29 Oktober 2012

Michael Thomas: Deutschland, England über alles

Michael Thomas, bei Kriegsausbruch am 1.9.1939 nicht rein durch Zufall auf englischem Boden, war als Sohn von Felix Hollaender nach Nazigesetzen deutscher Halbjude, wurde als solcher in England interniert, meldete sich zum britischen Militärdienst, kämpfte von der Invasion (6. Juni 1944) ab gegen Nazideutschland und  beobachtete als Verbindungsoffizier von General Templer den Aufbau der deutschen Nachkriegspolitik in der britischen Zone aus nächster Nähe. Vermutlich war sein Einfluss darauf, dass die britische Militärregierung ihr Misstrauen gegenüber den deutschen Politikern trotz anfänglich sehr großen Vorbehalten dann doch relativ rasch abbaute, nicht gering.
Als Sohn seines Vaters kannte er die intellektuelle Szene um Max Reinhardt (wenn auch nur aus der Perspektive des Kindes), als Schüler stand er in enger Beziehung mit Personen des Stefan-George-Kreises nahe, den er freilich nicht so genannt sehen wollte, als Student gewann er die Freundschaft oder doch zumindest ein freundschaftliches Verhältnis mit Carlo Schmid. In seiner Eigenschaft als Presseoffizier freundete er sich mit dem damals 23-jährigen Rudolf Augstein an.
Ganz uninteressant kann das, was er über diese Zeiten zu schreiben hat, nicht sein. Dass er als Konservativer Kurt Schumacher näher stand als Konrad Adenauer (S.149) und Axel Springer als ideenreichen Innovateur des deutschen Pressewesens schildert (S.176-179), macht seinen Bericht noch interessanter.
Ein Interview mit ihm ist 1984 in der ZEIT erschienen (leider beim Einscannen ziemlich verderbt).

Hier zunächst nur ein Zitat über britische Internierungslager:
Ich ließ nicht locker und wurde nun mit den haarsträubenden Vorgängen in Bad Nenndorf konfrontiert. - Folterungen bei Verhören! Nazimethoden in den eigenen Reihen! Ich traute meinen Ohren nicht.
[...] Ich wußte, daß die Verpflegung in den Lagern miserabel war, aber ich hatte keine Ahnung von den Verhörmethoden, bei denen, wie man später erfuhr, Grausamkeiten und Folter vorkamen. Und mit einem der Verantwortlichen hatte ich das Badezimmer geteilt.
Wer aber hätte mir meine Unkenntnis geglaubt? Seither kann ich mir vorstellen, daß es selbst im Reichssicherheitshauptamt Leute gab, die "von alledem nichts gewußt" haben. (S.165)



19 Oktober 2012

Eisgang auf der Weser

Während der größere Theil der Einwohner Heustedts sich der Freude auf dem Eise hingab, arbeitete der alte Oberdeichgräfe Koch in seiner Wohnung mit seinem Deichvogt Herold und einem Schreiber. Lange Karten, die Weserufer darstellend, waren auf der Erde ausgebreitet und mit allerlei schweren Gegenständen belastet, damit sie nicht zusammenrollten. Der Deichvogt las die Berichte der letzten Deichschau vor, und Koch ging mit ihm die seit dem Herbst beschafften Arbeiten durch.
Eine Brille saß schon auf der Stirn, was der zerstreute Alte nicht bemerkte, als er sich erhob und nun auch die zweite hinaufschob, und die dritte vom Schreibtische nahm und aufsetzte. »Wird ein schlimmer Eisgang das, Herold, sehr schlimm«, sagte er.
»Kann sich aber doch immer noch vierzehn Tage hinziehen«, meinte dieser, » treibt nicht so schnell als die Elbe bei Artlenburg.«
»Wird schnell, viel zu schnell kommen, liegt zu viel Schnee auf dem flachen Lande, und nun gar erst in den Gebirgen über Münden hinauf. Aber werden gar das Werra- und Fuldawasser nicht nöthig haben zum Eisgang, und nun diese schlechten Deiche. Ich fürchte sehr, daß wir unten mindestens zwei, oberhalb Hengstenberg einen Deichbruch haben, und wenn uns der verdammte Ueberfall selbst keinen Spuk macht, beim Sandmeier gewiß einen Bruch. Der Kerl ist so geizig, daß es mich freuen sollte, wenn es ihn allein träfe, – aber es trifft die ganzen Ortschaften von Eckernhausen bis Thedinghausen. Müssen die Braunschweiger dort avertiren, werden bei ihren Eyterdeichen aufpassen müssen, bekommen schon durch den Ueberfall allein mehr Wasser, als sie lassen können. Steckt mir in den Knochen, Herold, daß es großes Unglück gibt.« [...]


Als in der großen Amtsstube die nöthige Ruhe eingetreten war, was ziemlich langsam von statten ging, erhob sich der Oberdeichgräfe und sprach:
»Hört mal, Künners, in 'ne Tiet von acht Dagen hewt wie grot Water. Ji wättet, Matthias brickt dat Is, un so is et ook – up en paar Dage fröher oder later kumt et jo ook nich an.
»De Isgang schall wol scharp weren, un hewt wie Westwind, so driwt dat Is ünnen gegen de Dieke, un weiet de Wind von Noren her, so geit et baben los, un da sind de Dieke, wat ji ook wätet, verdammt slegt. In'n Sanddiek da sitt een Muse- un Winnewörpslock bi den annern. [...]
»De Buren von den böbern Diek föhrt morgen fiefdusend Bund Busk un twintig Schock Stroh up den Sanddiek, und de adelichen Häwe, de Kerke un de ut der Stadt un de Buren von Hengstenbarge dreidusend Bund Busk un drüttig Schock Stroh up den Schaardiek achter de Diekmählen. Up jede von düssen Stähen mät bett Dönnerstag hunnert Sandsäcke wäsen.
»Hewwet ji mi nu verstahn?«
[...]
Georg Schulz spitzte bei dem Essigfabrikanten die Pfähle zurecht, die man zur Verstärkung der Gartendeiche bedurfte. Seine Jungen hatten auf dem Polterboden einen großen Backtrog gefunden und herabgeschleppt, der zur Zeit des Siebenjährigen Kriegs in einem Bäckerhause gebraucht sein mußte und aus dem großväterlichen Nachlasse stammte. Es wurden drei Sitzplätze über den Trog genagelt, Stangen und Ruder vom nahen Zimmerplatz geliehen, und die Jungen warteten nur, bis die Essenszeit vorüber, um mit ihrem Kahn in die Oststadt zu eilen. [...]

Der Trog bewährte sich als seetüchtig, Heinrich führte die Stange, Friedrich das Ruder, man schiffte in die Heustraße ein und landete vor Forstschreibers Hause. Hier hatte der arme Karl schon seit dem frühen Morgen am Fensterladen gestanden und das Steigen des Wassers beobachtet, in der Schloßstraße einen Kahn nach dem andern vorüberfahren sehen, während er selbst im Hause bleiben mußte. Mit welcher Schnelligkeit stieg er jetzt in die zum Weihnachtsgeschenk erhaltenen Wasserstiefel. Er fiel der guten Mutter für die Erlaubniß, sich in diesen Trog setzen zu dürfen, um den Hals, sprang die Treppe hinab und wäre ins Wasser gefallen, wenn ihn Heinrich nicht aufgefangen hätte.
Das war aber eine Lust; man schiffte um die Kirche und schiffte die Schloßstraße auf und ab. Friedrich und Karl wechselten mit den Rudern, Heinrich führte die Stange, die ihm endlich der jüngere Bruder mit Gewalt entriß, um seine Steuermannskunst auch zu zeigen.
Friedrich war ein aufmerksamer Steuermann. Als er zum zweiten mal die Ecke berührte, wo Bardenfleth's Hof aufhörte, sagte er: »Bruder, das Wasser fällt, fällt bedeutend. Ich weiß gewiß, daß, als wir vor zehn Minuten an dieser Stelle waren, das Wasser wenigstens vier Fuß tief war, jetzt hält es keine zwei.«
»Dann hat die Weser unten Luft gekriegt, und dann muß auch das Eis losgehen«, sagte Heinrich.
»Laßt uns eilen, die Straße hinaufzukommen«, äußerte der Sohn des Forstschreibers, »ich habe noch nie einen Eisgang gesehen.«
Das geschah. Aber die Knaben warteten nicht ab, bis sie nicht mehr mit ihrem Fahrzeug weiter konnten, sondern sobald sie nur festen Fuß mit ihren Wasserstiefeln zu haben glaubten, verließen sie dasselbe, zogen es bis aufs Trockene und eilten zur Brücke.
Dorthin eilten auch alle, welche von dem Phänomen des plötzlich fallenden Wassers in den Straßen gehört hatten, aber das Eis oberhalb der Brücke regte sich nicht; der Pegel zeigte denselben Wasserstand wie vorhin. Die Ursache des Fallens sollte auch jedermann bald klar werden. Von Norden her erschallten sechs Kanonenschüsse, ein Zeichen, daß der Deich nicht mehr zu halten oder schon gebrochen sei. Das Zeichen kam zu spät, was seinen Grund darin hatte, daß der mit dem Zünden der Kanonenschläge betraute junge Herold von diesen selbst durch den Deichbruch getrennt wurde. Die Deichmannschaft, welche jene Nothsignale bei sich führte, kam jenseit des Deichbruches zu stehen, und Herold mußte erst von Hengstenberg neue Kanonenschläge holen lassen.
Indessen war aus einem zwölf Fuß langen Durchbruche von zwei bis drei Fuß Tiefe ein Loch von funfzig Fuß entstanden und der Deich bis auf die Sohle weggerissen. Das Wasser in der Oststadt verlief sich noch schneller, als es gekommen war, der Rückstau hatte aufgehört, das Eis auch bei Hengstenberg Luft bekommen.
Währenddessen war man oberhalb der Brücke und des Ueberfalls bei dem Deiche des Sandmeiers auch nicht müßig; das Wasser spülte bis an den Kopf des Deiches und auf der Binnendeichseite war eine andere Communication als zu Wasser nicht mehr möglich, da das Boswiehe durch den Ueberfall schon bis fünf Fuß unter Wasser gesetzt war. Darauf vorbereitet, hatte man an verschiedenen Orten Deicherde aufgehäuft, und noch immer wurde solche vom Sande her, wo der Deich mit der Geest in Verbindung stand, herbeigefahren.
Es war ein reges Treiben hier. Dreißig bis vierzig Personen waren damit beschäftigt, dicke Seile von Stroh zu drehen, ebenso viele andere schlugen diese am äußersten Ende des Deiches mit Pflöcken übereinander fest. Dahinter wurden Faschinen oder Säcke mit Sand gelegt, die Faschinen mit Pflöcken befestigt und Erde darübergefahren. Dummeier war bald auf diesem, bald auf jenem Fleck, denn man arbeitete an drei bis vier Stellen, denen die meiste Gefahr drohte.
Er sah aber ebenso häufig nach dem Himmel als nach der Weser. Jener wollte ihm nicht mehr recht gefallen.
Es hatten sich am nordöstlichen Himmel dunkle Wolken, Gewitterwolken ähnlich, gebildet, welche trotz des Südwindes rasch emporstiegen. Der Südwind war hier so günstig, als er unterhalb der Stadt ungünstig einwirkte. Da hörte man die sechs Kanonenschläge. »Dat is de Moordorper Diek«, sagte Hans, »de da to'n Düwel geit. Nu schull ji mal sehn, Jungens, wie das Is nu Luft kriegt un losgeit.« Und wie gesagt, so geschah es. Erst langsam, kaum merklich, schoben sich die Massen zusammen, noch einmal krachte es, als würde die Erde in ihren Grundfesten erschüttert, dann sah man, wie die auf den Eisbrechern ruhenden Schollen über die Spitzen derselben hinweggeschoben wurden. Auf den Spitzen derselben brachen aber die Schollen auseinander, küselten unter das Wasser und eilten unter der Brücke hinweg. Eine Eisscholle suchte der andern zuvorzukommen, es war ein Drängen, Reißen, Stoßen, Uebereinanderhinwegstürzen.
Vom Wasser sah man nur hin und wieder eine kleine offene Fläche, um welche sich sofort eine Masse Eisschollen zu streiten schienen. Trotz des Eisganges stieg das Wasser und schien sich gelblich zu färben. »Is all Fuldewater«, brummte Hans.
Gesprochen wurde auf dem Deiche wenig, denn das Geräusch war so groß, daß man ein menschliches Wort nicht verstand, man verständigte sich durch Zeichen.
Dummeier's Aufmerksamkeit wurde plötzlich durch eine Erscheinung in Anspruch genommen, die ihn mit Besorgniß erfüllte. Einige Feiglinge von den Eisschollen, oder einige durch den plötzlichen Ruck im Strome beiseitegeschobene, waren schon früher den Ueberfall passirt und hatten sich vor dem allgemeinen Untergange salvirt. Das waren junge, kleine, kecke Burschen gewesen, welche wahrscheinlich noch nicht wußten, daß hier der Weg zum Meere nicht hingehe. Jetzt kamen aber ein paar Riesenschollen mit zahlreichem Gefolge auf den Ueberfall zu. Der Wind war umgesprungen und wehte stark von Nordost und trieb Eis und Wasser jetzt gegen die Deiche.
Wenn solche mächtige Eisschollen, wie sie jetzt dem Ueberfall sich nahten, darüber hinweggingen, so war die doppelte Gefahr vorhanden, einmal, daß diese Schollen die Grasnarbe des Ueberfalls zerstörten, wol gar einen Deichbruch verursachten, und sodann, daß sie gegen die kleinen schwachen Deiche vor den Gärten der Langenstraße getrieben wurden und diese zerstörten. Hans versuchte hier mit funfzig Mann was möglich war, um die Eisschollen abzuhalten, aber alle Anstrengungen waren vergebens. Der immer stärker wehende Wind trieb die Eisschollen jetzt mehr gegen die Deichseite, sie schoben sich am Deiche bis auf den Kopf hinauf und passirten den Ueberfall in seiner ganzen Breite. Während dieser Anordnung waren die schwarzen Wolken hoch an den Horizont hinaufgezogen und es brach eins jener Wintergewitter los, die so überaus gefährlich sind. Der Wind hatte sich ganz nach Nordosten gedreht, und während bisher eine Menge der Schollen auf dem gegenüberliegenden unbedeichten Ufer gelandet waren, wurden sie jetzt gegen den Deich getrieben, sobald sie der Mächtigkeit des Stromes selbst entzogen waren. Donner vom Himmel, Schloßen, welche der Sturm den Deicharbeitern in das Gesicht trieb und sie beinahe unfähig machte, etwas zu sehen, dazu das Grollen, Stoßen, Drängen, Platzen und Aneinanderschmettern der Eisschollen und zunehmende Dunkelheit. Dann ein greller Blitz und unmittelbar darauf ein mächtig krachender Donnerschlag. Die gesammte Deichmannschaft stand starr und stumm. Jedermann fühlte, daß es eingeschlagen haben mußte. Es sollte auch nicht lange in Ungewißheit bleiben, daß und wo dies geschehen. Drüben im Westen, aus dem Eichwalde, welcher Eckernhausen versteckte, flammte ein Strohdach bald lichterloh zum Himmel. Alle Blicke wandten sich dahin. [...]

Hans sagte mit Entschiedenheit. »Ich bliebe hier un jie ook, blot juer ses könnt na Hus hen gahn. Ernst und Johann Meyer, Dierk Nibour, Stoffel Piepenbrink, Jobst Petermann un Cord Cordes. Alle Annern bliebet an Platze, denn hier brennt et ook, und wenn wie hier nich uppasset, so versüppet dat ganze Dörp un use Koren geit to'n Dübel, un dat von annere Dörper ook, und dat is doch leger als wenn mal en Hus afbrennt. Wie hewwet ja Nordostwind, un dat Füür drift um minen Eicksünner un nich up dat Dörp. Hinner den Holt liegt aber de Karken, de is massiv un hät Pannendäcker, da hört aber all watt to.«
Man überzeugte sich um so schneller, daß Hans recht habe, als unter den Füßen der Versammelten, etwa sechs Fuß unter der Kappe des Deiches, ein armdicker Wasserstrahl emporschoß. Von außen hatten Eisschollen an den Deich gestoßen, die Grasnarbe abgeschält, gerade an der Stelle, wo sich viele Mauselöcher im Deiche befanden. Das Wasser war durchgesickert und hatte sich in kurzer Zeit einen Weg gebahnt.
»Schlagtmeister«, rief Hans mit Donnerstimme, »dei groten Laakens, dei groten Laakens.«
Große Laken von starker Segelleinwand, an deren einem Ende dicke Backsteine eingenäht waren, wurden herbeigebracht und an der Außenseite des Deiches langsam heruntergelassen, drei übereinander, dann befahl Hans, in den Deich bis zur letzten Stelle hineinzugraben und diese mit Faschinen und Sandsäcken zu dichten. Dies alles mußte geschehen, während der Sturm starke Hagelkörner im heftigsten Niederschlag den Arbeitern in das Gesicht wehte.
Die Eisschollen hatten sich indeß den Ueberfall hinabgestürzt, es war die mächtigste dabei glücklicherweise dabei zerschellt.
Als das Gewitter vorübergetobt, drehte sich der Wind nach Süden, was zwar für die Deiche Schutz gewährte, dagegen bei dem Feuer gefährlich werden konnte, da es dasselbe auf die Scheunen und Stallungen zutrieb. Aber Hans schien kaum an das eigene Eigenthum zu denken, seine ganze Aufmerksamkeit war dem Schutze des Deiches zugewendet, auf dem er commandirte.
Er ließ, da es jetzt zu dunkeln begann, ein Feuer anzünden und die Mannschaft sich an demselben erwärmen, wobei jedem aus einem Fasse Branntwein ein nicht zu kleines Glas gereicht ward, aber nur das eine.
Die Eismassen wälzten sich im dichtesten Gedränge die Weser herab, die fortwährend zu steigen schien.

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre,1. Buch, 9. Kapitel

18 Oktober 2012

Zwei Prozesse

Fortsetzung von Zunftzopf: Das Ehepaar Schulz führt zur Wahrung seiner Rechte auf weitere Ausübung des bisherigen Broterwerbs zwei Prozesse.

Das Stadtgericht hatte, gegen sonstige Gewohnheit, in dem Processe gegen den Horndrechsler rasch gearbeitet. Schon nach Verlauf eines halben Jahres war eine Entscheidung erfolgt, welche den Klägern den Beweis auferlegte, daß ihnen seit undenklicher Zeit die Befugniß zustehe, ausschließlich der Holzdrechsler, Horndrechslerwaaren anzufertigen und zu verkaufen. Da keine von beiden Parteien gegen dieses Beweisurtheil Rechtsmittel eingewendet hatte, wurde zur Beweisaufnahme geschritten. Es wurden von beiden Seiten eine Menge Zeugen und Gegenzeugen vernommen. Endlich kam ein Erkenntniß, welches den klägerischen Beweis für nothdürftig geführt erkannte und den Klägern einen Erfüllungseid auferlegte.
Hiergegen appellirte der Holzdrechsler, und er erhielt von der Justizkanzlei ein reformatorisches Erkenntniß, der Beweis sei gänzlich verfehlt, die Kläger wurden zurückgewiesen. Nun brachten Kläger die Sache an den höchsten Gerichtshof, verbanden mit der Appellation zugleich das beneficium novorum, indem sie eine alte Urkunde von dem lüneburgischen Herzog Georg Ludwig vorlegten, die zu Gunsten der Horndrechsler allenfalls interpretirt werden konnte. Nach zwei Jahren stellte das Oberappellationsgericht in Celle das erste Stadtgerichtserkenntniß wieder her, verurtheilte auch, wenn Kläger den Erfüllungseid leisteten, den Beklagten in die Kosten, mit Ausnahme derjenigen der Appellationsinstanz, welche compensirt wurden.
Der Eid wurde abgeleistet.
Das war ein harter Schlag für die Schulz'sche Familie. Die Proceßkosten, die der Besagte seinen Gegnern für zwei Instanzen bezahlen mußte, beliefen sich auf mehrere hundert Thaler. In seiner Kasse waren kaum so viel Groschen. Es war ein schlechter Trost, daß der Advocat meinte, bis die Liquidation der Kosten erfolgt und diese festgestellt sei, möchte wol immer noch ein halbes Jahr hingehen, und dann könne er die Sache leicht noch ein halbes Jahr, und wenn man die Kosten einer Instanz anwenden wolle, noch länger hinausziehen. Vielleicht, hatte er gesagt, sei der Proceß mit den Schneidern dann gewonnen. Das war in der That die letzte Hoffnung der armen Familie; sie erhielt dann einen Theil der seit Jahren aufgewandten Proceßkosten erstattet.
Dieser Schneiderproceß lag zur Entscheidung in einer Supplicationsinstanz bei irgendeiner unbekannten Juristenfacultät. Die Justizkanzlei zu Hannover, in der moderne Ansichten vertreten waren, hatte auch hier in der Appellationsinstanz zu Gunsten der Beklagten entschieden, dem Schneideramte den Beweis auferlegt, daß die Schneideramtsmeister in Heustedt das ausschließliche Recht hätten, Damenkleidungen anzufertigen, der Beklagten den Einredenbeweis, daß keiner der heustedter Schneider fähig sei, ein Damenkleid ordentlich anzufertigen. Der Rechtsbeistand Schulz' zweifelte nicht, daß der erste Beweis nicht werde geführt werden, und daß es der Beklagten ein Leichtes sein werde, den zweiten Beweis zu führen. Die Schneider verzweifelten selbst daran, den Proceß zu gewinnen, der einen des Processirens werthen Gegenstand nicht mehr hatte, da Marie die Schneiderei aufgegeben; es handelte sich nur um die Kosten.
Georg meinte indeß, auf den Gewinn eines Processes zu hoffen, das sei dasselbe, als seine Hoffnung auf den Gewinn einer Quaterne zu setzen; er dachte Tag und Nacht darüber nach, auf welche Weise es ihm möglich sein würde, den Betrag der Proceßkosten geliehen zu bekommen. Jemand um die kleinste Gefälligkeit anzusprechen, war ihm von Jugend an schwer geworden, es beleidigte das seinen Stolz.
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7. Kapitel

Frau Marie bittet vergeblich um Geld. Man muss schließlich von einem Juden leihen. Als auch der zweite Prozess verloren geht und man auch diese Prozesskosten übernehmen muss, bleibt nichts anderes übrig, als das Haus zu verkaufen. So sieht der Jude Hirsch eine Chance auf Grundbesitz.


Moses Hirsch blieb Höchstbietender, indem er noch 50 Thaler weniger bot, als seine Hypothek betrug. Er erhielt den Zuschlag. Aber Juden durften damals und bis in die Mitte unsers Jahrhunderts kein Grundeigenthum erwerben. Unter besondern Umständen wurde davon indeß eine Ausnahme gemacht. Moses Hirsch reiste selbst nach Hannover, um eine solche für sich zu erwirken. Er machte dort großes Geschrei, daß er genöthigt gewesen, zur Rettung seines Kapitals und der Hypothek zu kaufen das Haus, daß er schon jetzt 50 Thaler verliere, noch viel mehr verlieren würde, wenn der weniger Bietende das Haus erhielte. Dieses Geschrei wirkte indeß wol weniger als die thätige Fürsprache seines Vetters, des Hofagenten Markus Meier. Moses Hirsch bekam die Dispensation vom Gesetze, ward so der erste jüdische Grundbesitzer in Heustedt und mußte demzufolge auch Bürger werden, das Schutzjudenverhältniß hörte damit auf. Von da an pflegte er seinen Kindern, und in spätern Jahren noch seinen Enkeln täglich von früh bis abends einzupredigen: »So ich bin geworden in Heustedt der erste Grundbesitzer und Börger vom Stamme Israels, sollen bei dem Gotte meiner Väter und dem Lichte auf dem Grabe meiner Mutter werden meine Kindeskinder die ersten au Gut und Habe von den Börgern Heustedts.«
Aber Moses Hirsch war gewissermaßen großmüthig und gutmüthig. Er hätte das Recht gehabt, wegen der 50 Thaler, um die er bei der Subhastation zu kurz gekommen, sich an das Mobiliarvermögen Schulz' zu halten, er hätte die Kuh und das Hausgeräth verkaufen lassen können. Er verzichtete darauf, er machte einen Strich durch die Obligation, hatte er doch das Ziel erreicht, das er seit dreißig Jahren beständig vor Augen gehabt, das ihm bei seinem anfänglichen Schacher mit alten Kleidern und Fellen, dann bei seinem Viehhandel, dann bei dem Wollhandel und Négocegeschäft beständig vor Augen gestanden: er war Bürger und Hausbesitzer.
Es traf sich, daß damals der alte Spritzenmeister, als dessen Substitut Georg schon seit Jahren fungirt hatte, starb. Derselbe hatte eine Officialwohnung neben dem Spritzenhause, freilich in Klein-Paris. Der Drechsler wurde von dem Magistrat als Spritzenmeister gewählt, ihm die Wohnung nebst Garten und eine Moorwiese zur Kuhweide überwiesen, dafür mußte er Spritzen und Schläuche in Ordnung halten, einschmieren, lüften, beim Feuer das Rohr führen u. s. w.
Georg konnte sein Unglück nicht verschmerzen, obwol er jetzt viel sorgenfreier lebte wie zuvor. Er hatte sich eine Werkstatt eingerichtet, Marie hatte das Haus so schön ausgeziert, als nur möglich war. Der Garten hinter dem Hause war bedeutend größer als der beim eigenen Hause, hatte Aepfel-, Birnen- und Zwetschenbäume, ein Umstand, der die beiden Jungen ungemein glücklich machte.
Wenn bei der trüben Stimmung, in welcher Georg dahinlebte, eine zufällige Veranlassung sich fand, daß ihm Marie etwas wider seinen Sinn machte oder sprach, namentlich die Erziehung der Jungen betreffend, welche sie allzu gern in die Rectorschule geschickt hätte, so kam es wol zu Ehestandszänkereien, und der Mann war ungerecht genug, seiner Marie Vorwürfe zu machen, wie sie einst ihm von der Mutter eingegeben: »Hättest du nicht immer so hoch hinaus gewollt, hättest du mich nicht beredet, einen Laden einzurichten, hättest du durch dein ganzes Wesen und Betragen nicht den Neid und die Eifersucht der Heustedter erregt, mich nicht zu den Processen verleitet, wir brauchten jetzt nicht in diesem Banditenwinkel zu wohnen. Nun willst du mit den Jungen auch wieder hoch hinaus. Der Heinrich sitzt beständig hinter den Büchern, statt mit Hand anzulegen, oder läuft in die Oststadt mit Forstschreibers Karl, daraus wird nimmer etwas Gutes.«
Wenn die Frau dann aber antwortete: »Georg, habe ich das um dich verdient? Habe ich nicht Vater und Vaterstadt, das goldene Mainz, verlassen, bin ich meiner Religion nicht entfremdet deinetwegen? Willst du mich durch deine Lieblosigkeit nun noch zu dem Glauben zwingen, daß mich die Strafe des Himmels schon hier verfolgt, weil ich dich lieber gehabt als meinen Glauben? weil ich die Gebote meiner Kirche misachtet, und mich der Absolution unwürdig gemacht habe, wie der Priester sagt?« dann bat der Mann um Verzeihung, und man versöhnte sich.
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7. Kapitel

Aus der Sicht von 1870 erscheinen Zunftzwang und die Unfreiheit von Juden als lange überholt. Mit seiner Erinnerung an die alten Verhältnsse im Königreich Hannover kann Oppermann begründen, dass dies Königreich kein Recht auf Fortbestand mehr habe. 



Zunftzopf


Das Kapitel "Zunftzopf" ist das 7. Kapitel in Heinrich Oppermanns Roman "Hundert Jahre", der zwischen 1770 und 1870 in dem fiktiven Heustedt, dem heutigen Hoya an der Weser, spielt.

Am Ende der Langenstraße in der Weststadt, da, wo sich diese in drei kleine abzweigte, die den Beinamen Klein Paris führten, lag das Spritzenhaus Nr. 2, daneben, aber schon in Klein Paris, die dazugehörige Officialwohnung mit einem kleinen Garten. Diese Wohnung ward seit dem Herbst des letzten Jahres von dem Spritzenmeister Georg Schulz, dem Holzdrechsler, bewohnt.
Schulz war in Heustedt geboren, sein Vater war dort Bürger und Holzdrechsler gewesen, und er selbst mußte wieder Drechsler werden, das war so hergebracht. Georg Schulz war eine niedersächsische Natur, plump und etwas roh, phlegmatisch und zähe, arbeitsam und fleißig, nicht leicht zum Zorne geneigt, aber grenzenlos heftig, wenn er einmal in Zorn gerieth. Er war acht Jahre in der Fremde gewesen, hatte einen schönen Theil von Deutschland durchwandert. Von Hannover zog er nach Braunschweig, von da nach Leipzig, hielt sich dann in dem alten kunstreichen Nürnberg ein Jahr und länger auf. Die Donau hatte er in Regensburg zu Gesicht bekommen, war aber nicht an ihr herunter, sondern hinaufgewandert dem Schwabenlande zu. In Ulm und Tübingen hatte er Arbeit gefunden, war dann in Mainz länger als zwei Jahre bei einem kleinen Meister geblieben, dort traf ihn die Nachricht vom Tode des Vaters, und ein klagender Brief der Mutter rief ihn zurück, damit er das Bürgerwesen und die Kundschaft des Vaters übernähme, ein Haus gründe. Jetzt erst zeigte es sich, warum sich derselbe von Mainz nicht trennen konnte.
Nicht der wohlfeile Wein, der leichte Sinn und das lustige Leben der alten Bischofsstadt hatten es ihm angethan, sondern die achtzehnjährige Meisterstochter, die braunäugige Marie mit den langen dunkeln Augenwimpern und dem frommen madonnenartigen Augenniederschlage.
Als der Brief der Mutter angekommen war, und Georg davon sprach, nach Hause zu müssen, kam es zur Erklärung. Sie liebte ihn sehr, den blonden Ketzer, und hatte sehr oft zu der heiligen Namensgenossin gefleht, daß sie ihr die Gegenliebe schenken oder vielmehr ihr sein Herz auf ewig erhalten möge, denn seine Blicke, sein ganzes Wesen hatten es ihr schon seit einem Jahre gesagt, daß er sie liebe.
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7. Kapitel

Maries Eltern sind mit der Verheiratung ihrer Tochter einverstanden. Marie lässt sich darauf ein, mit Georg Schulz nach Heustedt zu ziehen. Dort betreibt er er neben der Holzdrechlerei auch das Horndrechseln. Sie hat zu Hause das Putzmachen gelernt und macht bei den vornehmen Damen Heustedts Furore, weil sie sich mit der Pariser Mode auskennt und Kleider und Putz nach dieser Mode herzustellen versteht.
Missgunst führt dazu, dass man ihm das Horndrechseln und ihr das Putzmachen verbieten will. Zur Begründung werden die alten Zunftbestimmungen angeführt, die sonst lange schon nicht mehr beachtet worden waren. 

Georg Schulz war im höchsten Grade erstaunt, als er eines Tages vom löblichen Stadtgericht ein sogenanntes Mandatum erhielt, wonach er sich bei funfzig Kassengulden Strafe des Anfertigens von Horndrechslerwaaren zum Verkaufe, so des Feilbietens und Verkaufs derselben im offenen Laden zu enthalten habe.

Was war da zu thun? Georg's Lorenzdosen von Horn hatten eine gewisse Berühmtheit erlangt, er hatte Bestellungen aus Bremen wie aus Hannover erhalten, der Verkauf derselben bildete seine beste Nahrungsquelle. Er hatte noch jüngst eine größere Quantität amerikanisches Horn in Bremen gekauft. Allein er war ein abgesagter Feind von Processen, und daher eher geneigt nachzugeben, als einen Proceß zu führen. Ganz anders zeigte sich die Gesinnung seiner Frau. Sie hatte keinen Begriff von Zunftzopf, sie ging von dem Gedanken des natürlichen Rechts aus, daß jeder Mensch befugt sei, diejenigen Arbeiten, zu welchen er befähigt sei, auch anzufertigen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ihr Vater in Mainz hatte ja auch Drechslerarbeiten, sowol in Holz als in Horn, gemacht. »Ein Drechsler ist Drechsler«, sagte sie, »und es kann einerlei sein, ob du in Horn drechselst oder in Holz, wenn deine Arbeit nur gut ist. Was, du willst den elenden Drohungen nachgeben? Du willst der alten Katze mit den grünen Augen, die das alles eingeleitet hat, um uns zu schaden, den Gefallen thun, klein beizugeben? Nein, man muß sich vertheidigen, man muß einen Vertheidiger annehmen. Ich habe noch viele blanke Gulden in meiner Chatoulle liegen, solange noch ein Gulden da ist, leide ich nicht, daß du dein Recht aufgibst.«
Der gutmüthige Ehemann gab der Frau nach. Marie selbst ging zum Amtsadvocaten. Dieser versprach, sich durch Einsicht des Gildebriefes der Horndrechsler auf dem Rathhause erst zu instruiren. Er brachte guten Trost von dort mit. In dem Gildebriefe stehe nichts, daß die Horndrechsler allein und ausschließlich befugt seien, in Horn zu drechseln, sondern nur, daß sie in ihren althergebrachten Rechten und Gerechtsamen geschützt werden sollten. Sie müßten also beweisen, und der Beweis werde schwer werden, da er selbst sich erinnere, von Georg's Vater manche Pfeife von Horn gekauft zu haben. Auch Georg erinnerte sich wohl, daß, solange er überhaupt Erinnerung habe, sein Vater in Horn beständig gedrechselt und damit gehandelt.
Es wurde also eine Einrede der Erschleichung verhandelt, und der Proceß hatte seinen Anfang genommen. Wann das Ende sein würde, wußte damals niemand, oft erlebten es beide streitende Theile nicht.


Als sich das Gerücht von diesem Proceß verbreitete, fingen auch die Schneider an, ihre Köpfe zusammenzustecken. Lenchen brauchte nicht viel zu hetzen, unter den Schneiderfrauen gab es manche, denen die »Fremde« ein Dorn im Auge war. Acht Tage später erhielt auch Marie ein Mandat, sich des Einpfuschens in das löbliche Schneideramt zu enthalten und weder im eigenen noch in fremden Häusern weibliche Kleidungsstücke gegen Lohn anzufertigen, bei fünfundzwanzig Gulden Kassengeldstrafe.
Dagegen wurde auf Ermunterung und Beifall aller Damen aus dem Honoratiorenstande erst recht processirt, denn alle diese Damen erboten sich, Zeugniß abzulegen, daß kein einziger Schneider in Heustedt ein Damenkleid anzufertigen verstehe.
Beide Processe machten dem jungen Ehepaare in ihrem Anfange keinerlei Kümmerniß.

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre,1. Buch, 7. Kapitel

17 Oktober 2012

Die Geschichte geht gut aus


In mezzo a tutte queste meraviglie, che si succedevano le une alle altre, Pinocchio non sapeva più nemmeno lui se era desto davvero o se sognava sempre a occhi aperti.
– E il mio babbo dov'è?
– gridò tutt'a un tratto: ed entrato nella stanza accanto trovò il vecchio Geppetto sano, arzillo e di buon umore, come una volta, il quale, avendo ripreso subito la sua professione d'intagliatore in legno, stava appunto disegnando una bellissima cornice ricca di fogliami, di fiori e di testine di diversi animali.
 – Levatemi una curiosità, babbino: ma come si spiega tutto questo cambiamento improvviso? – gli domandò Pinocchio saltandogli al collo e coprendolo di baci.
– Questo improvviso cambiamento in casa nostra è tutto merito tuo – disse Geppetto.
– Perchè merito mio?...
– Perchè quando i ragazzi, di cattivi diventano buoni, hanno la virtù di far prendere un aspetto nuovo e sorridente anche all'interno delle loro famiglie.
– E il vecchio Pinocchio di legno dove si sarà nascosto?
– Eccolo là – rispose Geppetto:
e gli accennò un grosso burattino appoggiato a una seggiola, col capo girato sur una parte, con le braccia ciondoloni e con le gambe incrocicchiate e ripiegate a mezzo, da parere un miracolo se stava ritto.
Pinocchio si voltò a guardarlo; e dopo che l'ebbe guardato un poco, disse dentro di sè con grandissima compiacenza:

– Com'ero buffo, quand'ero un burattino! e come ora son contento di essere diventato un ragazzino perbene!...
Carlo Collodi: Pinocchio (in der italienischen Wikipedia)
Der italienische Text, mit Illustrationen

Carlo Collodis Pinocchio in der deutschen Fassung von Anton Grumann (1913) (Schluss)

Bengele konnte immer noch nicht alles begreifen. Er lief zum Spiegel; wirklich! Das war nicht mehr der Holzkopf mit der langen Nase. Aus dem Spiegel lachte ein kluger Knabenkopf mit blondem Haar und blauen Augen.
Wo ist denn der Vater? – »Vater!« rief Bengele und ward traurig.
Da kam aus dem Zimmer nebenan Vater Seppel, gesund, froh und lustig wie früher. Er hatte schon sein altes Handwerk wieder angefangen und schnitzte gerade einen prächtigen Bilderrahmen mit allerhand Blumen und Blättern.

»Sag mir doch, Vater, wie ist das alles gekommen?« fragte Bengele, fiel ihm um den Hals und küßte ihn.
»Du hast es verdient«, sagte Vater Seppel. »Warum verdient?«
»Bengele, wenn die unartigen Hampelmänner brave Kinder werden, dann ändert sich das ganze Haus und bekommt ein schöneres Aussehen.«
»Wo ist jetzt der hölzerne Bengele?«
»Dort steht er«, sagte der Vater.
An einem Stuhle lehnte ein toter Hampelmann; Sein Kopf hing lahm nach einer Seite, die Arme fielen kraftlos von den Schultern, die Beine waren übereinander gekreuzt – ein Jammerbild.
Bengele schaute die Vogelscheuche mitleidig an und sprach:

»Wie dumm, daß ich so lange ein Hampelmann gewesen bin! – Nun aber will ich ein braver Knabe bleiben, und ich rate allen unartigen Kindern:
›Spielt nicht den hölzernen Hampelmann!‹«

Die Geschichte vom hölzernen Bengele, Schluss

Im Inneren des großen Fischs


Immer deutlicher konnte Bengele die Dinge unterscheiden; mehr und mehr hellte der Weg sich auf. Endlich stand er vor dem Lichte und sah ... na, was? – Nie würdet ihr es erraten. – Er sah einen gedeckten Tisch, auf ihm stand, in eine leere Weinflasche gesteckt, eine Kerze. Hinter dem Tische saß ein alter Mann. Ein langer Bart verdeckte seine Brust, das weiße Haar fiel in langen Strähnen von seinem Haupte. Er hatte ein Paar ungekochte Fischlein vor sich liegen und aß davon.
Einen Augenblick stand Bengele unbeweglich da wie eine Bildsäule. Er wollte lachen, weinen, reden; aber er brachte nichts fertig. Nur ein paar unverständliche Worte kamen über seine Lippen. – Endlich ein lauter Freudenschrei, und mit ausgebreiteten Armen flog er dem weißen Alten an den Hals. –
»O, lieber, lieber Vater! Jetzt habe ich dich doch noch gefunden, und jetzt gehe ich nie mehr von dir fort, nie, nie mehr.«
Der Alte wischte sich die Augen aus und sagte: »Ist es wahr? – Ist es keine Täuschung? – Bist du es wirklich, mein lieber Bengele?«
»Freilich bin ich's. Ich bin's, dein Bengele. – Gelt, du hast mir alles verziehen? – Lieber Vater, wie gut du bist! – Und ich ... Aber wenn du wüßtest, wie ich es büßen mußte! Ich habe immer Unglück gehabt, und es ist mir immer schlecht gegangen. – An jenem Tage, wo du deinen Kittel verkauft hast, ging ich nicht in die Schule, sondern zum Kasperletheater. – Der Direktor Feuerschlund wollte mit mir seinen Hammel braten; aber am Schluß gab er mir fünf Goldstücke. Ich solle sie dem Vater bringen, hat er gesagt. Aber da kam der Fuchs und die Katze. Wir gingen in den ›Geleimten Vogel.‹ Dort haben sie wie ausgehungerte Wölfe gefressen. Ich ging in der Nacht weiter, und die Räuber haben mich angepackt. Ich bin davongerannt, aber sie kamen immer hinter mir her. Dann henkten sie mich an der ›Großen Eiche‹. Aber das schöne Mägdlein mit dem goldenen Haar hat mir seine Kutsche geschickt und die Ärzte sagten: ›Wenn er nicht tot ist, so lebt er noch‹ – Dann habe ich ein wenig gelogen, und meine Nase ist so schrecklich lang geworden, daß ich nicht mehr zur Tür hinauskam. Und dann ging ich mit dem Fuchs und der Katze aufs Wunderfeld mit vier Goldstücken, weil ich eines dem Wirt zum ›Geleimten Vogel‹ geben mußte. – Der Papagei hat mich ausgelacht, weil ich keine zweitausend Goldstücke bekam und die vier auch nicht wieder. Deshalb hat mich der Richter ins Gefängnis werfen lassen; er hat den Dieben noch geholfen. – Dann habe ich Hunger gehabt und wollte mir ein Traubenbeerchen abrupfen, und dort ist eine Marderfalle gewesen. Deshalb hat mich der Bauer zum Hofhund gemacht; aber ich war treu, und er hat mich fortgelassen. Die Schlange, die so arg mit dem Schwanze rauchte, hat auch lachen müssen, als ich in den Schmutz fiel, und dann ist sie gestorben. Auch die gute Fee war tot; aber der große Täuber hat mich ans Meer getragen und gesagt: ›Ich habe deinen Vater gesehen, er macht einen Kahn am Meer und will dich suchen.‹ Da habe ich gesagt: ›Wenn ich nur Flügel hätte wie du‹, und er hat gesagt: ›Willst du zu deinem Vaters – ›Schon!‹ habe ich gesagt, ›aber wer trägt mich zu ihm?‹ ›Ich‹, hat der Täuber gesagt; deshalb bin ich ihm auf den Rücken gesessen, und wir sind Tag und Nacht geflogen. Aber am Meer haben die Fischer gesagt: ›Dort geht ein Mann mit seinem Kahne unter.‹ Ich habe dich gleich erkannt und dir gewinkt, du sollst ans Ufer kommen.«
»Ich habe dich auch erkannt«, sagte Seppel, »und wäre gern zurückgefahren; aber das Meer war wild, und eine große Welle hat mir den Kahn umgeschlagen. Es kam der schauerliche Große Hai und verschlang mich.«
»Wie lang bist du jetzt schon hier?« fragte Bengele. – »Heute sind es genau zwei Jahre – zwei Jahre, so lang wie die Ewigkeit.«
»Wie hast du leben können? Wo hast du die Kerze her und die Streichhölzer?«
»Das will ich dir alles erzählen. – In dem schrecklichen Unwetter ging auch ein großes Segelschiff unter. Die Seeleute retteten sich alle, als das Schiff sank. – Der Große Hai hatte gerade an diesem Tage einen Riesenhunger und verschlang das ganze Schiff.«
»Was! – Und hat es auf einmal hinuntergeschluckt?«
»Jawohl! – Nur der große Mastbaum blieb ihm wie ein Zahnstocher in den Zähnen hängen, er lockerte ihn mit der Zunge und spuckte ihn wieder aus. – Das Schiff war mein Glück. Ich fand darin Fleisch in Konservenbüchsen, Brot, Zwieback, Rosinen, Wein, Käse, Zucker, Kaffee und Kerzen. Auch einige Pakete Streichhölzer habe ich gefunden. Zwei Jahre lang hat mir dieser Vorrat ausgereicht; aber jetzt ist alles verbraucht und aufgezehrt. Die Kerze, die hier brennt, ist die letzte.«
»Und dann?«
»Dann, mein lieber Sohn, müssen wir im Dunkeln leben.«
»Nein, Vater! Jetzt ist keine Zeit zu verlieren; wir müssen uns retten.«
»Retten? – Unmöglich! – Wie?«
»Durch das Maul des Ungeheuers gehen wir zurück und springen ins Meer.«
»Du hast gut reden, Bengele; ich kann nicht schwimmen.«
»Macht nichts. Ich nehme dich auf den Rücken. Wir sind nah am Lande.«
»Es geht nicht, Bengele«, sagte Seppel und schüttelte traurig den Kopf. – »Du bist nicht stark genug, um mich zu tragen.«
»Den Mutigen hilft Gott. Wir wollen die Rettung wagen. Sollte es bestimmt sein, daß wir umkommen, so sterben wir miteinander.«
Bengele nahm die Kerze und leuchtete voran. Sie gingen durch den Magen des Fisches und kamen an den weiten Schlund. Hier wollten sie den günstigen Augenblick zur Flucht abwarten.
Der Große Hai war sehr alt und schlief wegen seiner Atemnot stets mit weit geöffnetem Maule. Auch jetzt streckte er seinen Kopf über das Wasser und die beiden Flüchtlinge sahen vom Schlunde aus durch das offene Riesenmaul. Vom Himmel blickten freundlich helle die Sterne und der Mond; das Wasser mußte ganz ruhig sein, kein Rauschen war zu vernehmen.
»Wir haben es gut erraten«, lispelte Bengele dem Vater zu; »der Große Hai schläft wie ein Sack. Vorwärts mit Gott!«

15 Oktober 2012

Der Hampelmann Bengele

Ob wir aus diesen Textstück erkennen, worum es geht? Wie heißt Bengele wohl in der Sprache seines Erfinders?


»Ich habe gesagt –, daß – daß«, stotterte Bengele, »daß ich jetzt doch zu alt bin für die Schule.«
»Nein, mein Sohn, zum Lernen ist man nie zu alt!«
»Aber ich will auch kein Handwerk lernen!«
»Warum?«
»Weil man beim Arbeiten müde wird!«
»Liebes Kind«, mahnte die weise Fee, »wer so denkt, der endigt gewöhnlich im Krankenhaus oder im Zuchthaus. Müßiggang ist aller Laster Anfang. Der Mensch muß arbeiten auf dieser Welt, ob er arm sei oder reich. Das Faulenzen ist eine Schande. Es ist eine schlimme Krankheit; wenn man sie in der Jugend nicht heilt, so geht man mit ihr durchs ganze Leben.«
25. Kapitel

Schon hörte Bengele hinter sich den wutschnaubenden Hund, schon fühlte er den heißen Atem des grimmigen Tieres, – da kamen sie ans Meer.
Wie ein Frosch sprang Bengele sofort weit hinein ins Wasser. Plumps! fiel er auf und schwamm davon.
Bollo liebte das Wasser nicht. – Er schnupperte daran, sprang ein paar Mal am Ufer auf und ab; aber als er den Hampelmann wegschwimmen sah, erfaßte ihn aufs neue die Wut und er sprang ins Meer.
Rasend zappelte der Hund mit den Tatzen, bald war er müde und sank unter. Mit der letzten Kraft arbeitete er sich noch einmal über Wasser und rief:
»Hilf, hilf! – Ich muß ertrinken.«
»Ersaufe nur«, entgegnete Bengele. – Er war ein gut Stück weiter und außer Gefahr.
»Hilf mir doch, Bengele; rette mich vom Tode!«
Der Hampelmann bekam Mitleid mit seinem Feinde, schwamm zurück und fragte in einiger Entfernung:
»Wirst du mich unbehelligt laufen lassen, wenn ich dich rette?«
»Gewiß! Ich verspreche es dir! Aber jetzt mache schnell! Wenn du noch länger säumst, dann ist es mit mir vorbei.«
Noch zögerte Bengele; aber es fiel ihm ein, daß sein Vater stets gesagt hatte: »Geh nie einer guten Tat aus dem Wege!« Er schwamm darum rasch auf Bollo zu, faßte ihn am Schwänze, und mit wenigen kräftigen Schwimmzügen hatte er ihn aufs trockene Ufer gesetzt.
Der arme Hund konnte nicht mehr auf den Beinen stehen; denn er hatte zu viel Salzwasser geschluckt und einen kugelrunden Bauch bekommen. Bengele traute ihm aber doch noch nicht und hielt es für das klügste, gleich wieder ins Wasser zu hüpfen und davonzuschwimmen.
»Adieu, Bollo! Komm gut nach Hause!« rief er noch und ruderte ins Meer hinein.
»Adieu, Bengele«, erwiderte der Hund, »ich danke dir tausendmal; du hast mir das Leben gerettet! – Ein Dienst ist den andern wert! Vielleicht kann ich dir deine edle Tat einmal vergelten.« [...]


Er [Bengele] schwamm ans felsige Ufer und hatte sich schon an einem Steine festgeklammert. Da fühlte er unter seinen Füßen etwas emportauchen, und im Nu war er hoch in die Luft gehoben. Er wollte ins Wasser zurückspringen; doch es war zu spät. Der Unglückliche war in ein Fischernetz geraten, und um ihn zappelte und trappelte es von Fischen aller Art.
Gleich kam auch oben vor der Felsenhöhle der Fischer zum Vorschein, ein grausiges Geschöpf, ein entsetzlich häßliches Ungetüm. Er hatte keine Haare auf dem Kopf, sondern einen Busch von grünem Seegras, seine Haut, seine Augen, sein langer Bart, alles war meergrün. Im ganzen sah er aus wie ein Laubfrosch, der auf den Hinterbeinen steht; aber er war schrecklich wild und unbeschreiblich garstig.
Als der Fischer das Netz ans Land gezogen hatte, grunzte er zufrieden und sprach:
»Ein guter Fang! Auch heute kann ich mich an einem feinen Mahle gütlich tun.« –
»Ein Glück für mich, daß ich kein Fisch bin«, dachte Bengele bei diesen Worten und faßte etwas Mut. Der Fischer trug das Netz in seine Höhle. – Diese war ganz ausgeräuchert schwarz und unheimlich. In der Mitte brannte ein Herdfeuer; darauf stand eine Pfanne. Der ranzige Tran, der darin brodelte, verpestete die Luft.
Der grüne Fischer holte mit seiner plumpen Hand einen Fisch nach dem andern aus dem Netze. Jeder wurde genau untersucht:
»Barben sind gut«, sagte er, hielt eine vor seine Augen, beschnupperte sie und warf sie in einen leeren Kübel. Das Wasser lief dem Höhlenmenschen im Munde zusammen, ehe die Fische noch gekocht waren. Er wurde immer lustiger und sprach:
»Fein diese Nasen! – Ausgezeichnete Äschen! – Und diese Zungen! – Ha! – Solch seine Barsche erst! – Hurra, auch noch Sardellen!« –
Alles flog unbarmherzig in den großen Kübel. Jetzt war Bengele noch übrig. Der grüne Fischer zog ihn heraus; unbeschreibliches Erstaunen erfaßte ihn, seine grünen Augen wurden groß wie Pflugrädchen, und er fragte verwundert:
»Was ist das für eine Sorte? Diesen Fisch habe ich noch nie gegessen!«
Aufmerksam schaute er den Neuling von allen Seiten an und meinte schließlich:
»Ja, ja, es muß eine Art Meerkrebs sein!«
Daß er ein Meerkrebs sein sollte, war dem Bengele doch zu viel, und er schrie beleidigt:
»Was?! – Ein Meerkrebs! – Dich soll das Mäusle beißen! Merke es dir ein für allemal: ich bin ein Hampelmann.«
»Ein Ham-pel-mann?« – sagte der Fischer in langgezogenem Tone, »ich muß schon sagen, einen Hampelmannfisch habe ich noch nie gegessen. Aber gerade deshalb wirst du mir um so besser schmecken.«
»Wie! Essen willst du mich! – Ich bin doch gar kein Fisch. Begreifst du nicht, daß ich reden kann wie du?«

»Das schon«, meinte der Fischer, »aber weil du doch ein Fisch bist und dazu reden kannst wie ich, so will ich dich auch entsprechend behandeln.«
»Das heißt?«
»Als ein Zeichen von Freundschaft und besonderer Hochachtung lasse ich dir die Wahl, wie du gekocht sein willst. Willst du gebraten, gesotten oder geräuchert werden?«
»In diesem Fall fällt mir die Wahl nicht schwer: am liebsten möchte ich losgelassen werden, weil ich nach Hause will.«
»Mach doch keine dummen Witze!« sagte der Fischer, »ich muß dich unbedingt versuchen; die Gelegenheit kommt selten wieder, daß mir ein Hampelmannfisch ins Netz gerät. – Vertraue nur ruhig auf mich; ich brate dich zusammen mit allen andern in der Pfanne, und damit kannst du wohl zufrieden sein. Es ist immerhin ein Trost, wenn man in Gesellschaft gebraten wird.«
Bengele weinte und flehte den Fischer an, daß er ihn frei gebe; er wolle nach Hause gehen zu seiner Mutter. Das grüne Scheusal hatte kein Herz und hörte gar nicht auf des Hampelmanns Gejammer. Verzweifelt drehte und wand sich Bengele; die grünen Tatzen ließen ihn nicht mehr los. – Der grausame Fischer machte schließlich dem Zappeln ein Ende; er nahm ein paar Weidenzweige und band dem Hampelchen Hände und Füße fest. Darauf warf er den neuen Fisch zu den andern in den Kübel.
Bengele ergab sich seinem traurigen Geschicke. Leise wimmerte er:
»Wäre ich doch in die Schule gegangen! – Hätte ich doch nicht auf schlechte Kameraden gehört! – Ach, wie muß ich meine Fehler büßen!«

28. Kapitel


Eben wollte der grüne Fischer den panierten Hampelmann in die Pfanne legen, da kam ein fremder Hund in die Höhle. Er hatte Bratenduft gerochen und war ihm nachgegangen.
»Hinaus da!« – schrie der Grüne; er hatte immer noch den Hampelmann in den Händen.
Der arme Hund hatte schrecklich Hunger; er kauerte sich nieder, winselte und wedelte und bat um ein Stückchen Fisch.
»Marsch hinaus!« rief der Unmensch zum zweiten Male, »sonst! ...« schon hob er ein Bein hoch und wollte dem hungrigen Tiere einen Tritt versetzen.
Der Hund war empört über die Grobheit. Knurrend zeigte er dem Grünen seine beiden Reihen spitzer Zähne und stellte sich auf zum Angriffe.
Da erklang in der Höhle eine leise Stimme:
»Bollo, hilf mir, ich werde gebraten.«
Sofort erkannte der Hund Bengeles Stimme und merkte, daß sie aus dem panierten Dinge kam, das der Fischer in der Hand hielt.
Was tut der treue Hund? – Er springt hoch, faßt den panierten Bengele mit seinen Zähnen, reißt ihn dem erstaunten Fischer rasch aus der Hand und trägt ihn schnellen Laufes davon.
Der Fischer war wütend, daß ihm der seltene Leckerbissen entgangen war; er wollte dem Hunde nachrennen, aber nach wenigen Sprüngen ging ihm schon der Atem aus und er keuchte verärgert in seine Höhle zurück.
Bollo blieb erst stehen, als er an den Fußweg gekommen war, der vom Meer nach Fleißigenstadt führte. Dort legte er seinen Freund Bengele sanft auf die Erde nieder.
»Bollo, du hast mir das Leben gerettet«, sagte der Hampelmann; »ich kann dir nie genug danken.«
»Gar nicht notwendig!« entgegnete der treue Hund; »ich habe nur meine Schuld abgetragen. – Schau dort das Meer!«
»Wie bist du nur in jene Höhle gekommen?« fragte Bengele.
»Ich lag immer noch halbtot am Ufer, da trug mir der Wind von weitem einen Bratengeruch daher. Weil ich Appetit hatte, ging ich diesem Dufte nach. Wäre ich eine Minute später gekommen, –«
»Sei still:« – sagte Bengele und fing von neuem an zu zittern. »Sprich nicht mehr davon! Wärst du eine Minute später gekommen, dann wäre ich jetzt schon gebraten und verspeist. Brrr! – Es schauert mich jetzt noch, wenn ich nur daran denke.«
Bollo mußte lachen! – Er reichte dem Hampelmann seine rechte Pfote zum Abschiede. Dieser drückte sie fest und liebevoll dem treuen Freunde; dann gingen sie auseinander.
29. Kapitel

Liao Yiwu erhält Friedenspreis des deutschen Buchhandels

Bei Liao Yiwu kann man als jemand, der die moderne chinesische Literatur nicht kennt, nicht beurteilen, ob sein Werk in seiner literarischen Qualität mit dem von Mo Yan zu vergleichen ist. Wenn es den Friedenspreis erhalten hat, so primär wegen seiner politischen Haltung. Wie groß ist der Christa-Wolf-Faktor bei der Beurteilung dieser beiden Schriftsteller? Christa Wolf wurde gelobt, so lange sie Dissidentin in der DDR war, und heruntergemacht, als sie nach dem 9.11.1989 an ihren Überzeugungen festhielt. Ich gebe zu, dass mich ihr Werk bis zum Störfall (1987) mehr interessiert hat als das darauf folgende. Aber die literarische Qualität dieser Werke kann doch nicht durch den politischen Wandel verändert worden sein. Wie werden Liao Yiwu und Mo Yan beurteilt, wenn China und Indien die führenden Weltmächte sein werden? Aus dem Bericht der taz über die Preisverleihung:
Liao erinnerte an das epochale Erlebnis vom Juni 1989, als das kommunistische Regime seine Legitimationsgrundlage verlor. Wie auch in seinem neuesten Buch „Die Kugel und das Opium“ sprach er von dem neunjährigen Lü Peng, der am 4. Juni auf dem Weg zum Tiananmenplatz erschossen wurde. Eine ungeheure Empörung erfasste die Demonstranten, die über Nacht zu den todesmutigen „Unruhestiftern des 4. Juni“ wurden und danach zu „konterrevolutionären Elementen“.
Liao erinnerte an seine eigene Verwandlung durch den 4. Juni, als ihm nach der Inhaftierung im Knast „die Haut des Poeten bei lebendigem Leibe“ abgezogen wurde. Liao zitierte den älteren Kollegen Liu Shahe, der 1957 in Ungnade gefallen war: „Wir sind nun keine Dichter mehr, wir sind zu Zeugen der Geschichte geworden. (taz, 14.10.12)
Rezensionen zu Werken  von Liao Yiwu bei Perlentaucher.

Fotos bei WP Commons

13 Oktober 2012

Shakespeares Werke waren die "Bibel" auf Robben Island

Ins Zuchthaus auf Robben Island wurde ein Band mit Shakespeares Sämtlichen Werken eingeschmuggelt. Er ging von Hand zu Hand. 33 Gefangene markierten in dem Band ihre Lieblingsstelle aus Shakespeares Werken.
Mandela markierte aus Julius Cäsar in der 2. Szene im 2. Akt Cäsars folgende Worte:
Der Feige stirbt schon vielmal, eh' er stirbt,
Die Tapfern kosten einmal nur den Tod.
Von allen Wundern, die ich je gehört,
Scheint mir das größte, daß sich Menschen fürchten,
Da sie doch sehn, der Tod, das Schicksal aller,
Kommt, wann er kommen soll.
Damals hatte er schon 14 Jahre Zuchthaus hinter sich und weitere 13 vor sich.

Das Exemplar von Robben Island wurde in Britischen Museum ausgestellt.

(Quelle: The Times, 19.6.2012

12 Oktober 2012

Mo Yan und die chinesische Literatur

Hat er sich mehr mit den Mächtigen arrangiert als Goethe? Ist er preiswüdiger als der sympathische, aber relativ bedeutungslose Paul Heyse (der freilich erst mit 80 Jahren und lange nach dem Ende seines Ruhms den Preis erhielt)? Ich weiß nicht wirklich genug über Mo Yan, der "mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint”, um es nur im Ansatz beurteilen zu können. Es wird wohl auch nie anders werden. Trotzdem sammle ich hier ein bisschen.

Interview von 2009

Wolfgang Kubin, ein Kritiker der "Leisetreterei" in der modernen chinesischen Literatur:

"Das China von Heute ist ein China, das weh tut - in vielfacher Hinsicht. Bis 1992 war Geld verdienen in China verpönt. Der Konfuzianismus und auch der Maoismus betonen andere Werte, nämlich die Werte der Selbsterziehung. Man verdiente und arbeitete nur so viel, dass man leben, überleben konnte, man arbeitete nicht, um in Saus und Braus leben zu können. Das ist auch ein wesentlicher Grund, warum die Händler, die Kaufleute sowohl im traditionellen China als auch unter Mao Zedong verachtet waren, denn Händler und Kaufleute, die bringen Unruhe, die ziehen herum und wollen das Geld mehren. Die haben andere Werte und diese Werte stellen die Selbsterziehung, die Selbstbildung des Menschen in Frage. In meinen Augen waren die 80er Jahre - als Geld verdienen unwichtig und Diskutieren das Wichtigste war - politisch, intellektuell, kulturpolitisch, literarisch die fruchtbarsten Jahre überhaupt. [...]
Seit dem chinesischen Altertum weiß man, man wird auf drei Art und Weisen unsterblich: durch hohe Moral, durch Tugend bzw. Verdienst und durch das hinterlassene Wort. Dahinter steckt die magische Vorstellung, dass das geschriebene Wort den Kontakt mit dem Jenseits aufrecht erhält, mit den Ahnen. Die vergotteten Ahnen, die Götter, die Geister sie nehmen das Wort wahr. Für sie schreiben die Dichter. Der große Dichter Du Fu (712-770), schrieb, dass, nachdem er seinen Vers vollendet hatte, die Götter zu weinen begannen."
Interview in FR vom 16.3.2009

Kubin, Mo Yan und Du Fu scheinen mir einander näher, als es Kubins kritische Aussage über die chinesische Gegenwartsliteratur in China nahe legt.

Mo Yan sagt: "Die Zeitungen übertreiben Chinas Schönheit und wir Schriftsteller vergrößern seinen Schmerz." Kubin sagt: "Das China von Heute ist ein China, das weh tut" und Du Fus Götter weinen über chinesische Literatur.

Kritik am Nobelpreis für Mo Yan:
Man sollte mal bedenken, dass in China bis heute Schrifsteller in Haft sitzen, weil sie regierungskritische Schriften verfasst haben.In diesem Land herrscht eine allgemeine Zensur, viele mutige Schriftsteller werden für ihr Gewissen bestraft. Es gibt genug Vertreter der chinesischen Literatur, die noch weitaus repräsentativer für die chinesische Literatur sind als Mo Yan. Bei Dao zum Beispiel.
Diese Verleihung setzt ein fatales Zeichen und führt den Chinesen in aller Klarheit noch mal vor Augen, wie ignorant die westliche Gellschaften gegenüber den Menschenrechten in China sind.
Professor Cui Weiping aus China kommentiert zu der Verleihung:
"Dies ist eine Welt, die Tyrannen bei ihrer Tyrannei unterstützt. Dies ist ein schwerer Schlag gegen alle Schriftsteller in Haft und alle Menschen, die unter der Verfolgung der Zensur leiden müssen."

11 Oktober 2012

Ausleihe von der lokalen Bibliothek über Internet

Man kann sich ein Buch als E-Buch ausleihen.
Nach Ende der Leihfrist gibt es keine Mahnung, sondern es erlischt einfach das Nutzungsrecht.

Mehr dazu

Beispiel onleihe.net

08 Oktober 2012

Old Shatterhand weist einem Erzähler durch Anachronismen nach, dass er ein Aufschneider ist

In Old Surehand II (1894) stellt Karl May einige seiner früheren Erzählungen durch eine lose Rahmenhandlung zusammengefasst vor. Im ersten Kapitel des Bandes, "Bei Mutter Thick" lässt er einen sich sehr selbstbewusst gebenden Erzähler die Geschichte vom Colorado-man vortragen, die Karl May früher unter dem Titel "Three carde monte" (1879) veröffentlicht hatte. May distanziert sich von dieser frühen Erzählung, indem er Old Shatterhand nachweisen lässt, dass die Erzählung in der vorgetragenen Form Anachronismen enthält.

 »Ich habe gar keinen Grund, damit zurückzuhalten, daß ich mich über einen sehr auffälligen Anachronismus gewundert habe, der in Eurer Erzählung vorgekommen ist.« »Anachronismus? Was ist das? Redet doch so, daß man es verstehen kann!« »Gut, also deutlich! Seit wann ist wohl vorn Petroleum im jetzigen Sinne die Rede gewesen?« »Wer kann das wissen!« »Ich, nämlich seit dem Jahre 1859. Und wann wurden in den Vereinigten Staaten die ersten Ölquellen entdeckt?« »Das mögt Ihr Euch selbst beantworten!« »Zwei Jahre vorher, also 1857. Nun sprecht Ihr von einem Ölbohrer jenseits des Coteaus, bei dem Lincoln gewesen sei, nachdem er kurz zuvor Lawyer geworden war. Wann aber ist er Lawyer geworden?« »Laßt mich mit Euren dummen Fragen in Ruh!« »Sie sind nicht so dumm, wie Ihr denkt, und gehören zu der Auskunft, die ich Euch geben soll. Lincoln etablierte sich nämlich im Jahre 1836 in Springfield als Lawyer, also über zwanzig Jahre vor der Entdeckung der ersten bedeutenden Ölquelle. Wie stimmt das mit Eurer Erzählung, Sir?« »Ob es stimmt oder nicht, das ist mir gleichgültig!« »Nun, so habt die Güte, gegen mein Gesicht ebenso gleichgültig zu sein!« »Wollt Ihr sagen, daß Ihr das von dem Ölbrande nicht glaubt?« fragte er in drohendem Tone. »O, daran hege ich nicht den geringsten Zweifel, nur ist der Ort und sind die Personen andere.« »Wie so?« »Old Shatterhand hat einen solchen Ölbrand erlebt, und zwar im Bluff von New-Venango[Fußnote: Siehe »Winnetou« Bd. II, pag, 359]. Der Ölprinz hieß dort nicht Willmers, sondern Forster.« »Das geht mich nichts an und ändert nichts an meinem Erlebnisse; es finden oft Ölbrände statt.« »Bei denen die Umstände einander so ungeheuer ähnlich sind? Hm! Übrigens kenne ich Tim Kroner, den Coloradomann, sehr genau.,‹ »Thunder-storm! Wollt Ihr etwa sagen, daß ich nicht Tim Kroner bin?« »Es kann allerdings vorkommen, daß zwei Personen ganz gleiche Namen haben; aber der richtige und echte Coloradomann ist der, den ich kenne.« »Da kennt ihn auch ein tüchtiger Kerl! Wenn Euch ein anderer als ich gesagt hat, er sei Tim Kroner, der Coloradomann, so hat er gelogen und war ein Schwindler. Das laßt Euch gesagt sein, sonst stopfe ich Euch den Mund mit dieser Klinge hier!« Er zog sein Bowiemesser aus dem Gürtel. Sofort hatte ich meinen Revolver in der Hand, richtete den Lauf auf ihn und antwortete: »Stoßt nur zu, wenn Ihr die Zeit dazu findet! Kugeln pflegen schneller als Messerklingen zu sein.« Er stand einige Augenblicke da, ließ dann das Messer sinken und sagte in verächtlichem Tone: »Pshaw! Tim Kroner hat es gar nicht nötig, etwas darauf zu geben, was so ein Kerl, wie Ihr seid, für Gesichter schneidet. Zieht also Fratzen, so viel Ihr wollt; ich habe nichts dagegen und bleibe wer ich bin!« Er steckte das Messer wieder in den Gürtel und kehrte auf seinen Sitz zurück. Die Zuhörer hatten diesen friedlichen Ausgang nicht erwartet, kleideten aber ihre Enttäuschung nicht in Worte. Ich hätte ganz anders auftreten können, doch fiel es mir nicht ein, den Gästen eines Kost- und Logierhauses ein Schauspiel nach Art der Runners und Loafers zu bieten. Mochte man immer denken, ich fürchte mich vor diesem sogenannten Coloradomann!

07 Oktober 2012

Fernsehfassung von "Der Turm"

Tellkamps "Turm" hat mir imponiert. Den ersten Teil des Fernsehfilms fand ich so gehetzt,* so fern von der bei Tellkamp geschilderten Kulturbürgerlichkeit in der DDR, dass ich vom zweiten Teil nur das letzte Viertel angesehen habe. Das enthielt mehr Action und war insofern filmgerechter.
Tellkamp gefiel der Film gut. Er muss es ja wissen.

Der Vorzug des Films für mich: Wenn der Autor des Buches den Film gut fand, habe ich dann das Buch richtig gelesen? Das gibt einen Anstoß, in das Buch hineinzusehen. Vielleicht habe ich danach ja ein Interesse, den Film noch einmal zu sehen, damit ich ihn besser mit dem Buch vergleichen kann.

Interessant: Der Buchautor ist von der Darstellung seiner Schriftstellerin Judith Schevola durch eine Schauspielerin so beeinflusst, dass er glaubt, Abstand von ihr gewinnen zu müssen, um zu seiner ursprünglich intendierten Figur zurückzufinden.

*Harald Jähner in der FR vom 26.9.12 sieht auch den Abstand zwischen Buch und Film, doch wertet er ihn anders als ich:
"Trotz der enormen Straffungen hetzt der Film nicht durch die noch immer komplexe Geschichte der Familie Hoffmann und ihrer widrigen Erlebnisse in Schule, Militär, Krankenhaus und Verlagswesen, kurzum im Staat. Er muss ordentlich Tempo machen und findet trotzdem Zeit, die Charaktere aufzubauen und dem Zuschauer ans Herz zu legen – eine dramaturgische Leistung, die gar nicht kleinzureden ist."

Eins ist zuzugeben: Ein Urteil über den Film zu gewinnen - vielleicht ja ein falsches - ist sehr viel leichter, als den Roman einzuschätzen. Vielleicht verdrängt auch bei mir bald der Film den Roman. Meinem Urteil über den Roman täte das nicht gut.

Nachtrag:
In einem Interview mit Zeit online erklärt Tellkamp, er habe beim Ansehen des Films Tränen vergossen.