josef an und geht mit ihm über die böhmische Grenze. Dort folgt er ihm in eine Hütte.
"In diesem Raum schien der böhmische Josef, obgleich er von niemand begrüßt wurde, heimisch zu sein. Er setzte im Dunkel den Schragen ab und entzündete in einer Fuge der Ofenkacheln ein Streichholz, das mit blauem Licht und scharfen Phosphordämpfen alsbald zu brodeln begann. Mit diesem Streichholz suchte und fand er dann eine Unschlittkerze, die im Hals einer Flasche stak. Langsam verbreitete sich das Licht und enthüllte ein jämmerliches Bild der Verwahrlosung, dessen Eindruck sogar der böhmische Josef abschwächen wollte, indem er sagte: es sähe ein wenig »kurios« hier aus. Quint, der im Bereiche des Elends und der Not zu Hause war, mußte das zugeben. Schon der beklemmende, widrige Dunst von Unrat, Fäulnis und kalter Feuchtigkeit, darin man nur widerwillig atmen konnte, drängte ihn fast ins Freie zurück. In dem Augenblick, als das Docht im Unschlitt Feuer fing, hatte er vier oder fünf Mäuse hastig über den schwarzen Lehm der Diele nach allen Seiten davonlaufen sehen. Ja, es huschte bedenklich da und dort über Fensterbretter und über den Tisch hinweg, der eine Ecke der Stube ausfüllte. Josef erklärte: »Das kommt davon, wenn sie die Katzen auffressen.« Aber Quint war bereits von einem anderen schemenhaften Anblick gebannt, ohne auf das zu merken, was Josef sagte, und wußte nicht, war es Wirklichkeit, was er sah, oder nur Einbildung seiner von allen Eindrücken dieses Tages übermüdeten Seele. Es kam ihm vor, als säße am Fenster, im schwachen Mondlicht oder wie aus Mondlicht geformt, schlohweiß in der Schwärze des Raumes, ein uraltes Weib. Quint mußte wohl, von einer tiefen Ehrfurcht berührt, irgend etwas leise geflüstert haben, denn Josef ermutigte ihn alsbald, sich ganz ohne Zwang zu betragen und laut zu reden. Er sagte, die Alte sei hundertundzehn, ja, wie manche behaupten wollten, hundertundvierzehn Jahre alt. Viele meinten, sie könne nicht sterben. Sie könne deshalb nicht sterben, weil mit ihr, zeit ihres Lebens, nicht immer alles ganz richtig gewesen sei. Er wollte sagen, sie habe gottlose Dinge getrieben mit Wettermachen und allerlei ruchloser Hexenkunst und deshalb könne sie nun, zur Strafe, die Ruhe des Todes nicht finden. In diesem Augenblick verbreitete sich ein fremdartig wunderliches Getön durch den Raum, eine Art Gesang, der Worte enthielt, der aber so unirdisch leise und rührend schwebte, daß man nicht denken konnte, er käme aus einer Menschenbrust. Denn weder, daß irgend zarte Knaben auf eine solche Weise zu singen verstünden, noch Mädchenkehlen, noch irgend Kehlen von Sängern und Sängerinnen dieser Welt, wie sie Quint in den Kirchen der Dörfer gehört hatte, geschweige, daß sie mit einer solchen rätselvollen, stillen Gewalt eine so rätselvolle, erschütternde Wirkung hervorbrächten. Kaum hatte Emanuels Ohr der Klang berührt, als er sich selbst und seine Umgebung sogleich vergessen hatte. Ohne Bewußtsein und willenlos angezogen, nahm er der singenden Greisin gegenüber – und niemand anders war es, der sang – mit tränenüberströmtem Antlitz Platz, aber ohne zu wissen, daß er weinte. Er blickte, als gelte es irgendein Geheimnis aus fremden Regionen zu erforschen, in die starren, großen und edlen Züge der Hundertjährigen, in ein Gesicht, das, von langen, offenen, schneeigen Locken umflossen, welk, aber durchsichtig-wächsern-zart und leuchtend wie das eines Kindes war.
Dies aber waren die schlichten Worte, die aus der gefangenen Seele der alten erhabenen Frau, ohne daß sie die schmalen, weißen Lippen auch nur irgendwie merkbar bewegte, hervorzitterten:
Mein Hemdlein ist genäht,
mein Bettlein ist gemacht.
Komm, o komm,
du letzte, lange Nacht. [...]
Es war aber unter ihnen ein kleiner, bleicher und buckliger Mensch, der Schwabe hieß, ein ehemaliger Schneidergesell, der, Gott weiß wie, zu ihrem Gewerbe gekommen war. Er war meist schüchtern, bewies aber seltsamerweise den größten Mut – und das wußten die Schmuggler –, wo immer Gefahr im Verzuge war. In seinem Betragen lag etwas Drolliges, was ihm die rauhesten Herzen geneigt machte, auch war er allen und immer dermaßen zu Liebesdiensten bereit, daß er überall einen oder mehrere Steine im Brette hatte. Er war Protestant, dessenungeachtet stand er jedoch auch vor jedem der sogenannten Marterln auf der böhmischen Seite still und betete, während er beim Aufstieg bald weltliche, bald geistliche Lieder wahllos durcheinander sang. Auch hatte er sonderbare Ideen, die seine Kollegen lachen machten. Er gab ihnen Schilderungen aus der Welt, die seinem beschränkten Verstande entstammten, teils geglaubt, teils bezweifelt wurden, ihn selbst aber und seine Unterhaltung geschätzt machten.  [...]
»Wartet doch mal«, sagte der böhmische Josef in das Gelächter hinein, das nach den letzten Worten des Schneidergesellen sich erhoben hatte, »wir wollen uns den August da drüben jetzt mal 'n wenig von nahe besehn. He, du dort drüben: bist du heut morgen in der Schubertbaude gewest?« wandte sich Josef an den Narren. Dieser, ganz mit der Greisin beschäftigt, nickte zur Antwort nur mit dem Kopf. Und nun wollte der böhmische Josef in einer Laune, wie sie manchmal plötzlich über ihn kam, mit den anderen Schmugglern nicht weiterspielen, wodurch, da die anderen im Verlust waren, sogleich ein großes Geschrei entstand: aber der kleine Schwarze blieb kaltblütig. Es war ihm etwas, man wußte nicht was, durch den Sinn gefahren. Hatte ihm Quint von Anfang an einen unerklärlichen Eindruck gemacht? oder dachte er plötzlich, es wäre für einen guten Katholiken, wie er selbst einer war, eine Sünde, am ersten Pfingstfeiertage Karten zu spielen? oder ward er plötzlich von Mitleid erfaßt für die Alte, die der Tod vergessen zu haben schien? Kurz, er stand auf, er trat zu dem Narren und fing mit ihm, eigentümlich seufzend, über das traurige Dasein im allgemeinen und das der Alten im besonderen zu philosophieren an. Wenn jemand mit einem solchen Ton in der Kehle zu Emanuel trat, so wußte er immer, daß der Acker bereitet war, und begann sogleich den Samen des Reiches auszusäen. Bei einem jeden solchen Beginn stand ihm Wort und Ton dermaßen rein und schlicht zu Gebot, daß es jedem wie immer gearteten Menschen weniger als ein Beginn denn als etwas Altvertrautes erschien. Da war irgend etwas Trennendes nicht mehr vorhanden, und das Innerste und Echteste der Menschennatur verband sich hemmungs- und hindernislos mit dem Innersten und dem Echtesten. Da die langausgestreckt und starr daliegende alte Frau sich kalt anfühlte, trotzdem Emanuel sie mit allerlei Lumpen und seinem eigenen Schoßrock bis an das Kinn zugedeckt hatte, holte Josef einen Ziegel herbei, der im Herde gewärmt worden war: weshalb sich vom Tisch der verlassenen Spieler Spott und Hohn über ihn ergoß und noch mehr über Quint, der ihnen den Kameraden entwendet hatte. Dagegen wurde mit einemmal der böhmische Josef von seinem gefürchteten Jähzorn gepackt und stand, den Ziegel hoch in den Händen haltend, unerwartet vor den Radaulustigen, mit einer maßlosen Drohung, die bei seiner wilden Natur nicht mißzuverstehen war. Der kleine zigeunerhaft häßliche Kerl hatte bei mancher Gelegenheit und auch in den Schenken »zum Spaß, der Lust halber« oft Proben herkulischer Kräfte abgelegt. Er hatte auch einigemal im Gefängnis gesessen, gewalttätiger Handlungen wegen, die der meist gutmütige Mensch, gereizt, in besinnungslosem Zustand verübt hatte. Jetzt rief ihn ein Wort des Narren an das Sterbelager der Greisin zurück. Auch Schwabe verließ seinen Platz neben den Spielern und trat mit schüchtern zusammengekrochenen Schritten an das Lager heran. Es war ihm die seltsam feierliche Gewißheit aufgetaucht, daß hier der große und letzte Augenblick eines mehr als hundertjährigen Lebenskampfes endlich nahe wäre. Es schien ihm auch deshalb nicht verwunderlich, als Quint den siebzigjährigen Enkel mit lauter Stimme davon verständigte.
 Es mußten dann aber beinahe noch acht Stunden vergehen, bevor die Greisin den letzten Atemzug ihres Lebens aushauchen konnte.  [...]
Diese Worte, die ohne Pathos gelesen wurden, erregten ganz anders, als von der Kanzel herab zu geschehen pflegt, die Wißbegierde der Zuhörer. Als Menschen immer und von Natur auf die Offenbarung von etwas Verborgenem gerichtet, hofften sie durch Emanuel zugleich ihn selbst und die Schrift erklärt zu sehen, die so rätselvolle Dinge andeutete. Emanuel hatte dagegen die Bibelstelle gewählt in der Meinung, sie werde für ihn sprechen, und zwar ebensowohl für das, was er sagte, als was er verschwieg, aber er hatte damit nur erreicht, daß ihn die beiden Hörer geradezu nach dem Geheimnis fragten, von dem sie, zwar nur halb und halb überzeugt, vermuteten, es wäre die wunderbare Kraft, die am rechten Ort zu heilen und zu töten verstand. Somit war er gezwungen zu sagen, er wäre aus freiem Antrieb ein Träger des Evangelii. Er habe als Kind die Taufe derer empfangen, die tote und laue Scheinchristen wären, später die Wassertaufe Johannes des Täufers und endlich die durch den Heiligen Geist: und diese, die letzte, schließe das Geheimnis des Reiches ein. »Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi«, fuhr er fort, »sei mit uns allen! Amen.« – Nachdem er diese Worte gesagt hatte, stand er auf und war im Begriff davonzugehen, als eine schlichte, saubergekleidete Frau, die Frau des Lehrers aus der Schule einer nahegelegenen, ärmlichen Berggemeinde, ins Zimmer trat. Sie sah, daß die Greisin gestorben war, der sie in Übung jahrelanger Mildtätigkeit täglich Suppe zu schicken oder selbst zu bringen pflegte. Und als sich ihr die volle Erkenntnis mitgeteilt hatte, wie ihr schwacher Versuch zur Mildtätigkeit nun von einer stärkeren Hand überboten worden war, versank sie merklich ergriffen in Stillschweigen."
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 5)

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Anhänger

Man hat erlebt, wie ein gewisser Wahnsinn wie Brand oder Meltau im Korn oder wie physische Ansteckung in weiten Distrikten um sich greift, und so hatte auch hier in dieser entlegenen Gegend sich bald das Gerücht verbreitet, daß, wenn nicht der Heiland selbst, so zum mindesten ein Apostel, wenn kein Apostel, so doch mindestens ein heiliger Mann, wenn kein heiliger Mann, so doch mindestens ein Wunderdoktor erschienen wäre – und so fand Emanuel am dritten Morgen das Haus von einem Gewimmel bresthafter Menschen umlagert. Um das aber glaubhaft zu finden, muß man in Rücksicht ziehen, welche Bedeutung der Laienarzt, der Schäfer, die weise Frau mit den Sympathiemitteln noch immer im Bereich des gemeinen Mannes hat. Zufälligerweise war es der erste Pfingstfeiertag, der die Versammlung so vieler lahmer und blinder, hustender, fiebernder und ächzender Menschen sah. Es waren Männer wie Weiber, Kinder, Leute bei guten Jahren und Greise darunter. Die Sonne schien warm auf das kahle, steinige Feld herab, und da Martha, die den seltsamen Zustrom zuerst bemerkte, die an sich nicht ungeduldigen Leute ruhig zu warten veranlaßt hatte, saßen sie ganz gesittet auf den zerstreuten Blöcken Granits umher und harrten des wundertätigen Arztes. Es führte aber in nächster Nähe einer jener Pfade vorbei, die angelegt sind, um wanderlustigen Bewohnern der Täler und Ebenen, Städte und Dörfer die herrliche Bergwelt zu erschließen, und heute, als am ersten Pfingstfeiertage, waren alle diese Pfade schon früh von heiteren, frühlings- und wanderfrohen Menschen belebt. Einige dieser Leute blieben nun auf dem nahen Wege verwundert stehen, um das seltsame Lager zu betrachten. Nach einiger Zeit bemerkten sie, wie jemand aus der windschiefen Hütte ins Freie trat, und gleich darauf eine allgemeine Bewegung unter den Wartenden.   Emanuel Quint hatte mit äußerer Ruhe und heimlichem Herzklopfen durchs Fenster die Menge der Hilfebedürftigen wahrgenommen und schließlich den Weber Schubert hinausgesandt, damit er den Leuten sagen sollte, Quint sei nur ein armer Mann wie sie und durchaus nichts weniger als etwa ein Wundertäter. Und als nun die Leute den ihnen bekannten Weber umringten, tat er, wie ihm befohlen war, aber doch nicht auf eine so überzeugende Art, daß es den festen Glauben der ihn Bestürmenden irgend beirrt hätte. Sie traten vielmehr in dichten Schwärmen bis an die Fenster des Hauses heran: Weiber hoben mit viel Geschrei ihre Säuglinge vor die Scheiben, Männer zeigten ihr hinkendes Bein, und viele Zeigefinger waren gleichzeitig auf die Augen von Blinden gerichtet, deren Heilung zugleich mit wilden Schreien erbeten ward. Da trat der Narr mit einem stillen und festen Entschluß plötzlich in den Andrang der Mühseligen und Beladenen mutig hinaus, die sogleich die Falten seines zerschlissenen Rockes sowie seine Hände und nackten Füße mit Küssen bedeckten. Die Fremden sahen, wie der lange, groteske Mensch eine Zeitlang hilflos wie auf einer Woge des Elends schwamm.  Dann aber gelang es den Brüdern Scharf, einen Raum zwischen ihrem Idol und der sinnlosen Menge frei zu machen. Es war nun für Quint kein anderer Ausweg möglich, als daß er mit lauter Stimme das Wort ergriff und zu der ganzen Versammlung redete.
Was aber der Inhalt seiner Predigt war, wird von denen, die sie gehört haben wollen, nicht einhellig dargestellt. Auch mengte der Narr im Feuer des Augenblicks wohl allerlei widersprechende Dinge zusammen, wie sie aus eigenem Denken und Bibelerinnerungen auf seiner Zunge zusammenströmten. »Was seid ihr gekommen zu sehen?« fing er etwa zu rufen an. »Wollt ihr einen Arzt sehen? Ich bin ein Kranker und nicht ein Arzt! Wollt ihr einen Menschen in schönen Kleidern sehen? In besseren Kleidern, als jene sind, die eure kranken Glieder bedecken? Wahrlich, ich bin so schlecht bekleidet wie ihr. Die aber in guten und weichen Kleidern gehen, wohnen geruhig in ihren Palästen! Wollt ihr einen Propheten sehen, der die Sünden der Welt verflucht? Ich bin nicht gekommen, um zu verfluchen! Wollt ihr einen Menschen sehen, der mehr ist denn ihr: ein Meister der Kunst, ein Meister der Schrift? Wisset, ich bin ganz ungelehrt und bin weniger denn ihr! Ich kann weder Kranke heilen noch Tote erwecken, außer von geistlicher Krankheit und geistlicher Not, und wenn ihr dergleichen wünscht und erbittet, so wird euch vielleicht geholfen sein. Ich habe eine Taufe empfangen, eine Taufe mit Wasser! Ich aber kann nicht mit Wasser taufen, meine Taufe geschieht durch den Geist.« – Die Brüder Scharf und den Weber Schubert anblickend, fuhr er fort: »Des Menschen Sohn ist nicht in die Welt gekommen, die Seelen der Menschen zu vernichten. Er ist auch nicht in die Welt gekommen, das Joch von diesen Schultern auf jene, die Last vom Rücken der Guten auf die Rücken der Bösen zu tun, sondern er selber will alle Lasten auf sich nehmen. Wer Ohren hat zu hören, der höre: Jesus der Heiland, ihr nennt ihn wahrhaftig mit Fug den Gottessohn. Gott aber ist Geist! Jesus ward aus dem Geist geboren! Es sei ferne von uns und von euch, etwa anzunehmen, Gott sei ein Leib und es habe ein irdischer Leib seinen leiblichen Sohn hervorgebracht. Was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Tretet in die Geburt des Geistes, so seid ihr in der Wiedergeburt! Geist ist der Vater, Geist der Sohn, und auch ich bin vom Geist wiedergeboren! Wohlan, ich zögere nicht, euch dies zu verkünden: wer aus dem Geiste wiedergeboren ist, der ist Gottes Sohn. Ich bin Gottes Sohn, so verstanden. Aber auch ihr: ein jeder von euch kann durch die Wiedergeburt eben das werden, was ich bin, ihr alle könnt Gottes Kinder werden.« [...]
Emanuel Quint, der unter Verachtung, Not und Entbehrung ganz anders als seine Begleiter gelitten hatte und älter war, stand doch, wie diese, in einem schäumenden Jugendrausch. Und wenn wir den ganzen Ernst seines sonderbaren Geschicks und den fest bestimmten kurzen Weg seines arg verfehlten Lebens bis an sein Ende in Rücksicht ziehen, so müssen wir dennoch sagen, es war der Reichtum an junger, überwallender Liebe, den auszugießen, und sei es mit seinem Blute zugleich, unstillbar heißes Verlangen ihn zwang. [...]
Ich sehe, die Menschen leiden Not. Ich sehe, sie wollen die Not überwinden. Ich kenne die Hoffnung, von der sie zehren, auf endliche Überwindung der Lebensnot. Ich selbst bin in Not. Ich weiß auch, wie bitter es ist, das tägliche Brot zu entbehren, Hunger zu leiden. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern er lebt von solchen Worten, die durch den Mund Gottes gegangen sind. Ihr sagt«, fuhr er fort, »daß die Arbeiter auf der ganzen Erde einen Zustand erstreben und nahe voraussehen, wo jeder die Frucht seiner Arbeit genießen wird. Ich aber sage: genießet jetzt, genießet in jedem Augenblick das lebendige Wort aus dem Munde Gottes. Wenn dereinst, wie ihr sagt, das Arbeiterparadies auf der Erde blühen wird, so werde ich weit davon entfernt im Reiche Gottes sein.« Als sie den Narren fragten, was denn und wo denn das Wort, die wahre Speise der Seele, wäre, zog er sein kleines Bibelbuch und las ihnen aus dem Evangelium Sankt Johannis: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« Und nachdem er diese Worte gelesen hatte, fragte ihn Christian Hassenpflug, wie es denn aber mit der Verkündigung des Reiches Gottes auf Erden, darin die Bibel doch gewissermaßen eines Sinns mit den ringenden Kräften des Gegenwartslebens sei, beschaffen wäre; da schwieg er zuerst und sagte dann: »Es sei denn, daß ihr von neuem geboren werdet, so könnet ihr das Reich Gottes nicht sehen«, womit er Johannes 3, Vers 3 in einer Weise anführte, die für ihn eine mystische Wollust war, jenes Nahrungaufnehmen des Geistes, jenes Ernährenlassen der Seele durch heilige Worte, die durch den Mund des Heilands gegangen sind. [...]
Jesus wäre für ihn der Mittler geworden und bliebe der Mittler nicht nur zwischen ihm, Quint, und Gott, sondern auch zwischen ihm, Quint, und den Menschen, zwischen ihm und der Erde, der ganzen Natur, fügte er ausdrücklich noch hinzu.
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint Kapitel 5)

Wilhelm Hauff als Redakteur

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/ein-genialer-handwerker-im-literaturbetrieb-wilhelm-hauff-als-visionaer-15686269.html

16 Juli 2018

Roger Willemsen: Die Enden der Welt - Der Himalaya

Der Himalaya
Im Nebel des Prithvi Highway

"Und schließlich existiert in diesen Höhen selbst das rätselhafte Cordyceps sinensis, ein Wesen, das sechs Monate Insekt, sechs Monate Pflanze ist, und das, als Starkmacher im Schoßbereich gerühmt, erst ab 4500 Metern über dem Meeresspiegel gefunden und später teuer bezahlt wird." (S.67/68)

Chinesischer Raupenpilz (Ophiocordyceps sinensis) [...] "ist ein Schlauchpilz (Ascomycota) aus der Gruppe der Kernkeulen, der Raupen befällt. Er ist im Hochland von Tibet endemisch. Der Pilz spielt in der traditionellen chinesischen Medizin eine Rolle und ist ein begehrter Heilpilz. [...] Er wächst in Höhenlagen zwischen 3000 m und 5000 m.[4] Lokal tritt er in einem Bereich von 500 Höhenmetern um die Baumgrenze auf. [...] Die infizierten Raupen überdauern den Winter im Boden, wobei sie sich weniger tief befinden als unbefallene Tiere.[2] Im Frühjahr tritt der Fruchtkörper aus dem Kopf der Raupe über die Erdoberfläche. Während der Entwicklung des Pilzes wird das Substrat zunehmend zersetzt, bis nur noch die weiche Außenhülle übrig bleibt, die mit dem Myzel des Pilzes gefüllt ist.
Die Fruchtkörper erscheinen im Frühjahr ab Mai, an den Osthängen auch schon ab Mitte April. Die Fruktifikation dauert bis Mitte Juni, in höheren Lagen bis Mitte Juli. In einigen Regionen kann der Pilz in verschiedenen Höhenlagen fast zwei Monate lang angetroffen werden. [... Er] wird wahrscheinlich schon seit mindestens 1.000 Jahren gesammelt und genutzt. [...] Der tibetische Name, Jartsa Gunbu (in anglisierter Form auch Yartsa Gunbu“), bedeutet wörtlich „Sommergras-Winterwurm“. Sein chinesischer Name dong chong xia cao ist eine (umgekehrt) wörtliche Übersetzung des tibetischen Namens; es bedeutet wörtlich „Winterwurm-Sommergras“. Seinen Artnamen sinensis erhielt der Chinesische Raupenpilz von Miles Joseph Berkeley, weil er von Europäern zuerst auf chinesischen Märkten gefunden wurde.[...] Jedes Jahr werden Hunderte von Millionen Exemplare des Chinesischen Raupenpilzes in seinem natürlichen Verbreitungsgebiet gesammelt. Genaue Daten über gesammelte Mengen fehlen für viele Gebiete; Schätzungen gehen von insgesamt 140 bis 150 Tonnen pro Jahr aus.[11] Die Sammler sind Hirten und Bauern sowie vereinzelt auch Stadtbewohner,[3] die während der Sammelsaison im Verbreitungsgebiet des Pilzes kampieren. Größere Lager befinden sich meist an Straßen und sind oft mit Geschäften für Lebensmittel, Restaurants und Unterhaltungsmöglichkeiten wie Billardtischen ausgestattet.[12]Oft werden die Pilze direkt aus den Camps verkauft. [...]
In der traditionellen chinesischen und tibetischen Medizin wird der Chinesische Raupenpilz als kräftigend und aphrodisierend gesehen.[7] Nach dem Erfolg Chinas bei den Olympischen Sommerspielen 1992 gaben die chinesischen Athleten an, zuvor den Chinesischen Raupenpilz eingenommen zu haben.[20] Er dient auch gegen Lungen-, Leber- und Nieren- und Herz-Kreislauf-Beschwerden sowie Rückenschmerzen.[21][7]
Forschungen weisen darauf hin, dass der Pilz gegen Tumore, darunter auch Krebs, und Viren wirkt.[7] Daneben wurden immun- und cholesterinregulierendeantioxidante Effekte sowie ein Anstieg der Ausdauer und der Libido beobachtet.[7]" (Wikipedia)

Die Greisin ist ihr Leben lang nicht um eine bestimmte Kurve gegangen; denn sie hat geträumt, ihr würde dort Unglück drohen.  Der Erzähler geht mit ihr zu der Kurve hin, strahlend geht sie mit. Am Scheitelpunkt bleibt sie stehen und lacht: "Du glaubst doch nicht, ich habe ein Leben lang auf dieser Seite der Kurve zugebracht, um jetzt mal eben so auf die andere Seite zu gehen!" (S.72)  
Lachend geht sie mit ihm zurück.

Über Roger Willemsen

Isaßördur - Der blinde Fleck