26 September 2008

Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Christian Krachts Roman "Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten" von der kommunistischen Schweiz im Dauerweltkrieg habe ich angefangen zu lesen.
Die Geliebte Favre, die nach der ersten Liebesszene durch eine Explosion zerfetzt wird; die Tretmine, auf die sich Uriel, der Zwerg/Engel stellt, um den Ich-Erzähler zu erlösen, die dauernde Kälte sind erste Eindrücke von einem Roman, der in mir zwar Bilder freisetzt, von dem ich mir aber noch kein Bild machen kann.
4.11. Auch nachdem ich den Romans zuende gelesen habe - inzwischen schon wieder einige Zeit her, kann ich sagen, dass ich den Autor zwar für begabt halte, aber nicht glaube, dass ich den Roman noch einmal lese oder dass ich darauf brenne, einen weiteren Roman von ihm zu lesen. Ich werde aber schon mit einigem Interesse verfolgen, was er noch schreibt, denn, wie gesagt, begabt und originell ist er.

sieh auch:
https://de.wikipedia.org/wiki/Tunguska-Ereignis

http://fontanefansschnipsel.blogspot.de/2018/05/ganz-kleiner-schnipsel-zu-kracht.html

 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/christian-krachts-poetikvorlesung-in-frankfurt-15604028.html

19 September 2008

Schnurre

In der Schattenfotograf erhebt sich Schnurre über das, was ich als Schulbuchniveau mit seinen Texten verbinde.
So zitiert er Bloch: "Nicht an der unersättlich sexuellen, sondern an der unersättlich erotischen Frau fällt der richtige Mann durch", und kommentiert: "Nur klingt 'durchfallen' eben doch noch recht milde nach Prüfung. Und eine Prüfung ist wiederholbar [...] die Chance sich neu zu stellen. Der Durchfall des sexuell gesteuerten Mannes [...] aber wiederholt sich ad infinitum und endet im chancenlosen Debakel von Frustration und Erschlaffung."
Das klingt so, als wäre es die Eigenschaft "des Mannes", sexuell gesteuert zu sein. Doch vorher steht: "Sex gilbt, Eros schlägt Wurzeln. Langsam beginne ich dahinterzukommen: Vater muß im Gegensatz zum Gros seiner Artgenossen, etwas von Erotik verstanden haben."

Oder "Zwei Schwerkranke im selben Zimmer"

16 September 2008

August Winnig: Arbeiter und Reich

Die Erzählung Arbeiter und Reich des ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten und völkischen Schriftstellers August Winnig (1937 im Teubner Verlag veröffentlicht) zeigt den Weg des proletarischen Helden Gotthold Grimm zu den Nationalsozialisten. Sie ist gegliedert in die Abschnitte Auf falscher Bahn und Die große Prüfung.

Zu den Helden der Erzählung, die in einer Kleinstadt im Mittelgebirge spielt, gehören der Rittmeister von Wehren, der als erster der Honoratioren der Stadt die Gefahr der Sozialdemokratie erkennt, der Küfer Gotthold Grimm, der den ersten erfolgreichen Streik der Steinbrucharbeiter organisiert, aber von der organisierten Sozialdemokratie abgestoßen wird, und als sein Gegenspieler der erfolgreiche sozialdemokratische Funktionär Jäger. Daneben werden als intelligente, aber für die Sache, für die sie eintreten, immer schädliche Figuren Juden genannt: der Industrielle, der praktische Maßnahmen zum Kampf gegen die Sozialdemokratie vorschlägt, die aber erfolglos bleiben; der Parteiredner, der aufhetzt, ohne sinnvolle Ziele zu zeigen; der Zeitungsredakteur, der nur scharfe Kritik üben, aber den Gefahren für die Partei nicht steuern kann.

Gotthold Grimm wird als der einsam für das Wohl der Arbeiter kämpfende Idealist dargestellt, Jäger dagegen als der Funktionär, der sich bald mit Fabrikherren und Honoratioren gut zu stellen weiß, aber um der Karriere willen stets die sozialdemokratischen Parolen vor sich her zu tragen weiß. Die Erkenntnisse, die Winnig seinem Helden eingibt, sind die Notwendigkeit des Imperialismus, weil Deutschland übervölkert sei und kein Raum mehr für den Bevölkerungszuwachs sei, die Notwendigkeit, den Krieg möglichst früh vom Zaun zu brechen, um diesen Lebensraum zu erwerben, schließlich die Notwendigkeit der Fortführung des Krieges und die Entlarvung des Sozialdemokraten, der die Novemberrevolution unterstützt.

Als Kernaussage der Erzählung kann man Gotthold Grimms Ausspruch werten: „Der Arbeiter ist in schlechter Hand, Juden regieren sein Denken, und Bonzen führen seine Dinge.“ (Die große Prüfung, S.57)

Gotthold Grimm ist leicht als sprechender Name zu erkennen. Gotthold steht für seine geistige Prägung durch den Pfarrer Hommel (vielleicht eine Anspielung auf den Hofprediger Emil Wilhelm Frommel, 1828-1896), Grimm für seinen energischen Einsatz für die Arbeiter und für sein Leiden an der Sozialdemokratie.

Die Erzählung, die wegen ihrer klischeehaften Charakterzeichnung und ihrer nur ungenügend durch Erzählelemente aufgelockerten Argumentation an sich literarisch wertlos ist, verdient Interesse, weil sie August Winnigs eigenen Weg vom Sozialdemokraten zum völkischen Schriftsteller und damit den Wechsel sozialdemokratischer Wähler zur NSDAP psychologisch nachvollziehbar macht.

In Winnigs Fall war die Abkehr von der Sozialdemokratie freilich von außen erzwungen, weil seine zwielichtige Haltung als ostpreußischer Oberpräsident im Kapp-Putsch zu seinem Ausschluss aus Partei und Gewerkschaft geführt hatte.

10 September 2008

Bruder und Schwester

"Sie litten alle unter der Angst, keine Zeit für alles zu haben, und wussten nicht, dass Zeit haben nichts anderes heißt, als keine Zeit für alles zu haben." - Der Mann ohne Eigenschaften, II, 40

"[...] am Hals rundete die Spannung des Vorgangs drei Falten, die schlank und lustig durch die klare Haut eilten wie drei Pfeile: die liebliche Körperlichkeit dieses Bilds, [...] schien ihren Rahmen verloren zu haben und ging so unvermittelt und unmittelbar in den Körper Ulrichs über, daß dieser seinen Platz verließ und [...]
Bis dahin hatte sich alles ebenso übermütig und scherzhaft abgespielt wie vieles zuvor [...] Aber als [...] sie sich in diesem Zustand wundersam besänftigt vorkam, [...] streifte sie auch noch den letzten Seidenfaden von Zwang ab, [...]. - Der Mann ohne Eigenschaften, II, 45, S.1082

Eine Seite pro Tag, das hielt Musil für die richtige Lesegeschwindigkeit bei seinem Mann ohne Eigenschaften. Ich habe durchschnittlich langsamer gelesen, doch haben sich inzwischen so viele Lesezeichen in meinem Exemplar angesammelt, dass ich sie langsam abbauen möchte, indem ich die Stellen, die mir beachtenswert erschienen, hier vorstelle. - Das wird noch weit langsamer vor sich gehen.

05 September 2008

Das gefangene Lächeln

„Das Wahre weiß man zu früh, fehlt nur, daß man darin lebt. Tut man es aber, so vergehen einem die Wahrheiten von selbst.“(S.123)

„Das Gegenteil wirklicher Erfahrungen sind wirkliche Erfahrungen.“ (S.151)

Angestrengte Wahrheiten stehen am Übergang des Flöchners (eines verantwortungsbeladenen Feuerwehrmanns) zum erfolgreichen Geschäftsmann.

Locker-beißende Ironie, die ein beängstigendes Licht auf das gegenwärtige Kandidatenrennen in den USA wirft, steht dazwischen.

God save America. Wer sonst könnte es retten?” (S.134)

Adolf Muschg
verbirgt auch in dieser Erzählung sein Bedürfnis nach psychologischem Tiefsinn nicht, aber die Tragödie schlägt aus der Halbkatastrophe um in ein Satyrspiel. Ein zu Besorgter, von moralischen Zwängen Zerdückter, der seine Befreiung als ägyptische Heuschrecke erlebt und damit dem Enkel den Weg in die Freiheit bahnt.

03 September 2008

Russlandfeldzug

Der Bericht über den Russlandfeldzug von 1812/13, aus dem auf diesem Blog wiederholt zitiert wurde, liegt jetzt als digitalisiertes Originalmanuskript bei Wikisource vor. Dort entsteht auch eine Edition des Textes, deren Wortlaut bei Abweichungen in jedem Fall der hier vorliegenden Fassung vorzuziehen ist.

Nachtrag von 2013:
Eine vergleichbare Quelle liegt seit November 2008 mit dem Tagebuch Ernst von Baumbachs zum Russlandfeldzug vor.

01 September 2008

Urlaubslektüre

R. Barraux: Die Geschichte der Dalai Lamas, 1993
J. Moltmann: Weiter Raum, 2007
O. Pamuk: Rot ist mein Name, 1998
D.F. Weinland: Rulaman, 1878
G. de Bruyn: Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende, Berlin 2001
Ruth Klüger: Unterwegs verloren, 2008