31 Mai 2020

Hildegard Knef: Der geschenkte Gaul

Dieter Wunderlich über Knef: Der geschenkte Gaul

Wikipedia: Hildegard Knef
"Das Buch wurde in 17 Sprachen übersetzt und zum international erfolgreichsten Buch eines deutschen Autors seit 1945."

Sie hat tiefgehende Erfahrungen gemacht, hat Beobachtungsgabe, Menschenkenntnis, Sprache und Kunstverstand. Und sie kennt sich in dem meisten, was sie beschreibt, aus. Sie scheut vor Privatem nicht zurück, zeichnet eindrucksvoll privates Erleben und hält sich andererseits zurück.
Der große Respekt, der Marlene Dietrich, dieser Person aus einer anderen Welt, gezollt wird, wird in ihrer Schilderung menschlich verständlich. 

"Jede Nacht war Fliegeralarm, wir waren alle müde, [...] (im Luftschutzkeller:) betrachtete die Wasserrohre, schlief über unfertigen Schularbeiten ein, wachte bei Entwarnung wieder auf, schleppte die Koffer nach oben, schlief wieder ein, wurde geweckt durch den zweiten Alarm oder den Wecker, trank dünnen, aufgewärmten Kaffee, aß zweimal wöchentlich Eipulver aufgelöst und verrührt, gekocht, gebraten [...] trug selbst gestrickte Pullover aus kratziger Kriegswolle – Schafen wachsen in schwierigen Zeiten Borsten" (Seite 18)

"Die Bernhardstraße war ein Hufeisen ohne Rundungen, Ein Quadrat mit drei Schenkeln, eine Straße, die nach drei Himmelsrichtungen ging" (Seite 19)


"[...] die Amerikaner riefen: "Hallo Fraulein" [...] Die Engländer lehnten verhalten mit indiengeschulten Sahib-Mienen an Bar und Wänden." (S.103)

Boleslaw Barlog  (Theater)   Wolfgang Staudte (Filmregisseur, Die Mörder sind unter uns)  Erich Pommer (Filmproduzent)

"Im nur bedingt erlernbaren Beruf des Schauspielers fällt man in einen neuen Film, in eine neue Rolle wie in einen Gebirgssee zur Weihnachtszeit" (S.124)

"sie sind immer stolz auf das, auf das sie keinen Einfluss haben." (S.136)

"Ich schwimme zwischen Schnupfennebel und klebrigem Schlaf" (S.140)

In Kalifornien:
"Ein Paradies hat Palmen. [...]  dass ihre Blätter wie nasse Scheuertücher hängen, ist mir egal. Palmen sind Palmen und Hollywood ist nah." (S.160)

Else Bongers sagt ihr: "So geht es nicht weiter." (S.257) Hildegard drehe zu viele Filme, wolle den Regisseuren und dem Publikum gefallen, nett sein, und verliere so ihren eigenen Stil, sei nicht mehr sie selbst. (S.257/58)



27 Mai 2020

Wilhelm Hauff: Lichtenstein

Kapitel 5 
"[...] »Wie?« rief Georg mit Entsetzen, »Das hieße ja den Herzog um sein Land betrügen. Wollt Ihr ihn denn zwingen, der Regierung zu entsagen und sein schönes Württemberg mit dem Rücken anzusehen?«
»Und Ihr habt bisher geglaubt, man wolle nichts weiter als etwa Reutlingen wieder zur Reichsstadt machen? Wovon soll denn Hutten seine 42 Gesellen und ihre Diener besolden? Wovon denn Sickingen seine tausend Reiter und zwölftausend zu Fuß, wenn er nicht ein hübsches Stückchen Land damit erkämpft? Und meint Ihr, der Herzog von Bayern wolle nicht auch sein Teil? Und wir? Unsere Markung grenzt zunächst an Württemberg –.«
»Aber die Fürsten Deutschlands«, unterbrach ihn Georg ungeduldig, »meint Ihr, sie werden es ruhig mit ansehen, daß Ihr ein schönes Land in kleine Fetzen reißt? Der Kaiser, wird er es dulden, daß Ihr einen Herzog aus dem Land jagt?«
Auch dafür wußte Herr Dietrich Rat. »Es ist kein Zweifel, daß Karl seinem Vater als Kaiser folgt. Ihm selbst bieten wir das Land zur Obervormundschaft an, und wenn Österreich seinen Mantel darauf deckt, wer kann dagegen sein? Doch, seht nicht so düster aus. Wenn Euch nach Krieg gelüstet, dazu kann Rat werden. Der Adel hält noch zum Herzog, und an seinen Schlössern wird sich noch mancher die Zähne einbrechen. Wir verschwatzen übrigens das Mittagsmahl. Kommt bald nach, daß wir erfahren, was Frau Sabina uns gekocht hat.« Damit verließ der Schreiber des großen Rates von Ulm so stolzen Schrittes, als wäre er selbst schon Obervormund von Württemberg, das Zimmer seines Gastes.
Georg sandte ihm nicht die freundlichsten Blicke nach. Zürnend schob er seinen Helm, den er noch vor einer Stunde mit so freudigem Mut zu seinem ersten Kampf geschmückt hatte, in die Ecke. Mit Wehmut betrachtete er sein altes Schwert, diesen treuen Stahl, den sein Vater in manchem guten Streit geführt, den er sterbend seinem verwaisten Knaben als einziges Erbe vom Schlachtfeld gesandt hatte. »Ficht ehrlich!« war das Symbol das der Waffenschmied in die schöne Klinge gegraben hatte, und er sollte sie für eine Sache führen, die ihre Ungerechtigkeit an der Stirn trug? Wo er der Kriegskunst erfahrener Männer, der Tapferkeit des einzelnen die Entscheidung zutraute, da sollten geheime Ränke, die Politica, wie Herr Dietrich sich ausdrückte, entscheiden? Wo ihn der fröhliche Glanz der Waffen, die Aussicht auf Ruhm gelockt hatte, da sollte er nur den habgierigen Plänen dieser Menschen dienen? Ein altes Fürstenhaus, dem seine Ahnen gerne gedient hatten, sollte er von diesen Spießbürgern vertreiben sehen? Unerträglich wollte ihm auch der Gedanke scheinen, von diesem Kraft sich belehren lassen zu müssen.
Doch dem Unmut über seinen gutmütigen Wirt konnte er nicht lange Raum geben, wenn er bedachte, daß ja jene Pläne nicht in seinem Kopf gewachsen seien und daß Menschen, wie dieser politische Ratsschreiber, wenn sie einmal ein Geheimnis, einen großen Gedanken in Erfahrung gebracht haben, ihn hegen und pflegen wie ihren eigenen; daß sie sich mit dem adoptierten Kind brüsten, als wäre es Minerva, aus ihrem eigenen harten Kopf entsprungen.
Mit milderen Gedanken kam er zu seinem Gastfreund, als man ihn zu Tisch rief.
Ja, die ganze Ansicht der Dinge wurde ihm nach einigen Stunden bei weitem erträglicher, als er sich erinnerte, daß ja auch Mariens Vater dieser Partei folge. Es war ihm, als möchte die Sache doch nicht so schwarz sein, welcher Männer wie Frondsberg ihre Dienste geliehen.


Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort,
Das schnell sich handhabt wie des Messers Schneide –
– Gleich heißt ihr alles schändlich oder würdig,
Bös oder gut. –


Dieses wahre Wort des Dichters möge die Gesinnung Georgs bezeichnen, die Gesinnung Georgs, der vielleicht allzuschnell seine Ansicht über jene Dinge änderte. Und wie die düsteren Falten des Unmuts, auf einer jugendlichen Stirne sich schneller glätten, wie selbst schmerzliche Eindrücke in des Jünglings Seele von freundlichen Bildern leicht verdrängt werden, so erhellte auch Georgs Seele der freudige Gedanke an den Abend.

Man hat uns erzählt, daß unter die schönsten Stunden im Leben der Liebe, die gehören, wo die Erwartung sich an schöne Erinnerungen knüpft. Der Geist seie da ahnungsvoller, das Herz gehobener. So mochte auch Georg fühlen. Er träumte von den schönen Augenblicken, wo es ihm vergönnt sein werde, die Geliebte zu sehen, sie zu sprechen, ihre Hand zu fassen und in ihrem Auge zu lesen.

Kapitel 6


[...] Man blies schon längst zum ersten Tanz auf, als Georg von Sturmfeder in den Rathaussaal eintrat. Seine Blicke schweiften durch die Reihen der Tanzenden, und endlich trafen sie Marien. Sie tanzte mit einem jungen, fränkischen Ritter seiner Bekanntschaft, schien aber der eifrigen Rede, die er an sie richtete, kein Gehör zu geben. Ihr Auge suchte den Boden, ihre Miene konnte Ernst, beinahe Trauer ausdrücken; ganz anders als die übrigen Fräulein, die in der wahren Tanzseligkeit schwimmend, ein Ohr der Musik, das andere dem Tänzer liehen, und die freundlichen Augen bald ihren Bekannten, um den Beifall in ihren Mienen zu lesen, bald ihren Tänzern zuwandten, um zu prüfen, ob ihre Aufmerksamkeit auch ganz gewiß auf sie gerichtet sei.
In gehaltenen Tönen hielten jetzt die Zinken und Trompeten und endeten; Herr Dietrich Kraft hatte seinen Gastfreund bemerkt und kam, ihn, wie er versprochen, zu seinen Muhmen zu führen. Er flüsterte ihm zu, daß er selbst schon für den nächsten Tanz mit Bäschen Berta versagt sei, doch habe er soeben um Mariens Hand für seinen Gast geworben.
Beide Mädchen waren auf die Erscheinung des ihnen so interessanten Fremden vorbereitet gewesen, und dennoch bedeckte die Erinnerung dessen, was sie über ihn gesprochen, Bertas angenehme Züge mit hoher Glut, und die Verwirrung, in welche sie sein Anblick versetzte, ließ sie nicht bemerken, welches Entzücken ihm aus Mariens Auge entgegenstrahlte, wie sie bebte, wie sie mühsam nach Atem suchte, wie ihr selbst die Sprache ihre Dienste zu versagen schien.
»Da bringe ich Euch Herrn Georg von Sturmfeder, meinen lieben Gast«, begann der Ratsschreiber, »der um die Gunst bittet, mit Euch zu tanzen.«
»Wenn ich nicht schon diesen Tanz meinem Vetter zugesagt hätte«, antwortete Berta, schneller gefaßt als ihre Base, »so solltet Ihr ihn haben, aber Marie ist noch frei, die wird mit Euch tanzen.«
»So seid Ihr noch nicht versagt, Fräulein von Lichtenstein?« fragte Georg, indem er sich zu der Geliebten wandte.
»Ich bin an Euch versagt«, antwortete Marie. So hörte er denn zum ersten Mal wieder diese Stimme, die ihn so oft mit den süßesten Namen genannt hatte; er sah in diese treuen Augen, die ihn noch immer so hold anblickten wie vormals.
Die Trompeten schmetterten in den Saal; der Oberfeldleutnant Waldburg Truchseß, dem man den zweiten Tanz gegeben hatte, schritt mit seiner Tänzerin vor, die Fackelträger folgten, die Paare ordneten sich, und auch Georg ergriff Mariens Hand und schloß sich an. Jetzt suchten ihre Blicke nicht mehr den Boden, sie hingen an denen des Geliebten; und dennoch wollte es ihm scheinen, als mache sie dieses Wiedersehen nicht so glücklich wie ihn, denn noch immer lag eine düstere Wolke von Schwermut oder Trauer um ihre Stirn. Sie sah sich um, ob Dietrich und Berta, das nächste Paar nach ihnen, nicht allzu nahe seien. – Sie waren fern.
»Ach, Georg«, begann sie, »welch unglücklicher Stern hat Dich in dieses Heer geführt?«
»Du warst dieser Stern, Marie«, sagte er, »Dich habe ich auf dieser Seite geahnt, und wie glücklich bin ich, daß ich Dich fand! Kannst Du mich tadeln, daß ich die gelehrten Bücher beiseite legte und Kriegsdienste nahm? Ich habe ja kein Erbe als das Schwert meines Vaters; aber mit diesem Gut will ich wuchern, daß der deinige sehen soll, daß seine Tochter keinen Unwürdigen liebt.«
»Ach Gott! Du hast doch dem Bund noch nicht zugesagt?« unterbrach sie ihn.
»Ängstige Dich doch nicht so, mein Liebchen, ich habe noch nicht völlig zugesagt; aber es muß nächster Tage geschehen. Willst Du denn Deinem Georg nicht auch ein wenig Kriegsruhm gönnen? Warum magst Du um mich so bange sein? Dein Vater ist alt und zieht ja doch auch mit uns.«
»Ach, mein Vater, mein Vater!« klagte Marie. »Er ist ja – doch brich ab, Georg, brich ab – Berta belauscht uns; aber ich muß Dich morgen sprechen, ich muß, und sollte es meine Seligkeit kosten. Ach! Wenn ich nur wüßte wie?«
»Was ängstigt Dich denn nur so?« fragte Georg, dem es unbegreiflich war, wie Marie, statt sich der Freude des Wiedersehens hinzugeben, nur an die Gefahren dachte, denen er entgegengehe? »Du stellst Dir die Gefahren größer vor, als sie sind«, flüsterte er ihr tröstend zu. »Denke an nichts, als daß wir uns jetzt wieder haben, daß ich Deine Hand drücken darf, daß Auge in Auge sieht wie sonst. Genieße jetzt die Augenblicke, sei heiter!«
»Heiter? Oh, diese Zeiten sind vorbei, Georg! Höre und sei standhaft – mein Vater ist nicht bündisch!«
»Jesus Maria! Was sagst Du?« rief der Jüngling und beugte sich, als habe er das Wort des Unglücks nicht gehört, herab zu Marien. »Oh sag, ist denn Dein Vater nicht hier in Ulm?«
Sie hatte sich stärker geglaubt; sie konnte nicht mehr sprechen; bei dem ersten Laut wären ihre Tränen unaufhaltsam geflossen; sie antwortete nur durch einen Druck der Hand und ging mit gesenktem Haupt, nach Kraft suchend, ihren Schmerz zu bekämpfen, neben Georg her. Endlich siegte der starke Geist dieses Mädchens über die Schwäche ihrer Natur, die einem so großen, tiefen Kummer beinahe erlegen wäre. »Mein Vater«, flüsterte sie, »ist Herzog Ulrichs wärmster Freund, und sobald der Krieg entschieden ist, führt er mich heim auf den Lichtenstein!«
Betäubt wirbelten jetzt die Trommeln, in volleren Tönen schmetterten die Trompeten, sie begrüßten den Truchseß, der eben an dem Musikchor vorüberzog, er warf ihnen, wie es Sitte war, einige Silberstücke zu, und von neuem erhob sich ihr betäubender Jubel.
Das leise Gespräch der Liebenden verstummte vor der rauhen Gewalt dieser Töne, aber ihr Auge hatte sich in diesem Schiffbruch ihrer Liebe um so mehr zu sagen, und sie bemerkten nicht einmal, wie ein Geflüster über sie im Saal erging, das sie als das schönste Paar pries.
Aber nur zu wohl hatte Berta diese Bemerkungen der Menge gehört. Sie war zu gutmütig, als daß Neid darüber in ihre Seele gekommen wäre, aber sie setzte sich doch im Geist an Mariens Platz, und fand, daß man vielleicht das Paar nicht minder schön gefunden hätte. Auch das Gespräch, das zwischen den beiden begonnen hatte, fiel ihr auf. Die ernste Base, die selten oder nie mit einem Mann lange sprach, schien mehr und angelegentlicher zu reden als ihr Tänzer. Die Musik hinderte sie zu verstehen, was gesprochen wurde; die Neugierde wurde in ihr rege, sie zog ihren Tänzer näher an das vordere Paar, um ein wenig zu lauschen; aber war es Zufall oder Absicht, das Gespräch verstummte, als sie näherkam, oder wurde so leise geführt, daß sie nichts davon verstand.
Ihr Interesse an dem schönen jungen Mann wuchs mit diesen Hindernissen; noch nie war ihr der gute Vetter Kraft so lästig geworden als in diesen Augenblicken; denn die zierlichen Redensarten, womit er ihr Herz zu umspinnen gedachte, hinderten sie, jene genauer zu beobachten. Sie war froh, als endlich der Tanz endete. Denn sie durfte hoffen, daß der nächste an des jungen Ritters Seite desto angenehmer für sie sein werde.
Sie täuschte sich nicht in ihrer Hoffnung, Georg kam, sie um den nächsten Tanz zu bitten, der auch sogleich begann, und sie hüpfte fröhlich an seiner Seite in die Reihen. Aber es war nicht mehr derselbe, der vorhin mit Marien so freundlich gesprochen hatte. Verstört, einsilbig, in tiefe Gedanken versunken, war der junge Mann an ihrer Seite, und es war nur zu sichtbar, daß er sich immer erst wieder sammeln mußte, wenn er eine ihrer Fragen beantworten sollte.
War dies jener »höfliche Ritter«, welcher sie, ohne daß sie sich je gesehen hatten, so freundlich grüßte? War es derselbe, welcher so heiter, so fröhlich war, als ihn Vetter Kraft zu ihnen führte? Derselbe, der mit Marien so eifrig sich unterredet hatte? Oder sollte diese –? Ja, es war klar, Marie hatte ihm besser gefallen, ach! vielleicht weil sie die erste war, die mit ihm getanzt. Je weniger Berta gewohnt war, sich der ernsten Marie nachgesetzt zu sehen, um so mehr befremdete sie dieser Sieg ihrer Base, um so mehr glaubte sie sich beeifern zu müssen, ihren Rang, ihre Gaben geltend zu machen. Sie setzte daher mit ihrer heiteren Geschwätzigkeit das Gespräch über den bevorstehenden Krieg, das sie mit Mühe angesponnen hatte, fort, als sie nach Beendigung des Tanzes zu Marien und dem Ratsschreiber traten.
»Nun, und der wievielte Feldzug ist es denn, Herr von Sturmfeder, dem Ihr jetzt beiwohnt?«
»Es ist mein erster«, antwortete dieser kurz angebunden, denn er war unmutig darüber, daß jene ihn noch immer im Gespräch halte, da er mit Marie so gerne gesprochen hätte.
»Euer erster?« entgegnete Berta verwundert, »Ihr wollt mir etwas weismachen, da habt Ihr ja schon eine mächtige Narbe auf der Stirn.«
»Die bekam ich auf der hohen Schule«, antwortete Georg.
»Wie? Ihr seid ein Gelehrter?« fragte jene eifrig weiter. »Nun, und da seid Ihr gewiß recht weit weg gewesen; etwa in Padua oder Bologna, oder gar bei den Ketzern in Wittenberg.«
»Nicht so weit, als Ihr meint«, entgegnete er, indem er sich zu Marien wandte, »ich war in Tübingen.«
»In Tübingen«, rief Berta voll Verwunderung. Wie ein Blitz erhellte dies einzige Wort alles, was ihr bisher dunkel war, und ein Blick auf Marien, die mit niedergeschlagenen Augen, mit der Röte der Scham auf den Wangen, vor ihm stand, überzeugte sie, daß die lange Reihe von Schlüssen, die sich an jenes Wort anschlossen, ihren nur zu sicheren Grund hatten. Jetzt war ihr auf einmal klar, warum sie der artige Ritter begrüßt, warum Marie geweint, die ihn gewiß gerne auf der feindlichen Seite gesehen hätte, warum er so viel mit jener gesprochen, warum er bei ihr selbst so einsilbig war. Es war keine Frage, sie kannten sich, sie mußten sich längst gekannt haben.
Beschämung war das erste Gefühl, das bei dieser Entdeckung Bertas Herz bestürmte; sie errötete vor sich selbst, wenn sie sich gestand, nach der Aufmerksamkeit eines Mannes gestrebt zu haben, dessen Seele ein ganz anderer Gegenstand beschäftige. Unmut über Mariens Heimlichkeit verfinsterte ihre Züge. Sie suchte Entschuldigung für ihr eigenes Betragen, und fand sie nur in der Falschheit ihrer Base. Hätte diese ihr gestanden, in welchem Verhältnis sie zu dem jungen Mann stehe, sie hätte ihr nie ihre Teilnahme an ihm gezeigt; er wäre ihr dann, meinte sie, höchst gleichgültig geblieben, sie hätte nie diese Beschämung erfahren.
Berta hat an diesem Abend den unglücklichen jungen Mann keines Blickes mehr gewürdigt, was ihm übrigens über dem größeren Schmerz, der seine Seele beschäftigte, völlig entging. Sein Unglück wollte es auch, daß er nie mehr Gelegenheit fand, Marien wieder allein und ungestört zu sprechen, der Abendtanz ging zu Ende, ohne daß er über Mariens Schicksal und über die Gesinnungen ihres Vaters gewisser wurde, und Marie fand kaum noch auf der Treppe Gelegenheit, ihm zuzuflüstern, er möchte morgen in der Stadt bleiben, weil sie vielleicht irgendeine Gelegenheit finden würde, ihn zu sprechen.
Verstimmt kamen die beiden Schönen nach Hause. Berta hatte auf alle Fragen Mariens kurze Antwort gegeben, und auch diese, sei es, daß sie ahnte, was in ihrer Freundin vorgehe, sei es, weil sie selbst ein großer Schmerz beschäftigte, war nach und nach immer düsterer, einsilbiger geworden.
Aber auf beiden lastete die Störung ihres bisherigen freundschaftlichen Verhältnisses erst recht schwer, als sie ernst und schweigend in ihr Gemach traten. Sie hatten sich bisher alle jene kleinen Dienste geleistet, welche junge Mädchen nur zu noch engerer Freundschaft verbinden. Wie ganz anders war es heute! Berta hatte die silberne Nadel aus dem reichen blonden Haar gezogen, daß es in langen Ringellocken über den schönen Nacken herabströmte. Sie versuchte, es unter das Nachthäubchen zu stecken; ungewohnt, diese Arbeit ohne Mariens Hilfe zu verrichten, kam sie nicht damit zu Rande, aber zu stolz, ihrer Feindin, wie sie Marien in ihrem Sinn nannte, ihre Verlegenheit merken zu lassen, warf sie das Häubchen in die Ecke und ergriff ein Tuch, um es um das Haar zu winden.
Schweigend nahm Marie das verworfene Häubchen wieder auf und trat hinzu, das Haar ihrer Base nach gewohnter Weise zu ordnen und aufzubinden.
»Hinweg, Du Falsche!« rief die erzürnte Berta, indem sie die hilfreiche Hand zurückstieß.
»Berta; hab' ich dies um Dich verdient?« sprach Marie mit Ruhe und Sanftmut. »Oh wenn Du wüßtest, wie unglücklich ich bin, Du würdest sanfter gegen mich sein!«
»Unglücklich?« lachte jene laut auf, »unglücklich! Vielleicht, weil der artige Herr nur einmal mit Dir tanzte?«
»Du bist recht hart, Berta«, antwortete Marie, »Du bist böse auf mich und sagst mir nicht einmal warum?«
»So? Du willst also nicht wissen, daß Du mich betrogen hast? Nicht wissen, wie mich Deine Heimlichkeiten dem Spott und der Beschämung aussetzten? Ich hätte nie geglaubt, daß Du so schlecht, so falsch, an mir handeln würdest!«
Von neuem erwachte in Berta das kränkende Gefühl, sich hintangesetzt zu sehen. Ihre Tränen strömten, sie legte die heiße Stirn in die Hand, und die reichen Locken flossen über ihr zusammen und verhüllten die Weinende.
Tränen sind die Zeichen milderen Schmerzes. Marie kannte diese Tränen und fuhr mit mehr Vertrauen fort: »Berta! Du schiltst meine Heimlichkeit. Ich sehe, Du hast erraten, was ich nie von selbst sagen konnte. Setze Dich selbst in meine Lage. Ach, Du selbst, so heiter und offen Du bist, Du selbst hättest mir Dein Geheimnis nicht vertrauen können. Aber jetzt ist es ja aus. Du weißt, was meine Lippen auszusprechen sich scheuten. Ich liebe ihn, ja ich werde geliebt, und nicht erst von gestern her. Willst Du mich hören? Darf ich Dir alles sagen?«
Bertas Tränen flossen noch immer. Sie antwortete nicht auf jene Fragen, aber Marie hob an zu erzählen, wie sie Georg im Haus der seligen Muhme kennengelernt habe. Wie sie ihm gut gewesen, lange ehe er ihr seine Liebe gestanden. [...]"
(Wilhelm Hauff: Lichtenstein Kapitel 5 und 6)

26 Mai 2020

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen Ia

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen (Wikipedia)

In den letzten Strahlen der Abendsonne wurde auf der grünen Höhe ein junger Ritter sichtbar, der zwischen dem Jauchzen der Hirten und heimkehrenden Spaziergänger fröhlich nach dem freundlichen Städtchen hinabritt, das wie in einem Blütenmeere im Grunde lag. [...]
»Also so sieht man aus im Amt und Brot?« fragte Fortunat nach der ersten Begrüßung, während er Waltern von allen Seiten umging und betrachtete; denn es kam ihm vor, als wäre seit den zwei Jahren, daß sie einander nicht gesehen, die Zeit mit ihrem Pelzärmel seltsam über das frische Bild des Freundes dahingefahren, er schien langsamer, bleicher und gebückter.  [...]
Walter pries vor allem sein Glück, das ihn hier so schnell eine leidliche Stelle hatte finden lassen, es fehlte nicht an größeren Aussichten, und so sehe er einer heiteren, sorgenlosen Zukunft entgegen. – Dazwischen hatte er in seiner freudigen Unruhe bald noch einen Brief zusammenzufalten, bald ein Paket Akten zu binden, bald draußen etwas zu bestellen, beide konnten den alten, vertraulichen Ton gar nicht wiederfinden. [...]
Fortunat aber überschaute am Fenster den heitern Markt, und eine leise Wehmut flog durch seine Seele über die langsam zersetzende und zerstörende Gewalt der Verhältnisse, wie sie ihm auf Walters treues Gemüt wirksam zu sein schien. – »Laß uns nach guter, alter Art im Freien trinken!« rief er, sich schnell umwendend, aus, da er die Zurüstungen hinter sich erblickte. Walter hatte Bedenken: das sei hier nicht gewöhnlich, man werde in kleinen Städten zu sehr bemerkt. Fortunat aber hatte unterdes schon unter jeden Arm eine Flasche genommen, und wanderte damit die Treppe hinunter. [...]
Die Sonne war indes untergegangen, und die Dächer und die Gipfel der Berge über der Stadt glühten noch, von denen ein erquickender Strom von Kühle durch alle Straßen und Herzen ging. Kinder jagten sich und schwärmten in den Gassen, die Vornehmen, ihre Hüte nachlässig in der Hand und sich den Schweiß abtrocknend, kehrten, von allen Seiten ehrerbietig begrüßt, von ihren Spaziergängen zurück. Andere traten in bequemen Nachtkleidern mit den Pfeifen vor die Türen und plauderten mit dem Nachbar, während junge Mädchen, kichernd und in lebhaftem Gespräch, Arm in Arm über den Platz schlenderten und neugierig an dem Fremden vorüberstrichen. Waltern ging bei den Erinnerungen an die fröhliche Studentenzeit und bei dem langentbehrten weiteren und reichen Gespräch recht das Herz auf, er hatte gar bald alle Scheu und blöde Rücksicht abgeschüttelt. – »Wie glücklich bist du zu preisen«, rief er seinem Freunde zu, »daß dir vergönnt ist, so mit den Vögeln durch den Frühling zu ziehn und die Reise nach Italien nun wirklich anzutreten, die wir in den heitersten Stunden in Heidelberg so oft miteinander besprachen. Das waren schöne Jugendträume!« »Das verhüte Gott!« versetzte Fortunat lebhaft, »warum denn Träume? [...]"
(Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen)
Fortsetzung sieh hier 

25 Mai 2020

Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen (Erinnerungen1914-33)

Rezensionen bei Perlentaucher

"Es war eigentlich nichts Neues an der Abwertung der Mark. Schon 1920 hatte die erste Zigarette, die ich heimlich geraucht hatte habe, fünfzig Pfennig gekostet. Bis Ende 1922 hatten sich die Preise allmählich auf das Zehn- bis Hundertfache des Vorkriegsniveaus erhöht, und der Dollar stand bei etwa 500 Mark. Dies hat sich jedoch allmählich ereignet: Löhne, Gehälter und Preise hatten sich im großen und ganzen gleichmäßig erhöht. [...] Aber nun wurde die Mark verrückt. Schon bald nach dem Ruhrkrieg schoss der Dollar auf 20.000, hielt eine Weile an, kletterte auf 40.000, zögerte kurze Zeit, und fing dann an mit kleinen periodischen Schwankungen stoßweise die Zehntausende und Hunderttausende abzuleiern. Keiner wusste genau, wie es geschah. Wir folgen wir folgten augenreibend dem Vorgang, als ob es sich um ein/ Naturphänomen handelte. Der Dollar wurde Tagesthema, und dann plötzlich sahen wir uns um und erkannten, dass das Ereignis unser Alltagsleben zerstört hatte. (S.56/57)
Wer ein Sparkonto, eine Hypothek oder sonst eine Geldanlage besaß, sah es über Nacht verschwinden. Bald machte es nichts aus, ob es sich um einen Spargroschen oder ein großes Vermögen handelte. Alles wurde ausgelöscht. Viele Leute wechselten schnell ihre Anlagen, nur um zu sehen, dass es überhaupt nichts ausmachte. [...] 
Die Lebenshaltungskosten hatten angefangen davon zu jagen, denn die Händler folgten dem Dollar dicht auf den Fersen. Ein Pfund Kartoffeln, das noch am Vortage 50.000 Mark gekostet hatte, kostete heute schon 100.000; ein Gehalt von 65.000 Mark, dass man am vorigen Freitag nach Hause gebracht hatte, reichte am Dienstag nicht aus, um ein Paket Zigaretten zu kaufen.
Was sollte geschehen? Plötzlich entdeckten Leute eine Insel der Sicherheit: Aktien. Das war die einzige Form der Geldanlage, die irgendwie der Geschwindigkeit standhielt.[...] Unbekannte neue Banken schossen wie Pilze aus dem Boden und machten ein reißendes Geschäft. Täglich verschlang die ganze Bevölkerung den Börsenbericht. Manchmal stürzten einige der Aktien, und mit ihnen stürzten Tausende schreiend dem (S.57/58) Abgrund entgegen. [...]
Den Alten und Weltfremden ginge es am schlechtesten. Viele wurden zum Betteln getrieben, viele zum Selbstmord. Den Jungen, Flinken ging es gut. Über Nacht wurden sie frei, reich unabhängig. Es war eine Lage, in der Geistesträgheit und Verlass auf frühere Erfahrung mit Hunger und Tod bestraft, aber Impulshandeln und schnelles Erfassen einer neuen Lage mit plötzlichem ungeheuren Reichtum belohnt wurde. Der einundzwanzigjährige Bankdirektor trat auf, wie auch der Primaner, der sich an die Börsenratschläge seiner etwas älteren Freunde hielt. [...] die Jungen, die in jenen (S.58/59) Tagen lieben lernten, übersprangen die Romantik und umarmten den Zynismus. Ich selber und meine Zeitgenossen gehörten nicht dazu. Wir waren mit fünfzehn, sechzehn gerade zwei, drei Jahre zu jung. In den folgenden Jahren, als wir die Rolle des Liebhabers mit rund zwanzig Mark Taschengeld spielen mussten, haben wir oft insgeheim die älteren Jungen beneidet, die damals ihre Chance gehabt hatten. Wir hatten gerade einen flüchtigen Blick durchs Schlüsselloch getan, gerade genug um den Duft der Zeit für immer in der Nase zu behalten. Zu einem Fest mitgenommen zu werden, wo Verrücktes sich ereignen musste; ein frühreifes, ermüdendes Sichgehenlassen, und ein kleiner Kater von zu vielen Cocktails; all die Geschichten der älteren Jungen, deren Gesichter seltsam ihre ausschweifenden Nächte verrieten; der plötzliche, entzückende Kuss eines gewagt geschminkten Mädchens.
Es gab eine andere Seite des Bildes. Die Bettler häuften sich mit einem Mal; auch die Berichte über Selbstmorde in den Zeitungen, und die "Gesucht wegen Einbruch"-Anzeigen der Polizei auf den Litfaßsäulen, denn Raub und Diebstahl fanden überall in großem Maße statt. [...]
Ja, mein Vater war einer von denen, die die Zeit nicht verstanden, oder nicht verstehen wollten, wie er sich schon geweigert hatte, den Krieg zu verstehen. Er begrub sich hinter dem Leitspruch "Ein preußischer Beamter spekuliert nicht und kauft keine Aktien." Damals hielt ich das für ein außerordentliches Beispiel von Engstirnigkeit, das schlecht zu seinem Charakter passte, denn er war einer der (S.59/60) klügsten Männer, die ich gekannt habe. Heute verstehe ich ihn besser. Rückblickend kann ich ein bisschen den Ekel nachempfinden, mit dem er diese Ungeheuerlichkeit ablehnte und die ungeduldige Abscheu, die sich hinter der Plattitüde, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, verbarg. [...] Und die Posse hätte zur Tragödie werden können, wenn sich meine Mutter nicht auf ihre Art der Lage angepasst hätte. [...] (S.60/61)
Für meine Eltern muss dies eine böse und schwere Zeit gewesen sein. Für mich war sie seltsam eher als unangenehm. Die Tatsache, dass mein Vater zur Arbeit einen überaus umständlichen Umweg nehmen musste, hielt ihn den größten Teil des Tages von Zuhause fern, und gab mir dadurch viele unbeaufsichtigte Stunden der absoluten Freiheit. Ich hatte kein Taschengeld mehr, aber Meine älteren Schulgenossen waren buchstäblich reich, und man raubt Ihnen nichts, in dem man sich zu ihren verrückten festen einladen ließ. Ich schaffte es, eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber unserer Armut zu Hause und dem Reichtum meiner Freunde zu bewahren. (Seite 61)

"Ich habe es aber hier mit einem anderen, vielleicht noch interessanteren, wichtigeren und komplizierteren Vorgang ähnlicher Art zu tun: nämlich mit denjenigen seelischen Bewegungen, Reaktionen und Verwandlungen, die in ihrer Simultanität und Massierung das Dritte Reich Hitlers erst möglich gemacht haben, und die heute seinen unsichtbaren Hintergrund bilden.
In der Entstehungsgeschichte des Dritten Reiches gibt es ein ungelöstes Rätsel, das, wie mir scheint, noch interessanter ist, als die Frage, wer den Reichstag angezündet hat. (S.184/85)
Das ist die Frage: wo sind eigentlich die Deutschen geblieben? Noch am 5. März 1933 hat die Mehrheit von Ihnen gegen Hitler gewählt. Was ist aus dieser Mehrheit geworden? Ist sie gestorben? Vom Erdboden verschwunden? Oder, so spät noch, Nazi geworden? Wie konnte es kommen, dass jede merkliche Reaktion von ihrer Seite ausblieb?
Fast jeder meiner Leser wird, von früher her, den einen oder anderen Deutschen kennen, und die meisten werden finden, dass ihre deutschen Bekannten normale, freundliche, zivilisierte Leute sind, Menschen wie jeder andere – abgesehen von ein paar nationalen Eigentümlichkeiten, wie sie auch jeder andere hat. Fast jeder wird, wenn er die reden hört, die heute in Deutschland heraustönen (und die Taten wahrnehmen, die heute aus Deutschland herausduften),  an diese seine Bekannten denken und entgeistert fragen: Was ist mit Ihnen? Gehören Sie wirklich zu diesem Irrenhaus? Merken Sie nicht, was mit ihnen geschieht – und was in ihrem Namen geschieht? Billigen sie es etwa gar? Was sind das für Leute? Was sollen wir von Ihnen halten?
Tatsächlich stecken hinter diesen Unerklärlichkeiten sonderbare seelische Vorgänge und Erfahrungen – höchst seltsame, höchst enthüllende Vorgänge, deren historische Auswirkungen noch nicht abzusehen sind. Mit ihnen habe ich es zu tun. Man kommt ihnen nicht bei, ohne sie dorthin zu verfolgen wo sie sich abspielen: im privaten Leben, Fühlen und Denken der einzelnen Deutschen.[... S.186:...]
Was einer isst und trinkt, wenn er liebt, was er in seiner Freizeit tut, mit wem er sich unterhält, ob er lächelt oder finster aussieht, was er liest und was er sich für Bilder an die Wand hängt – das ist heute die Form, in der in Deutschland politisch gekämpft wird. Das ist das Feld, wo im voraus die Schlachten des künftigen Weltkriegs entschieden werden. Es mag grotesk klingen, aber es ist so. [186-198]

Die Lage der nichtnazistischen Deutschen im Sommer 1933 war gewiss eine der schwierigsten, in der sich Menschen befinden können: nämlich ein Zustand völligen und ausweglosen Überwältigtseins, zusammen mit den Nachwirkungen des Schocks der äußersten Überrumplung. Die Nazis hatten uns, auf Gnade und Ungnade in der Hand. Alle Festungen waren gefallen, jeder kollektive Widerstand war unmöglich geworden, individueller Widerstand nur noch eine Form des Selbstmordes. Wir waren verfolgt bis in die Schlupfwinkel unseres Privatlebens, auf allen Lebensgebieten herrschte Deroute, eine aufgelöste Flucht, von der man nicht wusste, wo sie enden würde. Zugleich wurde man täglich aufgefordert: nicht, sich zu ergeben, sondern überzulaufen. Ein kleiner Pakt mit dem Teufel – und man gehörte nicht mehr zu den Gefangenen und Gejagten, sondern zu den Siegern und Verfolgern.
Das war die einfachste und gröbste Versuchung. Viele erlagen ihr. Später zeigte sich dann oft, dass sie den Kaufpreis unterschätzt hatten und dass sie dem wirklichen Nazisein nicht gewachsen waren. Sie laufen heute [Es ist eine Zeit vor dem Herbst 1939 (Angriff auf Polen), als Haffner das Manuskript beiseite legte, bis es 2002 wiedergefunden und vervollständigt werden konnte.] zu vielen Tausenden in Deutschland herum, die Nazis mit dem schlechten Gewissen, Leute die an ihren Parteiabzeichen tragen wie Macbeth an seinem Königspurpur, die mitgefangen, mitgehangen, eine Gewissenslast nach der anderen schultern müssen, vergeblich nach Absprungsmöglichkeiten spähen, trinken und Schlafmittel nehmen, nicht mehr nach zu denken wagen, nicht mehr wissen, ob sie das Ende der Nazizeit– Ihrer eigenen Zeit! – mehr herbeisehnen oder mehr fürchten sollen, und die, wenn der Tag kommt, ganz bestimmt es nicht werden gewesen sein wollen. Inzwischen aber sind Sie der Albdruck der Welt [...] 
Aber die Situation von 1933 barg noch viele andere Versuchungen neben dieser gröbsten; jeder einzelne eine Quelle des Wahnsinns und der seelischen Erkrankung, für den, der ihr erlag. Der Teufel hat viele Netze: grobe für die groben Seelen, feine für die feinern. (S.198/99)
Wer sich weigerte, Nazi zu werden, hatte eine böse Situation vor sich: völlige und aussichtslose Trostlosigkeit; wehrloses Hinnehmen täglicher Beleidigungen und Demütigungen; hilfloses Mitansehen des Unerträglichen; vollkommene Heimatlosigkeit; unqualifiziertes Leiden. Diese Situation hat wieder ihre eigenen Versuchung: scheinbare Trost- und Erleichterungsmittel, die den Widerhaken des Teufels bergen.
Das eine, bevorzugt von Älteren, war die Flucht in die Illusion: am liebsten in die Illusion der Überlegenheit. Die ihr erlagen, klammerten sich an die Züge von Dilettantismus und Anfängerhaftigkeit, die der narzisstischen Staatskunst gewiß zunächst anhafteten. [...]
Es waren die Leute, die zunächst in völliger ruhiger Überzeugtheit, später mit allen Anzeichen der bewußten krampfhaften Selbsttäuschung, von Monat zu Monat das unvermeidliche Ende des Regimes voraussagten. Das Schlimmste kam für sie erst, als das Regime sich sichtbar konsolidierte und als die Erfolge kamen: Hiergegen waren sie nicht gewappnet. [...]
Ein paar von ihnen halten noch heute die Fahne hoch und lassen nach allen Niederlagen nicht ab, von Monat zu Monat oder wenigstens von Jahr zu Jahr den unvermeidlichen Zusammenbruch zu prophezeien. [...]
Die zweite Gefahr war Verbitterung – masochistische Selbstauslieferung an Haß, Leiden und schrankenlosen Pessimismus. Es ist fast die natürlichste deutsche Reaktion auf Niederlagen. Jeder Deutsche hat in bösen Stunden (seines Privatlebens – oder des nationalen Lebens) mit dieser Versuchung zu kämpfen: ganz und für immer aufzugeben, und sich und die Welt mit einer erschlafften Gleichgültigkeit, die an Bereitwilligkeit grenzt, dem Teufel anheimzustellen; trotzig und böse moralischen Selbstmord zu begehen. [...] (S.199-201)
Noch von einer dritten Versuchung muß ich sprechen. Es ist die, mit der ich selber zu tun hatte, und wiederum ganz und gar nicht als Vereinzelter. Ihr Ausgangspunkt ist gerade die Erkenntnis der vorigen: man will sich nicht durch Haß und Leiden seelisch korrumpieren, man will gutartig, friedlich, freundlich, "nett" bleiben. Wie aber Hass und Leiden vermeiden, wenn täglich, täglich das auf einen einstürmt, was Haß und Leiden verursacht? Es geht nur mit Ignorieren, Wegsehen, Wachs in die Ohren tun, Sich-Abkapseln. Und es führt zur Verhärtung  aus Weichheit und schließlich wieder zu einer Form des Wahnsinns: zum Realitätsverlust.
Sprechen wir einfachheitshalber von mir, aber vergessen wir nicht, daß mein Fall wiederum durch aus mit einem sechs- oder siebenstelligen Multiplikator zu multiplizieren ist.
Ich habe kein Talent zum Haß. Ich habe immer zu wissen geglaubt, dass man schon durch ein tiefes Sich-Einlassen in Polemik, Streiten mit Unbelehrbaren, Haß auf das häßliche etwas in sich selbst zerstört – etwas, das wert zu erhalten und schwer wiederherzustellen ist. Meine natürliche Geste der Ablehnung ist Abwendung, nicht Angriff. [...] (S.203)


Nach einer Hitler Rede S. 263:

"Als er ausgeredet hatte, kam das Schlimmste. Die Musik signalisierte: Deutschland über alles, und alles hob die Arme. Ein paar mochten, gleich mir, zögern. Es hatte so etwas scheußlich Entwürdigendes. Aber wollten wir unser Examen machen oder nicht? Ich hatte, zum ersten Mal, plötzlich ein Gefühl so stark wie ein Geschmack im Munde – das Gefühl: "Es zählt ja nicht. Ich bin es ja gar nicht, es gilt nicht." Und mit diesem Gefühl hob auch ich den Arm und hielt ihn ausgestreckt in der Luft, ungefähr drei Minuten lang. So lange dauern das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied. Die meisten sangen mit, zackig und dröhnend. Ich bewegte ein wenig die Lippen und markierte Gesang, wie man es in der Kirche beim Choralsingen tut.
Aber die Arme hatten alle in der Luft, Und so standen wir vor dem augenlosen Radioapparat, der nur die Arme hochzug wie ein Puppenspieler die Arme seiner Marionetten, und sangen oder taten so, als ob wir sangen; jeder die Gestapo des andern. 

(Sebastian Haffner Geschichte eines Deutschen, Kapitel 36, Seite 263)

16 Mai 2020

Klepper: Der König und die Stillen im Lande

Jochen Klepper schreibt: "Von seiner frühen wilden, ungestümen Knabenzeit an bis in die qualvolle Nächte seines Sterbens hinein hielt Friedrich Wilhelm bange Ausschau nach den wenigen, bei denen er 'tätiges Christentum' zu finden hoffte, und das hieß für ihn: bezeugten und gelebten Glauben der 'Stillen im Lande', die – um ein Wort Luthers zu gebrauchen – 
"in die offene Mauerlücken" eines von innen und außen dauernd bedrohten Landes 'ihr Gebet zu werfen hatten' "(S.5)

Zinzendorf schreibt Friedrich Wilhelm I. von Preußen auf dessen Aussage, er habe seinen Feinden vergeben: "Ich hätte meinen Feinden nicht nur vergeben, sondern mich auch sehnlich danach umgesehen, wie ichs anstellte, daß sie mir vergäben."

Eine bemerkenswerte Aussage, weil der Soldatenkönig wohl schwerlich imstande war, einen Versuch zu machen, dass sein Sohn Friedrich ihm vergäbe. Dafür war es 1740 sicher zu spät.
Aber dass Zinzendorf (nach einem vorherigen untertänigen Schreiben, ob der König wirklich seine Meinung hören wolle, so geantwortet hat und dass er darüber das Wohlwollen des Königs nicht verloren hat, hat mich beeindruckt.
Auch der Gedanke, dass Gott nicht die Sünden strafe, sondern die Sünden selbst die Strafe sind (die man sich zufügt).

Klepper hat sich freilich in seinem Buch "Der Vater" über den Soldatenkönig in Sachen Versöhnung von Vater und Sohn optimistischer gezeigt. Im letzten Kapitel des Buches heißt es da: 
"Erst allmählich wandte sich der König seinem Sohne zu. Seine Blicke füllten sich mit letztem Leben, letzter Nähe. Er streckte die Arme weit aus, hilflose, abgemagerte, zitternde Arme im zu weiten Rock: der Sohn war noch so fern! Friedrich stürzte auf den Vater zu, und das Gesicht des Vaters begann von aufsteigendem Weinen zu zucken. Er mühte sich sehr, sich zu dem Sohn zu erheben. Der neigte sich tief zu ihm herab. Sie hielten sich ganz nahe umschlungen, Herz an Herz, nur noch Liebende, nur noch Leidende: der verletzten Majestät des Vaterherzens war genügt. Sie sprachen nicht. Die Tränen des Sohnes fielen auf die Hände des Vaters, und er vermochte noch immer keine Worte zu finden; der dann das Schweigen brach, war der König. Denn auch die Ärzte und die Offiziere um den Rollstuhl waren verstummt. "

Kleppers Buch besteht weitgehend aus Dokumenten: Den Aufzeichnungen August Hermann Franckes, seines Schwiegersohns Johann Anastasius Freylinghausen sowie seines Sohnes  Gotthilf August Francke sowie dem Briefwechsel zwischen Friedrich Wilhelm I. und Zinzendorf.
Bemerkenswert: Die 5-jährige Prinz Wilhelm küsst seinen Vater, bis der ihn fragt, was er wolle. Darauf hin sagt er, er wolle, dass der gefangene Deserteur nicht gehängt werde. Der König geht zunächst nicht darauf ein, schließlich gewährt er es. Freylinghausen berichtet weiter, Prinz Wilhelm habe im Auftrag der Königin gehandelt. Bei seinem ersten Versuch habe er den Vater zwar liebkost, aber nicht gewagt, seine Bitte vorzubringen. Daraufhin habe die Königin mit der Rute gedroht mit dem Erfolg, dass er sich dann traute. [Wie doch Leben gerettet werden.] Die Königin musste offenkundig damit rechnen, dass ihre Bitte abgeschlagen worden wäre. Da musste das Kind herhalten.
Als der König den Prinz fragte, was der Deserteur statt dessen als Strafe haben solle, sagte er "die Rute". (Der König und die Stillen im Lande, S.55)

Gotthilf August Francke erscheint mir aufgrund seines Berichts recht selbstgerecht; aber vielleicht stören mich auch nur die streng pietistischen Vorstellungen zu sehr.

Schon 2009 hat mich bei der Lektüre die Szene mit dem bittenden Prinzen besonders berührt. Damals hatte ich auch geschrieben: "Im übrigen wird Freylinghausen immer wieder gefragt, ob Jagd und Komödie erlaubt seien. Jagd, die Leidenschaft des Königs, Komödie, das Bedürfnis der Königin." 
Bei diesem ehelichen Konflikt stellt er sich auf die Seite des Königs. Komödie sei sündhaft, weil sie die Gedanken von Gott ablenke. Bei der Frage der Bestrafung der Deserteurs unterstützte er die Bitte des Kindes (also den Wunsch der Königin).
Diesmal ist mir Zinzendorf wichtiger geworden. 

15 Mai 2020

Pompeji und Herculanum

Gleich dem weisesten Künstler liebt es die Natur, bisweilen durch das Zusammenstellen greller Gegensätze eine bedeutende Wirkung, einen besondern Eindruck hervorzubringen; so hat sie neben dem lebensprudelnden Neapel Herculanum und Pompeji verschüttet, ein mahnendes Memento mori! [...]
 Resina ist über den Trümmern von Herculanum gebaut. Man steigt eine Treppe hinab durch kellerartige Gänge, um in das verschüttete Theater zu kommen, wie man ebenfalls eine lange, schmale Straße abwärts geht, die ausgegrabenen, dem Sonnenlicht wiedergewonnenen Stadtteile von Herculanum zu sehen. Der Eindruck, welchen das verschüttete Theater gewährt, ist einer der entsetzlichsten, die man sich zu denken vermag. Unsere Führer gingen uns die hohe Treppe hinunter mit Fackeln voraus. Es war feucht und kalt in den Gewölben; Todesschauer schienen darin zu wohnen; immerfort wähnte ich, der Angstschrei der Menschen müsse ertönen, die hier, im Theater versammelt, ihr Ende fanden, als das Unheil hereinbrach. [...]
Zwischen diesen Säulen, zwischen dem Schmuck und der Pracht eines durch Kunst verfeinerten Lebens, in dem der menschliche Geist sich schöpferisch tätig bewies, brach sich die wilde Naturgewalt verräterisch ihren zerstörenden Weg. Die kleinsten Zwischenräume, die geringsten Lücken des Baues sind mit der erstarrten, schwarzen Lava ausgefüllt, ein menschliches Gebiß sah an einer Stelle zähnefletschend daraus hervor, ein grauenhafter Anblick. Alles Interesse an dem Bau, an dem Altertume verschwand in mir vor der Idee dieses furchtbaren Ereignisses. Ich atmete erst auf, als ich dies Riesengrab verlassen hatte und mich im Sonnenlicht dem Leben angehörend empfand. [...]
Hätten wir nicht so große Freude am Dasein, faßte uns das Glück der Gegenwart nicht in seiner ganzen ausfüllenden Seligkeit, wir könnten, in jedem Augenblick von Todesgefahr umgeben, uns des Lebens niemals erfreuen. So unerläßlich, so notwendig erscheint uns unsere Existenz, daß wir den Tod vergessen und leben müssen, als ob das Dasein kein Ende nähme, wenn wir Großes leisten oder auch nur das Leben genießen sollen. Diese zuversichtliche Sorglosigkeit tritt nirgends auffallender hervor als hier in den verschütteten Städten. Zwischen dem Theater und den ausgegrabenen Teilen von Herculanum zieht sich eine Straße von Resina hin. Rechts und links die Bilder des entsetzlichsten Verderbens, hoch über der Stadt die Rauchsäule des Flammenberges, und wohin man in Resina blickt, die sicherste Lebensgewißheit.

09 Mai 2020

Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch - Eine Soiree

Wahrhaft schöne und förderliche Geselligkeit ist nur möglich in freien Ländern, das heißt jene Geselligkeit, durch welche das geistige Leben zu erhöhter Tätigkeit angeregt wird.

Tanzen und den Frauen schmeicheln, Karten spielen, dinieren, rauchen und trinken kann man überall, so gut in Rußland als in Deutschland und in Italien. Aber alle diese Vergnügungen halten nicht dauernd vor, sie sind kein rechtes Bindungsmittel für die einzelnen, es liegt kein wahrhaftes Interesse darin für denjenigen, der von seiner Zeit mehr fordert, als daß sie ihm so schnell als möglich vergehe. Die Bessren unter uns sind längst aus der Kindheit des Menschenalters zur Männlichkeit desselben übergegangen und verlangen auch von ihrer Erholung einen gewissen geistigen Ernst, dem deshalb die verschönende Grazie der Heiterkeit und des geselligen Verkehrs nicht zu fehlen braucht.

Die Italiener haben von ihrer Vergangenheit die schönsten, leichtesten Umgangsformen ererbt. Sie sind Kinder einer vornehmen Familie, wohlerzogen und edel gewöhnt. Sie wären imstande, eine vortreffliche Geselligkeit in sich auszubilden, hätten sie geistige Motive, durch die sie als »Gesellschaft« geistig zusammengehalten würden. Aber in Italien ist der Geist und mit ihm das Leben der Gesellschaft gewaltsam in Fesseln geschlagen worden, und die Gesellschaft macht den Eindruck jener unbewohnten Prachtpaläste, deren mit Staub bedeckte Bilder und Möbel trotz ihres noch vorhandenen Reichtums traurig und veraltet erscheinen. In Frankreich führen politische, religiöse und literarische Interessen die verschiedenen Parteien zusammen, weil man sich über alle diese Gegenstände frei unterhalten kann; weil ein Wort oft schneller Mißverständnisse und Zwiespalt beendet als bogenlange Broschüren und Kontroversen, weil die Meinungsverschiedenheit, welche sich in freier Unterhaltung kundgibt, eine immer neue Quelle der Anregung und des Fortschrittes wird. In Italien aber ist eine solche geistig bewegende Geselligkeit in großem Maßstabe unmöglich. Es gibt Männer genug, die mit wachem Auge, mit hoffender Seele der freien Bewegung und dem Fortschritte des Auslandes folgen und ihn für Italien herbeisehnen; aber nicht nur ihre Tat ist gefesselt, sondern auch ihr Wort. Die Gesellschaft wird unsichtbar überwacht, selbst auf die Fremden erstreckt sich diese Aufmerksamkeit. Der Salon einer Italienerin aus großer Familie, welcher den Ausländern leicht geöffnet ward, sollte, so behauptete man, von päpstlichen Geldern unterhalten werden und die Hausfrau im Dienste der Polizei stehen. Ein geistreicher Abbate nannte mir einen Chevalier, welcher Ritter der höchsten päpstlichen Orden war, als einen Spion; ein Deutscher, lange ansässig in Italien, warnte mich vor dem Abbate mit ähnlichen Bezeichnungen. Ob eine der angeschuldigten Personen diesen Vorwurf verdiente, lasse ich dahingestellt sein; indes der bloße Gedanke, man werde überwacht, es gebe Spione, muß für Menschen, welche irgendein inneres Leben haben, hinreichend sein, sie von der Gesellschaft zurückzuscheuchen. Wie leicht es aber ist, in einem Lande Spione zu erwerben, in dem jeder freisinnig religiöse Gedanke eine Ketzerei und jeder, welcher diese enthüllt, ein gottgefälliges Werkzeug ist, das läßt sich leicht berechnen.
Im ganzen leben die Italiener des Bürgerstandes, die Beamten und der niedere Adel nur unter sich, und die Fremden gleichen Ranges kommen nur ausnahmsweise mit ihnen in Berührung. Unter der Aristokratie der verschiedenen Nationen ist der Verkehr wohl lebhafter, beschränkt sich aber auch dort auf Einladungen zu Festen und Bällen, zur Loge und zu einer Corsofahrt. Das Innere des Familienlebens bleibt den Fremden verschlossen. Zu einer rechten geistigen Annäherung kommt es deshalb selten; um so mehr, als man über die tieferen Interessen, über religiöse, soziale, politische und literarische Fragen in der Gesellschaft die Unterhaltung absichtlich vermeidet, weil dies leicht in verbotene Gebiete hinüberstreifen könnte.
So habe ich, wenn ich bisweilen im Kreise von Italienern war, das Gespräch sehr oberflächlich gefunden, anmutig spielend in dem Scherz einer herkömmlichen Galanterie, in welchem namentlich die Geistlichkeit ziemlich frei ist, und die Tagesereignisse behandelnd in der Art einer Hofzeitung. Das Kommen und Gehen fürstlicher Personen, Veränderungen im genealogischen Kalender, Wassersnot, Kornteuerungen und Feuersbrünste, Theater, Sängerinnen und vor allen Dingen das Ballett, das sind die Achsen, um welche sich die Unterhaltung bewegt. Nur hie und da findet man eine Gruppe, welche leise flüsternd wichtigere Gegenstände behandelt, und von einer solchen erfährt man gelegentlich Nachrichten, die nicht aus den Büchern und Schriften geschöpft sind, welche die Zensur passieren. Man sagte mir, daß die Kardinäle im Besitze aller verbotenen Schriften seien und daß man sie sich auch hier wie überall durch Unterschleif zu schaffen wisse. Es ist aber doch etwas anderes um den freien Mann, welcher sein Stück gesundes Brot im Sonnenschein vor seiner Haustüre ruhig genießt, oder den Unglücklichen, der die gestohlene Frucht scheu im Dunkel eines Winkels verschlingt. [...]
Dann wendete er sich zu meiner Nachbarin, welche von dem bevorstehenden Karneval sprach, und machte uns Vorschläge, den Corso einmal zu Fuß zu besuchen. Die Dame, eine Italienerin, schalt ihn, daß er ihr dergleichen zumute, und ich sagte, wie ich von andern gehört, daß keine ehrbare Frau der höhern Stände dies täte. »Bah!« meinte ein Abbate, »man gesteht es nicht ein, aber man tut es.« »Das ist eine bequeme Moral!« »Und ebendarum eine weitverbreitete«, sprach lachend Monsignore L. »Den Frauen dünkt der Karneval nur darum so paradiesisch, weil sie dabei die verbotene Frucht der Freiheit pflücken. Es hat doch jede einen Mann, einen Bruder, einen Freund, den sie einmal unsichtbar überwachen, dessen Verbindungen sie kennen möchte, um danach für den Rest des Jahres ihre Maßregeln zu nehmen.«
(Fanny Lewald: Italienisches Bilderbuch  -  Eine Soiree )