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15 August 2017

Wieland: Die Geschichte vom Emir 2. Teil - Die Lehren des Psammis (in: Der goldene Spiegel)

Am nächsten Tag hat sich der Emir so weit über seine mangelnde Fähigkeit, sich mit dem Mädchen zu vergnügen, beruhigt, dass er daran geht, sich zu erkundigen, woher es kommt, dass der achtzigjährige Greis so munter und lebendig ist, während es ihm an Lebenskraft fehlt:


 Ich bitte dich, erkläre mir dieses Rätsel. Was für ein Geheimnis besitzest du, welches solche Wunder wirken kann?‹
›Ich kann dir mein Geheimnis mit drei Worten sagen‹, erwiderte der Alte lächelnd: ›Arbeit, Vergnügen und Ruhe, jedes in kleinem Maße, zu gleichen Teilen vermischt, und nach dem Winke der Natur abgewechselt, wirken dieses Wunder, wie du es zu nennen beliebst, auf die begreiflichste Weise von der Welt. Eine nicht unangenehme Mattigkeit ist der Wink, den uns die Natur gibt, unsre Arbeit mit Ergetzungen zu unterbrechen, und ein ähnlicher Wink erinnert uns von beiden auszuruhen. Die Arbeit unterhält den Geschmack an den Vergnügungen der Natur, und das Vermögen sie zu genießen; und nur derjenige, für den ihre reinen untadelhaften Wollüste allen Reiz verloren haben, ist unglücklich genug, bei erkünstelten eine Befriedigung zu suchen, welche sie ihm nie gewähren werden. Lerne an mir, werter Fremdling, wie glücklich der Gehorsam gegen die Natur macht. Sie belohnt uns dafür mit dem Genuß ihrer besten Gaben. Mein ganzes Leben ist eine lange, selten unterbrochne Kette von angenehmen Augenblicken gewesen; denn die Arbeit selbst, eine unsern Kräften angemessene und von keinen verbitternden Umständen begleitete Arbeit, ist mit einer Art von sanfter Wollust verbunden, deren wohltätige Einflüsse sich über unser ganzes Wesen verbreiten. [...]
›Eine alte Überlieferung sagt uns, daß unsre Vorfahren von griechischer Abkunft gewesen, und durch einen Zufall, an dessen Umständen dir nichts gelegen sein kann, vor einigen Jahrhunderten in diese Gebirge geworfen worden. Sie pflanzten sich in diesen angenehmen Tälern an, welche die Natur dazu bestimmt zu haben scheint, eine kleine Anzahl von Glücklichen vor der Mißgunst und den ansteckenden Sitten der übrigen Sterblichen zu verbergen. Hier lebten sie, in zufriedener Einschränkung in den engen Kreis der Bedürfnisse der Natur, dem Anschein nach so armselig, daß selbst die benachbarten Beduinen sich um ihr Dasein wenig zu bekümmern schienen. Die Zeit löschte nach und nach den größten Teil der Merkmale ihres Ursprungs aus; ihre Sprache verlor sich in die arabische; ihre Religion artete in einige abergläubische Gebräuche aus, von welchen sie selbst keinen Grund anzugeben wußten; und von den Künsten, die der griechischen Nation einen unverlierbaren Rang über alle übrige gegeben haben, blieb ihnen nur die Liebe zur Musik, und ein gewisser angeborner Hang zum Schönen und zu geselligen Vergnügungen, welcher die Grundlage abgab, worauf der weise Gesetzgeber ihrer Nachkommen einen kleinen Staat von glückseligen Menschen aufzuführen wußte. [...]
Er fand unsre kleine Nation fähig, glücklich zu sein; ›und Menschen‹, sagte er zu sich selbst, ›welche etliche Jahrhunderte sich an dem Unentbehrlichen begnügen lassen konnten, verdienen es zu sein: ich will sie glücklich machen.‹ Er verbarg sein Vorhaben eine geraume Zeit, weil er weislich glaubte, daß er die ersten Eindrücke durch sein Beispiel machen müsse. Er pflanzte sich unter uns an, lebte in seinem Hause so, wie du uns hast leben gesehen, machte unsre Leute mit Bequemlichkeiten und Vergnügungen bekannt, die ihre Begierden reizen mußten, und kaum ward er gewahr daß er diesen Zweck erhalten habe, so legte er die Hand an seinen großen Entwurf. Ein Freund, der ihn begleitet hatte und von allen schönen Künsten in einem hohen Grade der Vollkommenheit Meister war, half ihm die Ausführung beschleunigen. Viele von unsern Jünglingen, nachdem sie die nötige Vorbereitung von ihnen erhalten hatten, arbeiteten unter ihrer Aufsicht mit unbeschreiblicher Begeisterung. Wilde Gegenden wurden angebaut; künstliche Wiesen und Gärten voll fruchttragender Bäume blühten in Gegenden hervor, die mit Disteln und Heidekraut bedeckt gewesen waren; und Felsen wurden mit neu gepflanzten Weinreben beschattet. [...]
Jeder von uns empfängt beim Antritt seines vierzehnten Jahres, an dem Tage, da er in dem Tempel der Huldgöttinnen das Gelübde tun muß, der Natur gemäß zu leben, einige Täfelchen aus Ebenholz, auf welchen diese Sittenlehre mit goldnen Buchstaben geschrieben ist. Wir tragen sie immer bei uns, und sehen sie als ein Heiligtum und gleichsam als den Talisman an, an welchen unsre Glückseligkeit gebunden ist. Wer sich unterfinge andre Grundsätze einführen zu wollen, würde als ein Vergifter unsrer Sitten und als ein Zerstörer unsers Wohlstandes auf ewig aus unsern Grenzen verbannt werden. Höre, wenn es dir gefällt, was ich dir davon vorlesen will.   ›Das Wesen der Wesen‹, so spricht Psammis im Eingange seiner Gesetze, ›welches, unsichtbar unsern Augen und unbegreiflich unserm Verstande, uns sein Dasein nur durch Wohltaten zu empfinden gibt, bedarf unser nicht, und fodert keine andre Erkenntlichkeit von uns, als daß wir uns glücklich machen lassen. Die Natur, die zu unsrer allgemeinen Mutter und Pflegerin von Ihm bestellt ist, flößet uns mit den ersten Empfindungen auch die Triebe ein, von deren Mäßigung und Übereinstimmung unsre Glückseligkeit abhängt. Ihre Stimme ist es, die durch den Mund ihres Psammis mit euch redet; seine Gesetze sind keine andern als die ihrigen. Sie will, daß ihr eures Daseins froh werdet. Freude ist der letzte Wunsch aller empfindenden Wesen: sie ist dem Menschen, was Luft und Sonnenschein den Pflanzen ist. Durch süßes Lächeln kündigt sie die erste Entwicklung der Menschheit im Säugling an, und ihr Abschied ist der Vorbote der Auflösung unsers Wesens. Liebe und gegenseitiges Wohlwollen sind ihre reichsten und lautersten Quellen: Unschuld des Herzens und der Sitten das sanfte Ufer, in welchem sie dahin fließen.
Diese wohltätigen Ausflüsse der Gottheit sind es, was ihr unter den Bildern vorgestellt sehet, denen euer gemeinschaftlicher Tempel heilig ist. Betrachtet sie als Sinnbilder der Liebe, der Unschuld und der Freude. So oft der Frühling wieder kommt, so oft Ernte und Herbst angehen und geendigt sind, und an jedem andern festlichen Tage versammelt euch in dem Myrtenhaine; bestreuet den Tempel mit Rosen, und kränzet diese holden Bilder mit frischen Blumen; erneuert vor ihnen das unverletzliche Gelübde, der Natur getreu zu bleiben; umarmet einander unter diesen Gelübden, und die Jugend beschließe das Fest, unter den frohen Augen der Alten, mit Tänzen und Gesang. Die junge Schäferin, wenn ihr Herz aus dem langen Traume der Kindheit zu erwachen beginnt, schleiche sich einsam in den Myrtenhain, und opfre der Liebe die ersten Seufzer, die ihren sanften Busen heben; die junge Mutter mit dem lächelnden Säugling im Arme wandle oft hierher, ihn zu den Füßen der holden Göttinnen in süßen Schlummer zu singen.
Höret mich, ihr Kinder der Natur! – denn diesen und keinen andern Namen soll euer Volk künftig führen.
Die Natur hat alle eure Sinne, hat jedes Fäserchen des wundervollen Gewebes eures Wesens, hat euer Gehirn und euer Herz zu Werkzeugen des Vergnügens gemacht. Konnte sie euch vernehmlicher sagen, wozu sie euch geschaffen hat?
Wär es möglich gewesen, euch des Vergnügens fähig zu machen, ohne daß ihr auch des Schmerzesfähig sein mußtet, so – würde es geschehen sein. Aber so viel möglich war hat sie dem Schmerz[58] den Zugang zu euch verschlossen. Solang ihr ihren Gesetzen folget, wird er eure Wonne selten unterbrechen; noch mehr, er wird euer Gefühl für jedes Vergnügen schärfen, und dadurch zu einer Wohltat werden; er wird in euerm Leben sein was der Schatten in einer schönen sonnigen Landschaft, was die Dissonanz in einer Symphonie, was das Salz an euern Speisen.
Alles Gute löset sich in Vergnügen auf, alles Böse in Schmerz. Aber der höchste Schmerz ist das Gefühl sich selbst unglücklich gemacht zu haben‹, – (hier holte der Emir einen tiefen Seufzer) – ›und die höchste Lustdas heitre Zurücksehen in ein wohl gebrauchtes, von keiner Reu beflecktes Leben.

Niemals möge unter euch, ihr Kinder der Natur, das Ungeheuer geboren werden, das eine Freude darin findet, andre leiden zu sehen, oder unfähig ist sich ihrer Freude zu erfreuen! Nein, ein so unnatürliches Mißgeschöpf kann nicht zum Vorschein kommen, wo Unschuld und Liebe sich vereinigen, den Geist der Wonne über alles was atmet auszugießen. Freuet euch, meine Kinder, eures Daseins, eurer Menschheit; genießet, so viel möglich, jeden Augenblick eures Lebens: aber vergesset nie, daß ohne Mäßigung auch die natürlichsten Begierden zu Quellen des Schmerzes, durch Übermaß die reineste Wollust zu einem Gifte wird, das den Keim eures künftigen Vergnügens zernaget. Mäßigung und freiwillige Enthaltung ist das sicherste Verwahrungsmittel gegen Überdruß und Erschlaffung. Mäßigung ist Weisheit, und nur dem Weisen ist es gegönnt, den Becher der reinen Wollust, den die Natur jedem Sterblichen voll einschenkt, bis auf den letzten Tropfen auszuschlürfen. Der Weise versagt sich zuweilen ein gegenwärtiges Vergnügen, nicht weil er ein Feind der Freude ist, oder aus alberner Furcht vor irgend einem gehässigen Dämon, der darüber zürnte wenn sich die Menschen freuen; sondern, um durch seine Enthaltung sich auf die Zukunft zu einem desto vollkommnern Genusse des Vergnügens aufzusparen. [...]
Psammis hat euch neue Quellen angenehmer Empfindungen mitgeteilt: durch ihn genießet ihr, von der täglichen Arbeit ermüdet, einer wollüstigen Ruhe; durch ihn ergetzen liebliche Früchte, in diesen fremden Boden verpflanzt, euern Gaumen; durch ihn begeistert euch der Wein, zu höherer Fröhlichkeit, zu offenherzigem Geschwätze und geistreichem Scherz, ohne welche dem geselligen Gastmahle seine beste Würze fehlt. In der Liebe, die ihr nur unter der niedrigen Gestalt des Bedürfnisses kanntet, hat er euch die Seele des Lebens, die Quelle der schönsten Begeisterung und der reinsten Wollust des Herzens bekannt gemacht. O meine Kinder! welche Lust, welches angenehme Gefühl sollt ich euch versagen? Keines, gewiß keines das euch die Natur zugedacht hat! Ungleich den schwülstigen Afterweisen, welche den Menschenzerstören wollen, um – eitles lächerliches Bestreben! – einen Gott aus seinen Trümmern hervor zu ziehen! Ich empfehle euch die Mäßigung; aber aus keinem andern Grunde, als weil sie unentbehrlich ist, euch vor Schmerzen zu bewahren, und immer zur Freude aufgelegt zu erhalten. Nicht aus Nachsicht gegen die Schwachheit der Natur erlaub ich, – nein, aus Gehorsam gegen ihre Gesetze befehl ich euch, eure Sinne zu ergetzen. [...]
Vervielfachet euer Wesen, indem ihr euch gewöhnet in jedem Menschen das Bild euerer eigenen Natur und in jedem guten Menschen ein andres Selbst zu lieben.
Schmecket so oft ihr könnt das reine göttliche Vergnügen andre glücklicher zu machen; – und du, Unglückseliger, dem von diesem bloßen Gedanken das Herz nicht zu wallen anfängt, fliehe, fliehe auf ewig aus den Wohnungen der Kinder der Natur!‹«
Schach-Gebal war über der Sittenlehre des weisen Psammis unvermerkt so gut eingeschlafen, daß die schöne Nurmahal für ratsam hielt, die Fortsetzung der Geschichte des Emirs auf die künftige Nacht auszusetzen.
(Der goldene Spiegel 1.Teil 4. Kapitel)

14 August 2017

Wieland: Die Geschichte vom Emir 1. Teil (in: Der goldene Spiegel)

Der Philosoph Danischmend erzählt dem Sultan Schach-Gebal eine Geschichte, hat sich dabei aber nach den Anforderungen des Sultans zu richten, der ihm, je nach dem, wie ihm die Erzählung gefällt, Prügel androht oder Geld auszahlen lässt. Die Haupterwartung des Sultans ist, dass er danach gut schlafen kann. Jedes Gähnen des Sultans ist also ein Erfolg.

"[...] Schach-Gebal nickte ein sultanisches Ja, und der Philosoph fing also an.
»Zu den Zeiten des Kalifen Harun Al Raschid« – –
»Fi, Herr Doktor«, unterbrach ihn der Sultan, »das fängt verdächtig an! Sobald man diesen Kalifen nennen hört, kann man sich nur gleich auf Genien und Verwandlungen gefaßt halten, oder auf platte Historien von kleinen Buckligen, schwatzhaften Barbierern, und liederlichen Königssöhnchen, welche, um eine lange Reihe begangener Torheiten mit einem würdigen Ende zu krönen, sich die Augenbraunen abscheren und Kalender werden
»Ich stehe Ihrer Hoheit mit meinen Augenbraunen dafür«, sagte Danischmend, »daß weder Bucklige noch Kalender in meiner Erzählung vorkommen, und daß alles so natürlich darin zugehen soll, als man es nur wünschen kann.
Zu den Zeiten des besagten Kalifen also begab sich, daß ein reicher Emir aus Yemen auf seiner Rückreise von Damask das Unglück hatte, in den Gebirgen des felsigen Arabiens von Räubern überfallen zu werden, welche so unhöflich waren, sein Gefolge niederzusäbeln, und nachdem sie die schönen Frauen, die er zum Staate mit sich führte, nebst allen Kostbarkeiten, die er bei sich hatte, zu Handen genommen, sich so schnell, als sie gekommen waren, wieder ins Gebirge zurück zogen. Glücklicher Weise für den Emir war er gleich zu Anfang des Gefechtes in Ohnmacht gefallen; ein Umstand, der so viel wirkte, daß die Räuber sich begnügten, ihm seine schönen Kleider auszuziehen, und ihn, ohne sich zu bekümmern ob er wirklich tot sei, unter den Erschlagenen liegen zu lassen.« [...]
»so kam der gute Emir wieder zu sich selbst, und stellte sehr unangenehme Betrachtungen an, da er sich in einem wilden unbekannten Gebirge auf einmal ohne Zelten, ohne Geräte, ohne seine Weiber und Verschnittenen, ohne Küche, und sogar ohne Kleider befand; er, der von dem ersten Augenblicke seines Lebens, dessen er sich erinnern konnte, an allen ersinnlichen Gemächlichkeiten niemals einigen Mangel gelitten hatte. [...]
»Von allen diesen Betrachtungen des Emirs (welche zu verworren und unangenehm waren, als daß es ratsam sein könnte, sie Ihrer Majestät vorzulegen) war das Ende, daß er sich entschließen mußte, eine Sache zu tun, die ihn aus Mangel der Gewohnheit sehr hart ankam, nämlich seine Beine in Bewegung zu setzen, und zu versuchen, ob er irgend einen Weg aus dieser Wildnis finden möchte. Die Sonne neigte sich schon stark, als er endlich mit unbeschreiblicher Mühe einen Ort erreichte, wo das Gebirge sich öffnete, und ihm die Aussicht in ein Tal zu genießen gab, welches seine Einbildung selbst sich nicht reizender hätte schaffen können. Der Anblick einiger wohl gebauten Wohnungen, die zwischen den Bäumen aus dem schönsten Grün hervorstachen, ermunterte ihn seine letzten Kräfte zusammen zu raffen, um diese Wohnungen wo möglich noch vor Untergang der Sonne zu erreichen. In der Tat war der ganze Weg, den er schon zurückgelegt und den er noch vor sich hatte, nicht um zehen Schritte mehr, als was ein junger Landmann alle Tage morgens und abends ohne Murren unternimmt, um seinem Mädchen einen Kuß zu geben; aber für die schlaffen Sehnen und marklosen Knochen des Emirs war dies eine ungeheure Arbeit. Er mußte sich so oft niedersetzen, um wieder zu Atem zu kommen, daß es finstre Nacht wurde, eh er die Pforte der nächsten Wohnung erreichte, die einer Art von ländlichem Palast ähnlich sah, aber nur von Holze gebaut war. Ein angenehmes Getöse, aus Gesang, Saitenspiel und andern Zeichen der Fröhlichkeit vermischt, welches ihm schon von fern aus diesen Wohnungen entgegen kam, vermehrte seine Verwundrung, alles dies mitten in dem ödesten Gebirge zu finden. Da er keine andre Belesenheit als in Geistermärchen hatte, so war sein erster Gedanke, ob nicht alles, was er sah und hörte, ein Werk der Zauberei sei. So furchtsam ihn dieser Gedanke machte, so überwog doch endlich das Gefühl seiner Not. Er klopfte an, und bat einen Hausgenossen, welcher heraus kam um zu sehen was es gäbe, mit einer so wunderlichen Mischung von Stolz und Demut um die Nachtherberge, daß man ihn vermutlich abgewiesen hätte, wenn die Gastfreiheit ein weniger heiliges Gesetz bei den Bewohnern dieser Gegend gewesen wäre. Der Emir wurde mit freundlicher Miene in einen kleinen Saal geführt, wo man ihn ersuchte, sich auf einen unscheinbaren aber sehr weich gepolsterten Sofa niederzulassen. In wenigen Augenblicken erschienen zwei schöne Jünglinge, um ihn in ein Bad zu führen, wo er mit ihrer Beihülfe gewaschen, beräuchert, und mit einem netten Anzuge von dem feinsten baumwollenen Zeuge bekleidet wurde. Damit ihm die Weile nicht zu lang würde, trat ein niedliches Mädchen, so schön als er jemals eines in seinem Harem gehabt hatte, mit einer Theorbe in der Hand herein, setzte sich ihm gegenüber, und sang ein Lied, aus dessen Inhalt er so viel abnehmen konnte, daß man über die Ankunft eines so angenehmen Gastes sehr erfreut sei. [...]
 Der ganze Saal war mit großen Blumenkränzen behangen, die von etlichen jungen Mädchen von Zeit zu Zeit mit frischem Wasser angespritzt wurden. Alles dies zusammen genommen machte einen sehr angenehmen Anblick; aber es war nicht das Schönste, was sich seinen Augen in diesem bezauberten Orte darstellte. Ein ehrwürdiger Greis, mit silberweißen Haaren, lag, in der Stellung einer gesunden und vergnüglichen Ruhe nach der Arbeit, auf dem obersten Platze des Sofas; ein Greis, wie der gute Emir weder jemals einen gesehen, noch für möglich gehalten hatte daß es einen solchen geben könnte. Munterkeit des Geistes glänzte aus seinen noch lebhaften Augen; achtzig Jahre eines glücklichen Lebens hatten nur schwache Furchen auf seiner heiter ausgebreiteten Stirne gezogen,[47] und die Farbe der Gesundheit blühte gleich einer späten herbstlichen Rose noch auf seinen freundlichen Wangen. ›Dies ist unser Vater‹, sagten einige junge Personen, die den Emir umgaben, indem sie ihn an der Hand zum Sitze des Alten hinführten.
 Der Alte stand nicht auf, machte auch keine Bewegung als ob er aufstehen wollte; aber er reichte ihm die Hand, drückte des Emirs seine mit einer Kraft, welche diesen in Erstaunen setzte, und hieß ihn sehr leutselig in seinem Hause willkommen sein. Aber gleichwohl (sagt mein Autor) sei in dem ersten Blicke, den der Greis auf den Emir geworfen habe, unter den leutseligen Ausdruck der gastfreien Menschenfreundlichkeit etwas gemischt gewesen, welches den Fremden betroffen gemacht habe, ohne daß er sich selbst habe erklären können wie ihm sei. Der Alte hieß ihn Platz an seiner Seite nehmen« – [...]
»Inzwischen wurde das Abendessen aufgetragen, wobei der Emir eine neue Erfahrung machte, die ihm, der so wenig gewohnt war über irgend etwas zu denken, die unbegreiflichste Sache von der Welt zu sein deuchte. Allein, eh ich mich hierüber erklären kann, seh ich mich genötigt, eine kleine Abschweifung über den Charakter dieses Emirs zu machen, der eine Hauptfigur in meiner Erzählung vorstellt, wiewohl es in der Tat nur die Rolle eines Zuschauers ist. Er war von seiner Jugend an dasjenige gewesen, was man einen ausgemachten Wollüstling nennt; ein Mensch, der keinen andern Zweck seines Daseins kannte, als zu essen, zu trinken, sich mit seinen Weibern zu ergetzen, und von so mühsamen Arbeiten sich durch eine Ruhe, welche ungefähr die Hälfte von Tag und Nacht wegnahm, zu erholen, um zu der nämlichen Beschäftigung wieder aufzuwachen. Mit dieser groben Sinnlichkeit verband er einen gewissen Stolz, der sehr geschickt war, die nachteiligen Wirkungen derselben zu beschleunigen. Er setzte ihn darein, die schönsten Frauen, die besten Weine, und die gelehrtesten Köche von ganz Asien zu besitzen: aber auch daran genügte ihm noch nicht; er beeiferte sich auch, der größte Esser, der größte Trinker, und der größte Held in einer andern Art von Leibesübung zu sein, worin er mit Verdruß den Sperling und den Maulwurf für seine Meister erkennen mußte. Wenn ein Mann das Unglück hat, bei dieser verkehrten Art von Ehrgeiz alle Mittel zu Befriedigung desselben zu besitzen, so wird man ihn bald genug dahin gebracht sehen, zu Kanthariden und Betel und andern solchen Zwangsmitteln seine Zuflucht zu nehmen. Aber die Natur ermangelt nie, sich für die Beleidigungen, die man ihr zufügt, zu rächen, und pflegt desto grausamer in ihrer Rache zu sein, je weniger Vorwand ihre Wohltätigkeit uns zu Rechtfertigung unsrer Ausschweifungen gelassen hat. Der Emir befand sich also, mit dem reinsten arabischen Blute und der stärksten Leibesbeschaffenheit, in seinem dreißigsten Jahre zu dem elenden Zustande herunter gebracht, der ein Mittelstand zwischen Leben und Sterben ist; gepeinigt durch Erinnerungen, welche sein Vergnügen hätten erhöhen sollen, und verdammt zu ohnmächtigen Versuchen, den Zorn der Natur durch die Geheimnisse der Kunst zu versöhnen, denen er die Verlängerung seines Daseins zu danken hatte. [...]
Beim Eintritt in das Schlafzimmer, welches ihm selbst angewiesen wurde, fand er die beiden Knaben wieder, die ihn im Bade bedient hatten. Ihr Anblick erinnerte ihn an die schöne Dirne, die ihn auf eine so reizende Art willkommen gesungen hatte, und er konnte nicht mit sich selbst einig werden, ob er sich über ihre Abwesenheit betrüben oder erfreuen sollte. Er wurde ausgekleidet, und auf eine so weiche, so elastische, so wollüstige Ottomanne gebracht, als jemals von einem Emir gedrückt worden sein mag. Aber kaum hatten sich die Knaben weggeschlichen, so trat die schöne Sängerin mit ihrer Theorbe im Arm herein, einen Kranz von Rosenzweigen um ihre los gebundenen Haare, die bis zur Erde herab flossen, und einen Strauß von Rosen vor einem Busen, dessen Weiße die Augen des Emirs blendete. Mit stillschweigendem Lächeln neigte sie sich tief vor ihm, nahm von einem Armsessel neben seinem Ruhebette Besitz, stimmte ihre Theorbe, und sang ihm mit der angenehmsten Stimme von der Welt so zauberische Lieder vor, daß der gute Emir, von ihrer Gestalt, von ihrer Stimme und von dem achtzigjährigen Wein seines Alten berauscht, alles vergaß, was ihn billig hätte erinnern sollen weise zu sein. Die schöne Sängerin hatte vermutlich keinen Auftrag, in einem Hause, worin alles glücklich war, einen Unglücklichen zu machen. Aber ach!« –
– Ein Blick des Sultans, der vielleicht eine ganz andere Bedeutung hatte als Danischmend sich einbildete, machte ihn stutzen. »Sire«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »um nicht in den Fehler des Vesirs Moslem zu fallen, begnüge ich mich zu sagen, daß der Emir Ursache fand, sich von allen Zauberern und Feen der Welt verfolgt zu glauben. ›Beruhige dich‹, sagte die schöne Sklavin mit einem Lächeln, in welches mehr Mitleiden als Verachtung oder Unwillen gemischt war, ›ich will dir ein Adagio vorspielen, auf welches du so gut schlafen sollst, als der glücklichste aller Schäfer.‹ Aber ihr Adagio tat das versprochene Wunder nicht. Der Emir konnte nicht aufhören sich selbst zu betrügen, bis endlich die Sklavin, welche seinen Eigensinn wirklich unbillig fand, für besser hielt sich zurück zu ziehen, indem sie ihm so wohl zu schlafen wünschte als er könnte.« [...]
»Die Geschichte des Emirs und der schönen Sklavin blieb nicht lange geheim, und dieser Prinz hatte die Ehre, der erste Mann von seiner Art zu sein, den man jemals in diesen Gegenden gesehen hatte. Die Einwohner des Hauses, männliche und weibliche, konnten gar nicht von ihrem Erstaunen über ihn zurück kommen. Sie hatten gar keinen Begriff davon, wie man das sein könne was er war. ›Das arme Geschöpf!‹ riefen sie alle mit einem Ton des Mitleidens, welcher nicht sehr geschickt gewesen wäre sein Leid zu ergetzen. 
 Wirklich war der unglückliche Mann in seinem ganzen Leben nie so übel mit sich selbst zufrieden gewesen als in dieser nämlichen Nacht. Die Vergleichung, die er zwischen sich selbst, einem Greise von zweiunddreißig, und diesem silberlockigen Jüngling von achtzig anstellte, – begleitet von den Vorstellungen, welche ihm die schöne Sklavin zurück gelassen hatte, war mehr als genugsam ihn zur Verzweiflung zu bringen. Er biß die Lippen zusammen, schlug sich vor den Kopf, und verfluchte in der Bitterkeit seines Herzens seinen Harem, seinen Leibarzt, seine Köche, und die jungen Toren, die ihn durch Beispiel und Grundsätze aufgemuntert hatten, sein Leben so eilfertig zu verschwenden. Erschöpft von ohnmächtiger Wut, und betäubt von einem Schwall quälender Gedanken, die ihm das Gefühl seines Daseins zur Marter machten, schlummert‹ er endlich ein; und da er nach einigen Stunden wieder erwachte, fehlte wenig, daß er nicht alles, was ihm seit seinem letzten Schlafe begegnet war, für einen bloßen Traum gehalten hätte.
(Der goldene Spiegel 1. Teil 3. u. 4. Kapitel)