31 Oktober 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.18-20) Tod des Großvaters, Streit der Eltern, Krieg, Theater


Achtzehntes Kapitel
[...] Etwas unter einem leinenen Bettuch Verborgenes hatte für mich eine schauerliche Anziehungskraft. Man deckte es ab, und ich sah eine mir zunächst unverständliche Masse, die langsam durch einen Fuß, durch eine gelbe runzlige Hand, durch etwas Haupthaar und Ohr als menschliche Form zu erkennen war. Es waren die irdischen Reste meines Großvaters. Man hatte den Toten mit großen Blöcken Eises umlegt. Ich war nicht gerührt. Hätte meine Empfindung Ausdruck gefunden, vielleicht würde es durch ein befremdetes Kopfschütteln geschehen sein. Ich war wirklich ganz ein befremdetes Kopfschütteln. Die tote Masse, die da lag, zwischen Eisstücken – konnte sie mein Großvater sein und gewesen sein? Das war er gewesen, er, dessen stolze Gleichgültigkeit mich verletzt, dessen ganze Erscheinung mir aber doch Ehrfurcht erweckt hatte? Also das war unser aller Los! Man hatte wohl Grund, sich das gegenwärtig zu halten.   Die Stunden darauf vereinigten äußerste Aktivität im Spiel und verschwiegene Meditationen, wie denn vielleicht überhaupt Träumerei und Aktivität vielfach verbunden sind. Es gab einen rötlich gestrichenen hohen Karren mit zwei Rädern in unserm Hof. Ich bespannte ihn mit etwa acht Jungens zu vier und vier und stand, eine Peitsche schwingend, darauf. Ein Wirrsal von Zuckerschnüren ersetzte die Zügel. So rasten wir polternd über die Dorfstraße, rasten in den Posthof hinein, wo die Roßkastanien mit dem Gold ihrer Blätter den Boden verdeckt hatten und braune Früchte in Menge herumlagen. Dort beluden wir, von Sonnenschein und Herbstfrische belebt, unsern Karren mit Laub, um ich weiß nicht was damit auszurichten. Und nun rasten wir wieder dorthin, wo wir herkamen. Äußerlich war es für mich ein herrlicher Rausch. Im Innern jedoch hatte sich eine ungesuchte Erkenntnis wie ein Pfeil eingebohrt, ein Zustand, der sich nicht ändern konnte. Den Pfeil zu entfernen, die Wunde zu heilen, gab es keine Möglichkeit. Eigentlich zum erstenmal hatte ich den Gedanken des unabwendbaren Todes mit mir selbst in Verbindung gebracht. Du entrinnst, stelle dich, wie du willst, so sprach eine Stimme in mir, dem Ende deines hochmögenden Großvaters nicht: er reichte einer Zarin den Mundbecher, aber das rettete ihn keineswegs vor dem Schicksal, das eben das allgemeine ist. Schiebe es noch so lange hinaus, suche es noch so sehr zu vergessen, lenke dich tausendfältig in die Fülle und den Reichtum des Lebens ab: eines Tages wird es auch dir unabwendbare Gegenwart. Du kannst es keinem andern zuschieben, du mußt dabeisein, du ganz persönlich. Und wenn du auch hundert Jahre alt würdest, geht es am Ende nicht ohne dich. Du wirst atmen, leben und leben wollen wie jetzt, dann wird es heißen: leg weg, was du in Händen hast, ein Stück Brot, eine Handvoll Zuckerschnüre, oder was es auch immer sei, es ist aus, du mußt fort – mußt sterben. Und das Sterben wie das Leben wirst du hinnehmen müssen als Gegenwart. An meinem letzten Geburtstag, den ich vor wenigen Tagen gefeiert hatte, standen acht brennende Jahreslichter um den obligaten Streuselkuchen herum. Alles in diesen Blättern Erzählte lag hinter mir, ja unendlich viel mehr, was einigermaßen erschöpfend mitzuteilen Menschenkraft übersteigen würde. Durch fünf von diesen acht Jahren war ich gleichsam mit fliegendem Haar hindurchgestürmt, hatte gelacht, geweint, gerast, gelitten, gekämpft, und was noch sonst. Aber über alles siegte der innere, fließende Strom von Lebenslust. Unbequemes und Unangenehmes wurde mit einer Bewegung ähnlich der eines Fohlens, wenn es, die Mähne um sich werfend, eigensinnig davongaloppiert, abgeschüttelt.
Nun aber, seit Großvaters Tode, gelang dies mitunter so ganz nicht mehr. [...]
Mich mit den Angelegenheiten der Erwachsenen ernstlich zu beschäftigen, bestand bisher keine Notwendigkeit. Es war selbstverständlich, daß meine Eltern, menschliche Götter, in jeder Beziehung für mich sorgten. Zweifel an der gesicherten Macht und Kraft, aus der sie es taten und tun mußten, bestanden nicht. Auf dem Wege von Lohnig nach Striegau, in der Landkutsche, ging mir zum erstenmal meine Verbundenheit mit einer großen Volksgemeinschaft auf, von deren Wohl und Wehe mein eigenes nicht zu trennen war. Und mehr als das: nämlich so weit verbreitet, so zahlreich, so stark und wehrhaft diese Volksgemeinschaft war, sie war verletzlich, sie konnte in Frage gestellt, ja zerstört werden. Die gewohnheitsmäßigen, fortlaufenden Knabensorgen störten mich nicht, sie gehörten zu meiner Persönlichkeit. Nun aber wurde ich in die allgemeine Sorge um Volk und Vaterland hineingezogen, und etwas mir bisher ganz Fernes und Fremdes belastete mich. Diese befremdlichen Düsternisse im Raume meines Gemüts wurden bald vom Fanfarengeschmetter der Siege aufgelöst. Feuerwerke, Raketen, Leuchtkugeln, Sonnen stiegen immerwährend, sogar am hellichten Tage, empor, als gälte es, der natürlichen Sonne am Himmel den Rang abzulaufen. Jetzt aber, nach dem Tode des Großvaters, erwies sich ein anderer Boden, dessen unantastbare Festigkeit ich als selbstverständlich vorausgesetzt hatte, als nicht ganz so fest und nicht ganz so tragfähig. Und ich sah mich abermals gezwungen, fremde Angelegenheiten, solche erwachsener Menschen, meiner eigenen Eltern sogar, in gewissem Betracht zu den meinen zu machen. Vom Begräbnis des Großvaters weiß ich nichts, verständigermaßen wurde ich ganz und gar davon ferngehalten. Auch weinte sich meine Mutter nicht vor uns Kindern aus. Dann kam die Eröffnung des Testaments, von der wir erfuhren und über die wir Geschwister uns allerlei spannende Dinge zutuschelten. Wir fühlten bald, daß zugleich zwischen Vater und Mutter eine Spannung eingetreten war, die sich bei meinem Vater als Zurückhaltung, ja als Kälte äußerte. Er verabscheute Heuchelei. Die Trauer aber um den alten, steifen, unversöhnlichen Schwiegervater kann bei ihm nicht sehr tief gewesen sein.   Der Eröffnung des Testaments beizuwohnen, hatte mein Vater, wie ich im Nebenzimmer hören konnte, erregt und beinahe mit Verachtung abgelehnt, worauf meine Mutter weinend allerlei, was ich nicht verstehen konnte, antwortete. Es fielen Ausdrücke wie Leichenfledderei, die der Krieg populär gemacht hatte. Er treibe sie nicht, so sagte mein Vater, er entwürdige sich nicht durch Leichenfledderei. Kurz, meine Mutter mußte allein gehen, da sie doch ihre Interessen nicht unvertreten lassen konnte. Ich verhielt mich mäuschenstill in der Vier, als die Mutter am späten Nachmittag aus dem Dachrödenshof zurückkehrte und in der Drei auf den Vater traf. Sie hatte ihm, wie sie uns später einmal erzählte, eine Schürze voll Gold im Werte von tausend Talern nicht ohne einige Freude und einigen Stolz mitgebracht. Ich hörte zunächst, wie mein Vater äußerst erregt die Worte »Behaltet euch euren Mammon!« der Mutter entgegenschleuderte, und dann das Fallen, Klingen und Rollen von Geld.
Ich weiß nicht, was meine Mutter, verwundet und verletzt, wie sie sein mußte, geantwortet hat, sie muß aber auch bei ihm eine wunde Stelle berührt haben. Vielleicht schob sie ihm unter, daß ihm die Summe zu gering wäre.
Jedenfalls brach die Entrüstung meines Vaters ungehemmt und in einer nie gehörten Weise aus, die mich zittern machte. Man fühlte, wie sich jahrzehntelang verletzter Stolz aufbäumte und in Machtlosigkeit der Empörung überschlug. Eine unüberbrückbare Kluft zwischen meiner Mutter und meinem Vater tat sich auf, von deren Vorhandensein in meine glückliche Daseinsform kaum der Schatten einer Vermutung gefallen war. Das Ganze war in einer langen Reihe von Punkten eine Anklage gegen die Familie meiner Mutter. Hauptsächlich warf er ihr Hochmut, Dünkel in jeder Form, Herzenskälte und was nicht noch alles vor. Am Ende des sich furchtbar steigernden Wortwechsels brach meine Mutter wieder in Tränen aus. Weinend warf sie dem Vater vor, er habe ihr vor der Hochzeit fest versprochen, den Gasthof zur Krone binnen höchstens zwei Jahren zu verkaufen. Er habe dieses Versprechen nicht eingelöst und sie diesem Moloch geopfert. Sie hasse das Haus, sie verfluche das Haus. Sie habe ihren Abscheu vor dem ganzen Gasthauswesen klar und deutlich ohne jeden Rückhalt ihm immer und lange vor der Ehe zum Ausdruck gebracht. Sie habe es sich aber lange nicht schlimm genug gedacht, es sei alles noch sehr viel schlimmer gekommen. Es habe ihre Liebe zerstört, ihre Ehe zerstört. Das wolle heißen: ihr Glück zerstört. »Oder«, fuhr sie dann immer weinend fort, »willst du behaupten, daß ein Familienleben in diesem Marterkasten möglich ist? Im Sommer stecke ich die Nase nicht aus der Küche heraus; sehe ich dich oder höre ich dich, ist es höchstens, wenn du mich oder jemand anders runterkanzelst. Du machst im Büro oder Salon den vornehmen Mann, und ich, angezogen wie eine Schlumpe, schäle in der Küche Kartoffeln oder pelle Schoten aus. Und wenn ich auf Ordnung halten will und die Leute, voran der Chef, mich angrobsen, gibst du nicht mir, sondern ihnen recht. Du speisest im Saal, Gerhart und Carl kriegen ihre Teller voll Essen in der Büfettstube. Ich sehe den ganzen Sommer keinen gedeckten Tisch« – meine Schwester Johanna war damals in einem Pensionat, mein Bruder Georg in Bunzlau auf der Realschule – »und im Winter ist es wie eben jetzt. Man hat sich den Sommer hindurch nicht einen Augenblick Ruhe gegönnt, bei dreißig Grad Hitze unter dem Glasdach der Küche halb tot geschunden, damit man im Winter schlaflose Nächte in Sorgen und Ängsten hat. Du sitzt mit Gustav im Büro, ihr schreibt, ihr rechnet, ihr rechnet und schreibt, und wenn ihr noch so sehr rechnet und schreibt, ihr rechnet und schreibt die Schulden, die uns drücken, nicht weg und könnt die fälligen Zinsen nicht aufbringen. Dann nimmst du verstimmt mit mir und den Kindern dein bißchen Abendbrot und gehst mit Gustav in die Schenkstube. Du brauchst Zerstreuung, wie du sagst, ich bleibe allein in dem großen, zugigen, kalten Haus und mag sehen, wie ich mich mit meinen Gedanken, meinen Sorgen, meinen berechtigten Zukunftsängsten abfinde. Wenn du mich wenigstens einweihtest, aber du schweigst, du sagst mir nichts. Ich will deine Sorgen mit dir tragen, das Leben würde für mich viel leichter sein.« [...]

Neunzehntes Kapitel
»Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall!« sangen wir auf der Straße. Und überhaupt schwelgten wir Jungens in nationaler Begeisterung. Einen Spielkameraden hatten wir schon zu Anfang des Krieges rücksichtslos als Franzosen verfolgt, weil er mit einer Stürmermütze erschienen war, die an die Kopfbedeckung der Rothosen erinnerte. Wir kannten ihn und die Eltern des Jungen genau, wußten, daß es ein ebensoguter Deutscher war wie wir andern. Wir stießen ihn trotzdem einstimmig aus und verfolgten ihn, wo er auftauchte. [...]
Die Bismarckverehrung meines Vaters selbst war rückhaltlos, hatte er doch seine eigenen, vielfach zurückgestellten und verborgen gehaltenen Ideale von 1848 verwirklicht. Es lag aber auch ein Sieg des Gasthofs zur Preußischen Krone über den Dachrödenshof darin, der, inbegriffen den Oberamtmann Gustav Schubert auf Lohnig, die neue Zeit nicht von Herzen begrüßen konnte. Hie Bismarck, Deutsches Reich und deutscher Reichstag obendrein, dort Enge, Partikularismus, Konservativismus, kurz Dachrödenshof. In Bismarcks Größe und Erfolg lag meines Vaters Erfolg, Sieg und Rechtfertigung. [...]
Für Deutschland hatte die Kaiserkrönung in Versailles den Wert eines Schöpfungsakts. Es kam über unser Volk ein Bewußtsein von sich selbst. Es hatte sich selbst sich selber bewiesen, denn es hatte eine Reihe großer Männer, mit Bismarck an der Spitze, hervorgebracht, auf denen die Augen der Welt mit Staunen und Grauen, vor allem jedoch mit Bewunderung ruhten. Der Stolz auf sie, auf ihre Siege, die Siege des Volkes, teilte sich jedem, auch mir kleinem Jungen, mit, und ich stand nicht an, meinem Blute einen Anteil, ein Mitverdienst an solchen Erfolgen zuzuschreiben. Es hatte das durchaus nichts mit dem Zupfen der Scharpie zu tun, eines Verbandstoffes für die Verwundeten, das ich unter der Aufsicht meiner Mutter in Gemeinschaft der sonstigen Hausgenossen geübt hatte. Jedermann ahnte die nun kommende, ungeheure deutsche Aufschwungzeit, wenn er auch das Gnadengeschenk des kommenden, mehr als vierzigjährigen Friedens nicht voraussehen konnte. [...]

Zwanzigstes Kapitel 
In der Festlichkeit dieses Frühjahrs und Frühsommers geschah alles Wiederbegegnen auf neue Art. So das im Stall mit einem feurigen Rotschimmel, den mein Vater bei Beginn des Krieges hatte hergeben müssen. Er war aus dem Todesritt der Brigade Bredow, Ulanen und Kürassiere, bei Vionville/ Mars-la-Tour lebend hervorgegangen und wieder in unsern Stall gelangt. Er war für mich nun kein bloßes Pferd, sondern höchstens das eines Gottes oder eines Sankt Georgs, von heldischem Heroismus umwittert. Und besonders die Bilder im Großen Saal gewannen durch die allgemeine Festlichkeit an Festlichkeit. »Er blickt hinauf in Himmelsaun, wo Heldenväter niederschaun.« Die liebliche Raffaelische Madonna Sixtina gehörte ja dorthin. Und in dem andern Bilde, der großen Kreuzabnahme von Rembrandt van Rijn, stellte sich mir irgend etwas von göttlich-menschlichem Opfertode des Krieges dar, dem ich minutenlang nachhängen konnte. Eines Tages war dann die Kurkapelle aufgezogen und weckte mich zum ersten Male wieder um sieben Uhr früh mit ihrem Choral. Der Krause-Omnibus holte Menschen von der Bahnstation und schüttete sie im Hofe der Krone aus. Andere, nämlich die reicheren Leute, benützten Droschken und Lohnwagen. Nicht so sehr die von Osten kommenden als die von Nordosten, Norden, Nordwesten und Westen her eintreffenden Gäste waren erfüllt von dem neuen Geist, womöglich stärker erfüllt als wir. Meine Mutter war und blieb Dachrödenshof. Nicht, daß sie irgendwie meinen oder irgendeinen Enthusiasmus gestört hätte, sie sah und hörte nur lächelnd zu. Sie stand noch immer, wenig berührt, in der alten Zeit und sah in der neuen etwas, das einen gesicherten, stillen Verlauf des Lebens durch einen dramatischen ersetzte, dessen Ende nicht abzusehen war. [...]
Meine Mutter konnte nicht um Geld bitten, was überhaupt immer eine peinliche Sache ist. Sie erzog sich lieber zu einer fast sträflichen Anspruchslosigkeit. Nach der Erbschaft jedoch wurde ihr von meinem Vater der Erlös aus dem Verkauf des ausgekochten Suppenfleisches zugebilligt. In Würfel geschnitten, wurde es von meiner Mutter an arme Leute für ein Geringes weggegeben. Das solchermaßen verdiente Taschengeld meiner Mutter eröffnete ihr und mir wieder und wieder das Kurtheater. Ob sie im Todesjahr ihres Vaters hineingegangen ist, weiß ich nicht, ich möchte es aber für möglich halten, da sie Äußerlichkeiten, also zur Schau getragener Trauer, abhold war, und außerdem trieb sie, wenn sie ins Theater ging, einen ihrer Mutter geltenden Erinnerungskult: sie war eine geborene Stentzel, diese Mutter, in Breslau gebürtig und von Kind an auferzogen im Hause eines Fräuleins von Stutterheim. Vieles wurde von ihr erzählt und ihrer Theaterleidenschaft, besonders in einer Zeit, wo das Theater in Breslau florierte und alle Welt aus der Provinz tagelange Wagenfahrten nicht scheute, um einer Vorstellung beizuwohnen. Meine Großmutter Straehler muß eine freie, lebenslustige und keineswegs frömmelnde Persönlichkeit gewesen sein. Ein kluger, weltlicher, reger Geist mag bei ihr überwogen haben. »Die schöne Galathea«, im Sperrsitz neben meiner Mutter genossen, machte einen großen Eindruck auf mich: ein phantastisches Bildwerk, ein Weib, in das sich sein Meister verliebt, das lebendig wird und das er verzweifelt wieder zerschlägt, weil es ihn durch Untreue unglücklich macht. Vielleicht geht meine spätere Liebe zur Plastik in etwas auf dieses Werk von Suppé zurück. [...]

30 Oktober 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.15-17), Vater

Fünfzehntes Kapitel
Mein Vater war Jäger, hatte selbst eine Jagd gepachtet und wurde vielfach, so auch von der fürstlich-plessischen Jägerei, zu Jagden geladen. Seine Heldentaten, die ich ihn selbst nicht erzählen hörte, belebten immer aufs neue den Familienstolz. [...]
Ein Rätsel ist mir bis heut meines Vaters pädagogische Fähigkeit. Hätte er sie mir regelmäßig und dauernd zugewendet, die Anfangsgründe meiner Bildung wären solider ausgefallen. So lehrte er mich zum Beispiel durch eine kurze, einleuchtende Erörterung die Zeit von der Uhr ablesen, und so fort. Eines Tages war ich verzweifelt, weil ich als der Kleinste eine Schlittenpartie zu Onkel Adolf nach Görbersdorf wieder einmal nicht mitmachen sollte. Ich ließ mich empört über diese Zurücksetzung und überhaupt meine Lage als Jüngster aus. »Gerhart«, sagte mein Vater, »sei ruhig, wir wollen uns schon amüsieren auf unsere Art!« Worin bestand dieses Amüsement? Wir saßen ein Stündchen in der Vier, und am Ende eines Geplauders, das mir Aufmerksamkeit und Spannung abnötigte, sagte ich Schillers Ballade »Der Taucher« von Anfang bis Ende her und habe sie bis heut im Kopfe behalten.  [...]
Groß war der Respekt, den mein Vater als Leiter des Gasthofs bei den Angestellten genoß, man darf sogar von der Furcht des Herrn reden, die überall von Kutscherstube zu Küche, von dort zu den Sälen und Zimmern vorhanden war. Hielt er seinen Nachmittagsschlaf, so trat eine Atempause ein. Aber alles war sogleich elektrisiert bei dem energischen Klingelzeichen aus seinem Zimmer, das sein Wiedererwachtsein ankündigte. Seine Reserviertheit war den meisten Hotelgästen unheimlich. In der Tat besaß er nichts von der so vielen Gasthofbesitzern eigenen liebenswürdig-unterwürfigen Wesenheit, sondern trat selbst den Salzbrunn besuchenden hohen Persönlichkeiten nicht anders als gleich und gleich gegenüber. [...]

Sechzehntes Kapitel
Doktor Straehler, ein Vetter meiner Mutter, dessen Vater also der Bruder meines Großvaters Straehler war, bewohnte im Grünen, nicht fern von uns, ein selbstgebautes hübsches Haus, das er seltsamerweise Zum Kometen genannt hatte. [...]
Ich könnte nicht sagen, wie es mit seinem ärztlichen Wissen beschaffen gewesen ist, aber er war ein schöner und eleganter Mann, der schönste vielleicht unter den Badeärzten. In seinem Hause herrschte, von meiner Tante Straehler ausgehend, eine beinah schemenhafte, kühle Gütigkeit. Die Natur meines Onkels war voll guter Laune und Lebenslust. Beides in seinen vier Wänden auszutoben, hatte er keine Gelegenheit, nicht weil es ihm seine Gattin verbot, sondern weil er es um ihretwillen sich selbst versagte. Anders war dies in unserm Kreise, wo Vater und Mutter seinen Humoren alles Verständnis entgegenbrachten und sich von ihnen belebt fühlten. Diesem Onkel, der wie mein Großvater mit dem Vornamen Hermann hieß, konnte man anmerken, daß er sich wohlfühlte. Man verzieh dem eleganten und schönen Mann, wenn er selbst in Gesellschaft von vornehmen Damen gelegentlich Schwarz schwarz, Weiß weiß und gewisse physiologische Funktionen mit lutherisch-deutschen Kernworten nannte. Mit einem liebenswürdigen Lachen der Unschuld wurden desfalls erteilte Rügen von ihm überhört. [...]

Siebzehntes Kapitel
Freuden, die uns mein Vater machen wollte, liebte er durch Überraschung zu steigern. Einst wurden mir – es war im beginnenden Herbst – allerlei neue Kleider, Schuhe, Mützen und dergleichen anprobiert. Mein Vater sagte, was meine Mutter lächelnd bestätigte, daß ein Knabe in Bremen, der ganz genau meine Figur habe, alle diese schönen Hosen, Westen, Jacken, Mützen und Schuhe bekommen solle. Sein Vater habe darum gebeten, weil der Zwerg, Meister Leo, der beste und billigste unter den Schneidern sei. Als meine Tätigkeit im Dienste des Bremer Kaufmannssöhnchens beendet war, holte man mich eines Tages aus der Schule. Man sagte mir heiter, daß alle die angeblich für den Bremer angefertigten Sachen mein wären und daß ich sogleich eine Badereise mit meinem Vater antreten würde. Das versetzte mich nach meiner angeborenen Art, als ich es ganz begriffen hatte, in einen kleinen Koller von Glückseligkeit. Die Reise fand dann auch wirklich statt. Ich durfte die Schule hinter mir lassen, was allein schon ein Glück bedeutete. Im übrigen wußte ich schon von der Reise nach Breslau, wie durchweg heiter und angenehm ein solches Unternehmen in der Gesellschaft des Vaters sein konnte. Er selber schien bei solchen Gelegenheiten ein anderer Mensch geworden zu sein. Wir fuhren bis nach der altertümlich-reizvollen Bergstadt Hirschberg auf der Eisenbahn und von dort nach dem Bade Warmbrunn am Fuße des Riesengebirges mit einem wackligen Omnibus, der damals noch Journalière genannt wurde. Mein Vater suchte eines rheumatischen Leidens wegen die heißen Quellen von Warmbrunn auf, und mir waren sie ebenfalls verordnet, obgleich mein Flechtenleiden nur manchmal noch aufflackerte. Drei Wochen war ich mit meinem Vater allein. Früh, nach dem gemeinsamen Bad, nahmen wir in der Villa Jungnitz, wo wir wohnten, das erste Frühstück ein, wobei ich nach Herzenslust in dick mit Butter bestrichene Hörnchen beißen durfte. Nachdem wir uns eine Weile ausgeruht, begannen wir unsere tägliche Wanderung. Ich bewies dabei Zähigkeit und Ausdauer, denn ich hatte mich ja dafür in den wilden Spielen mit meinen Straßenjungen hinreichend tauglich gemacht. Einigemal aber wurde doch das Ziel allzu weit gesteckt, so daß meine Kräfte, wenn nicht versagten, so doch Schonung verlangten. [...]
Ein Bedürfnis nach irgendeiner andern Gesellschaft als der meinen hatte mein Vater nicht, ein Beweis, wie sehr ihn eine Sommersaison in Salzbrunn mit ihrer Verpflichtung, sich tausendfach im Umgang mit Menschen und wieder Menschen abzumüden, damit übersättigt hatte. [...]
Anna Jungnitz, die Tochter unsrer Wirte freilich, ein schönes, achtzehnjähriges Bürgermädchen, das seiner Hochzeit entgegensah, bildete eine erfreuliche Ausnahme. Ich fühlte, mein Vater huldigte ihr, und ich selber genoß das Glück ihrer Neigung, die sie mir, als einem Kinde, durch allerlei Zärtlichkeiten erweisen durfte. [...]
Die schöne Episode ging in ein wundervolles, aber ganz andersartiges, lautes Finale aus. Es wurde wiederum auf Grund der Liebhaberei meines Vaters durch eine Überraschung eingeleitet. Für mich eine Überrumpelung, und zwar eine, wie ich sie ähnlich wirkungsvoll in meinem Dasein nicht wieder erlebt habe. Die neuen, mächtigen Eindrücke aus dieser landschaftlich die Salzbrunner Gegend weit überbietenden Natur, verbunden bei immer köstlichem Wetter mit einem stillen, mich liebevoll umhegenden heiteren Sein, hatten mich Salzbrunn beinahe vergessen lassen. Wäre es damals wirklich versunken, es hätte nicht können versunkener sein. Ich weiß nicht, wann ich die Mutter, meine Geschwister, mein Wildlingsleben, den Gasthof zur Preußischen Krone und was noch sonst – und ob ich das alles überhaupt je vermißt hätte. In einem Sinne war es versunken, in einem andern ferngerückt; denn Eisenbahnfahrt über eine lange Kette von Stationen, endlich die Fahrt auf der Journalière hatten eine nach meinen Begriffen ungeheure Entfernung zwischen mich und Salzbrunn gelegt. Wir hatten gebadet, wir hatten gefrühstückt, es war ein Tag wie alle Tage. Mein Vater schlug eine Wanderung nach Fischbach oder Buchwald vor. Ich konnte auch andere Wünsche äußern, die mit der gleichen Achtung wie von einem Erwachsenen entgegengenommen und diskutiert wurden. Es blieb bei Buchwald, weil uns die Seen und berühmten Parkanlagen anzogen. Wenigstens machte alles auf mich den Eindruck, als ob wir uns aus keinem andern Grund für dieses Ziel entschieden hätten. Unweit Buchwald saß eine alte Tiroler Bäuerin, Emigrantin aus Zillertal, vor ihrem nach Tiroler Muster sauber erbauten Haus, und mein Vater fragte sie nach dem Wege. In Tiroler Mundart gab sie Bescheid, wobei sie meinen Vater mit du anredete, was für mich bei der Gegensätzlichkeit beider Gestalten eine höchst befremdliche Überraschung war. Der Umstand wurde dann zwischen Vater und mir sehr belacht, und so waren wir, von der Alten richtig gewiesen, in eine Allee hinter dem Buchwalder Schloß gelangt, wo mein Vater hinwollte. Einige Schritte erst hatten wir in dieser Allee zurückgelegt, als in ihrer sich mehr und mehr verjüngenden Tiefe ein Punkt erschien, in dem meine scharfen Augen einen Wagen mit zwei Pferden davor erkannten. Mein Vater, der ja kurzsichtig war, wollte wissen, wie der Wagen aussähe, was ich ihm aber genau nicht sagen konnte, da selbst für meine Augen die Entfernung zu groß war. Jedenfalls kam der Wagen auf uns zu, und man hatte ja dann Gelegenheit, sich über die Art des Gefährtes klarzuwerden. Nach zwei Minuten konnte ich meinem Vater versichern, daß es sich um eine recht elegante Equipage handelte, einen der damals neuen Landauer. Der Kutscher auf dem Bock trug Livree, und jemand, ein Diener höchstwahrscheinlich, saß in steifer Haltung neben ihm. Es lag nah, an den Grafen X., den Besitzer von Buchwald, zu denken, da die schöne, mit alten Bäumen umsäumte herrschaftliche Zufahrt eine private war. Kaum hatte ich dies bei mir selbst gedacht, als mein Vater mit einer gewissen Hast ebenderselben Meinung Ausdruck gab. »Gerhart«, hieß es, »raff dich zusammen, geh grade und grüße, wenn der Wagen vorbeifährt, es ist Graf X., und wir sind hier auf seinem Grund und Boden.« Das sah ich ein. Und als nun mein Vater noch das bei ihm übliche kurze Kommando »Brust raus, Bauch rein!« ertönen ließ, schritt ich, als ob ich einen Ladestock verschluckt hätte, neben ihm.
Inzwischen, als die Equipage mit zwei lebhaften Pferden näher und näher kam, wurde mir etwas an diesem Gefährt auf eine Weise, die ich mir nicht erklären konnte, wundersam. Das Befremden lag nun aber wieder darin, daß mir etwas daran bekannt erscheinen wollte. In diesem Augenblick wußte ich noch nicht, daß ich im nächsten den glücklichsten meiner Jugend erleben sollte: schon aber fing er sich im Dunkeln zu regen, zu grauen, zu dämmern und in einer plötzlichen Bestürzung übergrell blendend zu leuchten an. Und so, als ob man mit einem Blick mitten in die Sonne erblindete und aus dieser Blindheit trete ein gottgesandter Engel hervor, so sah ich plötzlich den Diener neben dem Kutscher in meinen ältesten Bruder Georg verwandelt, erkannte aber unseren eigenen Kutscher Friedrich immer noch nicht, unsere Pferde und unsern Wagen ebensowenig, bis ich, das Innere des offenen Landauers überblickend, immer noch meinen Augen nicht traute, als ich im Fond meine Mutter, meine Schwester Johanna und meinen Bruder Carl sitzen sah.
Es hätte damals wirklich nicht viel gefehlt, und ich wäre vor Freude närrisch geworden. Niemals hatte mich, wie erwähnt, Heimweh geplagt. Weder nach Mutter noch Geschwistern hatte ich Sehnsucht empfunden. Aber nun, wie ich mich selbst noch ganz genau zu erinnern vermag und wie Erzählungen in der Familie wieder und wieder bestätigten, sprang ich immer nur mit beiden Beinen in die Luft und war eine Viertelstunde lang nicht zu beruhigen.
Der psychische Prozeß dieser Überraschung ist mit all seinem Drum und Dran in mein Inneres geprägt und noch heute wieder hervorzurufen. Er hat mir, wo es Überraschungen darzustellen galt, immer die gleichen guten Dienste geleistet. 
Vielleicht waren die nun folgenden vier oder fünf Tage die am meisten harmonischen und die glücklichsten, die der Familie je beschieden gewesen sind.
Wir machten Fahrten statt Fußwanderungen, da wir ja nun unsere Equipage hatten, unter anderm auch nach der Josephinenhütte in Schreiberhau, wo mehrere Glasöfen in Betrieb waren und man die Glasbläser beobachten konnte. Wie wir Knaben an Strohhalmen unsere Seifenblasen, so bliesen sie durch metallene Röhren die in Weißglut brennenden Glasmassen auf und gestalteten sie zu allerlei Formen. 
Wenn ich von diesem Eindruck absehe, der sehr tief und nachhaltig war, blieb mir aus diesen Tagen wenig zurück. Gewiß, sie waren von ungetrübter Heiterkeit, außer daß ich allmählich begriff, die beste Zeit war trotzdem vorüber. Das innige Einvernehmen mit meinem Vater hatte sich in ein allgemeines verflacht, bei dem ich zwar ausgezeichnet und verwöhnt wurde, das mir aber den Vater und Freund eben doch entfremdete. Bei alledem hatte ich meinen unterbrochenen dionysischen Rausch wieder aufgenommen, war wiederum Chingachgook, siegte in allen Wettrennen mit dem Steppenroß, war wiederum Wildtöter, Affe, Singvogel und führte morgens beim ersten Frühstück, wo mitunter die ganze Familie ein Geist des Übermuts ergriff, Solotänze aus, eine Kunst, von der nur meine Schwester gewußt hatte. Ich hatte mir eine Art Nijinski-Tanz selbst ausgedacht, oder besser: er war als instinktives Bedürfnis aus mir hervorgetreten. Dabei bewegte ich mich in rasanten Fußwirbeln, Sprüngen und dergleichen, wie ich glaube, mit ungewöhnlicher Vielfalt und Leichtigkeit. [...]
Aus einer zweiten Badereise im Jahr darauf, die mich und den Vater nach Teplitz führte, würde, was unsre psychische Verfassung anlangt, nur eben das gleiche zu berichten sein. Ein Punkt vielleicht ist nicht ganz bedeutungslos, um als neu und besonders erwähnt zu werden, wenn man die Folgen durch ein ganzes Leben ins Auge faßt. Mein Vater gewöhnte mich ans Biertrinken. Dem schönen böhmischen Bier, besonders dem aus Pilsen, ist die Schuld daran beizumessen. Überall wurde es serviert. Es leuchtete allzu freundlich kristallen-hell, schmeckte allzu edel und rein, um sich als ungesund zu erweisen. Am dritten Tage verlangte ich schon mit Ungeduld, was mir am ersten noch widerstanden hatte. So kam es, daß neben Vaters vollem Glas immer das meine, ein ebenso großes, stand. Der Eigensinn meines Vaters ging darauf hinaus, mich auch gegen den Alkohol beizeiten fest zu machen. Daraufhin sprach ihn eines Abends im Restaurant, wo wir saßen, ein Fremder an. Ob es für mich kleinen Knaben wohl gut sein könne, ein ganzes Glas Bier zu trinken. Ja, sagte mein Vater, ich wäre ein etwas blutarmes Kind, und dieses Gemisch von Malz, Hopfen und Alkohol sei als Medizin zu betrachten. Der Fremde schwieg und zuckte die Achseln. Mein Vater war ein zu streng aussehender, ernster Mann und benahm ihm den Mut, sich nach einer solchen Erklärung noch mit ihm einzulassen.
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

29 Oktober 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.12-14), Zaubern, Fliegen, Theater, Hamlet, Vater

Zwölftes Kapitel 
Nicht nur durch das Taubensuchen, sondern auch durch die altüberkommenen Sitten mancher Jahrestage erweiterten sich mit meiner Kenntnis des Orts die der Bewohner, die der Menschen im allgemeinen und meine Kenntnisse überhaupt. Vier Tage vor Ostern, am Gründonnerstag, war die ganze Jugend Ober-, Mittel- und Niedersalzbrunns in Bewegung. In kleinen oder größeren Scharen zogen sie, Bettelsäcke umgehängt, von Gehöft zu Gehöft, von Haus zu Haus um durch einen überaus kurzen Gesang Gaben von den Bewohnern herauszulocken. Das unisono gesungene Liedchen hieß im Dialekt: »Sein Se gebata, sein Se gebata im a grina Donstig.« Hochdeutsch: »Seien Sie gebeten um den Gründonnerstag.« Noch allgemeiner war am sogenannten Sommersonntag das bettelnde Herumziehen. Die hierbei gesungenen Lieder waren etwas umfangreicher, und eines lautete: Ich bin a kleener Pummer, ich kumme zum Summer, lußt mich ni zu lange stiehn, ich muß a Häusla weiter giehn. Noch an ein zweites erinnere ich mich: Rote Rosen, rote Rosen bliehn uf eeem Stengel. Der Herr ist scheen, der Herr ist scheen, de Frau is wie a Engel. Der Herr, der hat 'ne huche Mitze, er hat se voll Dukaten sitze, er werd sich woll bedenken, zum Summer uns was schenken. Ich und auch Carl schlossen uns, von den Eltern ungehindert, meist jeder einer andern Gruppe an und zogen stundenlang mit. [...]
Am Robinson und am Lederstrumpf, wie schon gesagt, habe ich lesen gelernt. Dagegen ist mein Ehrgeiz durch eine Geschichte, »Das Steppenroß«, besonders entfacht worden. Ich nahm dieses schnellste der Rosse in meine Träume auf, bestieg es selbst und besiegte damit alle Renner der Erde. Ob es damals in Deutschland Pferderennen gegeben hat, weiß ich nicht. Einst brachte jedoch mein Vater ein Spiel nach Hause, wo in Blei gegossene Reiter, ventre à terre, bemalte Jockeis auf Rennpferden, auf eine als Rennplatz graduierte Karte gestellt wurden. Nach der Entscheidung von Würfen aus dem Würfelbecher wurde mit ihnen vorgerückt. Ein nie gesehenes Schauspiel war mir dadurch nahegebracht und meine Vorstellungswelt bereichert. Motive aller Art schoben sich durcheinander und ineinander – unmöglich, ihre Fülle aufzuzählen. Man darf immer wieder voraussetzen, daß ich ein Wildling war, zwar heimlich von meinen Eltern gelenkt und geführt, aber von dem naturgegebenen Wunsch dauernd beseelt, nichts von der Ursprungswesenheit aufzugeben. Selbst scheinbar im Schlepptau von Carl, verfolgte ich immer noch eigenste Wege. Die großen Rundflüge der Tauben im Blau, ihre blitzenden Schwenkungen machten mich unzufrieden mit meiner Erdgebundenheit. Ein Zauberkasten mit Zauberstab, den ich geschenkt erhalten hatte, Erzählungen von Hexen und Hexern, die das Geheimnis besaßen, wie man durch die Luft fliegen kann, brachten mich auf das Flugproblem und seine möglichen Lösungen. Besonders da ich immer wieder des Nachts im Traum mich in Gegenwart aller ohne alle Schwere und Schwierigkeit in die Luft erhob mit einem so überzeugenden Empfinden von vertikaler Beherrschung des Raums, daß ich an eine Vergangenheit, ein Vorleben denken mußte, wo mir diese Bewegung ohne Schwere natürlich gewesen war. An ein Vorleben dachte ich oft. Wie vielen, war mir gelegentlich so zumut, als ob ich alles mit und um den Gasthof zur Krone, mit und um meine Geschwister, Salzbrunn und seine Heilquellen schon einmal in der Tiefe der Zeiten Punkt für Punkt genau erlebt hätte. Das war nun der Gedanke einer ewigen Wiederkunft, den ich auch später naiverweise im Sinne des Lucretius Carus und seiner beschränkten Zahl von Atomen und ihren möglichen Kombinationen gedacht habe. Der Zauberkasten machte mich vorübergehend zum Scharlatan. Ich übertrug die Versuche, Wunder mit dem Nimbus eines Zauberers vorzutäuschen, in mein Leben auf der Straße. Folgendes Stückchen, das ich vergessen hatte, wurde von Onkel Gustav Schubert auf Rittergut Lohnig beobachtet und mir später nicht ohne herzliches Vergnügen wiedererzählt. Der Vorgang hatte sich, wie ich mich selbst entsinne, so abgespielt: Eine kleine Armee von Hofekindern wurde von Vetter Georg, der gewöhnlich mein Feldwebel war, und mir zu allerhand militärischen Aufzügen und sonstigen Übungen angeleitet und angeführt. Lebte man doch seit 1866 merklich zugleich in einer Nachkriegszeit und Vorkriegszeit. So vermehrte sich an jedem Geburtstag und jedem Weihnachten meine österreichisch-preußische Zinnsoldatenarmee. Schließlich war uns einmal das Militärische übergeworden, und wir dachten auf andere Unterhaltungen. Plötzlich aber, ich weiß nicht wie, behauptete ich, ich könne fliegen. Die Hofekinder sahen in uns beiden, dem Sohne des Gutsherrn und mir, Halbgötter. Sie zweifelten, aber waren glaubensbereit und forderten nun das Wunder zu sehen. Ich schämte mich innerlich meiner eitlen Aufschneiderei, ließ mich aber in ein Verfahren hineindrängen, von dem ich hoffte, es werde mir Gelegenheit geben, vor der Schlußprobe auszubrechen. Wenn das Wunder gelingen solle, behauptete ich, müsse vorher einer Reihe von mystischen Gebräuchen, und zwar aufs genaueste, entsprochen werden. Würden hierbei Fehler gemacht, so könne das Experiment nicht gelingen.
Gespannt, ein solches Wunder zu erleben, zeigte sich nun die Kinderschar von einer mich auf eine beunruhigende Weise ehrenden Willfährigkeit. Es wuchs meine Scham mit ihrem Glauben. Da es ein Zurück nicht gab, fing ich den traurigen Hokuspokus an.
Jedes Kind mußte einen Stein gegen ein Scheunentor werfen, nach einiger Zeit mußte es dreimal die Worte »Fliege, fliege, fliege!« ausrufen. War dies geschehen, ging es zur Pumpe, wo jeder der Teilnehmer ein Glas Wasser, ohne etwas davon zu verschütten, zu trinken hatte. Da ich einer großen Entlarvung entgegenging, zog ich diese angeblich unumgängliche Vorbereitung so lange wie möglich hin, ohne auf den Gedanken zu kommen, wegen eines angeblich gemachten Fehlers, den Versuch als gescheitert anzusagen. Endlich stieg ich fast verzweifelnd auf irgendeinen Vorbau der Gutsställe hinauf und sprang mit den wenig überzeugenden Worten »Ich fliege, ich fliege!« herunter.
Bei alledem hatte mich Onkel Schubert heimlich beobachtet.
Ein solcher Trieb, wenn er herrschend wird, macht den Hochstapler. Was ich tat, geschah zwar im Spiel, war aber schließlich auf einem übertriebenen Geltungsbedürfnis aufgebaut und dem Mißbrauch der Unwissenheit meiner Gespielen: ich übte Betrug, wobei ich außerhalb der zwar ungeschriebenen, aber unverbrüchlichen kindlichen Spielregeln geriet, das Vertrauen brach und Verrat übte. [...]

Dreizehntes Kapitel 

Motive aller Art schoben sich durcheinander und ineinander, wurde gesagt. Wer dürfte versuchen, so innig Verwirrtes zu sondern! Neben Feldzügen und Schlachten, die ich weitläufig in leeren Zimmern unter Benützung von Fußboden, Stühlen und Tischen mit meinen Zinnsoldaten durchführte, war ich immer noch Chingachgook, ritt das windschnelle Steppenroß und hatte außerdem Hamlet, den Dänen, in meinen Wachtraum aufgenommen. Der Bühneneindruck, durch den es geschah, steht in keinem Verhältnis zu seiner unauslöschlichen Dauer. Ich lag krank an Mumps oder sonst einer Kinderkrankheit im Zimmer Numero Sieben am Ende des Flurs. Es war Winter, in einer Zeit, wo man um vier Uhr die Kerzen anzündet. Es brannte eine an meinem Bett. Da hatten Carl und Johanna den Gedanken gefaßt, mir die Zeit zu vertreiben. Sie brachten ein kleines Kistchen herein, aus dem sie allerhand Dinge herausholten. Es waren kleine Kulissen aus Pappdeckel, die einen feierlich-gotischen Raum, das Innere eines Domes, vorzauberten. Was Prinz Hamlet mit diesem Dom zu tun hatte, wußte ich nicht. Er war eben da! In schöner Rüstung, mit gelbem Haar, ausgeschnitten aus Pappdeckel, unten mit einem Klötzchen versehen. Mir von Johanna und Carl als Prinz Hamlet vorgestellt und durch ihren Mund allerlei Worte hersagend, stand er jedoch nur kurze Zeit auf dem Holzklötzchen. Dann wurde er auf zwei Puppenstühlchen gelegt und lag dort, ich weiß nicht zu welchem Zweck, eine Weile ausgestreckt. So blieb er mir in Erinnerung. Die Antwort auf die Frage weshalb wird nie erschöpfend zu geben sein. Eine Pappfigur, ein Theaterchen, das gewiß nicht mehr als acht Groschen kostete, und doch kam das Ganze der feierlichen Grundsteinlegung eines Baues gleich, der durch siebzig Jahre gewachsen ist. Das bedeutet der frühen Jugend Innengewalt, es bedeutet Voraussicht des Unbewußten, es bedeutet Wirksamwerden der Vorsehung, es bedeutet schöpferische Entwicklung. Mag sein, bei dem einzigen Zuschauer, der ich war, haben einige Fiebergrade mitgespielt. Es hat die nächtliche, vielleicht auch stürmische Stunde der Äquinoktialtage mitgespielt. Das ganze Haus mit den langen Fluren übereinander, seinen kalten, leeren, gespensterbewohnten Zimmern – auch Hamlets Geist erlebte ich einen Augenblick – hat mitgespielt. Die weiten, leeren, eisigen Säle mit ihren Bildern, dem Leichnam, den man vom Kreuze nimmt, haben mitgespielt. Sie waren mit Nacht gleichsam vollgestopft und haben vielleicht im Sturme gezittert. Mit Finsternis vollgestopft waren die Küchen, die Vorräume, die Büfettstube. Die verlassenen Galerien des großen Saals waren mit Finsternis vollgestopft. Durch all das seufzte vielleicht der Wind. Er fauchte, er ächzte, er krächzte und rasselte. Gegen alles das, was einem schwarzen Universum vergleichbar mich einkerkerte, kämpfte der kleine Schein eines Lichts, das ein Achtgroschentheater mit einem gotischen Dom beleuchtete, der nicht mehr als zwei Pfennige gekostet haben kann. Aber was wurde mir dieser Domdiese unterirdische, in die Schwärze des Nichts versenkte Kathedrale! Ich muß an Westminster Abbey denken, wenn ich einen schwächeren Abglanz davon haben will. Sie war gehüllt in schwarzes Nichts als leuchtendes Mysterium. Wo hatte man freilich bei späterem Wiedersehen mit diesem düsteren Dichterwerk die gleiche Begleitmusik?
Welch ein groteskes Nebeneinander beherbergt ein Knabenhirn! Neben dem Hamlet, der in einer Art von Heiligenschrein aufbewahrt wurde, rumorte in mir die Gestalt eines anthropoiden Affen. Ein andres Theater, das Kurtheater, war die Ursache. Manches hatte es mich inzwischen gelehrt, dieses Haus.
Wenn ich nun auf dem Heimgang von der Schule verstohlen, wie oft geschah, ins dunkle Parterre schlüpfte, hatte ich längst begriffen, daß hier, selbst am Schluß eines Trauerspiels, niemand getötet und auch der Tod nur gespielt wurde. Das gesprochene Wort wurde im Freien kaum gehört, meist war es daher Musik, die uns Kinder in die Sperrsitze lockte, mitunter aus überheller, glühender Sonnenwelt in den kühlen Dämmer einer von künstlichem Licht beschienenen künstlichen.  [...]
Eines Abends hatte mich dann meine Mutter in eine Gastvorstellung mitgenommen. Der Gast war ein Akrobat, der, in braunen Filz eingenäht, einen Menschenaffen darstellte. Er hatte sich, oder man hatte ihn, in einer Pflanzerfamilie, vielleicht auf Borneo, heimisch gemacht. Es war ein mißverstandenes Tier, glaube ich, das wegen unguter Eigenschaften, hauptsächlich wohl von dem Pflanzer, rauh behandelt wurde. Aber da kam der den Orang-Utan glorifizierende Augenblick. Die einsame Farm geriet in Brand, die Flammen loderten um ein Schlafzimmer, in dem hoffnungslos verloren ein Säugling und, ich glaube, noch ein kleines Mädchen zurückgeblieben waren. Man hörte die Farmersleute vergeblich jammern. Da aber, im Augenblick der höchsten Gefahr, erschien mit leichtem Schwunge der Affe, der Retter, im Qualm der bengalischen Flammen auf der Fensterbank. Sorgfältig hob er den Säugling aus dem Bett und entfernte sich mit ihm durch das Fenster, kam wieder und entriß auch das Mädchen den Flammen. Ich glaube, er trug sie huckepack, als er sie wiederum durch das Fenster mit sich nahm, um sie den Eltern zu übergeben. Sogleich bewies auch ihr Freudengeschrei, daß es geschehen war.
Dieser Affe bewegte sich dann noch zwei- und vierhändig auf der Balustrade des ersten Ranges außerhalb der Bühneherum, ja machte auf einem hölzernen Zweirad, wie dem des Kapellmeisters, zuletzt unglaubliche Kunststücke.
Dies machte ich ihm in der Folge nicht nach, dafür aber war sein gesamtes äffisches Gebaren zwangsläufig auf mich übergegangen: die eigentümlichen Kehllaute des Tieres, die nach Innen gebogenen Fingerspitzen, die ein Gehen auf den Kniebeln ermöglichten, und schließlich seine eigentümliche Beweglichkeit. Der Erfolg meines Nachahmungstriebs lockte selbst meinem Vater, der damals noch kaum aus dem Rahmen seines steifen Ernstes trat, eine Art Beifall ab, der sich allerdings nur durch ein Herblicken und eine kaum merkliche Veränderung des beherrschten Gesichts ausdrückte.
Die im Stile der Birch-Pfeiffer gedachte theatralische Affengestalt übertrug sich also, ähnlich wie Chingachgook, von innerer in äußerliche Wirklichkeit, und zum erstenmal war dabei Kunst als neuerworbenes Können im Spiele. [...]


Vierzehntes Kapitel 
Die Augen meines Vaters blickten durch doppelte Brillengläser. Sie waren hellblau. Er nahm außer des Nachts Brille und Pincenez niemals ab. Sein Gesicht in der Ruhe war ganz Strenge und Ernst, tief eingegraben die senkrechten Stirnfalten, buschig die Brauen, üppig auf der Oberlippe der den Mund verdeckende Bart. Für Körperpflege brauchte mein Vater Tag für Tag lange Zeit. Seine Anzüge waren vom besten englischen Tuch und beim ersten Schneider in Breslau gefertigt. Eine Sammlung von Schuhwerk wurde von ihm selbst gereinigt und blank geputzt, er hätte sie nie fremder Hand überantwortet. Den damals üblichen Schlafrock verachtete er. Beim ersten Frühstück bereits war er bis auf die Busennadel tadellos angekleidet. [...]
Es war natürlich, daß ich aus den Schulbänken, wo ich mit den zerlumpten Armenhäuslern Seite an Seite saß, einmal Krätze und Läuse heimbrachte. Ein anderes Übel, eine Hautflechte, die meinen ganzen Körper überzog, war ernsterer Art: Krankheit und Versuche zu ihrer Heilung wurden Martern für mich. Mein Vater hatte wie bei Carls Lungenentzündung den Chirurgus Richter und meinen Onkel, Doktor Straehler, herangezogen. Dieser, Badearzt und ein schöner, humorvoller Mann, verordnete Pinselung mit Petroleum. Hätte man es angezündet, der Schmerz hätte nicht können größer sein. Da sich auch diese Qual als nutzlos erwies, ging mein Vater mit mir zu einem Schäfer, der den Ruf eines Wundertäters besaß. Leider tat er diesmal kein Wunder, und da die Flechte nur immer greulicher wucherte, trat mein Vater mit mir eine Reise nach der Provinzialhauptstadt an. Es scheint, daß die Konsultation eines Dermatologen dann das quälende Übel behob.
Die Fahrt nach Breslau geschah auf der kaum fertiggewordenen Strecke der Breslau-Freiburger Eisenbahn. Man erreichte den Zug in Freiburg oder Altwasser. Ich vermochte, nach Hause zurückgekehrt, in Schilderungen des Wunderbaren, das ich erlebt hatte, besonders in der Schule, mir nicht genug zu tun.
In Wahrheit nahm ich das heulende, zischende, donnernde Dampfroß, das mit dem Zuge schwerer Wagen blitzschnell dahinstürmte, als eine Gegebenheit. Schließlich war es kein größeres Wunder als irgend etwas von dem, was meinem Hineinschreiten in die Welt in endloser Fülle überall entgegenkam. Die Maschine pfiff, wenn wir uns einer Station annäherten, worauf der Schaffner, den jeder Wagen hatte, mit allen Kräften bis zum Kreischen der Schienen die Bremse zog. Während der Fahrt beschäftigte mich am meisten das Spiel der Telegraphendrähte, ihr Auf und Ab vor den Fenstern. Ich wußte nicht, wie ihre Bewegung zustande kam. Peinlich empfand ich die Ohnmacht unsrer Gefangenschaft und war befreit, als wir in Breslau aussteigen konnten. Mein Vater selbst aber war vielleicht die wesentliche Entdeckung, die ich bei dieser Bahnfahrt gemacht habe.
Er war auf einmal mein Kamerad und nicht mehr die steife Respektsperson. Das intime Verhältnis von gleich und gleich übertraf noch den Zustand, wie er bei Fuhrmann Krause herrschte. Auf jede meiner Bemerkungen ging er mit schalkhafter Miene ein, mitunter lachend, so daß ihm unter den scharfen, goldgerahmten Brillengläsern die Tränen herunterrollten. Was sich dann im ganzen außer der ärztlichen Konsultation begab, war für meinen zarten Organismus zuviel. So warf mich nachts mein rebellierendes Hirn aus dem Bett, und als mich mein Vater mitten im Zimmer fand und aufweckte, überfiel mich ein unaufhaltsamer, hemmungsloser Heimwehkrampf.
Der städtische Lärm, der Tabaksqualm einer alten Weinstube und schließlich der Besuch eines großen Theaters, den ich erzwang, waren schuld daran.
Ich sah in diesem für mich gewaltigen Hause »Orpheus in der Unterwelt«, wobei die Musik mir störend war. Ich konnte es kaum erwarten, bis wieder gesprochen wurde. Eine Rakete, die beim Hinabsteigen des Orpheus in die Unterwelt durch die Versenkung emporzischte und platzte, bedeutete für mich einen Höhepunkt.
Bei Vaters Rückkehr in den häuslichen Pflichtenkreis und den der Familie trat sogleich die alte Entfremdung wieder ein. Mein Vater übte eine große Selbstdisziplin, mitunter aber übermannte ihn die der ganzen Familie eigene leichte Erregbarkeit. Irgend etwas mochte von uns Kindern verfehlt worden sein, sei es, daß wir ein längeres Ausbleiben durch eine Flunkerei entschuldigt oder etwas, das er wissen mußte, verheimlicht hatten. Er begann dann etwa mit den Worten:
Wer lügt, der trügt;
wer trügt, der stiehlt;
wer stiehlt, der kommt an den Galgen.
Und nun wurde mit der Wucht drohender Worte die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit einer schrecklichen Zukunft im Gefängnis, im Zuchthaus und eines grausigen Endes unter dem Galgen oder auf dem Block ausgemalt. Man kann einen solchen Aufwand, wie mein Vater ihn zu unserem Schrecken manchmal trieb, unmöglich als proportional der Geringfügigkeit unserer Vergehen bezeichnen. [...]
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

28 Oktober 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.9-11)

Neuntes Kapitel
[...] Das Kapitel Kinderspiele verlangt ein Buch, das trotz einzelner Anläufe noch nicht geschrieben ist. In gewissen Jahren strebt das Kind, etwas anderes als es selbst zu sein. Es ist Hund, Pferd oder Dampfmaschine. Es kommt das einfache Fangespiel, worin sich Jäger und Wild nachahmen. Mit dem Versteckspiel mag es das gleiche sein. Wochenlang, besonders im Herbst, spielte die proletarische Unterwelt »Räuber und Gendarm«. Und nicht nur hierbei, sondern im ganzen hatte ich mich unter den Banditen der Straße, so zart ich war, zu einem Räuberhauptmann aufgeschwungen. Sie folgten mir, ich führte sie an. Das war beinahe mehr als ein Spiel, weil man eigentlich war, was man vorstellen wollte. Mit wie mancher Schwiele, Beule und Kratzwunde bin ich in mein Bürgerbereich zurückgekehrt. Von meinem siebenten Jahre aufwärts gewannen diese Spiele an Ernsthaftigkeit, und sie lehrten mich Menschen kennen. Eine Gefolgschaft von zwanzig bis dreißig Jungens brachte ich wohl mitunter zusammen. Im allgemeinen standen sie bei größeren Unternehmungen hinter mir. Hie und da aber wurden sie aufsässig, konspirierten zum Teil oder in ihrer Gesamtheit gegen mich. Gelegentlich ging das so weit, daß man die Acht über mich verhängte. Wenn ich dann eine Zeitlang gemieden worden war und keiner der Anführer mit mir gesprochen hatte, bahnten sich meist Verhandlungen an. Dann wurden von mir Offiziere ernannt, ich gebrauchte meine Überredungskunst und brachte, wo das nichts half, Widerspenstige durch Geschenke auf meine Seite. In Fällen von dauernder Widersetzlichkeit griff ich zur Exekution. Ich ging zum persönlichen Angriff über; dann kam es darauf an, daß ich obsiegte. War das der Fall, so entfernte sich meist der Unterlegene schimpfend, heulend, unter Drohungen. Trotzdem ich mein Bürgertum nie hervorkehrte, spürte ich doch bei diesem und jenem den Klassenhaß. Ich wurde mit Schimpfnamen traktiert. Ich erinnere mich, wie bei einer solchen Gelegenheit sich ein Kampf zwischen mir und meinem Verlästerer entspann, der wohl eine Viertelstunde dauerte. Er ging beinah auf Leben und Tod. Erwachsene rissen uns auseinander. [...] 
Als Knabe, ja wohl noch als Kind kam ich dem Begriff des Kantischen Dinges an sich nahe. Ich betrachtete einen Baum, ich beroch und berührte seinen Stamm. Ich stellte mit meiner Stirn dessen Härte fest. Ich sagte: Nun ja, ich nenne dich Baum, ich weiß, du bestehst aus Holz, das brennbar ist, doch was du eigentlich bist, weiß ich nicht. Ich ging auch weiter und machte mich selbst zum Objekt. Was bist du ursprünglich selbst? Was ist ursprünglich dein eigenstes Wesen? Diese beiden Fragen stellte ich an mich. In einem solchen Augenblick vermochte ich hinter mich selbst zu dringen und als Einzelwesen mich aufzugeben. Ich war im Sommer viel allein, und das wurde mir, wohl auch durch Gewöhnung, mehr und mehr angenehm, aber doch nicht so, daß ich Einsamkeit und Zurückgezogenheit nicht immer wieder gern durch einen Sprung ins bewegte Leben unterbrochen gesehen hätte. In weiten Streifen bewegte ich mich während meiner einsamen Stunden in entlegenen Teilen der Anlagen umher, saß in Wipfeln von Bäumen, den promenierenden Kurgästen unsichtbar, oder lag auf den grünen Rasen gestreckt an den Kieswegen. [...] 
Ich ging nicht nur in den Weberhütten, sondern auch in den übrigen Werkstätten der Kleinen als ein Dazugehöriger ungehindert, ja unbeachtet aus und ein, ebenso auch in den einzelnen, bis dahin versprengten Elendsquartieren der Bergleute aus dem nahen Industrie- und Kohlenbezirk. Dem Schmiede sah ich zu, wenn er Hufeisen auflegte, dem von Tuchfetzen umgebenen Schneider auf seinem niederen Tisch bei der Stichelei, dem Schuhmacher auf seinem Schemel vor dem Arbeitstisch, wo hinter den wassergefüllten Glaskugeln die Ölfunse brannte. In diesen engen Schuhmacherwerkstätten sah ich zuerst mit Verwunderung, inwieweit sich kleine Vögel, hier meist Rotkehlchen und Rotschwänzchen, mit den Menschen vertraut machen können. Ohne durch Familien- und Werkstattlärm der eng zusammengedrängten Lebens- und Arbeitsgemeinschaften gestört zu sein, stelzten und flatterten sie herum und behaupteten furchtlos die seltsamsten Plätze: den Kopf der Katze oder den Arm des Handwerksmeisters, während er den Hammer schwang. [...]

Zehntes Kapitel 
Lesen habe ich nicht in der Schule gelernt, sondern am Robinson Defoes und Coopers Lederstrumpf. Gott, dem ich dafür dankbar bin, hat sich einer Frau Metzig bedient, um mir beide Bücher als Geschenke ins Haus zu tragen. [...] 
Durch Robinson und Lederstrumpf haben meine Träume und meine Spiele richtunggebende Nahrung erhalten. Erzählungen bedeuten Träume, mündlich oder schriftlich in Worte gefaßt. Von da ab, als ich am Robinson lesen lernte, wurde ein wesentlicher Teil meiner Träumereien durch Bücher genährt. Wie kommt es, daß ich, der ein mir völlig gemäßes Leben führte, Robinson und Lederstrumpf mit Gier entzifferte und die Lebensform bald des einen, bald des andern Helden leidenschaftlich herbeiwünschte, und weshalb verfallen diesen Gestalten alle gesunden Knaben so wie ich? Auch hier ist Kampf, aber nicht mit Buchstaben, Bibelsprüchen und Rechenexempeln, sondern mit der Natur und in der Natur. [...] 
Und nach der Vervollkommnung, nach der Vollendung dieses natürlichen Zustands sehnte ich mich trotz allem, was mich an meine Umgebung fesselte. Und jeder gesunde Knabe sehnt sich danach. [...] 
Gleichsetzungen wie die meinen mit Chingachgook würde ein moderner Forscher dämonisch nennen: das Dämonische stelle im Gegensatz zu den durch geistige Erfassung gewonnenen Tatsachen das aufbauende Leben dar. Nach eigener Erfahrung glaube ich, daß es so ist. Und so darf man es nicht mit dem Verstande störend schädigen, da es, wie weiter gesagt wird, nur in seinen Auswirkungen zugänglich sei. Es war bei mir mit stürmischen Ausbrüchen der Affekte verbunden. Und ein solcher Affekt, heißt es weiter, sei eine naturnotwendige Erschütterung, um das Dämonisch-Geniale zu wecken. Bekämpfe man im Knaben das Dämonische, schließt der einsichtsvolle Mann, so bekämpft man zugleich das Geniale im Kinde, das auch getötet werden kann. [...] 
Nun also, der göttliche Wahnsinn des Dämonischen hat mich damals berauscht, ich lebte im Zustand einer gesunden Besessenheit. Meine Seele hätte sich überhaupt nie entbrannt und ins Leben gerufen, wenn nicht eben dieses Dämonische die Natur und mich ununterbrochen verwandelt hätte. [...] 
Es blieb meiner Schwester Johanna vorbehalten, ihre reine und gute Absicht vorausgesetzt, mich mit dem Gedanken an Sünde und Sündenschuld zunächst zu belasten. Sie wandte zum Beispiel den Ausdruck Lüge auf die meisten meiner heiteren Phantastereien an und behauptete dann, daß, wenn ich wirklich gelogen hätte, mich der Blitz beim nächsten Gewitter erschlagen würde. Dadurch hat sie mir eine lang quälende Gewitterfurcht ins Blut gebracht, denn daran, daß es eigenwillig strafende Götter geben konnte, zweifelte ich als dämonischer Schöpfer vieler Dämonen nicht. Als ich die Fülle meiner Sünden in meinem Gewissen unendlich vermehrt hatte, tröstete mich Johanna wieder in meiner Gewissensnot, indem sie erklärte, daß Jesus Christus, Gottes Sohn, sofern man bereue, alle Sünden auf einmal vergebe, am Konfirmationstage im Genuß des Abendmahls. Durch den unverantwortlichen, kindisch-mutwilligen Erziehungsversuch einer kindhaften Schwester wurde ich so in das kirchliche Wesen gleichsam beiläufig eingeführt. Wenn man mich also gelegentlich in Grübeleien versunken sah, konnte es sein, daß ich grade mein Sündenregister nachprüfte. Das Kind bedarf keines Heilandes, damit ihm Steine zu Brot werden. Ihm wird auch ohne die König Midas gewährte Begabung alles, was es anfaßt, zu Gold. Aber mein leidenschaftliches Leben, meine seligen Energien, in denen sich ein ernster Werdeprozeß doch stets halb bewußt machte, erlitten durch solche Eingriffe bedeutsame Trübungen. Fortan lebte ich gleichsam nur noch in einer sorgenvollen Glückseligkeit. So, wie sie jedoch war, entsprach sie mir, und ich dachte nicht anders, als daß sie mir durch das Leben treu bleiben würde. Habe ich darin recht gehabt?

Elftes Kapitel 
Nach seiner schweren Krankheit dem Leben wiedergewonnen, genoß mein Bruder Carl eine lange Zeit die Hauptanteilnahme der Familie. Auch den Dachrödenshof – der Großvater lebte noch – hatte Carl längst durch sein gesellig-offenes, lernfreudig-begabtes Wesen für sich eingenommen. Er übertraf mich damals und immer hierin. Ein Kindergeschichtchen, das sich mit ihm im Dachrödenshof zugetragen hatte, wurde wieder und wieder erzählt. Der Großvater Straehler, der würdige Brunneninspektor, hatte sich mit Schlafrock und langer Pfeife, um ihn zu amüsieren, vor dem Dreikäsehoch tanzend in ganzer Größe herumgedreht, was dieser mit kühlem Phlegma beobachtete. Schließlich hat er mit den Worten »Nee, 's is doch ein verflischter Kerl!« seiner Bewunderung Ausdruck gegeben, womit er nach mundartlicher Gepflogenheit in gemilderter Form einen verfluchten Kerl bezeichnen wollte.  [...] 
Schenken, nicht empfangen, war Carls höchster Genuß. Es mochte dabei schon damals ein Werben um Menschenseelen mitspielen. Mutter bekämpfte gelegentlich seine Freigebigkeit, aber er hatte eine schöne, eigenwillig moralische Art, abzuwehren. Er machte auf alle, die ihn hörten, auch Vater und Mutter, Eindruck damit. Sehr weit in meine Jugend zurückgehen müssen seine Tiraden gegen den Eigennutz, die er nach kaum vollendetem zehnten Jahr im Gespräch mit den frommen Tanten im Dachrödenshof, sogar gegen die kirchliche Lehre von der Belohnung des gläubigen Christen durch die ewige Seligkeit, mutig ins Feld führte. Er sagte, wer Gott nur wegen einer zu erwartenden Belohnung liebe, der sei noch nicht anders als ein Hund, der die Zuckerdose anbete. So jung ich war, stand ich bei solchen Behauptungen hinter ihm. Er war im allgemeinen leicht aufgeregt, meist aber, ähnlich einem gewissen spanischen Ritter, aus Rechtsgefühl und aus Mitgefühl. Tierquälerei riß ihn zu rücksichtslosen Protesten hin, bei denen er vor den rüdesten Bauernknechten nicht zurückschreckte.
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend , 1937)

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.6-8) Schule, Kurbetrieb, die zwei Welten

Sechstes Kapitel 
Den Zwang und Kerker der Schule konnte man freilich nicht ausschalten. Im Winter war der Schulweg bis auf Prügeleien und Schneeballschlachten ohne Belang. Im Sommer wurde er dadurch gewürzt, daß wir am geöffneten Kurtheater vorbei mußten. Es war ein Holzbau, äußerlich eine verwitterte Bretterbaracke, die mein Großvater, wie auch Brunnen- und Elisenhalle, Annaturm und anderes, durch seinen Freund und Maler-Architekten Josef Friedrich Raabe, der zu Goethe in engen Beziehungen stand, hatte errichten lassen. Wenn wir zur Schule gingen, waren meist Proben, und vor den Eingängen standen die Schauspieler. Was im Theater selbst vorgehen mochte, blieb uns Kindern lange ein Mysterium; um so wilder wucherten die Gerüchte. Einst wurde mir ein Jüngling gezeigt, der heute sein Benefiz hatte. Was sollte das sein: Benefiz? Etwas Furchtbares sicherlich. Ohne es zu ahnen, kamen wir der altgriechischen Ritualbühne und den Gepflogenheiten des römischen Kolosseums in unsren Gedanken sehr nahe, denn uns war der Jüngling todgeweiht. Es hieß, er müsse am Abend zum Schluß des Stückes sich selber erstechen, oder er werde hingerichtet. Diese Sache erschien mir selbstverständlich. Von einem flüchtigen Gruseln abgesehen, nahm ich sie hin, als ob man gesagt hätte, morgen werden uns in der Schule Bibelsprüche abgehört. [...] 
Am Schluß der Stunde sang man: »Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen!« Wir setzten stillschweigend hinzu: dafür, daß die Schule zu Ende ist. Nie jauchzte ein tiefer gefühlter Dank zum Himmel. Mit dem letzten Ton brausten wir auf die Straße. [...] 
Eines Tages auf dem Nachhausewege wurde mir Carls Betragen überaus wunderlich. Aus der Schule getreten, suchte er sogleich einen Ruheplatz, dann einen zweiten. Der Posthof, ein Kastanienhain, war mit hängenden Ketten zwischen niedrigen Granitpfeilern eingefaßt: Carl suchte auf einer der Ketten Ruhe. Dann kam die Straße mit mehreren Prellsteinen: er schleppte sich von Prellstein zu Prellstein fort. So sind wir allmählich nach Hause gelangt. Eine halbe Stunde später erfuhr ich, daß meinen Bruder eine schwere Krankheit befallen habe. Die Mutter weinte und stellte sich den denkbar schlimmsten Ausgang vor. Der Vater war ernst: man müsse sich auf alles gefaßt machen, nur Gott könne wissen, ob wir Carl behalten würden oder nicht. Aber dennoch: er hoffe zu Gott. Ich erlebte nun eine Reihe sorgenvoller Tage und auch Nächte mit, da ich zuweilen von meiner Schwester Johanna, als gelte es, von meinem Bruder Abschied zu nehmen, geweckt wurde oder auch von den Geräuschen erwachte, die, da eigentlich niemand im Hause schlief, die ganze Nacht nicht aufhörten. Mein Vater zog außer meinem Onkel, Doktor Straehler, noch einen älteren Arzt, Doktor Richter, ein ortsbekanntes Original, hinzu. Wenn mein Bruder die Krankheit – es handelte sich um eine Lungenentzündung – dann überstand, so retteten ihn, wie mein Vater wenigstens annahm, seine Ratschläge. Tagelang verbrachte Carl im Zustand der Bewußtlosigkeit. Barbier Krause, ein zweiter Krause, zugleich Heilgehilfe, wie es damals üblich war, der seine Stube in einem kleinen Anbau schrägüber von der Schenkstube hatte, setzte Schröpfköpfe und operierte mit Blutegeln. Die Krankenstube betrat ich nicht. Meine Schwester und meine Mutter müssen mich von dem, was dort geschah, unterrichtet haben. Der Kranke, von schrecklichen Phantasien geplagt, sah Reihen von Leichnamen, die unter dem Gasthof zur Krone bestattet waren. Als der brave Barbier ihm Schröpfköpfe setzte, rang er seine Hände zum Himmel, und indem er sich beklagte, in was für Hände er gefallen sei, gab er sich selbst die tragikomische Antwort: in Bierhände. Es kam die Krisis und damit der große und befreiende Augenblick, als plötzlich das Fieber gesunken war und Doktor Richter erklären konnte, die Gefahr sei nach Menschenermessen vorüber. Es ist natürlich, daß meine Mutter mich unter Freudentränen in die Arme schloß. Aber auch mein Vater, von dem ich bis dahin ebensowenig glaubte, daß er lachen wie daß er weinen könne, nahm seine Brille ab und tupfte sich mit dem Tuche die Augen. Als man den Kranken, der mit seltsamer Klarheit seinen eigenen Zustand verfolgt hatte, von dem glücklichen Umschwung verständigte, ergriff ihn eine glückselige Erschütterung. Wir mußten alle zu ihm hineinkommen: »Vater, Vater, ich bin gerettet! Gerhart, denk doch, ich bin gerettet! Mutter, Mutter, ich bin gerettet! Hannchen, hörst du, ich bin gerettet!« wiederholte er, uns die Hände, so gut es gehen wollte, entgegenstreckend, in einem fort. Es hieß so viel: ich darf wieder bei euch bleiben.
Bei diesem Anlaß, der mich wohl zum erstenmal in ein andres als mein eignes Schicksal verwickelte, wurde mir deutlich, welche Fülle verborgener Liebe unter dem so gleichmäßig nüchternen Wesen eines Vaters, einer Mutter beschlossen liegen kann. Von diesen unsichtbaren Kräften und Verbundenheiten hatte ich bis dahin nichts gewußt. Fast befremdeten sie mich, als sie zutage traten, da sie scheinbar über mich hinweggingen, meinem Bruder und nicht mir galten. Und so wurde mir nicht ohne eine gelinde Bestürzung klar, daß mein Bruder nicht nur mein Bruder, sondern der Sohn meiner Eltern war und wie groß der Anteil werden konnte, den ich ihm von ihrer Liebe abtreten mußte. [...]


Siebentes Kapitel 
Mein Großvater, wurde gesagt, war Bade- oder Brunneninspektor. Er war also gleichsam ein souveräner Herr des Kurbetriebes mit allen seinen vorhandenen Anstalten: voran dem Brunnen, seiner Bedienung, seinem Ausschank und seinem Versand, der Pflege der Elisenhalle und der Vermietung ihrer Verkaufsläden, dem Kursaal, seiner Verpachtung und seinem Betrieb, den gärtnerischen Anlagen der Promenaden und der Pflege des Parks, der Kurkapelle und dem Theater. Wo er nicht ganz befahl, war dennoch sein Einfluß maßgebend. Ich glaube, er besaß auf dem fürstlich-plessischen Kurgebiet sogar Polizeigewalt. [...]

Achtes Kapitel 
Die Jahre bis zur Vollendung des zehnten sind Schöpfungsjahre in jedem Sinn, und sie enthalten Schöpfungstage. Das Kind ist in dieser Spanne Zeit sein eigener geistiger Schöpfer und Weltschöpfer. So war denn auch ich der Demiurg meiner selbst und der Welt. Aber wie gesagt, sieben Tage genügten mir nicht, denn ich hatte deren bis zum Beginn des siebenten Jahres bereits zweitausendeinhundertneunzig nötig gehabt. Die Sonne ging auf, und ein neuer Schöpfungstag meiner selbst und der Welt begann. Vielfach ging ich darin wie ein Künstler vor, der sich durch provisorische Formgebung dem vollendeten Ganzen annähert.   Die immer wiederkehrende Mahnung meines Vaters sowie meiner Mutter lautete: »Gerhart, träumere nicht!« oder: »Träume nicht!« Es betraf dies natürlich die Zeiten des Ausruhens, wenn mein Bewegungsdrang in der freien Luft nicht mehr weiterzutreiben war. In der Tat, ich versann mich bei jeder Gelegenheit, so daß man die Frage immer wieder mit Recht an mich richten konnte: »Komm zu dir! Wo bist du denn?!« Ich versann mich etwa, wenn ich vor der Zeit meines ersten Schulgangs, das Kinn in die Hände gestützt, am Fenster lag und auf den fernen Hochwald starrte, den heiligen Berg, hinter dem die Welt zu Ende war und von dessen Spitze aus man in den Himmel stieg. Dieser Berg und seine Bestimmung waren mir immer wieder anziehend. Wenn nicht ich selbst, so ist mein Geist von dort aus unzähligemal in den selbstgeschaffenen Himmel gestiegen und hat sich mit der Rätselfrage der Weltbegrenzung abgemüht. Dabei erwog ich die menschliche und meine eigene Einsamkeit, die ich schon sehr früh erkannt habe. Die unbegreifliche Größe des Schicksals erfüllte mich, solange ich ihr nachhing, mit einer schauervollen Beklommenheit. Ich fragte mich: Wie rettet man sich aus der eigenen Verlassenheit? Halte dich an Vater und Mutter! – Vater und Mutter teilen dieselbe Verlassenheit und Verlorenheit! – Wende dich an Bruder und Schwester, die Tausende und Tausende deiner Mitmenschen! Und nun gab ich die Antwort mir selber mit einem Bilde aus meiner bildgenährten Traumes- und Vorstellungswelt: die Gesamtheit der Menschen sah ich als Schiffbrüchige auf einer Eisscholle ausgesetzt, die von einer Sintflut umgeben war. Kinder in den frühesten Bewußtseinsjahren nach der Geburt fühlen vielleicht stärker als Erwachsene das Rätsel, in das sie versetzt worden sind, und bringen vielleicht von dort, wo sie kurze Zeit vorher noch gewesen sind, Ahnungen mit. [...]
Ich hatte die Masern. Ich war glücklich darüber, denn ich brauchte ja nicht zur Schule zu gehen. [...]
Es wurde bereits gesagt, daß ich sowohl in der bürgerlichen Welt wie in der des damals so genannten niederen Volkes zu Hause war. In dieser Beziehung glich ich entfernt dem Euphorion, da ich mich immer wieder von der einen zur anderen hinab- und von jener zu dieser emporbewegte. In gewissem Sinne ging dies Auf und Ab immer höher hinauf, immer tiefer hinunter: etwa von der Réunion im kleinen Blauen Saal, wo sich die Elite der Badegesellschaft, Adel, Schönheit, Reichtum, Jugend, zusammenfand, irgendein namhafter Pianist sich hören ließ, von Beethoven, Liszt, Chopin und andern großen Künstlern gesprochen und dabei Champagner, Mandelmilch, Sorbet und anderes getrunken wurde, bis zu einer gewissen Treppe Unterm Saal, wo arme Frauen, Töpfe im Arm, stundenlang anstanden bis zur Küchentür und auf Abfälle warteten. Und was die Breite meiner Euphorionbewegung betrifft und die Antäuspunkte ihrer Absprünge, so lagen diese bald in der vorderen, bald in der hinteren Welt, die durch den Hauptbau des Gasthofs getrennt wurden und von denen die eine die der glücklich Genießenden, die andere die der Arbeit, der Sorge, des Verzichtes, der Verzweiflung war. Ohne die Sonnenseite des Daseins vor der Fassade des Hauses scheel anzusehen, rechnete ich mich doch durchaus zur andern Partei, die gewissermaßen im Schatten lebte. Wieder und wieder stürzte ich mich ins Licht, doch nie, ohne bald in den Schatten zurückzukehren.   Meine Träumereien, wachend wie schlafend, tags wie nachts, mochten vom Niederschlag meiner Erfahrungen gespeist werden, aber sie gingen weit darüber hinaus. Jägerszenen, Kämpfe mit Bären, Gegenwärtigsein bei sterbenden und gestorbenen Menschen, meine Eltern als Geister wiederkehrend, Fliegen ohne Flügel, wie ich oft im Traume tat, das konnte mit keiner meiner Erfahrungen irgend etwas zu tun haben.
(Gerhart HauptmannDas Abenteuer meiner Jugend, 1937)

26 Oktober 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap. 3-5) Der Gasthof

Drittes Kapitel 
"Der Gebäudekomplex des Gasthofs zur Preußischen Krone war im Laufe der Zeiten durch Anbauten entstanden. Schwer zu sagen, welcher seiner Teile mir zuerst zu Bewußtsein gekommen ist. Ich hatte wohl erst ein allgemeines Gefühl seiner Unergründlichkeit. Insoweit blieb er mir lange unheimlich. Ich denke auch hier an die Winterzeit. Da war zunächst unser Winterquartier im ersten Stock. Es waren die Säle: der sogenannte Große Saal und der sogenannte Kleine Saal und endlich der sogenannte Blaue Saal, der in Wahrheit der kleinste war. Da war ferner das Erdgeschoß: ein Schnittwarenladen lag darin, eine verpachtete, dem Straßenbetrieb offene Bierstube, die Wohnung des Fuhrwerksbesitzers Krause und die Kronenquelle, von der schon gesprochen wurde. Das Haupthaus, der Kleine Saal, die Stallungen bildeten und umfaßten dreiseitig einen Hof, dessen vierte Seite nach der Straße offen war."


Viertes Kapitel 
So ungefähr boten sich zunächst die Schauplätze dar, auf welchen ich mich im Vollgenuß meines Lebenstriebes – im gesunden Kinde ist Freude und Leben ein und dasselbe – in dauerndem Wechsel täglich bewegte. Sie lagen auf zwei verschiedenen Hauptebenen, von denen die eine die bürgerliche, die andere zwar nicht die durchum proletarische, aber jedenfalls die der breiten Masse des Volkes war. Ich kann nicht bestreiten, daß ich mich im Bürgerbereich und in der Hut meiner Eltern geborgen fühlte. Aber nichtsdestoweniger tauchte ich Tag für Tag, meiner Neigung überlassen, in den Bereich des Hofes, der Straße, des Volkslebens. Nach unten zu wächst nun einmal die Natürlichkeit, nach oben die Künstlichkeit. Nach unten wächst die Gemeinsamkeit, von unten nach oben die Einsamkeit. Die Freiheit nimmt zu von oben nach unten, von unten nach oben die Gebundenheit. Ein gesundes Kind, das von unten nach oben wächst, ist zunächst wesenhaft volkstümlich, vorausgesetzt, daß es nicht durch Generationen verkünstelten Bürgertums verdorben ist. Das Kind steht dem bäuerlichen Kindermädchen näher als seiner Mutter, wenn diese eine Salondame ist: und die Mutter, wenn sie es ist, weiß mit dem Kinde, das sie gebar, nichts anzufangen. [...]
Das Speisen am wohlgedeckten Tische meiner Eltern in Nummer Drei verlor für längere Zeit seinen Reiz, als ich einmal bei Krauses gegessen hatte. Ich saß mit Krause, seiner Frau, Gustav und Ida sowie einem alten Knecht um den gescheuerten Tisch. In der Mitte stand eine große, braune, tiefe Schüssel aus Bunzlauer Ton, in die wir, jeder mit seiner Gabel, hineinlangten. Wir griffen zu den Zinnlöffeln, als nur noch Brühe darin vorhanden war. Messer und Teller gab es nicht. Es ging bei dieser schlichten Bauernmahlzeit schweigsam und manierlich zu. Daß man mit vollem Munde nicht spricht, sollte sich ja von selbst verstehen. Es kommen dabei, selbst in hohen und höchsten Kreisen, Sprudeleien und andere unappetitliche Dinge vor. Trotzdem wir mit ausgestrecktem Arm zulangen und den Bissen durch die Luft führen mußten, ehe wir ihn in den Mund steckten, wies die Tischplatte am Schluß keine Flecken auf. Was Frau Krause gekocht hatte, war ein Gemisch von Klößen und Sauerkraut in einer Brühe aus Schweinefleisch. Dieses Gericht war delikat. Niemals später genoß ich wiederum solches Sauerkraut. Es wurde von dem alten Knecht und von Krause, nachdem sie bedachtsam die Gabel darin gedreht und so die langen, dünnen Fäden wie auf einen Wocken gewickelt hatten, aus der Tunke herausgeholt. Daß sie dieselbe Gabel, die sie in den Mund gesteckt hatten, wieder in die gemeinsame Schüssel tauchten, fiel mir nicht auf. Die langsame Sorgfalt des Vorgangs ließ den Gedanken an etwas Unappetitliches gar nicht aufkommen. Tischgebete sprach man bei den Mahlzeiten des Fuhrherrn nicht. Aber die ganze Prozedur dieser gelassenen Nahrungsaufnahme, bei der niemand, auch nicht die Kinder, im geringsten Ungeduld, Hast oder Gier zeigte, war feierlich. Sie war beinahe selbst ein Gebet. Hier wußte man, was das tägliche Brot bedeutete, und der Instinkt entschied, welche Würde ihm zuzusprechen war. [...]

Fünftes Kapitel 
Der Gasthof hatte im Winter etwas Vergeistertes. Das Leben seiner sommerlichen Daseinsform durchspensterte seine winterliche. Die Korridore, die einzelnen Logierzimmer, die Säle, die Küche, die Waschküche waren von den Schatten der Gestalten belebt, die im Sommer darin gehaust hatten. Manchmal, etwa wenn nächtlicher Novembersturm das Haus umbrauste, stand ich plötzlich wie angewurzelt in einem der ausgestorbenen, finsteren Flure still, weil, wie in einem hellen Blitz, das Sommerleben des Hauses auflärmte: Wagengerumpel, Eimergeklirr, Kinder- und Kutschergeschrei im Hof, in den Sälen Tellergeklapper und dumpfes Gesumm, Menschengewimmel auf der Straße, polnische Juden mit Pajes und Rockelor, Lärm, Lärm und wieder Lärm! Alles nur einen Augenblick: dann heulte Finsternis um die Mauern. [...]
Fast möchte ich es als Glück meiner Jugend bezeichnen, daß sich unser Dasein nur im Winter zu einem echten Familienleben einengte: im Sommer trat an seine Stelle für mich eine überaus glänzende Vielfalt immerwährender Festlichkeit. In der zweiten Hälfte des Monats April zogen Hausdiener und Zimmermädchen auf. Das große Reinemachen begann. Die hohen Glastüren des Großen Saals, durch die man eine Terrasse betrat, wurden weit aufgesperrt, desgleichen die Fenster des Kleinen Saals und aller Logierzimmer. Man trug die Matratzen an regenfreien Tagen vor das Haus, wo alsbald Schleußerinnen und Hausknechte unter lauten Späßen und Gelächter die Ausklopfer schwangen. Der ganze Ort widerhallte davon. Es wurden dabei manche Namen gerufen von Leuten, die nicht durchaus beliebt waren, wodurch die Schläge schneller und kräftiger niederknallten. Des Ungeziefers wegen wurden inzwischen die Fugen der Bettstellen mit Petroleum abgepinselt. In den Fenstern standen die Mädchen halsbrecherisch, wuschen die Scheiben und rieben sie trocken. Oder der Schrubber herrschte, und die Dielen schwammen in schmutzigem Wasser. Überall roch es nach Seife und nassen Hadern, und die milden Lüfte des Frühlings drangen ins innerste Innere des Hauses ein. Ich empfand dies alles als etwas Beglückendes, wälzte mich auf den Matratzen herum oder berauschte mich zwischen den allerlei Polstermöbeln, die man ebenfalls, um sie auszuklopfen, in den vorderen Ziergarten gebracht hatte. Der Reiz des Ungewöhnlichen, Sessel und Sofas zwischen Gartenbeeten zu finden, versetzte mich in Begeisterung. Eines Tages hatte dann der Gasthof zur Preußischen Krone zu seiner eigentlichen Bestimmung zurückgefunden. Die Lungen seiner Fenster bewirkten gesundes Ein- und Ausatmen. Durch seine hellen, wiederum sehenden Augen ergoß sich Licht und spülte aus allen Winkeln die Finsternis. Die Zimmer glänzten vor Wohnlichkeit. Die Kerzen in den silbernen Leuchtern trugen frische Manschetten. Von Kellnern wurden Gläser geputzt. Frau Riedl, genannt die Mamsell, war eingetroffen. Sie hatte hinter einem Büfett vor der Küche ihren Stand, um, wenn es so weit war, die Speisen von dort den Kellnern weiterzureichen. Die Küche, in die nun der Koch eingezogen war, erschien heiter, hell und gar nicht mehr fürchterlich. Lorbeer, Palme, Zypresse und Feigenbaum, alles in Kübeln, schmückten die Außenwand und so die Terrasse vor dem Großen Saal. Die Vögel lärmten in den Anlagen. Einige gedeckte Tische waren im Garten aufgestellt. Krause wusch seinen Omnibus, während um ihn die Schwalben schrillten, die in den Ställen und Unterm Saal zu Neste trugen. Sandberg stand vor der offenen Ladentür und weidete sich an seinem Schaufenster, in dem er die Schnittwaren neu geordnet hatte. Im Eingangsraum des Gasthofes hatte ein Bijouteriehändler seine Auslage.   So war die Krone aus ihrem Winterschlaf erwacht, hatte ihre Wiedergeburt, ja ihre Auferstehung gefeiert, sich gewaschen, geputzt und Festkleider angelegt. Und nun mußten die Kurgäste kommen, die den Vorteil von alledem haben und bringen sollten. Denn die alte Krone war nicht nur eine Glucke, die winters ihre Flügel über uns hielt, sondern sie legte auch goldene Eier.
Eine Persönlichkeit, die immer wieder besonderen Eindruck machte, war der jeweilige Koch. Man nannte ihn allgemein den Chef. Ein solcher Chef nahm mich, solange ich klein genug dazu war, sooft er konnte, auf den Arm, und ein Name, den er mir gab, Pflaumenfritze, ist mir in Erinnerung. Er trug mich nämlich jedesmal in die Speisekammer und ließ mich in einen Sack gedörrter Pflaumen hineinlangen.
Ein andrer Koch, ein junger Mensch, der mich ebenfalls auf den Arm genommen hatte, ist mir erinnerlich und ein niedlicher Vorgang, der die ganze Küche erheiterte: der lustige Chef nahm mit den Fingern frisch gekochte Spargel von einer Platte, tauchte die Spitzen in Butter und ließ sie mich abbeißen, der übriggebliebene Stengel flog zum offenen Fenster hinaus.
Frau Milo hieß eine Kochköchin, die neben dem Chef wirkte. Auch sie nahm mich eines Tages – etwa dreijährig mochte ich gewesen sein – auf den Arm. Da fiel mir auf, daß irgend etwas an ihr befremdlich hervorragte. Ich hatte den Begriff einer weiblichen Brust noch nicht, so klopfte ich mit der Hand auf den unbegreiflichen Gegenstand und stellte die Frage, was das wäre, worauf die ganze Küche vor Lachen fast außer sich geriet und Frau Milo dunkelrot im Gesicht wurde.
Vom Arme irgend jemandes aus sah ich zum erstenmal die wohlgeordnete Speisekammer vom Dachrödenshof. Das war ein benachbartes Haus, das mein Großvater Straehler, der Brunneninspektor, gebaut hatte und in dem er mit zwei unverheirateten Töchtern wohnte.
Das Interesse der Köche und ähnlicher kinderlieber Menschen setzte aus, als ich älter geworden war und zur Schule ging. Es wäre mir auch nur lästig gewesen.
Ein Wildling wie ich fürchtete Zwang von allen Erwachsenen. Wo ich nur konnte, mied ich sie. Die bloße Berührung durch einen von ihnen war mir unleidlich. 
(Gerhart HauptmannDas Abenteuer meiner Jugend, 1937)