30 August 2023

Büchnerpreis für Emine Sevgi Özdamar

 Frage: Weihnachten, alles war gefroren – das war gar nicht so? 

Özdamar: Nein, natürlich nicht. Dass es kalt war, dass es in der WG sehr kalt war, dass die Heizungen ausgestellt waren, ja das ist wahr. Da musst du aber die Kälte inszenieren. Weil, dein Leben ist ja für dich interessant, aber nicht für die anderen, die musst du inszenieren, die musst du herstellen, dass jede gerne liest, dass es Spaß macht den Menschen.

Zitat aus:

Mit geteilter Zunge – Zum Werk der Georg-BüchnerPreisträgerin Emine Sevgi Özdamar

23 August 2023

Wieland: Musarion

Wieland: Musarion (Wikipedia)

(Die dreistelligen blauen Zahlen geben die Seitenzahl der Ausgabe von zeno.org an, die ein- und zweistelligen enthalten Links zu den Anmerkungen bei zeno.org.)

[324] "In einem Hain, der einer Wildnis glich

Und nah am Meer ein kleines Gut begrenzte,

Ging Phanias mit seinem Gram und sich

Allein umher; der Abendwind durchstrich

Sein fliegend Haar, das keine Ros umkränzte;

Verdrossenheit und Trübsinn malte sich

In Blick und Gang und Stellung sichtbarlich;

Und was ihm noch zum Timon1 fehlt', ergänzte

Ein Mantel, so entfasert, abgefärbt

Und ausgenützt, daß es Verdacht erweckte,

Er hätte den, der einst den Krates deckte,

Vom Aldermann der Cyniker geerbt.2


Gedankenvoll, mit halb geschloßnen Blicken,

Den Kopf gesenkt, die Hände auf den Rücken,

Ging er daher. Verwandelt wie er war,

Mit langem Bart und ungeschmücktem Haar,

Mit finstrer Stirn, in Cynischem Gewand

Wer hätt in ihm den Phanias erkannt,

Der kürzlich noch von Grazien und Scherzen

Umflattert war, den Sieger aller Herzen.

Der an Geschmack und Aufwand keinem wich,

Und zu Athen, wo auch Sokraten zechten,3

Beim muntern Fest, in durchgescherzten Nächten,

Dem Komus bald, und bald dem Amor glich?


Ermüdet wirft er sich auf einen Rasen nieder,

Sieht ungerührt die reizende Natur

So schön in ihrer Einfalt! hört die Lieder

Der Nachtigall, doch mit den Ohren nur.

Ihr zärtlicher Gesang sagt seinem Herzen nichts; 

[...]

Wie prächtig klingt's, den fesselfreien Geist

Im reinsten Quell des Lichts von seinen Flecken waschen,

Die Wahrheit, die sich sonst nie ohne Schleier weist,

(Nie, oder Göttern nur) entkleidet überraschen;

Der Schöpfung Grundriß übersehn,

Der Sphären mystischen verworrnen Tanz verstehn,

Vermutungen auf stolze Schlüsse häufen,

Und bis ins Reich der reinen Geister streifen;

Wie glorreich! welche Lust! – Nennt immer Den beglückt

Und frei und groß, den Mann der nie gezittert,

Den der Trompete Ruf zur wilden Schlacht entzückt,

Der lächelnd sieht was Menschen sonst erschüttert

Und selbst den Tod, der ihn mit Lorbeern schmückt,

Wie eine Braut an seinen Busen drückt:

Viel größer, glücklicher ist Der mit Recht zu nennen,

Den, von Minervens Schild bedeckt,

Kein nächtliches Phantom, kein Aberglaube schreckt;[327]

Den Flammen, die auf Leinwand brennen,

Und Styx und Acheron nicht blässer machen können;

Der ohne Furcht Kometen brennen sieht,

Die hohen Götter nicht mit Taschenspiel bemüht,

Und, weil kein Wahn die Augen ihm verbindet,

Stets die Natur sich gleich, stets regelmäßig findet.


War Philipps Sohn ein Held, der sich der Lust entzog

In welcher unberühmt die Ninias zerrannen,5

Und auf zertrümmerten Tyrannen

Von Sieg zu Sieg bis an den Indus flog?

Sein wälzender Triumph zermalmte tausend Städte,

Zertrat die halbe Welt – warum? laßt's ihn gestehn!

»Damit der Pöbel von Athen

Beim nassen Schmaus von ihm zu reden hätte.«6

Um wie viel mehr, als solch ein Weltbezwinger,

Ist Der ein Held, ein Halbgott, kaum geringer

Als Jupiter, der tugendhaft zu sein

Sich kühn entschließt; dem Lust kein Gut, und Pein

Kein Übel ist; zu groß, sich zu beklagen,

Zu weise, sich zu freun; der jede Leidenschaft

Als Sieger an der Tugend Wagen

Gefesselt hat und im Triumphe führt;

Den alles Gold der Inder nicht verführt;

Den nur sein eigener, kein fremder Beifall rührt;

Kurz, der in Phalaris durchglühtem Stier verdärbe

Eh er in Phrynens Arm – ein Diadem erwärbe.


In solche schimmernde Betrachtungen vertieft

Lag Phanias, schon mehr als halb entschlossen;

Als Amor unverhofft die neue Denkart prüft,

Die Gram, Philosophie und Not ihm eingegossen.

Er sah, und hätte gern den Augen nicht getraut,

Die ein Gesicht, wovor ihm billig graut,

Zu sehn sich nicht erwehren, können.

Die Götter werden ihm den Ruhm doch nicht mißgönnen,

Ein Xenokrat zu sein? Was hilft Entschlossenheit?

Im Augenblick der uns Minerven weiht

Kommt Cytherea selbst zur ungelegnen Zeit.
[328] Zwar diese war es nicht: doch hätte

Die Schöne, welche kam, vielleicht sich vor der Wette,

Die Pallas einst verlor, gleich wenig sich gescheut.

[...]

Schön, wenn der Schleier bloß ihr schwarzes Aug entdeckte,

Noch schöner, wenn er nichts versteckte;

Gefallend, wenn sie schwieg, bezaubernd, wenn sie sprach:

Dann hätt ihr Witz auch Wangen ohne Rosen

Beliebt gemacht; ein Witz, dem's nie an Reiz gebrach,

Zu stechen oder liebzukosen

Gleich aufgelegt, doch lächelnd wenn er stach

Und ohne Gift. Nie sahe man die Musen

Und Grazien in einem schönern Bund,

Nie scherzte die Vernunft aus einem schönern Mund;

Und Amor nie um einen schönern Busen.


So war, die ihm erschien, so war Musarion.

Sagt, Freunde, wenn mit einer solchen Miene

Im wildsten Hain ein Mädchen euch erschiene,

Die Hand aufs Herz! sagt, liefet ihr davon?

»So lief denn Phanias?« – Das konntet ihr erraten!

Er tat was Wenige in seinem Falle taten,

Allein, was jeder soll, der sicher gehen will.

Er sprang vom Boden auf, und – hielt ein wenig still,

Um recht gewiß zu sehn was ihm sein Auge sagte;

Und da er sah, es sei Musarion,

So lief er euch – der weise Mann! – davon

Als ob ein Arimasp ihn jagte.7


»Du fliehest, Phanias?« ruft sie ihm lachend nach:

»Erkennest mich und fliehst? Gut, fliehe nur, du Spröder!

Dein Kaltsinn macht Musarion nicht blöder;

Du schmeichelst dir doch wohl, sie sei so schwach

Dir nachzufliehn?« – Durch ungebahnte Pfade

Wand er wie eine Schlange sich:

So schlüpft die keusche Oreade

Dem Satyr aus der Hand, der sie im Bad erschlich.

Die Schöne folgt mit leichten Zephyrfüßen,

Doch ohne Hast; denn (dachte sie) am Strand[329]

Wohin er flieht, wird er wohl halten müssen.

Es war ihr Glück, daß sich kein Nachen fand;

Denn, der Versuchung zu entgehen,

Was tät ein Weiser nicht, Doch da er keinen fand,

Wohin entfliehn? – Es ist um ihn geschehen

Wenn ihn sein Kopf verläßt! – Seid unbesorgt! er blieb

Am Ufer ganz gelassen stehen,

Sah vor sich hin, schwang seinen Stab, beschrieb

Figuren in den Sand, als ob er überdächte

Wie viele Körner wohl der Erdball fassen möchte;

Kurz, tat als säh er nichts, und wandte sich nicht um.


»Vortrefflich!« rief sie aus, »das nenn ich Heldentum

Und etwas mehr! Die alte Ordnung wollte,

Daß Daphne jüngferlich mit kurzen Schritten fliehn,

Apollo keuchend folgen sollte;

Du kehrst es um. – Fliehst du, mich nachzuziehn?

Den kleinen Stolz will ich dir gerne gönnen!«


»Du irrest dich«, antwortet unser Held

Mit Mienen, welche nicht, wie sehr sie ihm mißfällt,

Verbergen wollen oder können:

»Ein rascher meilenbreiter Spalt,

Der plötzlich zwischen uns den Boden gähnen machte,

Ist alles, glaube mir, wornach ich sehnlich schmachte,

Seitdem ich dich erblickt«. – »Der Gruß ist etwas kalt«,

Erwidert sie: »du denkest, wie ich sehe,

Die Reihe sei nunmehr an dir,

Und weichst zurück so wie ich vorwärts gehe.

Doch spiele nicht den Grausamen mit mir!

Was willst du mehr, als daß ich dir gestehe,

Du zürnst mit Recht? Ja, ich mißkannte dich:

Doch, war ich damals mein? Jetzt bin ich, was du mich,

Zu sein, so oft zu meinen Füßen batest.«


»Wie, (unterbrach er sie) du, die mit kaltem Blut

Mein zärtlich Herz mit Füßen tratest.

Mich lächelnd leiden sahst – du hast den Übermut[330]

Und suchst mich auf, mich noch durch Spott zu quälen?

Zwei Jahre liebt ich dich, Undankbare, so schön,

Wie keine Sterbliche sich je geliebt gesehn.

Dein Blick, dein Atem schien allein mich zu beseelen.

Tor, der ich war! von einem Blick entzückt

Der sich an mir für Nebenbuhler übte;

Durch falsche Hoffnungen berückt,

Womit mein krankes Herz getäuscht zu werden liebte!

Du botst verführerisch das süße Gift mir dar,

Und machtest dann mit einem andern wahr

Was dein Sirenenmund mir zugelächelt hatte.

Und, o! mit wem? – Dies brachte mich zur Wut!

(Nur der Gedank empört noch itzt mein Blut)

Ein Knabe war's, – erröte nicht, gestatte

Daß ich ihn malen darf, – gelblockig, zephyrlich,

Ein bunter Schmetterling, so glatt wie eine Schlange,

Mit Gänseflaum ums Kinn, mit rotgeschminkter Wange,

Ein Ding, das einer Puppe glich,

Wie kleine Töchterchen mit sich zu Bette nehmen:

Dem gabst du, ohne dich zu schämen,

Den Busen preis, um den der Hirt von Ilion

Helenen untreu worden wäre;

Dies Äffchen machte den Adon

Der Nebenbuhlerin der Göttin von Cythere.

Und Phanias, indes so ein Insekt

Auf deinen Rosen kriecht, liegt Nächte durch gestreckt,

Mit Tränen, die den Mai von seinen Wangen ätzen,

Die Schwelle deiner Tür, Undankbare, zu netzen!

Nein! Der versöhnt sich nie, der so beleidigt ward!

Hinweg! die Luft, in der du Atem ziehest,

Ist Pest für mich – Verlaß mich! du bemühest

Dich fruchtlos! – unsre Denkungsart

Stimmt minder überein als ehmals unsre Herzen«.


»Mich deucht (erwidert sie) du rächest dich zu hart

Für selbst gemachte Liebesschmerzen.

Sei wahr, und sprich, ist's stets in unserer Gewalt

Zu lieben wie und wen wir sollen?[331]

Oft fragt der Liebesgott uns nur nicht ob wir wollen?

Wir finden ohne Grund uns zärtlich oder kalt,

Itzt dem Apollo spröd, itzt schwach für einen Faunen.

Was weiß ich's selbst? wer zählet Amors Launen?

Ihr, die ihr über uns so bitter euch beschwert,

Laßt euer eignes Herz für unsers Antwort geben!

Ihr bleibt oft an der Stange kleben,

Und was euch angelockt war kaum der Mühe wert.

Ein Halstuch öffnet sich, ein Ärmel fällt zurücke,

Und weg ist euer Herz! Oft braucht es nicht so viel;

Ein Lächeln fängt euch schon, ihr fallt von einem Blicke.

Ein flüchtiger Geschmack, ein Nichts, ein eitles Spiel

Der Phantasie, regiert uns oft im Wählen;

Das Schöne selbst verliert auf kurze Zeit

Den Reiz für uns; wir wissen daß wir fehlen,

Und finden Grazien bis in der Häßlichkeit.

Hat die Erfahrung, wie ich glaube,

Von dieser Wahrheit dich belehrt,

So ist mein Irrtum auch vielleicht verzeihenswert.

Wer suchet unter einer Haube

So viel Vernunft als Zenons Bart verheißt?

Und wie? mein Freund, wenn ich sogar zu sagen

Mich untersteh, daß wirklich mein Betragen

Für meine Klugheit mehr als wider sie beweist?

Musarion verspottet ihn, weil er sich nach Art der Kyniker in Lumpen kleidet, und ermahnt ihn, er solle sich seine Denkungsart nicht von den Wechselfällen des Schicksals bestimmen lassen: Wahres Glück liege in der Freundschaft und im Genuss der Natur, nicht in materiellem Wohlstand. Phanias jedoch will sich von allen äußeren Reizen abschotten und Glück nur aus seinem Inneren schöpfen – ein verliebter Blick Musarions bringt ihn jedoch aus der Fassung und widerspricht seiner gerade geäußerten Haltung.

Der Abend kommt, und Musarion bittet Phanias, bei ihm übernachten zu können, um nicht in der Nacht in die Stadt zurückkehren zu müssen. Er wehrt zunächst ab und gibt dann zu, bereits Besuch zu haben: Zwei Philosophen, nämlich Kleanth, ein Stoiker, und Theophron, ein Pythagoreer. Musarion besteht darauf, die beiden kennenzulernen, und beide gehen zum Haus.

Zweites Buch

Die Philosophen sind einander inzwischen in die Haare geraten und prügeln sich, als Musarion und Phanias im Haus eintreffen. 

[342] Was, beim Anubis! konnte das

Für eine Stellung sein, in welcher Phanias

Die beiden Weisen angetroffen?

»Sie lagen doch – wir wollen bessers hoffen! –

Nicht süßen Weines voll im Gras?«

Dies nicht. – »So ritten sie vielleicht auf Steckenpferden?«

Das könnte noch entschuldigt werden;

Plutarchus rühmt sogar es an Agesilas.1

Doch von so feirlichen Gesichtern, als sie waren,

Vermutet sich nichts weniger als das,

Ihr Zeitvertreib war in der Tat kein Spaß;

Denn, kurz, sie hatten sich einander bei den Haaren.


Der nervige Kleanth war im Begriff, ein Knie

Dem Gegner auf die Brust zu setzen,

Der, unter ihn gekrümmt, für die Philosophie,

Die keine Bohnen ißt,2 die Haare ließ; als sie

In ihrem Skythischen Ergetzen

Des Hausherrn Ankunft stört. Beschämt, als hätte ihn

Sein Feind bei einer Tat, die keine fremde Leute

Zu Zeugen nimmt, ertappt, zum Stehn wie zum Entfliehn[342]

Unschlüssig, wünscht er nur dem Gast an seiner Seite

Ein Schauspiel zu entziehn, das Sie weit mehr erfreute

Als von Menandern selbst (dem Attischen Goldon)

Das beste Stück. Allein sie waren schon

Zu nah, sie sah zu gut, der Schauplatz war zu offen,

Er konnte nicht sie zu bereden hoffen

Sie habe nichts gesehn. Die Kämpfer raffen sich

Indessen auf; sie ziehen sittsamlich

Die Mäntel um sich her, und stehen da und sinnen

(Weil Phanias, damit sie Zeit gewinnen,

Die Nymph am Arm, nur schleichend näher kam)

Der Schmach sich selbst bewußter Scham

Durch dialektische Mäander zu entrinnen.

Vergebens, wenn Musarion

Großmütig ihnen nicht zuvor gekommen wäre.

»Die Herren üben sich«, spricht mit gelaßnem Ton

Die Spötterin, »vermutlich nach der Lehre,

Daß Leibesübung auch des Geistes Stärke nähre.

Ein männlich Spiel fürwahr! wovon

Mit bestem Recht zu wünschen wäre,

Daß unsrer Sitten Weichlichkeit

Nicht allgemach es aus der Mode brächte.«

Phanias ist die Situation peinlich, Musarion scheint durch ironische Kommentare den Philosophen zu schmeicheln, macht sich jedoch eigentlich über sie lustig. 

Man sieht, sie gab dem wilden Stiergefechte

Ein Kolorit von Wohlanständigkeit

(Nicht ohne Absicht zwar). – Wer war dabei so freudig

Als Phanias! – Allein der stoische Kleanth

(Zu hitzig oder ungeschmeidig

Zu fühlen, daß es bloß in seiner Willkür stand

Das Kompliment in vollem Ernst zu nehmen)

Zwang seinen Schüler sich noch mehr für ihn zu schämen.

Der Augenblick, worin Musarion

Ihn überfiel, ihr Blick, der schalkhaft sanfte Ton

Der Ironie, und (was noch zehnmal schlimmer

Als alles andre war) ihr ungewohnter Schimmer,

Die Majestät der Liebeskönigin,

Das Wollustatmende, das eine Atmosphäre

Von Reiz und Lust um sie zu machen schien,[343]

Bestürmt auf einmal, für die Ehre

Der Apathie 3 zu stark, den überraschten Sinn.

Er stottert ihr Entschuldigungen,

Zupft sich am Bart, zieht stets den Mantel enger an,

Und unterdes entwischt dem weisen Mann

Was niemand wissen will, – er hab im Ernst gerungen.

Der Streit, versichert er, ging eine Wahrheit an,

Die er so sonnenklar, so scharf beweisen kann,

Nur ein Arkadisch Tier, ein Strauß, ein Auerhahn –

Hier rötet sich sein Kamm, es schwellen Brust und Lungen,

Er schreit – Mich jammert nur der arme Phanias!

Bald lauter Glut, bald leichenmäßig blaß,

Steht er beiseits und wünscht vom Boden sich verschlungen

Worauf er steht. – Die Schöne sieht's, und eilt

Ihn von der Marter zu erretten.

Mit einem Blick voll junger Amoretten

Und Grazien, der stracks an unsichtbare Ketten

Kleanthens Tollheit legt, Theophrons Rippen heilt,

Spricht sie: »Wenn's euch beliebt, so machen wir die Fragen,

Wovon die Rede war, zu unserm Tischkonfekt;

Ich zög ein solch Gespräch, sogar bei leerem Magen,

Der Tafel vor, die Ganymedes deckt.

Wie freu ich mich, daß ich den Weg verloren,

Da mir das Glück so viel Vergnügen zugedacht!

Glückselger Phanias, der Freunde sich erkoren,

Von denen schon der Anblick weiser macht!

Jetzt wundert mich nicht mehr, wenn er zum Spott der Toren

Mitleidig lächeln kann, und, glücklich, wie er ist,

Athen und uns und alle Welt vergißt! «


Dass gerade der Stoiker Kleanth sich von ihr schmeicheln lässt, offenbart, dass niemand vor Eigenliebe gefeit ist. Musarion möchte, dass bei Tisch Kleanth und Theophron über ihre Gedanken debattieren, damit sie davon lernen könne. 

Ein Philosoph bleibt doch uns andern allen

Im Grunde gleich; wär er so stoisch als ein Stein,

Und hätte nichts die Ehr ihm zu gefallen,

Er selbst gefällt sich doch! Schmaucht ihn mit Weihrauch ein,

Und seid gewiß, er wird erkenntlich sein.

Es stieg demnach von Grad zu Grade

Der Schönen Gunst bei unserm Weisenpaar;

Ihr lachend Auge fand selbst vor der Stoa Gnade,

Und man vergab es ihr, daß sie so reizend war.Kleanth prahlt mit seiner tugendhaften, enthaltsamen Lebensweise, 

Kleanth bewies bereits: »Der Weise nur sei groß

Und frei, geringer kaum ein wenig

Als Jupiter, ein Krösus, ein Adon,

Ein Herkules, und zehnmal mehr ein König

Auf mürbem Stroh als Xerxes auf dem Thron,

Des Weisen Eigentum, die Tugend, ganz alleine

Sei wahres Gut, und nichts von allem dem

Was unsern Sinnen reizend scheine

Sei wünschenswürdig« – Kurz, die Wut für sein System

Ging weit genug, ganz trotzig, ohne Röte,

Zu prahlen: »Wenn in Cypriens Figur

Die Wollust selbst leibhaftig vor ihn träte,

Schön, wie die Göttin sich dem Sohn der Myrrha5 nur

Bei Mondschein sehen ließ, – und diese Venus böte

Auf seinem Stroh ihm ihre schöne Brust

Zum Polster an – ein Mann wie Er verschmähte

Den süßen Tausch.« 

während Theophron den Genuss verteidigt – sofern es geistiger Genuss ist. Von allem Körperlichen soll die Seele gereinigt und dadurch gottähnlicher gemacht werden –

Hier war es, wo die Lust

Des Widerspruchs Theophron sich nicht länger

Versagen kann – ein Mann von krausem schwarzem Bart

Und Augen voller Glut, kein übler Sänger

Und Citharist, dabei ein Grillenfänger

So gut als jener, nur von einer andern Art.

»Das geht zu weit, (fiel er Kleanthen in die Rede)

Zum mindsten führet es gar leicht zu Mißverstand.[346]

Nicht daß ich hier das Wort der Wollust rede

Im gröbern Sinn! Die ist unleugbar eitel Tand

Und Schaum und Dunst, ein Kinderspiel für blöde

Unreife Seelen, die mit ihren Flügeln noch

Im Schlamm des trüben Stoffes stecken.6

Doch sollt uns nicht die Nektartraube schmecken,

Weil ein Insekt auf ihrem Purpur kroch?

Der Mißbrauch darf nicht unser Urteil leiten:

Alt ist der Spruch, zu selten sein Gebrauch!

Saugt nicht auf gleichem Rosenstrauch

Die Raupe Gift, die Biene Süßigkeiten?«


Begeistert wie ein Korybant,

Und von Musarion die Augen unverwandt,

Fing jetzt Theophron an, in dichterischen Tönen,

Vom Ersten Wesentlichen Schönen

Zu schwärmen: »Wie das alles, was wir sehn

Und durch der Sinne Dienst mit unsrer Seele gatten,

Von dem, was übersinnlich schön

Und göttlich ist, nur wesenlose Schatten,

Nur Bilder sind, wie wenn in stiller Flut,

Von Büschen eingefaßt, sich Sommerwolken malen.«

Von da erhob er sich, bei immer wärmerm Blut,

Zu den geheimnisvollen Zahlen,

Zur sphärischen Musik, zum unsichtbaren Licht,

Zuletzt zum Quell des Lichts. – Ekstatischer hat nicht,

Wie aus der alten Nacht die schöne Welt entsprungen,

Und von Deukalion, und von der goldnen Zeit,

Virgils Silen den Knaben vorgesungen

Die ihn im Schlaf erhascht und zum Gesang gezwungen.


Dann fuhr er fort, und sprach vom Tod der Sinnlichkeit,

Und wie durch magische geheime Reinigungen

Die See und nach und nach vom Stoffe sich befreit,

Und wie sie, durch Enthaltsamkeit

Von Erdetöchtern und – von Bohnen,

Zum Umgang tüchtig wird mit Göttern und Dämonen.

Bis sie (dem Wurme gleich, der in die Sommerluft[347]

Auf neuen Flügeln sich erhebet)

Dem Stoff sich ganz entreißt und ihres Körpers Gruft,

Zur Göttin wird und unter Göttern lebet.

 ironischerweise starrt er während dieser Ausführungen auf Musarions Brüste, wodurch das Gespräch ins Stocken gerät. Auch verteidigt er den Genuss der Musik, da sie ein Abbild der Sphärenharmonie sei.

Ich weiß nicht welche kleine Lücke,

Die seinen Flug auf einmal unterbricht;

Und wie zuletzt die Richtung seiner Blicke

Ihr sichtbar macht was ihn zerstreut,

Und sie beschäftigt scheint den Zufall zu verbessern,

Hat sie die Ungeschicklichkeit,

(Wofern's nicht Bosheit war) das Übel zu vergrößern.


Belustigt an dem hohen Schwung,

Den unser Doktor nahm, stellt sich die schlaue Schöne,

Als ob vor Hörenslust und vor Bewunderung

Ihr Busen sich in seinen Fesseln dehne.

Zum Unglück für den Mann, der lauter Wunder spricht,

Entsteht dadurch (und sie bemerkt es nicht)


Der Umstand ist an sich nur eine Kleinigkeit;

Doch wird vielleicht die Folge zeigen

Daß er entscheidend war. Es folgt ein tiefes Schweigen,

Wobei Kleanth sogar das volle Glas,

Und, was kaum glaublich ist, die Lust zum Zank vergaß;

Indes, vertieft in Sinus und Tangenten,

Der Jünger des Pythagoras

Den wallenden Kontur7 gewisser Sphären maß,

Woran die Lambert selbst sich übermessen könnten;

Vor Amorn unbesorgt, der hier zu lauern pflegt,

Und schon den schärfsten Pfeil aus seinen Bogen legt.

[...]

Musarion, die sich den Ausgang schon entwirft,[351]

Winkt ihrem Freund ein Pythagorsches Schweigen,

Indes den Korb die schöne Sklavin leert,

Und mit sechs großen Nektarkrügen,

(Genug von einem Faun den Weindurst zu besiegen)

Mit Früchten und Konfekt den runden Tisch beschwert.


»Die Herren (spricht hierauf die Schöne) haben beide

Mich wechselsweise, so wie jeder sprach, bekehrt:

Wie sehr ich auch das Glück der Apathie beneide,

So deucht mich doch die geistge Augenweide,

Die uns Theophron zeigt, nicht minder wünschenswert.

Erlaubet, daß ich mich ein andermal entscheide.

Es sei der Rest der Nacht, die mich so viel gelehrt,

Den Musen heilig und der Freude!

Nimm, Phanias, die Schal, und gieß sie aus

Der himmlisch lächelnden Cytheren;

Und du, Theophron, gib uns einen Ohrenschmaus,

Und laß zum Saitenspiel uns deine Stimme hören.«


Das leichte philosophsche Mahl

Verwandelt nun (Dank sei der Oreade,

Die Hebens Dienste tut) durch unbemerkte Grade

Sich in ein kleines Bacchanal.

Zwar läßt zum Lob des unsichtbaren Schönen

Der bärtige Apoll das ganze Haus ertönen;

Allein sein Blick, der nie von Chloens Busen weicht,

Beweist, wie wenig was er fühlet

Dem was er singt, und einer Rolle gleicht,

Die auch der künstlichste Komödiant so leicht

Und ungezwungen nie, wie seine eigne, spielet.

Die lose Sklavin hilft des Weisen Lüsternheit

Durch listige Geschäftigkeit

Mit jedem Augenblick lebhafter anzufachen;

Stets ist sie um ihn her, und macht sich tausend Sachen

Mit ihm zu tun, in immer hellerm Glanz

Die Reizungen ihm vorzuspiegeln,

Die nur zu sehr die Seel in ihm beflügeln

Die unterm Zwerchfell thront.11 Ein großer Blumenkranz,[352]

Womit sie seine Stirne schmücket,

Vollendet was ihm fehlt, damit wer ihn erblicket,

Wie er den Zärtlichen und Angenehmen macht,

Fast überlaut ihm an die Nase lacht. [...]"

Fortsetzung (S.352ff.)

22 August 2023

Ernest Hemingway: Das kurze glückliche Leben des Francis Mancomber

  Francis Mancomber ist reich und hat eine schöne Frau geheiratet. Er hat aber das gut begründete Gefühl, dass er ihr nicht genügend imponiert. Andererseits ist sie inzwischen nicht mehr jung genug, um auf dem Heiratsmarkt besonders attraktiv zu sein. Sie wird ihn wohl nicht verlassen, aber sie wird mit ihm unzufrieden sein.

Deshalb geht er in Afrika auf Großwildjagd. 

Zitat:

"Es war jetzt Essenszeit, und sie saßen alle unter dem doppelten grünen Sonnendach des Speisezeltes und taten, als sei nichts passiert. ]...[ 

 Francis Mancomber war vor einer halben Stunde im Triumph auf den Armen und Schultern des Kochs, der Boys, des Abhäuters und der Träger vom Rand des Lagers zu seinem Zelt getragen worden. Die Gewehrträger hatten nicht an dieser Kundgebung teilgenommen. Als die eingeborenen Boys ihn am Eingang seines Zeltes niedersetzten, hatte er ihnen allen die Hand geschüttelt und ihre Glückwünsche entgegengenommen, war dann ins Zelt gegangen und hatte auf seinem Bett gesessen, bis seine Frau hereinkam. Sie sprach nicht mit ihm, als sie hereinkam, und er verließ das Zelt um sich draußen in dem tragbaren Waschgestell Gesicht und Hände zu waschen und um dann zum Speisezelt hinüberzugehen und sich auf einem bequemen Segeltuchstuhl in den leichten Wind und den Schatten zu setzen.

'Nun haben sie ihren Löwen', sagte Robert Wilson zu ihm, und einen verdammt guten dazu. 
Mrs.  Mancomber blickte rasch zu Wilson hinüber. Sie war eine außerordentlich hübsche und gepflegte Frau, deren Schönheit und gesellschaftliche Stellung vor fünf Jahren für die Anpreisung eines Schönheitsmittels, dass sie nie benutzt hatte – versehen mit ihrer signierten Fotografie –, mit 5000 Dollar bewertet worden war. Sie war seit elf Jahren mit Francis Mancomber verheiratet.
'Es ist ein guter Löwe, nicht wahr??' sagte Mancomber. Seine Frau blickte ihn jetzt an. Sie blickte beide Männer an, als ob sie sie nie vorher gesehen hätte.
Einen, nämlich Wilson, den weißen Jäger hatte sie bestimmt niemals zuvor gesehen. Er war etwa mittelgroß, hatte aschblondes Haar, einen borstigen Schnurrbart, ein sehr rotes Gesicht und außerordentlich kalte blaue Augen mit weißlichen Fältchen in den Winkeln, die sich komisch vertieften, wenn er lächelte. Er lächelte sie jetzt an, und sie blickte von seinem Gesicht weg auf seine Schultern, die sich unter der losen Jacke, die er trug, rundeten und auf die vier großen Patronen, die in Schlaufen stecken, wo die linke Brusttasche hätte sein sollen, auf seine großen braunen Hände, seine alte Hose, seine sehr schmutzigen Schaftstiefel und dann wieder auf sein rotes Gesicht. [...]" (S.7/8)

Später wird geschildert, dass Mancomber  den Löwen lieber vom Auto aus geschossen hätte, dass er von Wilson gedrängt worden war, auszusteigen, weil Großwidjäger nicht vom Auto aus schießen dürfen, dass er beim Schießen unsicher war und den Löwen nur schwer verletzte. Dass Wilson und er den Löwen im tiefen Gras suchen mussten, dass Mancomber  vor dem Löwen, als der auf ihr zukam,  floh, statt auf ihn zu schießen, dass Wilson ihn dann erschossen hat, dass die Gewehrträger Mancomber bei seiner Flucht beobachtet haben und dass Wilson sauer ist, dass er für so einen unfähigen und feigen Schützen arbeiten muss. Dass Mrs. Mancomber Wilson in der Nacht in seinem Zelt besucht, dass Mancomber sie Hure und sie ihn Feigling nennt.
Um die Scharte auszuwetzen, geht Mancomber  auf Büffeljagd. Wieder schießt er unzureichend, aber alle Büffel gehen zu Boden. 

Zitat:
"Mancomber verspürte ein wildes, unbändiges Glücksgefühl, das er nie zuvor gekannt hatte.
'Weiß Gott, das war eine Hatz!' sagte er. 'Ich habe nie zuvor so ein Gefühl gehabt. War es nicht wunderbar, Margot?'
'Ich fand es scheußlich.'
'Warum?'
'Ich fand es scheußlich', sagte sie bitter. 'Einfach widerwärtig.'
'Wissen Sie, ich glaube nicht, dass ich je wieder vor etwas Angst haben werde', sagte Mancomber zu Wilson. 'Etwas ging in mir vor, nachdem wir den Büffel zuerst sahen und hinter ihm her liefen. Wie ein Damm, der bricht. Es war nichts als Aufregung.'
'Sowas reinigt die Leber', sagte Wilson. 'Verdammt komische Sachen, die einem Menschen so passieren'.
Mancombers Gesicht strahlte. 'Wissen Sie, irgendetwas ist wirklich mit mir passiert', sagte er. 'Ich fühl mich völlig anders.'
Seine Frau sagte nichts und musterte ihn seltsam. [...]" (S.32-33)

Die Kurzgeschichte endet auf Seite 37. Sie ist gut erzählt, aber ich fühle mich unbefriedigt, will die Aussage nicht wahrhaben.