28 Januar 2013

Nur nicht prüde! ein Gesetzentwurf über das Einfangen flüchtiger Sklaven

"»Die staatliche Behörde, nicht etwa Richter, sondern außerordentlich zu ernennende Commissare, welche zu entscheiden haben, ob das Recht auf Auslieferung eines in Anspruch genommenen Sklaven begründet sei, sollen zehn Dollars erhalten, wenn sie die Beweise für genügend, fünf Dollars, wenn sie dieselben für ungenügend erklären. Jeder, welcher sich des Einfangens und der Auslieferung widersetzt, soll mit Geldbuße bis zu tausend Dollars oder mit Gefängniß bis zu sechs Monaten bestraft werden, Beihülfe zur Flucht möchte man mit dem Tode belegen. Außerdem muß der Eigenthümer des Sklaven entschädigt werden.«
»Das scheint ja dasselbe Gesetz zu sein«, fiel Baumgarten dem Kentuckier ins Wort, »das Webster in seiner Rede vom 7. März als höchst moralisch anpries. Wenn einer aus dem Norden das gethan, was wird da der Congreß thun? Ich fürchte, er nimmt die Schande auf sich und läßt den Entwurf passiren.«

»Geht der Entwurf nicht durch, so denkt man aus der Union zu scheiden, und da das schwerlich ohne Krieg abgehen möchte, so will man Kossuth schmeicheln und sich durch ihn ungarische Offiziere verschreiben lassen. Point Pleasant hat man zur Feier gewählt, um ungestörter unter sich zu sein.

»Senator Hammond sprach es offen aus: Revanche für Pavia! wir müssen Revanche haben für die Californienbill, das Einfangungsgesetz meines Freundes da betrachte ich nur als eine geringe Abschlagszahlung. Wir müssen entweder Mexico oder Mittelamerika nehmen und sie in Sklavenstaaten verwandeln, wenn wir das Gleichgewicht zwischen Süden und Norden wiederherstellen wollen; oder aber wir müssen Europa überzeugen, daß Sklaverei eine göttliche Ordnung der Dinge ist, daß ohne Sklaven die andere Menschenklasse unmöglich bestehen kann, welche sich der Geistesbildung und Civilisation widmet. Man weiß das in Europa längst, man hat dort weiße Sklaven, nur nennt man sie nicht so. Man muß Europa überzeugen, daß es besser ist, diese Prüderie aufzugeben, und die Arbeiter wieder zu Sklaven und Leibeigenen zu machen. Unser Norden ist prüde und heuchlerisch zugleich; er knechtet seine Arbeiter und unsere Sklaven will er emancipiren.«"
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 8. Buch, 10. Kapitel

27 Januar 2013

Das Selbstverständnis der Sklavenhalter


Die Pflanzer, Gesetzgeber und Senatoren auf dem Deck ließen sich von den glücklichen Menschenjägern die Einzelheiten der Jagd erzählen, lobten sie und die Bluthunde und wünschten ihnen Glück.
»Diese Niggerhunde«, sagte Senator Mason, »die von der Vorsehung zu Sklaven geschaffen sind, denn sie sind halb Menschen, halb Lastthiere, werden in der Nähe dieses verruchten Quäkerstaats (er deutete auf das linke Ufer des Ohio), den wir gottlob! bald aus dem Gesicht verlieren, zu kühn; es ist die höchste Zeit, daß wir strengere Gesetze gegen die flüchtigen Sklaven, namentlich aber gegen alle schaffen, welche ihnen zur Flucht behülflich sind.«
»Ja«, sagte unser Freund, der Kentuckier Lincoln Hickory, der inmitten der Pflanzer und Baumwollbarone saß, »es müßte bestimmt werden, daß jeder flüchtige Neger bei den Beinen aufgehangen würde, das könnte sie abschrecken. Unsere Sklaven werden auch durch die verdammten Quäker verdorben, näseln schon sämmtlich methodistische Lieder, predigen von Gleichheit vor dem Herrn, wollen ein ehrsames christliches Leben führen, einige können sogar lesen und schreiben und predigen sonntäglich aus der Bibel.«
»Jeder, der seine Nigger unterrichten läßt«, meinte ein Pflanzer, »müßte als ein zur Flucht Helfender angesehen und bestraft werden.«
»Nun, bei uns«, sagte der Inhaber einer Zuckerplantage in Louisiana, » fällt es keinem ein zu dulden, daß seine Nigger lesen und schreiben lernen, nicht einmal Haussklaven.«
»Haben bei uns aber auch einen heillosen Respect vor den Carolinas und Louisiana; jammern und schreien, wenn sie nach unten verkauft werden«, fiel ein Virginier ein.
»Es lebe die Sklavenjagd«, sagte ein prosklaveristisches Congreßmitglied, indem es eine Flasche Champagner entkorkte und mehrere Gläser einschenkte, » Willkommen den Sklavenjägern!«
Der Kapitän war hinzugetreten und sagte: »Die Tigerjagd, pflegte ein ostindischer Offizier meiner Bekanntschaft zu sagen, ist ein herrlicher Zeitvertreib! Zuweilen wendet sich der Tiger aber um und jagt uns, dann ist der Spaß vorbei.«
»Ihr wollt damit doch nicht sagen, daß die Niggerhunde es je wagen würden, sich gegen uns zu wenden?« schrie ein Senator aus Virginien.
»Mit Eurer Erlaubniß, Herr Senator, gerade das wollte ich sagen, nichts mehr, nichts weniger, fahrt nur fort mit Euerm Auspeitschenlassen, mit Euern Sklavenjagden, und die Nigger werden das Beispiel von San-Domingo nachahmen!«

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 8. Buch, 10. Kapitel

In der neuen Welt: Sklaverei und Freiheit

Flüchtige deutsche Demokraten von 1848 unterhalten sich in Amerika mit amerikanischen Verwandten. 

[...] Auf eine nochmalige demokratische Erhebung in Deutschland, auf welche die meisten Flüchtlinge hier ihre Hoffnung setzen, rechne ich nicht; aber was ich von euerm vielgerühmten, gloriosen Amerika gesehen, zieht mich nicht an. Diese ewig rastlose, krampfhaft angespannte Thätigkeit der Leute hier widert mich an, da die Menschen blos des Erwerbes wegen geschaffen scheinen und gleich euern Hohöfen und Dampfmaschinen nur Geld und abermals Geld knirschen. Ich habe hier in Nordamerika noch keine Spur deutscher Gemüthlichkeit gefunden und bin zweifelhaft, ob ich nicht nach Deutschland zurückgehe. Finde ich doch dort noch immer vier- bis fünfunddreißig Vaterländchen, wo ich kein Hochverräter bin.«
»Verstehst du, junger Vetter, unter deutscher Gemüthlichkeit, auf den Bierbänken herumzuliegen, zu kneipen und zu singen, umherzuschlendern, sorglos in den Tag hineinzuleben, so ist dafür bei uns allerdings der Boden nicht. Hier heißt es arbeiten und durch eigene Arbeit frei und selbständig werden. Denn das weiß bei uns jedes Kind, daß nur Besitz und Reichthum die wahre Freiheit gibt, und darum strebt jedermann danach. Auch die Romantik fehlt. Statt verfallener Thürme alter Raubburgen siehst du Dampfessen, hörst den Schmiedehammer statt Rappier- oder Degengerassel. Aber was beschaffen wir auch!«
»Was ihr beschafft?« fiel der Bärtige dem Vetter heftig in die Rede; »wahrlich nichts Großes, nichts von ethischer und idealer Bedeutung.« Er sprang vom Wiegenstuhle auf und schleuderte das Cigarrenende weit über den Söller hinaus.
»Man sieht in der That, daß du nur Neuyork und die Congreßstadt gesehen«, entgegnete der Freund ruhig, »und noch wenig oder nichts von unserm Leben und Treiben begriffen hast. Du hast nicht die entfernteste Ahnung, wie es scheint, daß wir im Begriff stehen, den größten Kampf, der je für ein ethisches Princip gekämpft ist, zu beginnen, den Kampf um die Gleichberechtigung der Menschen ohne Ansehen der Farbe. Es tritt der Bruderkrieg, der Krieg zwischen Norden und Süden, stündlich näher an uns heran, es handelt sich darum, die Sklaverei nicht weiter um sich greifen zu lassen in den neueroberten Staaten, wie in den sich aus Territorien zu neuen Staaten heranbildenden Regionen des Westens, die südlich der Compromißgrenze liegen. Demnächst wird es sich geradezu um die Aufhebung der Sklaverei handeln. »Leider ist es nicht nur möglich, sondern wie Grant, das Congreßmitglied, glaubt, sogar wahrscheinlich, daß unsere Staatsmänner, die seit Jahren von den Sklavenbaronen beherrscht sind, auch in diesem Jahre vor einem offenen Bruche zurückschrecken und abermals zu Compromissen ihre Zuflucht nehmen. Die Sklavenhalter wollen nämlich nicht, daß Californien nur unter der Bedingung als Staat aufgenommen werde, kein sklavenhaltender Staat zu sein; sie spielen mit dem Rechtssatze, daß nicht der Congreß, sondern jeder einzelne Staat selbst zu bestimmen habe, ob er Sklaven dulden wolle oder nicht. Ferner steht die Frage der Sklavenjagden auf der Tagesordnung, die leider durch den unglückseligen Vergleich von 1793 zum Gesetz geworden sind. Nach unserer Constitution soll kein freier Staat ›den Flüchtling von gezwungener Arbeit‹ schützen. Freilich wir in Pennsylvanien haben unsern Beamten trotzdem verboten, flüchtige Sklaven einzufangen. Ein Sklave, der Pennsylvanien betritt, ist so gut wie frei. Aber die Sklavenbarone überschreiten mit ihren Bluthunden unsere Grenzen und schießen die entflohenen Sklaven lieber todt oder lassen sie von Bluthunden zerreißen, bevor sie unter den Schutz einer Stadt oder eines Ortes kommen, hinreichend bevölkert, um die Baumwolljunker mit Flintenschüssen über die Grenze zurückzutreiben.«

»Das ist mir allerdings neu«, sagte unser Freund aus Hannover, »und ein solcher Kampf gegen die Sklavenhalter würde mir schon erwünscht sein.«
»Willst du dich der großen Sache widmen, der Aufgabe, die schon Franklin einleitete, mit ganzer Seele und Gemüth widmen, so hast du ein Lebensziel so schön und reich, wie du es nur verlangen kannst, denn es wird viel Arbeit geben. Ich kann dir in diesem Falle die beste Unterstützung schaffen. Du mußt dich in unsere Loge zu den Cedern des Libanon aufnehmen lassen, es trifft sich das gut, in nächster Zeit ist große Aufnahmeloge. Wir arbeiten hauptsächlich für die Gleichheit und Freiheit der schwarzen und andern Menschenrassen und sehen unsere gefährlichsten Feinde in den Afterlogen des Südens, in den Rittern vom Goldenen Zirkel und wie sie sich sonst nennen.«
[...]

»Lieben Freunde«, unterbrach Georg Baumgarten den Redenden, »das Wort der Bibel: Man sieht den Splitter im fremden Auge leichter als den Balken im eigenen, bewährt sich jenseit wie diesseit des Oceans, und wird sich auch wol hinter dem Pacific bewähren. Ich bin über vierzig Jahre hier und glaube in dieser Zeit das, was den Nordamerikaner vor andern Völkern charakterisirt, herausgefunden zu haben; ihr habt nur auffallende Nebenzüge, wenn ich so sagen darf, entdeckt. Das Charakteristische Nordamerikas ist die Idee der Freiheit, der Freiheit in jeder Form, im Staate wie in der Kirche. Das Streben nach Reichthum muß, wie ich heute schon zu Schulz sagte, aufgefaßt werden als Streben, sich die Mittel zur völligen Freiheit und Unabhängigkeit zu schaffen.«
»Aber wie reimt sich damit der Besitz von drei Millionen Sklaven?« entgegnete Oskar.
»Die Sklavenfrage ist der faulste Punkt im Leben der Union, das haben schon Washington, Jefferson, Madison und alle Denker gesagt. Sie war durch die historische Entwickelung, durch gegebene Verhältnisse des Südens, mit denen man nicht zu brechen wagte, namentlich bei den Verdiensten der Virginier um Schaffung der Unabhängigkeit, bedingt. Durch die Ueberlegenheit der südlichen Staatsmänner, durch ihre Ungesetzlichkeit, ihr Drohen mit Secession und Nullification, durch den Ausfall der Präsidentenwahlen für die Demokraten, durch den Anschluß neuer südlicher Sklavenstaaten ist das Uebel verstärkt. Wir wollen über dieses Kapitel erst weiter reden, wenn ihr, lieber Oskar und Hellung, euch überzeugt haben werdet, wie groß die Anzahl der Männer im Norden ist, welche gegen diese Schmach ankämpfen. Laßt die Beurtheilung amerikanischer Zustände vorläufig beruhen. Du, lieber Hellung, der du zuletzt von Europa herübergekommen bist, berichtest wol von den Aussichten in Deutschland, Freiheit und Einheit zu schaffen, von den deutschen Flüchtlingen in London und ihrem Treiben, wie du, Oskar, uns über Hannover das Nähere mittheilst.«

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 8. Buch, 7. Kapitel

24 Januar 2013

Die letzten Sitzungen in der Paulskirche


Während Bally Grävell zum Reichsverweser führte, entwarf Detmold in der Paulskirche das Ministerprogramm. Dann suchte er Bruno auf und zog ihn beiseite: »Grävell wird Ministerpräsident, ich selbst habe gleichfalls angenommen, wollen Sie mein Referent und Unterstaatssecretär werden?«
»Ein Ministerium mit der lächerlichsten Person an der Spitze, wie Sie gestern selbst sagten?« entgegnete er fragend.
»Grävell«, erwiderte der Buckelige, »hat, wie Bally richtig sagt, sein Leben lang Freiheit, Ordnung und Gesetz vertreten, und der Linken gegenüber bedarf es einer grobnervigen, dreisten Natur. Uebrigens wird sich die Sache in wenig Wochen, vielleicht in wenig Tagen abspielen. Es handelt sich darum, den Reichsverweser gerade in diesem Augenblicke nicht im Stiche zu lassen. Die Erbkaiserlichen wollen die Ministerlosigkeit benutzen, um den Erzherzog zu drängen, die Centralgewalt in die Hände des Königs von Preußen niederzulegen. Fände der Reichsverweser kein Ministerium, so wäre das die nothwendige Folge. Aber die Herren haben die Rechnung abermals ohne den Wirth gemacht. Mein Programm wird ihre Ränke scheitern machen. Dann wird Preußen dem Beispiele Oesterreichs folgen und seine Abgeordneten abrufen. Hannover und Sachsen werden das Gleiche thun, und die Regierungen werden sich über eine Verfassung verständigen. Stüve hat in der in Berlin mit Sachsen und Preußen vereinbarten Reichsverfassung Oesterreich seinen Platz gesichert. Mit einem Kleindeutschland ist es vorerst ebenso wenig etwas als mit dem Erbkaiserthum. Bedenken Sie sich nicht lange, nehmen Sie mein Anerbieten, das außerdem Ihre Zukunft sichert, an. Ich würde Sie ungern vermissen, ich kenne Sie seit zwölf Jahren und Sie kennen meine Art.«
Der Freund sagte zu.
Es war die höchste Zeit, daß diese »Teufelei«, wie Haym sagt, glückte, denn ohne sie würde die andere Teufelei, die man in Berlin ausgedacht hatte, mehr Aussicht auf Erfolg gehabt haben. Der Oberst von Fischer war von Berlin angekommen, um den mürbe gemachten Reichsverweser zu veranlassen, die Nationalversammlung aufzulösen und die Centralgewalt an den König von Preußen zu übertragen. Dieser würde ein Reichsministerium Radowitz ernannt haben, Wahlen in Gemäßheit des Dreikönigsbündnisses würden ausgeschrieben sein, statt in Erfurt hätte in Frankfurt das neue Reichsparlament und ein Fürstenhaus getagt, die Fürsten würden sich unterworfen haben, und blieben die Oesterreicher fort, so war Oesterreich aus dem neuen Bunde hinaus.
So etwas hielt aber damals nicht nur die gesammte Linke, sondern auch Staatsmänner wie Stüve, von der Pfordten, von Beust für das größte Unglück, was geschehen könne; man mischte schon die Karten zu dem Fiasco von Erfurt, und die Herren, die damals dem Dreikönigsbündnisse entschlüpften und das Volk um die Einheit betrogen, die tragen nebst Olmütz die meiste Schuld an dem 1866 vergossenen Blute.

Heute sind wenige Menschen, welche eine solche Entwickelung der Dinge, die den Bruderkrieg abgewendet, den Main vom Fichtelgebirge bis nach Mainz überbrückt haben würde, nicht für eine glückliche hielten; in jenen Tagen schien Detmold's Ansicht in Bruno's Augen gerechtfertigt, und um einen solchen preußischen Plan hintertreiben zu helfen, nahm er die Stellung als Unterstaatssecretär an. Er fürchtete, daß der Reichsverweser eher zurücktrete, als die Centralgewalt in Preußens Hände lege, dann aber war die Revolution da und das Chaos, und im günstigsten Falle hielt er die Kreuzzeitungsritter nicht für Männer, die ein Deutschland ohne Oesterreich regieren könnten.

Das Programm, welches Detmold in der Paulskirche entworfen hatte, schien ihm correct, sodaß selbst Metternich nichts daran hätte tadeln können; es lautete:
»1) Die Errichtung des Verfassungswerks ist durch das Gesetz vom 28. Juni vorigen Jahres von der Thätigkeit der Centralgewalt ausgeschlossen. Eine Wirksamkeit behufs Durchführung der Verfassung liegt außerhalb der Befugnisse der Centralgewalt. Sie ist gern bereit, eine Anerkennung der Verfassung bei den Regierungen zu vermitteln, wird aber allen ungesetzlichen und gewaltsamen Bewegungen, welche die Durchführung der Verfassung zum Vorwande oder Anlaß haben, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln entgegentreten, sobald die Hülfe und Vermittlung von den betreffenden Regierungen nachgesucht wird.
»2) Die Centralgewalt erachtet es für ihre Pflicht, die ihr ausschließlich zustehende Regierungsgewalt vor jeder Einmischung zu bewahren und jeden Eingriff in dieselbe zurückzuweisen.«
Das war ein Programm, bestimmt und faßbar, übereinstimmend mit dem Gesetze vom 28. Juni, das Gegentheil von dem letzten Gummi-elasticumprogramm Gagern's; das war ein Programm, das klar und entschieden den revolutionären Gelüsten zur Durchführung der Reichsverfassung, die sich auch bei Männern der Centren immer offener aussprachen, entgegentrat. Daß es den Zorn der Linken erregen mußte, war vorauszusehen. Das Gerücht der neuen Ministercombination verbreitete sich schnell. Onkel Gottfried Schulz kam noch am Abend zu Bruno und beschwor ihn, die Verbindung mit dem »kleinen Scheusal«, die ihm nur zum Verderben gereichen würde, aufzugeben. »Glaube mir«, versicherte er, » diesem kleinen von Ehrgeiz und Eitelkeit geplagten Teufel ist nichts in der Welt heilig, weder Vaterland noch Freiheit. Er wird seinen Freund Stüve verrathen, er wird Hannover verrathen, er wird sich von den Schwarzenberg oder wer es sein müßte, oder von Antonelli erkaufen lassen.«
Bruno verteidigte den Leiter seiner politischen Bildung.
Am Tage des 16. Mai ging er indeß mit einigem Herzklopfen in die Nachmittagssitzung der Paulskirche, er mußte für sich wie für seine Reichsminister auf einigen Hohn, auf Gelächter, Spott, vielleicht einige Kothwürfe gefaßt sein. So schlimm, wie es kam, hatte er sich die Sache allerdings nicht gedacht. Im Anfange der Sitzung wurde die preußische Verordnung, welche das Mandat der preußischen Abgeordneten für erloschen erklärte, dem Antrage Wiedenmann's gemäß, mit zweihundertsiebenundachtzig Stimmen gegen zwei für unverbindlich erklärt und die Erwartung ausgesprochen, daß sich die preußischen Abgeordneten der fernern Teilnahme an den Verhandlungen nicht entziehen würden. Inzwischen ging bei dem Präsidenten Theodor Reh ein Schreiben Gagern's ein, welches denselben und die Versammlung benachrichtigte, der Reichsverweser habe den Geheimen Justizrath Dr. Grävell zum Minister des Innern ernannt und ihm einstweilen das Präsidium des Ministerraths übertragen.
Die Mittheilung dieses Schreibens erzeugte unter den Abgeordneten wie auf den Galerien große Bewegung. Der neue Ministerpräsident bat um das Wort, ward aber mit großer Unruhe empfangen. Er sagte im Anfange seiner kurzen Rede:
»Meine Herren! Wenn Sie auf mein weißes Haar sehen, so werden sie mir zutrauen, daß nicht Eitelkeit oder Ehrgeiz mich dazu bewegen konnte, um einen Posten mich zu bemühen, oder ihn nur mit Freuden anzunehmen, der mich aus den sorglosesten und bequemsten Verhältnissen herausbringt und eine so schwere Verantwortlichkeit auf meine Schultern legt, wie sie wol nicht schwerer aufgelegt werden kann. Ich bitte Sie darum, seien Sie so freundlich und erschweren Sie mir nicht die Last, die ich auf mich genommen habe. Ich empfehle mich Ihrem Wohlwollen!«
Und was that die Nationalversammlung?
Als Grävell die Namen der Mitglieder seines Ministeriums nannte: Detmold, Menke, Jochmus, entstand der größte Lärm, der je in der Paulskirche gewesen war, und es war seit einem Jahre viel Lärm dort gewesen, viel mehr als der deutschen Nation würdig war.
Gelächter oben und unten; die Galerien trampeln, pfeifen, schreien bis zur Ungebühr. In der Versammlung ruft man, als der Name Jochmus genannt wird: »Ist das der Pascha von den drei Roßschweifen?«
Von anstandsvoller Achtung, die auch republikanische Versammlungen ihren Würdenträgern zollen, keine Spur, der Präsident hatte die Macht nicht, die Ruhe herzustellen oder wollte es nicht. Wahrhaftig, ein beschämender Anblick!
Obwol der Ministerpräsident erklärt hatte: er werde folgenden Tags der hohen Versammlung das Programm des Reichsministeriums zugehen lassen, so übergab dennoch Ludwig Simon eine für dringlich erklärte Interpellation: »Ob der neue Ministerpräsident bereit sei, die deutsche Reichsverfassung, in Gemäßheit des Artikel 15 des Gesetzes, unverkümmert zur Ausführung zu bringen?«
Grävell ließ sich nicht verblüffen, er bat, bis morgen zu warten.
Nun ein neuer dringender Antrag von Ziegert: »Die Nationalversammlung erklärt: ›Das neugebildete Ministerium besitzt das Vertrauen der Mehrheit des Hauses nicht.‹«
Die Mehrheit fühlte denn doch, daß das vor der Mittheilung des Programms verfrüht sei. Von allen Seiten schrie man: Zurücknehmen! und der Antragsteller gehorchte.
Am andern Tage war Himmelfahrt. Dennoch wurde eine Nachmittagssitzung auf vier Uhr anberaumt. Die Frankfurter pflegen an diesem Tage und schon in der Nacht vorher im Frankfurter Hölzchen »bei Appelwei und Wei« Natur zu kneipen. Der trunkene Galeriepöbel empfing das Reichsministerium mit unendlichem Hohn, was sich zu Pfingsten 1866 im Saalbau gegen Preußen und Norddeutsche feindlich geberdete, das tobte damals gegen ein österreichisches Reichsministerium.
Ein Antrag Welcker's wurde als dringlich angenommen, worin die Nationalversammlung dem Reichsministerium ihr Mistrauen aussprach und seine Ernennung als eine Beleidigung der Nationalrepräsentation auffaßte.
Das war dem Hannoveraner Freudentheil, in welchem viele das Urbild der Detmold'schen Piepmeier finden wollten, noch nicht stark genug, er donnerte bald im Baß, bald in der höchsten Fistel: »Es sei auszusprechen, daß ein Schrei der Entrüstung durch alle deutschen Gauen gehen würde, wenn die designirten Reichsminister nur vierundzwanzig Stunden im Amte blieben, es erheische demnach die Ehre und die Pflicht der Nationalversammlung dringend, Minister solcher Geistesrichtung, wie die designirten, sofort mit dem entschiedensten Unwillen zurückzuweisen.«
Detmold zeichnete ihn während der Rede und reichte das Bild auf den Ministersitzen herum, das den besten Caricaturen Bonin's nicht nachstand. Das Blatt mit der Unterschrift »Piepmeier gegen das Reichsministerium« ist in den Privatbesitz Bruno's übergegangen.
Karl Vogt meinte: »Man solle sich bei einem Mistrauensvotum nicht aufhalten, wenn man morgen schon in die Lage kommen könne, den Träger der Centralgewalt dahin zu schicken, wo er hergekommen.« Ob er sich selbst schon in der Heldenrolle des künftigen Trägers der Reichsgewalt erblickte? –
Die Nationalversammlung war ein Jahr und einen Tag alt, als sie den Beschluß faßte, die Centralgewalt zu beseitigen und einen Reichsstatthalter womöglich aus der Reihe der regierenden Fürsten zu wählen. Die Politiker des Nürnberger Hofes waren die Macher. Detmold grinste während der Verhandlung und flüsterte dem hinter ihm sitzenden Bruno so laut, daß man es auf den Bänken der zunächstsitzenden Abgeordneten hören konnte, zu: »Jakob, setz' die Mütze auf, damit dir die Reichsstatthalterschaft nicht auf den Kopf fällt.«
Der Ministerpräsident erklärte, der Reichsverweser werde sein Amt in die Hände zurückgeben, aus denen er dasselbe empfangen, in die Hände der Nationalversammlung, seine Macht werde er in die Hände der Regierungen zurückgeben, von der er sie durch den Bundestag erhalten. Es erhob sich ein ungeheueres Geschrei. Die Linke schrie: »Diese Dummheit! das ist unverschämt, schändliche Frechheit!«
»Nennen Sie in Ihrem Berichte diese Schreier«, sagte Detmold zu Bruno gewendet, dessen Thätigkeit bisher darin bestanden hatte, daß er im Sinne des Reichsministeriums für verschiedene Zeitungen Berichte schrieb, und der damit beschäftigt war, die Rede des Ministerpräsidenten nach der vom Stenographenamte gesendeten Uebersetzung abzuschreiben, damit sie unverfälscht in die größern Zeitungen komme.
»Vergessen Sie auch nicht«, fuhr der Kleine nach einiger Zeit fort, »zu erwähnen, wie es die Majorität dieses Traumes von einem Schatten anfangen will, die Centralgewalt zu beseitigen, nachdem sie nicht einmal das Ministerium der Lächerlichkeit hat beseitigen können. Auch können Sie dreist vorhersagen, daß nicht achtundvierzig Stunden vergehen werden, und die Edeln, welche vorgestern die Verordnung vom 14., welche die Preußen zurückruft, für unverbindlich erklärten, werden, Gagern und Dahlmann an der Spitze, reißaus nehmen.«
Nach kurzer Zeit drehte sich der Justizminister abermals zu seinem Freunde: »Wenn Sie nach Augsburg schreiben, vergessen Sie nicht, dem künftigen Reichsstatthalter zu empfehlen, daß er für den Nürnberger Hof und seine sonstigen Wähler die Tagesgelder, drei Monate pränumerando womöglich, mitbringe, denn alle Taschen und Börsen sind leer.«
Als man aus der Paulskirche ging, sagte Detmold: »Jetzt werden sie sich gegenseitig mit Koth bewerfen, wie die frankfurter Straßenjungen, sie, die sich zu der Erbkaiserwahl verbündeten. Die Linke wird die Schuld auf die Centren schieben, diese auf die Extreme, niemand wird zugestehen wollen, daß die Schuld des Mislingens an allen denen liegt, welche das Princip der Vereinbarung von sich wiesen und das Einzigundallein zur Devise erhoben.«
Detmold hatte recht. Alles, was er vorhersagte, traf ein; nach wenigen Tagen begannen sogar die Führer der Linken mit ihm, dem Verhöhnten, zu verhandeln wegen eines Vorschusses der Bureaukosten und Diäten. Man wollte sich im Süden festsetzen und verschanzen, um bessere Tage zu erwarten. Es wurden auch fünfundzwanzigtausend Gulden bewilligt; allein die Auszahlung fand Anstand, da Reh, der Präsident, resignirt hatte, nachdem der Antrag Vogt's auf Verlegung der Nationalversammlung nach Stuttgart angenommen war. Da die Anweisung aber auf Reh lautete, weigerten sich die Kassenbeamten auszuzahlen, und auch das Reichsministerium wollte eine Nationalversammlung außerhalb Frankfurts nicht anerkennen.
Die Nationalversammlung tagte am 30. Mai zum letzten mal in Frankfurt – an der Farce des stuttgarter Rumpfparlaments betheiligte sich keiner unserer Freunde.

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 8. Buch, 6. Kapitel

Mai 1849 in Dresden


Schlaglichter vom Dresdner Maiaufstand
Ihre Wohnung lag hinter der Schlesischen Eisenbahn im Schutze des Bergrückens, der das Waldschlößchen trägt. Die Neustadt war voll sächsischer Truppen, Preußen wurden mit der Bahn von Berlin erwartet: um Sachsen vor dem Zwange des preußischen Erbkaiserthums durch das Volk zu schützen. Die königliche Familie flüchtete am Morgen desselben Tages, an welchem Minna nach Neustadt übersiedelte, auf einem Dampfschiffe nach Königstein, was in der Stadt den übelsten Eindruck machte. Das Volk, welches nach Einheit und Reichsverfassung schrie, wußte nicht, was es wollte; daß es dem Russen Bakunin, welcher Tzschirner bald die Zügel aus der Hand nahm, und seinen nähern Freunden um diese wenig zu thun war, darüber konnte niemand im Zweifel sein, der den Dingen nur einigermaßen näher stand, und das hatte Hellung denn auch bewogen, seine Frau und Kinder über die Elbe zu senden. [...]

Nun denke Dich in meine Lage! Mein Mann war auf dem Rathhause, ich war mit den Kindern und Dienstboten ganz allein in der großen zweiten Etage, die erste Etage steht leer, und nun begann das Geheul der Sturmglocken, das Wirbeln der Trommeln, Hörnersignale, ein unbeschreiblicher Menschenlärm von der vom Gewandhause und dem Altmarkt durch unsere Schießgasse ziehenden Menge. Dazu kam sehr bald das Knattern der Gewehrsalven, das Krachen von Kartätschenschüssen, das Geschrei der Männer, das Gepolter beim Aufrichten von Barrikaden. Bald war in unserer Etage keine Sicherheit mehr, Flintenkugeln schlugen durch die Fenster, zertrümmerten Möbeln, Spiegel, Vasen, Bilder. Durch das Bild des Vaters meines Mannes, das seine beiden zuwanischen Frauen und den kleinen Ibrahim vor einem Springbrunnen darstellt, das Dich so sehr entzückte, hat eine Flintenkugel der Mirza beide Beine weggeschossen. Ich mußte mit den Kindern in die Mansardenzimmer flüchten, nachdem wir die Fenster unserer Wohnung, so gut es gehen wollte, mit Betten, Laken, Matratzen verstopft hatten. Und nun die Kinder! dieses Heulen und Schreien wegen des nicht endigen wollenden Schießens und Sturmläutens! Als es Nacht wurde und das Feuer ruhte, die Kinder endlich in den sichern Bodenkammern zur Ruhe gebracht waren und schliefen, kam der gute Vetter Moritz; er stand bei der Turnerschar und hatte sich durch den Botanischen Garten in unser Haus eingeschlichen. Er berichtete, daß soeben die tharander Bürgerwehr eingezogen, ebenso zahlreiche Bewaffnete von Wilsdruff, aus dem Plauenschen Grunde und von Loschwitz angekommen seien, und half dann die Papiere meines Mannes ordnen und in den Keller schaffen, unsere Werthsachen und Werthpapiere in Koffer packen, die Fenster noch vorsichtiger gegen Kugeln verwahren. Heute morgen erhielt ich ein Billet meines Mannes, der mir rieth, sobald wie möglich zu Frau von F. überzusiedeln, die in einem reizenden Versteck hinter dem Lincke'schen Bade und der Prießnitz östlich der Antonstadt wohnt. Du mußt Dich des freundlichen Landhauses noch erinnern, das wir eines Nachmittags besuchten, wo wir am Abend mit Vetter Moritz und andern Freunden ein Rendezvous auf dem Waldschlößchen uns zu geben versprochen hatten. Du erinnerst Dich gewiß der Scenerie, wenn Du Dir den großen Garten ins Gedächtniß zurückrufst, der von drei Seiten mit einer hohen Steinmauer eingefaßt war und nach vorn, nach der Zittauer Straße zu, eine eiserne Einfassung hatte. Weist Du noch, wir stiegen, nachdem wir durch eine Thür des Gartens in einen Weinberg gelangt waren, mehrere Terrassen hinan und ruhten oben auf einem von Kirschbäumen bekränzten Plateau, uns an den herrlichen Früchten und der reizenden Aussicht auf Neustadt, die Elbe, die Brühl'sche Terrasse, das Lincke'sche Bad und Siegels Restauration zu unsern Füßen zugleich labend. Hier ist es so ruhig wie in einem Kloster, wenn aus Altstadt nicht Gewehr- oder Kartätschenfeuer herüberschallt; die Kinder spielen in den gelben Sandwegen, das jüngste, der Revolutionär, ist auf den Armen seiner Amme in der Fliederlaube eingeschlafen. Ich sitze im Gartenpavillon, und da ich hier Schreibzeug gefunden, ist mir eingefallen, meine innere Unruhe dadurch zu bewältigen, daß ich an Dich schreibe. Die gute Baronin ist heute, trotzdem daß seit Morgen das Schießen drüben nicht aufhört, zum zweiten mal nach meiner Wohnung gefahren, um für mich und die Kinder das Nöthigste an Kleidungsstücken und Wäsche, die wir bei der Eile vergessen, zu holen. Sie läßt ihren Wagen dann auf dem Lincke'schen Bade, fährt hinüber, nimmt bei Elisensruhe den Wagen des Wirths und fährt durch den Ziegelschlag in die Stadt, dann muß sie aber, da die übrigen Straßen durch Barrikaden versperrt sind, durch die Amaliengasse über den Pirnaischen Platz. in die Schießgasse gelangen, da dicht vor unserm Hause eine Barrikade gebaut ist, welche das Klinische Institut in Verlängerung der Gasse gegen das Zeughaus deckt. Frau von F. ist glücklich von ihrer zweiten Expedition abends angekommen. Tzschirner, Heubner,...[...]

Sonnabend, 5. Mai abends.
Ach, liebe Schwester, welch ein gräßlicher Tag! wie glücklich seid Ihr in Euerer von der Welt abgelegenen Wüstenei! Welche Seelenangst habe ich von früh an ausgestanden! Gestern Abend spät bekamen wir noch Einquartierung, das Füsilierbataillon des preußischen Garderegiments Alexander war eingetroffen und wurde in die Straßen diesseit des Neustädter Kirchhofs bis hinauf in das Waldschlößchen einquartiert. Die Baronin erhielt einen Lieutenant und sechs Mann, anständige Menschen, aber ich hörte eine halbe Compagnie in die Radeberger Gasse hineinziehen, welche sangen: »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!« und sehr betrunken zu sein schienen. Morgen sollen noch viel mehr Preußen kommen. Ach, mein Gott, welches Blut wird da fließen, wie viel unschuldiges! Könnte der König die Reichsverfassung nicht lieber annehmen? Wenn Friedrich Wilhelm die Kaiserkrone nicht annimmt, wird ja doch nichts daraus. Ueber wen kommt das vergossene Blut?! [...]

Sonntag, 6. Mai morgens sechs Uhr.
Seit morgens vier Uhr heulen die Sturmglocken, donnern die Kanonen. O es ist furchtbar! Es war nicht möglich, im Bett zu bleiben. Unsere Einquartierung sind wir los, aber die Communication mit der Altstadt hat gänzlich aufgehört. Die Dienstboten, der Gärtner, die Leute der Nachbarschaft bringen mit den nöthigen Lebensmitteln, die aber, was das Fleisch anbetrifft, schon sparsam zu werden anfangen, stündlich neue Nachrichten. Frankreich soll Preußen den Krieg erklärt haben; eine Reichsarmee sei auf dem Marsche nach Dresden, dreitausend Hanauer seien schon in Tharand, unser alter König in Hannover sei erhängt, das Schloß sei durch Bergleute unterminirt und solle noch heute, spätestens in der Nacht, in die Luft gesprengt werden!   Um zehn Uhr morgens. Ich komme mit der Baronin soeben von dem Kirschenwäldchen, seit sieben Uhr schlagen schwarze Dampfwolken und hohe Feuersäulen über das Schloß und die Schloßkirche empor. Nach dem, was wir durch Gläser oben ermitteln konnten, muß das Prinzenpalais, oder das alte Opernhaus oder ein Theil der Zwingerpavillons brennen. Das Schloß, soweit es der Elbe zugewendet ist, die Schloßkirche und das Theater sind es nicht, diese Gebäude konnten wir deutlich erkennen. Es wird soeben eine Proclamation der Minister Beust und Rabenhorst, welche im Blockhause in Neustadt einquartiert sind, durch das Gartenthor geworfen, in welcher an den Bestand der Regierung des Königs erinnert wird und die Mitglieder der provisorischen Regierung als »Hochverräther« bezeichnet werden. Als wir die Terrasse schon verlassen wollten, sahen wir ein neu angekommenes preußisches Regiment mit fliegenden Fahnen über die Elbbrücke ziehen.  

Montag, 7. Mai abends.
Das Schießen dauert fort, Tag und Nacht. Von Theodor noch immer keine Nachricht. Die Baronin hat sich vergeblich bemüht, im Blockhause Erkundigungen einzuziehen, die Minister wissen selbst nicht, wie es in den Stadttheilen jenseit der Brüderstraße aussieht. Das Opernhaus, das alte, ist abgebrannt, ein Pavillonzwinger brennt noch.   Dienstag, 8. Mai. Der gräßlichste Tag heute! Meine Köchin, die aus Altstadt gebürtig und deren Vater unter der Communalgarde ist, während der Bruder unter dem Turnercorps steht, hatte sich heute Morgen bis zum Japanischen Palais hinabgewagt, um dort vielleicht etwas aus der Stadt zu vernehmen. Sie kam laut heulend zurück, die Dienstboten steckten die Köpfe zusammen, man flüsterte leise. Die Baronin, die noch keinen Augenblick die Ruhe verloren, kam mir ganz verändert vor, ich merkte, man suche mir etwas zu verheimlichen. War meinem Manne ein Unglück widerfahren? Ich drang darauf, daß mir die Wahrheit mitgetheilt, daß mir das Schrecklichste nicht verhehlt werde. Die Baronin kam denn auch endlich damit heraus, daß die Köchin erzählt habe, von einer Bekannten, die es aus dem Garten des Brauhauses in der Neustadt selbst gesehen haben wollte, wie unser guter Herr, mein Theodor nämlich, auf dem neuerbauten Elbbrückenpfeiler von einem preußischen Soldaten mit dem Bajonnet erstochen und in die Elbe geschleudert sei. Ich wußte, daß das nicht wahr sei; in der unendlichen Anspannung, in der sich alle meine Nerven befinden, hätte eine Ahnung mir gesagt, wenn Theodor ein Unglück begegnet wäre. Wie sollte er außerdem durch die Menge der Feinde auf die Elbbrücke kommen? Außerdem halte ich es für unmöglich, daß vom Garten des Brauhauses ab das schärfste Auge einen Menschen, der auf dem vor zwei Jahren neuerbauten Pfeiler steht, erkennen kann. Die Baronin ist ein Engel, sie sorgt für mich und die Kleinen, als wäre ich ihr Kind.   Mittwoch, 9. Mai mittags. Gottlob, der Kampf ist vorbei! Von zwei Uhr nachts begann das Schießen. Die Preußen haben die große Barrikade vor der Wilsdruffer Gasse und den Eingang zum Wilsdruffer Platze erobert, die Barrikadenkämpfer, Bergleute, Turner, die aus andern Orten Zugezogenen, haben sich durch den Freiberger Schlag und auf der Straße nach Chemnitz zurückgezogen. Es sollen unerhörte Grausamkeiten vorgekommen... [...]

Sonnabend, 12. Mai.
Gestern war ich in Altstadt. Welche Verwüstungen! Das alte Opernhaus, zwei Zwingerpavillons, drei Häuser der Zwingerstraße sind gänzlich niedergebrannt. Leerstehende Fensterlöcher, Mauern von Hunderten von Flintenkugeln und Kartätschenkugeln durchlöchert, herausgeschossene Quadern, zerschossene Fenstersäulen, zerschossene Dächer, die Straßen voll Dachziegel, zersplitterte Läden und Magazine, aufgerissenes Pflaster, gefällte Bäume, Reste von Barrikaden, das sind Anblicke, die sich überall darbieten, wo der Kampf wüthete. Auch unsere Wohnung ist stark beschossen und beinahe kein Fenster heil geblieben. Bisher ist es Ibrahim noch nicht möglich gewesen, einen Glaser und andere Arbeiter zur Herstellung aufzutreiben. Sobald reparirt ist, ziehe ich in meine Wohnung zurück, um meinem Manne näher zu sein. Die Juristen miströsten mich, wenn ich mir Hoffnung mache auf Freilassung nach einigen Tagen, – er ist wegen Hochverraths in Untersuchung, und da alles festzustellen, dazu gehörten Wochen und Monate, sagen sie. Morgen soll die Bahn nach Leipzig wieder ihre täglichen Dienste thun, da will ich diesen Brief abschicken, den Du der Mutter mit herzlichen Grüßen nach Eckernhausen überbringen willst. [...]

Waren es denn aber nur einzelne wenige, welche so mit den wieder mächtig gewordenen Regierungen in Conflict geriethen über Principien, welche diese noch vor einem Jahre stillschweigend anerkannten, jetzt aber mit Festung und Zuchthaus bestraften? Nein, es waren Tausende aus allen Gegenden Deutschlands, jugendliche Schwärmer, die noch immer an die Omnipotenz des Frankfurter Parlaments glaubten, die noch immer wähnten, die einzelnen deutschen Fürsten, welche die Reichsverfassung nicht anerkennen wollten, die seien die Hochverräther, und das Volk sei berechtigt und verpflichtet, sie zu zwingen. Tausende und aber Tausende, darunter anerkannt tüchtige Juristen, Richter wie Advocaten, Professoren und Studenten, stützten sich auf den Wortlaut des Bundesbeschlusses vom 30. März in Gemäßheit der Interpretation des Vorparlaments, daß das Parlament einzig und allein befugt sei, die Reichsverfassung zu Stande zu bringen.

Heinrich Oppermann, Hundert Jahre, 8. Buch, 5. Kapitel

1848 nach den Barrikadenkämpfen in Berlin

Wien war erobert, an demselben Tage, an dem die demokratischen Clubs und der Mob Berlins es versuchten, die Constituirende Versammlung in Berlin zu zwingen, den Wienern zu Hülfe zu eilen. Eva hatte anspannen lassen, sie hoffte, ihren Fahnenschwinger wiederzufinden, die Tante und Cousine aus Heustedt waren neugierig, sie hatten noch keine berliner Volksversammlung gesehen. Als man aber auf der Jägerstraße über den Gensdarmenmarkt fahren wollte, fing man an das Wagniß zu bereuen, die Menschenmasse wurde immer größer und dichter, die Art der Menschen nach Anzug und Physiognomie immer abschreckender; wahre Bassermann'sche Gestalten tauchten neben dem Wagen auf und grinsten zähnefletschend durch die Spiegelscheiben der mit der Baronenkrone gezierten Equipage. Als diese im langsamen Schritt so weit vorgefahren war, daß man die Freitreppe des Schauspielhauses und den jetzigen Schillerplatz übersehen konnte, wurde das Gedränge so groß, daß der Kutscher anhalten mußte. Bettina und Sidonie schwebten in tausend Aengsten und verwünschten ihre Neugierde. Eva hatte nur Augen für die Freitreppe, da war ihr Barrikadenheld wieder, die schwarzumflorte schwarz-roth-goldene Fahne in der Hand; neben ihm stand der wohlbekannte große, fette, rothumbartete Volksredner Held und redete mit seiner Riesenlunge und Feuerzunge zu der tobenden Menge, Gehör bittend für ein Mitglied der Deputation des Arbeitervereins aus Wien, welcher die Hülfe der Berliner für die von den Kroaten bedrängte Kaiserstadt erbitten wollte. Karbe, Ottensosser und andere Lieblinge der souveränen Menge standen zur Rechten. Einige Radicale aus der constituirenden Versammlung, D'Ester und andere, hielten sich mehr im Hintergrunde, gleichsam, als schämten sie sich der Gemeinschaft mit den vorn auf der Freitreppe Stehenden. Von dem, was Held sprach, konnte man im Wagen nichts verstehen, bei jedem Schlagworte aber erscholl ein Hurrah oder Bravo, das die Fenster des Schauspielhauses erschütterte. Die Rede war zu Ende, das Volk kam in Bewegung, es sehnte sich nach »Thaten«, zu welchen der Redner aufgefordert hatte. »Hier ist Gelegenheit!« schrie ein kleiner schiefer Kerl und schlug mit einem dicken Prügel in die Fenster der Equipage, sodaß Eva, welche dem Fenster am nächsten saß und nach ihrem Ideal mit dem schwarz-roth-goldenen Banner starrte, von Glassplittern überschüttet wurde und mehrere Wunden ins Gesicht bekam, »hier ist Aristokratenbrut, hängt sie!«
Eine Abtheilung Bürgerwehr, die neben der Freitreppe stand, da, wo an Markttagen Strohmatten, Holzwaaren u. dgl. zum Verkaufe ausgestellt zu sein pflegen, versuchte nach der Equipage vorzudringen. Allein die Menge warf sich nun gegen sie, dadurch bekamen die Pferde etwas Luft. Als das Proletariat nach Westen drängte, sah der Kutscher von seinem hohen Bocke, daß die Räume vor ihm nach der Markgrafenstraße zu von unbewaffneten Maschinenbauern eingenommen waren, unter denen er seinen Bruder, einen Cyklopen von hervorragender Größe und vielem Einfluß bei den Genossen, erkannte. Er rief diesem zu und bat um Platz, gleichzeitig ließ er die Pferde anspringen und beseitigte dadurch noch ein paar Dutzend Proletarier, welche den Wagen von den Maschinenbauern trennten. Letztere theilten sich und ließen den Durchpaß nach der Markgrafenstraße frei; waren sie doch überhaupt nur erschienen, um, wo nöthig, eine Art Vermittlerrolle zwischen Bürgergarde und Arbeitern zu spielen. Die Insassen des Wagens athmeten erst auf, als dieser um die Hedwigskirche und neben dem Opernhause den Linden zufuhr. [...]


Der Tag, von dem wir sprachen, war der 31. October, ein Dienstag, – die Constituirende hatte an diesem Tage unter Zustimmung Pfuel's den Adel wie die Orden und Ehrenzeichen abgeschafft; – man hielt einen Demokratencongreß ab, in dem man in Fractur sprach; in der Abendsitzung der Constituirenden, die bis zur Nacht dauerte, wurde die Unterstützung Wiens durch Vermittlung der selbst machtlosen Centralgewalt beschlossen, – für Waldeck gab es damals kein Deutschland ohne Oesterreich; am 1. November gab von Pfuel den Vorsitz im Cabinet und das Portefeuille des Krieges auf, der König nahm das an und berief den Grafen Brandenburg zur Bildung eines neuen Ministeriums; am folgenden Tage beschloß die Constituirende eine Deputation von fünfundzwanzig Mitgliedern an den in Sanssouci weilenden König und eine Adresse mit der Bitte um ein volksthümliches Ministerium. Der Minister »der bewaffneten Reaction« suchte Zuflucht in Jung's Wohnung, der diesen Namen erfand. – Bei der Audienz am 3. November spricht Jacoby, sich die Rolle des Präsidenten anmaßend, zum Könige: »Es ist das Unglück der Könige (und die Ursache ihres Falles?), daß sie die Wahrheit nicht hören wollen.« Die Hoffnungen auf ein Ministerium Rodbertus, von Unruh, Harkort, von Berg erweisen sich vergeblich. Am 6. November geht Bassermann als Reichscommissar nach Berlin. – Am 9. wird Robert Blum in Wien standrechtlich erschossen. Die Constituirende wird vertagt und nach Brandenburg verlegt.
Die Majorität erklärt sich für permanent. Die Linke erklärt in Aufrufen an das Volk das Vaterland in Gefahr, die Rechte scheidet aus.
Am 10. November rückt Wrangel mit zwanzigtausend Mann in Berlin ein; Truppen besetzen in der Nacht den Concertsaal. Den folgenden Tag setzt die Linke unter dem Präsidenten von Unruh ihre Sitzungen im Hotel-de-Russie, nachmittags im Schützenhause fort.
Man fürchtet in Berlin jeden Augenblick den Ausbruch eines neuen Barrikadenkampfes. Die Bürgerwehr wird aufgelöst. Am 12. November: Berlin wird in Belagerungszustand erklärt; 13. November: der Rest der Constituirenden Versammlung erklärt das Ministerium des Hochverrats schuldig und wird aus dem Schützenhause durch Wrangel vertrieben – »gegen Demokraten helfen nur Soldaten«; constituirt sich am folgenden Tage noch einmal im Hotel Milenz und decretirt die Steuerverweigerung; 20. November: die Nationalversammlung in Frankfurt erklärt diese für ungültig; 28. November: die Constituirende Versammlung in Brandenburg wird eröffnet.


Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 8. Buch, 1. Kapitel

In der Paulskirchenversammlung


Bruno war in dem Wahlkreise seines Wohnorts zum Mitgliede des deutschen Parlaments gewählt worden. Er reiste mit einem eigentümlichen Gefühle von Spannung und Erwartung, halb voll Vertrauen und Zuversicht auf sich und die Zukunft, halb voll bescheidener Zweifel an seinem eigenen Wissen und Können, um die Mitte Mai über Köln nach Frankfurt. Wie viele seiner verehrten Lehrer sollte er dort sehen, wie viele Verwandte und Freunde, Gesinnungsgenossen und literarische Mitkämpfer, die er nur durch Briefwechsel kannte! Da war Albrecht, da war Dahlmann, seine Lehrer des Maßes und der Mäßigung in der Politik, Jakob Grimm, Gervinus. Dort traf er seinen Oheim Gottfried Schulz, seinen Lehrer der Philosophie, – wie er zu der Amnestie desselben mitgewirkt, so hatte er nicht wenig gethan, um das Andenken an seine siebzehnjährige Verbannung aufzufrischen, und er war die hauptsächlichste Veranlassung, daß man ihn in einem vaterländischen Wählkreise zum Deputirten ernannte. Bruno hatte ihn nur kurze Zeit in Hannover gesehen; ehe er Weib und Kind nach Deutschland brachte, wollte der junge Gelehrte sich die Zustände in seinem Vaterlande selbst anschauen. [...]

Bis zum 18. Mai sammelte sich die größere Mehrzahl der Abgeordneten – die Oesterreicher waren zum größern Theile noch zurück. Welches Chaos das! Die verschiedenartigsten Wünsche, Vorstellungen, Richtungen, in Beziehung auf das Ziel, ein noch größeres Auseinandergehen in den Mitteln und Wegen. Hier Kirchthurmsinteressen und beschränkte Ansichten, dort titanenhafte Weltumgestaltungsträume. Hier eine Masse Unklarer, Ueberspannter, aber Gutmeinender; dort eine Menge mit klarem, aber verheimlichtem Ziele, dem der Republik, daneben eine große Zahl solcher, die sich selbst conservativ nannten, von ihren Gegnern aber als reactionär bezeichnet wurden. Man hatte sich schon im Vorparlament in Anarchisten und Reactionäre, wie man sich gegenseitig kennzeichnete, getrennt, – jede Partei suchte die Neuangekommenen zu sich heranzuziehen. Die Misregierung der verflossenen Jahrzehnte rächte sich hier. Da kamen aus allen Winkeln und Ecken Deutschlands Männer, die in kleinen Orten jahrzehntelang geduckt und gedrückt gesessen, die gegen bureaukratischen Machtmisbrauch, gegen exemtionssüchtigen Feudalismus, gegen Ueberhebung des Adels gekämpft und gestritten und dafür auf die eine oder andere Weise gelitten hatten und zurückgesetzt waren, Männer, die auf ihr vergangenes Leben stolz sein konnten, die aber Vergrollung, Bitterkeit und Haß im Herzen trugen, und die hier nun wieder, wie sie glaubten, eine Menge von Verräthern und Reactionären die geschäftige Rolle der Contrerevolutionäre spielen sahen. Und dieses Chaos war sich selbst überlassen, ohne Vorlage, ohne Staatenhaus, ohne Leiter; man kannte sich zum größern Theil nicht; wo man sich kannte, mied oder haßte man sich; die verschiedenen Stämme brachten verschiedene Grundansichten mit, die Süddeutschen waren durchweg Republikaner, die Norddeutschen waren die Verständigern, Gemäßigtern, Wohlmeinenden, Constitutionellen, aus denen sich der Stamm der Linken und der Rechten bildete.
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7. Buch, 8. Kapitel

Die Gesellschaft der Ungeschlossenen in Heustedt

Unser Freund [Bruno Baumann, das alter ego Heinrich Oppermanns] hatte mit Hülfe des Assessors Kloppmeier, des Wasserbauinspectors und eines nach Heustedt versetzten Auditors, aus einer altadelichen Familie von großem Einflusse, der in Heidelberg und Berlin sich über die Lebensanschauungen des Adels und der hannoverischen Bureaukratenkreise emporgeschwungen, mancherlei Aenderungen in dem gesellschaftlichen Leben der kleinen Stadt durchzusetzen gewußt, die, so gering sie an sich schienen, doch nicht ohne Einfluß auf das Ganze blieben. So war im Herrenclub eine radicale Oppositionszeitung angeschafft, und eine große Anzahl Leute, die nie eine andere als die Regierungszeitung gelesen, bekamen nun einmal die Dinge auch von der Kehrseite zu sehen. Es war ein vom Herrenclub gänzlich unabhängiger Journallesecirkel ins Leben gerufen, wodurch ermöglicht war, daß drei oder vier Familien, welche der ersten Gesellschaft nicht angehörten, darunter Hirschsohn's, von diesem Institute Gebrauch machen konnten. Man hatte einen Buchbinder veranlaßt, eine Leihbibliothek einzurichten, und Bruno traf durch seine Verbindungen in Leipzig nicht nur eine passende Auswahl, sondern hatte auch erwirkt, daß vorerst nur ein Drittel des Preises baar bezahlt zu werden brauchte. Endlich hatte man erreicht, auch ein Glas Bier trinken zu können. Als Bruno im Jahre zuvor nach Heustedt gekommen und auf dem Keller ein Glas »Bairisch« gefordert, erwiderte Hochmeier beinahe grob: »Herr Doctor, im Rathskeller ist außer in der Kutscherstube noch nie ein Glas Bier getrunken, und so Gott will, wird das, solange ich das Leben behalte, so bleiben; drei Häuser in der Schloßstraße hinab können Sie bei dem Kneipwirth Waldmeier vielleicht Ihren Durst in Bier befriedigen.« – Waldmeier hatte eine große Ausspannwirthschaft für Bauern, aber auch zwei große Säle, wo Bürgerbälle stattfanden und im Jahrmarkt die Bauern tanzten; unter diesen Tanzsälen waren ausgedehnte Räume, die in gewöhnlichen Zeiten nicht gebraucht wurden. Als nun der neue Auditor gekommen war, er hatte in Heidelberg das Biertrinken gelernt, und kein Bier fand, raisonnirte er eines Tages nach aufgehobenem Mittagsmahle in burschikoser Weise über diesen Mangel. Hochmeier antwortete höhnisch: »Herr Baron, ich habe schon früher dem Dr. Baumann gesagt, daß bei meinem Nachbar Bier zu finden ist.« Diese freche Antwort des Wirths misfiel sämmtlichen Tischgenossen, denen die cordiale Vertraulichkeit, womit sich derselbe zu der Gesellschaft gestellt hatte, längst unangenehm gewesen war. Man pflegte nach Tisch im Clubzimmer Billard zu spielen und Kaffee zu trinken, und hier verabredete man, bei dem Wirth Zum Elefanten, Waldmeier, einige Zimmer zu miethen und denselben zu veranlassen, kasseler und bairisch Bier kommen zu lassen. Man wollte dann dreimal wöchentlich am Abend zusammenkommen, um unter dem Namen der »Ungeschlossenen« sich zu unterhalten, zu politisiren, zu philosophiren, zu singen und commersiren, wenn man guten Stoff habe. Die Statuten der Gesellschaft sollten in dem einen Paragraphen zusammengefaßt werden: »Karten werden hier nicht gespielt.« Da Waldmeier gutes Bier nicht vorräthig hatte, so beschloß man, die Ungeschlossenen mit einem solennen Abendessen, bei dem Wein getrunken werden sollte, zu eröffnen, und dazu Sonnabend zu wählen, wo der Rathskellerwirth, wie man wußte, ein Fischessen vorbereitete. Jeder lud dazu ein oder zwei Gäste ein, oder beredete nähere Gesinnungsgenossen als künftige Ungeschlossene teilzunehmen. Baumann, Kloppmeier und der neue Auditor, den wir Baron Franz nennen wollen, übernahmen es, die nöthigen Einrichtungen zu treffen. Waldmeier war ein einsichtsvoller, thätiger, bescheidener Mann, der sich vom Hausknecht in einer Wirthschaft in Bremen zum Eigenthümer des Elefanten in Heustedt emporgeschwungen und dem Bärenwirthe in der Weststadt schon manchen Stammgast abtrünnig gemacht hatte, weil alles, was er den Gästen reichte, gut, sauber und wohlschmeckend war. [...]

Es war herkömmlich, daß der Präsident des Herrenclubs die Woche vor Himmelfahrt ein Circular herumsendete, in welchem die Familien Heustedts bemerkten, mit wie viel Personen sie theilnehmen wollten, welche Speisen und Getränke sie zu dem gemeinsamen Pickenick mitbrächten, ob sie mit eigener Equipage führen oder darauf rechneten, auf einem der von der Gesellschaft beschafften großen Ackerwagen mit Stroh- oder Bretersitzen Platz zu finden. Nun war in diesem Jahre durch den Pastor, bei welchem die älteste Claasing'sche Tochter in Pension war, eine Frage aufgeworfen, welche die gesammte Gesellschaft, namentlich die weibliche, aufregte. Claasings gehörten selbstverständlich »zur Gesellschaft«, man mußte also die beiden Töchter zu der Fahrt einladen; von diesen war aber Auguste im Hause des Bankiers zum Besuch, nicht in Pension, man konnte sie anständigerweise nicht einladen, ohne zugleich Hirschsohns einzuladen. Allein, eine Judenfamilie zur Gesellschaft zu ziehen, wie wäre das möglich gewesen? Der Pastor ersann den Ausweg, daß er Auguste mitnehme, allein diese erklärte: sie ginge nicht ohne Hirschsohns, die sie so freundlich aufgenommen, während Minna Claasing dabei beharrte, ohne Theilnahme ihrer Schwester mache sie die Partie nicht mit. Das war nun vor allem dem Assessor unlieb, den Bruno bei Claasings eingeführt hatte, er war ernstlich verliebt in Minna und ihr Geld; auch der Baron Franz, der Sidonie nur am Fenster hatte sitzen sehen, aber von ihrem Glutauge entzückt war, fing an sich dafür zu interessiren, daß Hirschsohns eine Einladung bekämen. Er zog die Baronin Bardenfleth ins Complot und beredete sie, dem Clubpräsidenten, der ein Anbeter von ihr war und ihr nichts übel nahm, gleichsam aus Spaß mit dem Circular wegen der Himmelfahrtspartie zuvorzukommen und dieses, als verstehe es sich von selbst, auch zu dem Bankier zu senden. So geschah es. Da gab es denn viel Nasenrümpfen, viel Gerede von Anmaßung, namentlich waren alle Mütter mit ältern Töchtern unglücklich, die schönen Jüdinnen würden ihren Herzenspüppchen die wenigen Tänzer, die ihnen bis dahin geblieben, abspenstig machen. Der Drost ließ anfangs sogar seinen Namen wieder streichen »dringender Geschäfte halber« –, als er aber bedachte, wie oft ihn der reiche Jude aus Geldverlegenheiten errettet, und daß er denselben nächstens wieder werde gebrauchen müssen, besann er sich eines bessern und unterschrieb von neuem. Baumann war auf eine Ueberraschung bedacht; er ritt oft nach der Wüstenei, um den alten Meyer über die Abwesenheit des Enkels zu trösten und veranlaßte diesen, das königliche Amt und, durch die Baronin von Bardenfleth, die ganze Himmelfahrtsgesellschaft einzuladen, bei ihm ein Frühstück bei dieser Gelegenheit einzunehmen. Der nächste Weg zur Kirnburg ging nämlich über Kirnberg und die Wüstenei. Die Einladung ward angenommen. Hatte man bisher die Erzählungen Baumann's von der Wüstenei für Uebertreibung gehalten, so überzeugte man sich jetzt, daß sie wie ein Paradies in der Heide sei, und der Drost, dem das Frühstück außerordentlich gemundet, drückte dem alten Bauer einmal über das andere die Hand und versicherte, er werde gleich morgen an die Landdrostei berichten, welche Verdienste er sich durch die Urbarmachung so großer Ländereien erworben habe. Man ordnete das Zusammensitzen in den verschiedenen Wagen, bei dem bis dahin das Früher- oder Späterkommen vor dem Rathskeller den Ausschlag gegeben, jetzt mehr nach Beziehungen, Neigungen, Coterien. Die jüngere Welt, welche bis dahin in Equipagen bei Aeltern oder Tanten gesessen, nahm die Plätze auf den Leiterwagen ein, wo man möglichst bunte Reihe machte; ältere Herren und Damen wurden dagegen in die Equipagen gebracht. Auch Paulinchen, die Braut, und Auguste Claasing verließen den Hirschsohn'schen Wagen und räumten ihre Plätze dem Baron Franz und Bruno ein, um auf dem lustigern Leiterwagen Platz zu nehmen. Das war denn ein so vergnügter Himmelfahrtstag, wie ihn die jungen Schönen noch niemals erlebt hatten,
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7.Buch, 5. Kapitel

21 Januar 2013

Als Rechtsanwalt in einer Kleinstadt des frühen 19. Jh.


Bruno Baumann kommt nach Heustedt

Es war schon October, als er in Heustedt eintraf. Wir haben das Städtchen seit etwa dreißig Jahren aus den Augen verloren. Aeußerlich war es das alte. Wenige Neubauten waren vorgenommen, der linke Flügel des Schlosses und der Fontainenthurm waren neu aufgebaut, die Nebengebäude gegen 1813 vergrößert, die Büse'sche Zuckerfabrik hatte zu existiren aufgehört. Auch der chinesische Pavillon hatte ein anderes Ansehen erhalten, er hatte auf der Westseite zwei den Fenstern auf der Ostseite entsprechende Fenster bekommen und war von dem vordern chinesischen Zimmer nicht mehr durch eine eiserne Fallthür, sondern durch eine reiche rothsammtene Portière getrennt. [...]
Mit seiner Ernennung zum Advocaten war an den Drosten von G. ein vertrauliches Postscriptum gekommen, dem Sinne nach des Inhalts: Candidat Baumann sei ein vorlauter, gefährlicher Mensch, Literat und Gazzettist, der in Heustedt unschädlich gemacht werden müsse. Derselbe habe sich in Göttingen in die Verhältnisse des Staats, der Universität und des Gemeindelebens in dreister Art eingemischt, öffentliche Verleumdungen angesehener Männer in auswärtigen Journalen nicht gescheut, das System der Regierung verdächtigt, sodaß Universität und Magistrat auf seine Entfernung gedrungen hätten. Man vertraue der Umsicht und Gewandtheit des Herrn Drosten, daß er dem jungen Manne dort Zügel anlegen werde, wozu kein Ort geeigneter sei als Heustedt, das sich durch seine Loyalität während der Verfassungswirren rühmlichst ausgezeichnet habe und durch den Kern seiner Bevölkerung gegen Ansteckung gesichert sei. [...]
Er verlangte nach Processen, aber die Bauern kamen nicht. Er hatte sich von dem ältesten seiner Collegen, dem Advocaten Bardeleben, Acten ausgebeten, um das dortige Meierrecht zu studiren, das ihm unbekannt war, da es mehr auf Gewohnheit als auf geschriebenem Rechte beruhte. Unter diesen Acten befand sich auch der Dummeier'sche Proceß gegen Claasing, den Katharina nach dem Tode ihres Hans Dummeier angestrengt hatte. Der Proceß hatte sich bis über die Mitte der zwanziger Jahre hingeschleppt und war erst dann vom höchsten Gerichtshofe entschieden. Die Klage war in angebrachter Maße abgewiesen, konnte also jederzeit wieder aufgenommen werden.[...]
»Was nun das hiesige gesellschaftliche Leben anbetrifft, so habe ich mich der Sitte und dem Brauche unterwerfen müssen, so schwer es mir auch angekommen ist. Aber man gewöhnt sich an alles. Ich spiele hier, trotz eines Pastors, mindestens ein um den andern Tag mein L'Hombre oder Whist auf dem Club, freilich mit allem Pech, weil ich mit Unaufmerksamkeit spiele. Aber ich fühle, daß das eine geistige Abspannung ist, die mir wohlthut; wenn ich abends nach Hause komme und mich zwei Stunden an die Arbeit setze, beschicke ich mehr als früher in fünf Stunden. »Auch der Geist verlangt nach Abwechselung. Meine Praxis ist im Zunehmen, und ich habe einige recht interessante Processe, die schon in höhern Instanzen schweben. »Du willst ein Bild der hiesigen Gesellschaft; nun wohl, wenn es Dich interessirt, will ich eine Reihe von Personen Dir vorführen. Der Allmächtigste und Gefürchtetste hier ist Graf Schlottheim, erster Kammerherr bei Sr. Majestät Ernst August, der mit Schele seit 1837 Politik gemacht hat. Ich kenne ihn noch nicht persönlich, da er während meiner Anwesenheit Heustedt noch nicht die Ehre seines Besuchs gegönnt hat; wenn er aber seinem jüngsten Bruder ähnlich ist, den ich in Göttingen kannte, so wird er mich schwerlich je in seinem Schlosse sehen. Du erinnerst Dich vom Jahre siebenunddreißig her noch des langaufgeschossenen Vandalen, der mit Oerzen, Malzahn und andern mecklenburger Junkern herumkneipte und von Dahlmann das Honorar für die nicht beendete Vorlesung durch den Stiefelwuchs zurückfordern ließ. Als ich die Sache zu Hause erzählte, ließen es sich die Füchse nicht nehmen, dem Herrn Grafen einen dummen Jungen aufzubrummen, und mein Freund Grant, der Amerikaner, hat ihn durch einen Säbelhieb auf immer gezeichnet. Der Jüngere, der Kammerherr, wird nicht besser sein. Er kommt indeß nur in der Frühlingszeit und im Herbst zur Jagd. »Dann sollte der Drost von G. eigentlich die erste Geige spielen. Ehe ich hierher kam, hatte ich aus den Verhandlungen der Ersten Kammer über das Staatsgrund- und die Ablösungsgesetze mir von ihm das Bild eines Aristokraten vom reinsten Wasser entworfen. Seitdem ich hier bin, habe ich mich überzeugt, daß er vom Aristokraten nichts hat, auch kein Gut und Geld, daß er ein ganz gewöhnlicher Bureaukrat ist, nur in der Rede und mit der Feder gewandter, als es in der Regel seine Collegen sind. Seine politischen Floskeln hat er aus Haller und dem »Politischen Wochenblatt«, von Volkswirthschaft hat er keinen Begriff, aber er ist sich bewußt, von anderm Stoffe zu sein als wir. Hier hat er sein Ansehen durch kleine Fingerkunststückchen beim Spiel, durch Schwatzhaftigkeit, Unzuverlässigkeit, fortwährende Verbindlichkeiten gegen Geldjuden eingebüßt. Seine fünf Töchter sind eine noch blonder als die andere, die jüngste nicht unschön, aber sie ist mit ihren langen Locken so schmachtend, daß man Mitleid mit ihr haben könnte. [...]
»Es freut unsereinen aber doch, wenn er unter tausend Larven ein verständiges, fühlendes Herz für die Zukunft findet. Die Abwesenheit aller Kenntniß der Dichter und Literaten, welche mit uns an der Umgestaltung der Zeit arbeiten, in den ersten Gesellschaftskreisen hat mich im Anfange sehr niedergeschlagen. »Hier in der Familie eines jüdischen Handelsmanns finde ich zuerst ein gediegenes Verständniß meiner eigenen Bestrebungen auf jenem Felde. Meyer Moses Hirschsohn, obgleich ihm bei der nächsten Geburtstagsfeier Ernst August's der Commerzienrath nicht entgehen wird, gehört noch nicht zu der »Gesellschaft«. Unser Landadel ist bisjetzt nicht zu der Stufe der in andern Ländern vorherrschenden Bildung gekommen, daß die Verbindung mit einer reichen Jüdin ihn nicht schände, und unsere Bureaukratie pflegt den Judenhaß. [...]
Bruno hatte auch bei der unvermeidlichen Nachkneiperei der Herren nicht gefehlt, es war aber über seine Lippe keine Médisance gekommen, und diese bildeten doch eigentlich die Würze einer solchen Nachsession. Am andern Tage wurde seine »Philosophie der Geschichte« um keinen Paragraphen reicher. So kamen Weihnachten und der Sylvesterball. In der Tischgenossenschaft war ein Wechsel eingetreten, einer der Supernumerarassessoren, nicht der älteste, war als dritter Beamter an ein anderes Amt versetzt, die beiden [...]
Nun, es war wahr, die Stellung einer gebildeten Jüdin in solch einem kleinen Orte war äußerst ungünstig. Was half ihr aller Reichthum des Mannes? sie stand isolirt da, ohne allen Umgang, lediglich angewiesen auf sich selbst und ihre Familie. Die Frauen der »Gesellschaft«, das heißt alle, welche zu den Casinobällen Zutritt hatten, hielten sich fern, die andern Judenfrauen der Stadt standen an Bildung weit unter ihr.

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7. Buch, 1. Kapitel

20 Januar 2013

Szcypiorski über das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen


"Ein gebildeter Mensch, der einige Jahre in sowjetischen Verhältnissen zu brachte und am eigenen Leibe die Segen der aufgeklärten stalinistischen Fürsorge erfuhr und später dieselben in Polen einführte – war nicht nur ein Dummkopf, sondern auch ein Schurke. Denn er wusste doch ganz genau, was er tat. [...] Zweifelsohne konnte man einmal im Leben ein idealistischer Kommunist werden, wenn man die sowjetische Praxis nicht kannte. Aber jeder, der sie kennengelernt hatte und doch auf seinen Positionen beharrte, musste sich dessen bewusst sein, dass er sich an einer Teufelei beteiligte. Und damit war er schon kein anständiger Mensch mehr." (Seite 35)
"Diese Worte sagte ein deutscher" (Seite 96 bis 101)
"Herzog sagte, ewige Schande sei das Ergebnis der deutschen Verbrechen gegen Polen. Er sagte, die Vernichtung Polens habe die Selbstvernichtung Deutschland zur Folge gehabt. Im Namen seines nun in einem Staat vereinigten Volkes bat er uns um Vergebung.
Der Beifall einer großen Erleichterung und Befriedigung antwortete ihm. Es ist sicher eine schmerzliche Befriedigung, doch haben wir nun nach langen Jahren die richtigen Worte gehört.
Diese Worte sagte ein Deutscher.
Herzog schlug ein neues Kapitel auf. Im psychologischen Sinne zerschlug er das Klischee, das wir Polen von den Deutschen haben.
Ich denke, es fällt schwer, in unseren beiderseitigen Beziehungen eine wichtigere politische Tatsache zu finden." (Seite 101)

Szcypiorski: Heute ist alles nur ein Schatten. Festrede in Passau 1995 in: Europa ist unterwegs 1996, Seite 35 bis 50

08 Januar 2013

Rahel Levin über Schauspielkunst

"Dieser große und alle Wahrhaftigkeit und Schönheit des Spiels aufhebende Fehler besteht darin, daß die Mimen den Zustand der Personage, die sie darstellen, nicht aufgefaßt haben, sich nicht angeeignet haben, sich ihn nicht anzueignen vermögen. Sie wissen nicht, sie fühlen's nicht, wie die Großen unter ihnen, daß Worte Phrasen, nur Behelfe sind, um Gemütszustände von sich zu geben, nichts als ein Bild dieser Zustände; und Bilder selbst, nur charakteristischere, Zeichen des Bestrebens nach Ausdruck. Pomphaft und überverständig trennen sie dem Dichter jetzt ein Wort vom andern, führen dies, so zu sagen, einzeln seinem gröbsten Verständnisse nach auf und wollen dem Autor nachhelfen. Dann und wann denken sie sich aus, wie man etwas machen müsse. Und das ganze Studium dieser Kunst besteht nur darin, aufs pünktlichste zu wissen, was man nicht machen darf. Durchdrungen muß der Schauspieler vom ganzen Stück sein, jede Rolle, jede Zusammenstellung wissen und kennen, muß vom Himmel die Gabe haben, Zustände zu fassen und auszudrücken, das Letztere ist eine rohere, äußerere und allgemeinere; wenn er dann nicht tut, was er nicht darf – und diese prohibierenden Gesetze aus allen Gegenden des rechenschaftgebenden Geistes zusammen hat – und sich freies Spiel läßt, so werden wir Gutes haben. Unsere jetzigen Acteurs aber wissen von keinem Stück, keinem Dichter, keiner Stimmung, keinem menschlichen Zustand und ennuieren mich bis zur Nervenkrispation."
Rahel Levin an Alexander von Marwitz (Briefwechsel herausgegeben von Karl August Varnhagen von Ense)

06 Januar 2013

Russland als Vielvölkerreich


Andreas Kappeler: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall. C.H.Beck Verlag Copyright 1992

Reich von Novgorod/Reich von Moskau: die Ureinwohner werden "sprachlich und religiös assimiliert, und sie verschwinden im 14. Jahrhundert aus den Quellen". (Seite 21)
Expansion: Sammlung der Rus, Sammlung der Länder der Goldenen Horde
In der Zeit der Herrschaft der Goldenen Horde Symbiose zwischen der Ruß und Kind hat Haaren (Seite 26)
"Regeln der Steppe": Forderung von Tribut und Einsetzen von Herrschern, aber nicht Eingliederung in ein anderes Territorium. (Goldene Horde / Mongolen)
Patrimoniales Prinzip (Großfürstentum Moskau) Eingliederung ins Territorium und Vererbung.
Daher wurde von dem Zaren im 19. Jahrhundert als Verrat interpretiert, was von den Vertretern der Steppe nur als wechseln der Koalition gesehen wurde (Seite 28)
Zur Zeit Iwans IV. wurden beide Prinzipien noch abwechselnd verwendet. Die Kirche drängte auf Annexion und religiösen Anschluss . Iwan gab sich mit Rücksicht auf Aufstände hin mit einer lockeren Formen der Unterwerfung zufrieden. (Seite 31 bis 32)
Nach der Eroberung des Khanats von Kazan: "Die tatarisch-muslimische landbesitzende Elite wurde in den erblichen Adel Russlands kooptiert, während die meisten Vertreter der animistischen Oberschichten sich zwar als "Dienstleute" von der Masse der Lastenpflichtigen abhoben, die Gleichberechtigung mit dem russischen Abel aber nicht erreichten. Damit zeichnete sich ein auch in Zukunft gültiges Muster ab: Wo die nichtrussische Oberschicht eine dem russischen Adel vergleichbare Stellung hatte, wurde sie als ebenbürtig anerkannt, wo dies nicht der Fall war, indem etwa Sippen- und Stammesbeziehungen vorherrschten, kam es zwar zur Kooperation mit der nichtrussischen Elite, nicht aber zu ihrer Kooptation in den Adel des Reiches. " (Seite 33)
Die Eroberung und Erschliessung Sibiriens, ein Vorgang von welthistori­scher Bedeutung, begann mit privater Initiative der Unternehmerfamilie Stroganov, die seit Ende des 15. Jahrhunderts "ein vorwiegend auf Salzgewinnung und Pelzhandel basierendes halbautonomes Wirtschaftsgebiet aufgebaut hatten". (Seite 38) Dann zog der Staat nach. "Dieses Wechselspiel von privater und staatlich-militärischer Initiative sollte für die Eroberung ganz Sibir Jans typisch bleiben." (Seite 38)
"1639 standen die ersten russischen Truppen am Pazifik, wo 1648 der Hafen Ochotsk begründet wurde." (Seite 39)

04 Januar 2013

Wen will Oppermann mit seinem Text ansprechen?


Inzwischen bin ich wohl eine Erklärung schuldig bin, weshalb ich ständig aus Heinrich Oppermann "Hundert Jahre" Zitate einstelle und nie erkläre, wie die Handlung verläuft.
Ich versuche immer noch, mir klar zu machen, was denn der Handlungsverlauf ist. Denn er ist so verschlungen und es tauchen so viele Personen auf, dass ich immer noch keinen Überblick gewonnen habe. Da ich das Buch mit einem E-Reader lese, weiß ich nicht, wie viele Seiten ich bisher gelesen habe. Erst vor kurzem habe ich herausgefunden, dass der Text neun Bände umfasst. Wir sind jetzt im Band sieben und Oppermann erklärt, worauf es ihm bei diesem Text ankommt.
"Wer die Poesie der Weltgeschichte in dem Umschwunge nicht erkennt, daß der Freund und Rathgeber Baumann's, der kleine, verkrüppelte Advocat Detmold, jüdischer Abkunft, der 1840 in Hannover confinirt war, der keinen Schritt und Tritt thun durfte, ohne von Gensdarmen begleitet zu sein, der in seinen Kindermärchen den König als einen Kater darstellte, welcher die Mäuschen zum Frühstück verspeise, und den Hannoveraner-Mäuschen die Lehre gab: daß niemand gefressen wird, der sich nicht fressen lassen will – daß dieser Mann Reichsminister wurde und nach Wiederauflebung des Bundestags Bundestagsgesandter Ernst August's, wie er, angeblich gegen den Willen des Ministeriums, aber mit Willen des Königs, den Austritt aus dem Dreikönigsbündniß und den Beschluß des Bundestags vom 23. August 1850 beförderte, und dadurch den zweiten Schritt that, den Untergang Hannovers anzubahnen – für den sind diese Zeilen nicht geschrieben. Wer aus einem Roman lieber erfahren will, ob Wilhelm seine erstgeliebte Luise zur Frau, oder Melitta ihren Gardekapitän zum Manne bekommt, oder wie Ottilie dazu gekommen, dem einst geliebten Gatten untreu zu werden, wer das lieber will als einen Einblick gewinnen, wie es geschehen konnte, daß eine Dynastie, die über achthundert Jahre im niedersächsischen Boden gewurzelt, depossedirt werden konnte, und wie ein Königreich von beinahe zwei Millionen von der Landkarte verschwand, der lasse die folgenden Blätter ungelesen. Denn schildern diese auch Leben und Treiben, Freuden und Leiden der Kinder und Enkel unserer bisherigen Helden, so bedingte eben der Charakter der Zeit, wie der Charakter dieser Helden, daß die Lebensschicksale derselben zum großen Theile durch die Tagesereignisse bestimmt wurden."
Heinrich Oppermann "Hundert Jahre", 7. Buch, 6. Kapitel 

Zur Bedeutung des Protestes der Göttinger Sieben

"Die jüngere Generation, welche die Weltumwälzung von 1848 erlebt und den Krieg von 1866, ist gewohnt, auf die That eines solchen Protestes geringschätzend hinzublicken. Ja, der Glorienschein ist abgeblaßt, ein Fähnrich oder Hauptmann, der bei Königgrätz verwundet davonkam, glaubt sich ein Held gegen solches »Federvieh«, wie es an der Tafel des königlichen Vetters in Berlin Ernst August nannte, das es auch nach 1848 zu weiter nichts gebracht habe, als zu der Professoren-Kurfürstenschaft in Frankfurt. Allein ein zeitgenössischer Dichter, Literarhistoriker und preußischer Geschichtschreiber würdigte die That doch gerechter, indem er auf die sittlichen Momente hinwies: »Eid, Meineid, Treue, Treubruch, Ehrlichkeit, Verrath, das waren keine politischen Spitzfindigkeiten, das waren sittliche Conflicte, deren Bedeutung jedermann erkannte. Es handelte sich darum, ob unter irgendeiner Verfassung irgendeine königliche Ordonnanz die ewigen Grundfesten der Sittlichkeit und Wahrheit mit einem brutalen Quos ego erschüttern konnte«, sagte Robert Prutz. Und diese Wahrheiten, die man noch heute verachtet, kann auch das Jahr 1866 und die folgenden sich gesagt sein lassen; es ist die alte Speise, woran die Menschheit seit Jahrhunderten kaut: Recht oder Gewalt! Wahrheit oder Lüge! Redlichkeit oder List.
Der Protest und die brutale Gewalt, welche Ernst August, der erste Welfe, der wieder ein Königreich Hannover als selbständiges »Mittelreich« beherrschte, den Sieben anthat, haben Deutschland durch und durch erschüttert und nicht wenig beigetragen zu dem Untergange der Welfendynastie; sie haben in Preußen zuerst den Drang nach der in schweren Zeiten zugesagten Verfassung wieder wach gerufen, sie sind über die Donau hinübergedrungen, bis in die höhern Lebenskreise der lebenslustigen Kaiserstadt, sie haben wieder an die Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme gemahnt, an den Gedanken, daß das deutsche Volk sich gemeinsam solcher Männer wie der Sieben annehmen müsse gegen den Despotismus eines einzelnen. Die deutsche Wissenschaft hat durch die würdigsten ihrer Repräsentanten den augenscheinlichen Beweis geliefert, daß sie nicht feil sei wie eine berliner H—, obwol das Ernst August an königlicher Tafel in Berlin in Gegenwart eines der ausgezeichnetsten Repräsentanten der Wissenschaft zu behaupten gewagt hatte, und es mußte in Berlin danach sein, um solches an solcher Stelle sagen zu dürfen.
Ohne den Verfassungsbruch in Hannover mit allen seinen Folgen, namentlich der allgemeinen Verachtung des Bundestags, würde es 1848 nimmer zu einem Vorparlament und Parlament in Frankfurt, nicht zu der Kaiserspitze und 1866 nicht zu der Schlacht von Sadowa gekommen sein."
Heinrich Oppermann "Hundert Jahre", 7. Buch, 6. Kapitel 

03 Januar 2013

Zum Wortlaut des Protestes der Göttinger Sieben

Im Folgenden ist der Anfang des Wortlauts des Protestes der Göttinger Sieben nach  "Die Protestation und Entlassung der sieben Göttinger Professoren"  von Friedrich Christoph Dahlmann (1838) in moderner Rechtschreibung wiedergegeben. Der weitere Wortlaut findet sich dort im Anhang A.

Die untertänigst Unterzeichneten fühlen sich in ihrem Gewissen gedrungen, über den Inhalt des königlichen Patents vom ersten des Monats ihre ehrerbietige Erklärung vor dem hohen Universitäts-Kuratorium niederzulegen. Die Unterzeichneten können sich bei aller schuldigen Ehrfurcht vor dem Königlichen Wort in ihrem Gewissen nicht davon überzeugen, dass das Staatsgrundgesetz um deshalb rechtswidrig errichtet, mithin ungültig sei, weil der Höchstselige König nicht den ganzen Inhalt desselben auf Vertrag gegründet, sondern bei seiner Verkündigung einige Anträge der allgemeinen Ständeversammlung ungenehmigt gelassen und einige Abänderungen hinzugefügt hat, ohne dass diese zuvor den allgemeinen Ständen mitgeteilt und von ihnen genehmigt wären. Denn dieser Vorwurf der Ungültigkeit würde nach der anerkannten Rechtsregel, dass das Gültige nicht durch das Ungültige vernichtet wird, denn doch immer nur diese einzelnen Punkte, die nach ihrem Inhalte durchaus nicht das Ganze bedingen, treffen, keineswegs das ganze Staatsgrundgesetz. Derselbe Fall würde eintreten, wenn im Staatsgrundgesetze Rechte der Agnaten verletzt wären; denn der Grundsatz, dass eine jede Veränderung der Staatsverfassung der agnatischen Einwilligung unterworfen sei, würde nicht ohne die größte erste Gefährdung der Königlichen Rechte aufgestellt werden können. Was endlich die dem Staatsgrundgesetze zur Last gelegte Verletzung wesentlicher Königlicher Rechte angeht, so bleibt den untertänigst Unterzeichneten in Bezug auf diese schwerste, aber gänzlich unterentwickelt gebliebene Anklage nichts anderes übrig, als daran zu erinnern, dass das Königliche Publikationspatent vom 26. September 1833 sich gerade die Sicherstellung der Landesherrliche Rechte ausdrücklich zum Ziele nimmt, dass die deutsche Bundesversammlung, welche gleichzeitig mit den ständischen Verhandlungen über das Staatsgrundgesetz eine Kommission geradezu demselben Ziele aufstellte, keine Rüge derart jemals ausgesprochen hat, dass vielmehr das Staatsgrundgesetz dieses Königreichs in ganz Deutschland das Lob weiser Mäßigung und Umsicht gefunden hat. Wenn daher die untertänigst Unterzeichneten sich nach ernster Erwägungen der Wichtigkeit des Falles nicht anders überzeugen können, als dass das Staatsgrundgesetz seiner Errichtung und seiner Inhalte nach gültig sei, so können sie auch, ohne ihr Gewissen zu verletzen, es nicht stillschweigend geschehen lassen, dass dasselbe ohne weitere Untersuchung und Verteidigung von seiten der Berechtigten allein auf dem Wege der Macht zu Grunde gehe. Ihrer unabweisliche Pflicht vielmehr bleibt, wie sie hiermit tun, offen zu erklären, dass sie sich durch ihren auf das Staatsgrundgesetz geleisteten Eid fortwährend verpflichtet halten müssen, und daher weder an der Wahl eines Deputierten in zu einer auf andern Grundlagen, als denen des Staatsgrundgesetzes, berufenen allgemeinen Ständeversammlung teilnehmen, noch die Wahl annehmen, noch endlich eine Ständeversammlung, die im Widerspruche mit den Bestimmungen des Starts Grundgesetzes zusammentritt als rechtmäßig bestehen anerkennen dürfen.

Protest der Göttinger Sieben

"Es war am 19. November, als ein ihm befreundeter junger Professor ihn im Museum beiseiterief, ihm etwas Geschriebenes in die Hand steckte und sagte: »Das Neueste, lesen Sie, aber nicht hier.« Bruno eilte nach Hause und las hier den Protest der Sieben, Dahlmann's, Albrecht's, Jakob und Wilhelm Grimm's, Ewald's, Gervinus' und Wilhelm Weber's. Der Protest durchschütterte jede Fiber seines Körpers, er war ihm kein Schriftstück, sondern eine That, wie er sie seit Wochen provocirt hatte, eine That, die sich anreihte dem Anschlage der Thesen Luther's an die Kirchthüren von Wittenberg. Diese That konnte nur durch möglichst weite und schnelle Verbreitung an Bedeutsamkeit gewinnen. Neben seinem Arbeitszimmer war die Wohnung seines Lieblingsvetters, des jungen Schulz aus Hannover, der sich ganz seiner politischen Richtung hingab und den er schon oft gebraucht hatte, nach seiner Angabe Correspondenzen zu schreiben, um seine Autorschaft durch andern Stil und andere Art zu maskiren. Der Schlüssel steckte freilich in der Stubenthür, die Stube aber war leer, ebenso war es in den Stuben seiner übrigen Zöglinge, die eine Treppe höher wohnten. Die Aufwärterin belehrte ihn, daß die jungen Herren unten im Gartensalon sein, um einen »Rappiermops« auszumachen. »Laßt für heute die Kindereien«, sagte er, »es ist ohnehin schon zu dunkel dazu. Ich brauche euere Hülfe. Georg, Oskar und Karl lassen den Gartensalon erleuchten und heizen und richten zwölf Plätze zum Schreiben ein, mit den nöthigen Schreibmaterialien. Ihr andern geht zu den nächsten Freunden und treibt sie hierher, in einer Viertelstunde müssen die Plätze besetzt sein, ich werde dictiren.« Die Anordnungen wurden auf das bereitwilligste befolgt und nach kurzer Zeit stand unser Freund in einem Kreise von zwölf ihm zum größten Theil unbekannten Persönlichkeiten. Nach einer halben Stunde waren zwölf Abschriften des Protestes vorhanden. »Die Herren werden ohne weiteres begreifen, um was es sich handelt; die schnellste Verbreitung und mindestens vierundzwanzig Stunden um Geheimhaltung. Ich ersuche Sie, die Procedur noch dreimal zu wiederholen, Schulz wird dictiren. Der Bediente ist schon nach der Fink und augenblicklich wird auch ›Stoff‹ erscheinen. »Außer diesen zwölf Exemplaren bedarf ich noch zweiundzwanzig, die in einer Stunde geschrieben sein müssen. Dann schreibt jeder für sich selbst ein Exemplar ab, treibt so viel Freunde zusammen, als er findet, und wiederholt die Procedur bis zur Ermüdung in der Nacht; die Abschriften werden in alle Theile Deutschlands geschickt, und wer im Auslande Bekanntschaft hat, sendet sie auch dahin!« »Bravo!« rief der Chor, und als nun auch der Bediente mit kasseler Bier eintrat, mußte Bruno erst mit auf das Wohl der Sieben anstoßen, auf sie, welche die Ehre der Universität gerettet hatten. Nun sendete Bruno die erhaltenen Abschriften an Detmold, Rumann, seinen Onkel Schulz in Hannover, an sämmtliche Zeitungen, mit denen er in Verbindung stand (und für alle existirte in Hannover ein obscurer Name, weil man dem Postgeheimnisse mistraute), auch soweit die Abschriften reichten, an andere renommirte Zeitungen, die er nur dem Namen nach kannte. Als er seine Briefe versiegelt und in den Gartensalon trat, um die schon fertigen zweiundzwanzig neu geschriebenen Exemplare in Empfang zu nehmen, mußte er erst mit den schreibeifrigen Studenten ein Pereat trinken; wem dasselbe galt, ist unschwer zu errathen. Unser junger Doctor ging mit seinem Vorrathe zunächst nach dem Literarischen Museum, dann nach dem Civilclub, schließlich nach der Krone, die Abschriften überall an Gesinnungsgenossen vertheilend, gegen das Versprechen, vierundzwanzig Stunden zu schweigen, jedoch auf die Art, wie er gethan, für schnellste und weiteste Verbreitung zu sorgen. So geschah es, ohne Wissen und Willen der Sieben, während Excellenz Arnswald noch hoffte, vertuschen zu können, daß Hunderte von Abschriften des Protestes durch Deutschland, ja in Europa verbreitet wurden. Grant und Baumgarten hatten sogar noch vor Postschluß das Actenstück an ihre Väter in Washington und Pittsburg geschickt. Die jüngere Generation, welche die Weltumwälzung von 1848 erlebt und den Krieg von 1866, ist gewohnt, auf die That eines solchen Protestes geringschätzend hinzublicken. Ja, der Glorienschein ist abgeblaßt, ein Fähnrich oder Hauptmann, der bei Königgrätz verwundet davonkam, glaubt sich ein Held gegen solches »Federvieh«, wie es an der Tafel des königlichen Vetters in Berlin Ernst August nannte, das es auch nach 1848 zu weiter nichts gebracht habe, als zu der Professoren-Kurfürstenschaft in Frankfurt. Allein ein zeitgenössischer Dichter, Literarhistoriker und preußischer Geschichtschreiber würdigte die That doch gerechter, indem er auf die sittlichen Momente hinwies: »Eid, Meineid, Treue, Treubruch, Ehrlichkeit, Verrath, das waren keine politischen Spitzfindigkeiten, das waren sittliche Conflicte, deren Bedeutung jedermann erkannte. Es handelte sich darum, ob unter irgendeiner Verfassung irgendeine königliche Ordonnanz die ewigen Grundfesten der Sittlichkeit und Wahrheit mit einem brutalen Quos ego erschüttern konnte«, sagte Robert Prutz. Und diese Wahrheiten, die man noch heute verachtet, kann auch das Jahr 1866 und die folgenden sich gesagt sein lassen; es ist die alte Speise, woran die Menschheit seit Jahrhunderten kaut: Recht oder Gewalt! Wahrheit oder Lüge! Redlichkeit oder List. Der Protest und die brutale Gewalt, welche Ernst August, der erste Welfe, der wieder ein Königreich Hannover als selbständiges »Mittelreich« beherrschte, den Sieben anthat, haben Deutschland durch und durch erschüttert und nicht wenig beigetragen zu dem Untergange der Welfendynastie; sie haben in Preußen zuerst den Drang nach der in schweren Zeiten zugesagten Verfassung wieder wach gerufen, sie sind über die Donau hinübergedrungen, bis in die höhern Lebenskreise der lebenslustigen Kaiserstadt, sie haben wieder an die Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme gemahnt, an den Gedanken, daß das deutsche Volk sich gemeinsam solcher Männer wie der Sieben annehmen müsse gegen den Despotismus eines einzelnen. Die deutsche Wissenschaft hat durch die würdigsten ihrer Repräsentanten den augenscheinlichen Beweis geliefert, daß sie nicht feil sei wie eine berliner H—, obwol das Ernst August an königlicher Tafel in Berlin in Gegenwart eines der ausgezeichnetsten Repräsentanten der Wissenschaft zu behaupten gewagt hatte, und es mußte in Berlin danach sein, um solches an solcher Stelle sagen zu dürfen. Ohne den Verfassungsbruch in Hannover mit allen seinen Folgen, namentlich der allgemeinen Verachtung des Bundestags, würde es 1848 nimmer zu einem Vorparlament und Parlament in Frankfurt, nicht zu der Kaiserspitze und 1866 nicht zu der Schlacht von Sadowa gekommen sein. Wer die Poesie der Weltgeschichte in dem Umschwunge nicht erkennt, daß der Freund und Rathgeber Baumann's, der kleine, verkrüppelte Advocat Detmold, jüdischer Abkunft, der 1840 in Hannover confinirt war, der keinen Schritt und Tritt thun durfte, ohne von Gensdarmen begleitet zu sein, der in seinen Kindermärchen den König als einen Kater darstellte, welcher die Mäuschen zum Frühstück verspeise, und den Hannoveraner-Mäuschen die Lehre gab: daß niemand gefressen wird, der sich nicht fressen lassen will – daß dieser Mann Reichsminister wurde und nach Wiederauflebung des Bundestags Bundestagsgesandter Ernst August's, wie er, angeblich gegen den Willen des Ministeriums, aber mit Willen des Königs, den Austritt aus dem Dreikönigsbündniß und den Beschluß des Bundestags vom 23. August 1850 beförderte, und dadurch den zweiten Schritt that, den Untergang Hannovers anzubahnen – für den sind diese Zeilen nicht geschrieben. Wer aus einem Roman lieber erfahren will, ob Wilhelm seine erstgeliebte Luise zur Frau, oder Melitta ihren Gardekapitän zum Manne bekommt, oder wie Ottilie dazu gekommen, dem einst geliebten Gatten untreu zu werden, wer das lieber will als einen Einblick gewinnen, wie es geschehen konnte, daß eine Dynastie, die über achthundert Jahre im niedersächsischen Boden gewurzelt, depossedirt werden konnte, und wie ein Königreich von beinahe zwei Millionen von der Landkarte verschwand, der lasse die folgenden Blätter ungelesen. Denn schildern diese auch Leben und Treiben, Freuden und Leiden der Kinder und Enkel unserer bisherigen Helden, so bedingte eben der Charakter der Zeit, wie der Charakter dieser Helden, daß die Lebensschicksale derselben zum großen Theile durch die Tagesereignisse bestimmt wurden. Die Wirkung des Siebener-Protestes in Deutschland, ja in Europa, war erstaunlich. Was in Hannover geschah, war übrigens nur ein Symptom einer weitschleichenden und Deutschland untergrabenden Krankheit, ein einzelner Fall, wo die Geschichte Execution hielt! Gleiche Ursachen – gleiche Folgen gilt künftig wie damals. An einem der folgenden Tage ging Baumann, da der Novembertag so klar und hell war wie ein schöner Januartag, nach Geismar hinaus, um dem Pastor Sander eine Bestellung Detmold's auszurichten. Sander, der sein eigener Patron war, hatte sich bis dahin als der einzigste unter allen Geistlichen entschieden als Gegner des Patents hervorgethan und seine Amtsbrüder in einer Schrift auch zur Eidesverweigerung aufgefordert. Die Hausgenossen begleiteten Bruno, blieben aber am Eingange des Dorfes bei dem Dreilindenwirthe, während jener in das Dorf zum Pastor ging. Die Unterhaltung war lang, so kam es, daß man erst nach acht Uhr, als es schon dunkel war, wieder in das Geismarthor eintrat. Was war das? die ganze kurze Geismarstraße war vom Entbindungshause an mit Menschen gefüllt? Die Studenten der Theologie wollten Ewald ein Vivat bringen, sie wollten nicht hinter den Juristen, Philologen und andern Facultäten zurückstehen, die gestern Albrecht, den Grimms, Dahlmann, Weber und Gervinus ihr Hoch gebracht hatten. Nun aber schlichen schon sämmtliche Pedelle zwischen der Masse umher und vermahnten noch mit Güte, aber im Namen des Prorectors, nach Hause zu gehen, und unter den Zweihundert, die da außer dem unvermeidlichen Straßenpöbel versammelt waren, schien nicht ein Mann von Energie zu sein. Als Baumann mit seinen Freunden mühsam zu der Wohnung Ewald's sich vorgedrängt hatte und die Situation überschaute, war er nicht lange in Zweifel, was zu thun sei; er schrie: »Ewald, der wahre Protestant, der Ueberzeugungs- und Eidestreue, er lebe hoch!« und nun hielt niemand sein Hoch zurück. Kaum hatte er angefangen, als Pedell Dierking ihm im Namen des Prorectors Schweigen gebot, indem er ihn an dem Rockkragen faßte. – »Hat mir nichts mehr zu befehlen, der Prorector – Hand vom Rock, oder ich schlage zu!« Bruno wurde vor die Polizei citirt, in eine Geldstrafe genommen und von Herrn von Beaulieu eindringlich ermahnt, sich nicht wieder als Anführer und Aufrührer von Studentenmassen zu zeigen, wenn er überhaupt erwarte, als Advocat angestellt zu werden."

Ernst Augusts Aufhebung der Hannoverschen Verfassung (1837)


"»Apropos«, sagte Detmold, »wenn Sie noch ein Viertelstunden Zeit übrighaben, bleiben Sie. Es wird heute das große längsterwartete Ereigniß erfolgen; das Patent, welches das Staatsgrundgesetz aufhebt, ist in der Druckerei und wird abends in der Hannoverschen Zeitung und der Gesetzsammlung publicirt, in spätestens einer halben Stunde erhalte ich einige Abzüge davon. Wir wollen uns in die Arbeit theilen, ich übernehme für heute die ›Augsburger‹ und den ›Courier‹, Sie können an die ›Börsen-Halle‹ und die Kölner berichten.. Heben Sie die crassesten Sätze heraus und widerlegen Sie solche so kurz und schlagend wie möglich. Morgen wollen wir tauschen, bis dahin können Sie Ihre Gedanken sammeln und sich im ›Deutschen Courier‹ mindestens ausführlicher aussprechen.«
»Ich warte natürlich«, sagte Bruno und stieß einen derben Fluch aus.
In diesem Augenblicke erschien ein Buchdruckerlehrling und überreichte Detmold eine verschlossene Mappe. Als derselbe sich entfernt hatte. schloß jener die Mappe mit einem eigenen Schlüssel auf und zog sechs Fahnen des Gesetzblattes heraus, von denen er eine sofort couvertirte an die Adresse eines obscuren Mannes, der aber Magistratsdiener in Osnabrück war und das Empfangene sofort an Stüve ablieferte. Bruno mußte die Adresse mehrmals schreiben, denn daß seit Ernst August's Ankunft das Briefgeheimniß zu existiren aufgehört habe, glaubte man wenigstens allgemein.
Bruno durchflog das Patent und begleitete einzelne Sätze mit Schimpfreden.
»Das hilft zu nichts«, sagte der Kleine, »gehen Sie nach Hause und seien Sie fleißig, daß die Abendpost Ihre Artikel mitnehmen kann. Abends kommen Sie mit Ihrem Onkel nach Wessel's Schenke, Rumann und andere Leute kommen auch, da wollen wir etwas öffentliche Meinung machen. Ich werde Sie Rumann vorstellen.«
Unser junger Freund eilte zu dem Onkel, der außerhalb der Stadt wohnte und der nach bürgerlicher Manier zu derselben Zeit wie seine Arbeiter das Mittagsessen einnahm, um zwölf, und ihn nun wegen seines Zuspätkommens auszankte, sich aber sofort besänftigte, als Baumann ihm die Neuigkeit des Patents mittheilte.
Friedrich Schulz war noch zorniger, als Baumann es gewesen. »Da soll ja dieses – – –«, sagte er, »das man zu meiner Zeit in London kaum werth achtete, es mit faulen Orangen zu werfen, ein Kreuzdonnerwetter holen. Das wagt er, uns Hannoveranern zu bieten? Meint er, wie 1810 von bestochenen Coroners bei der Leiche seines Kammerdieners, auch von der Weltgeschichte in Beziehung auf uns ein Verdict zu bekommen felo de se? Da wird er verdammt irregehen! Er soll hier erleben, was ein unabhängiger und selbständiger Bürgerstand vermag!«
Der Onkel erzählte nun die dem Neffen gänzlich unbekannte Mordgeschichte vom 31. Mai 1810 nach den Traditionen, welche die Bekannten von Sellis in Umlauf gesetzt hatten und die das Volk wenigstens glaubte.
Baumann hatte über das wichtigere vaterländische Ereigniß seinen persönlichen Kummer vergessen, er schrieb aber mit der Galle, die in sein Blut eingetreten war, zwei der bissigsten Artikel, die wol überhaupt gegen das Patent vom 1. November geschrieben sind, die er jedoch, als er sie später gedruckt zu Gesicht bekam, durch Selbstcensur der Redactionen und dann durch den Rothstift des Censors arg verstümmelt fand."
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, (6. Kapitel)

01 Januar 2013

Tübingens Geschenk an Frankreich: Karl Friedrich Reinhard

"Reinhard war und blieb bis an sein Lebensende auch als Pair von Frankreich ein guter Deutscher, und war noch im hohen Alter, als ich ihn zuerst und zuletzt sah, bei dem Jubiläum der Georgia Augusta im Jahre 1837, ein schöner Mann, der, wenn er mit Alexander von Humboldt auf dem Altane des Dietrich'schen Hauses, meiner Wohnung gegenüber, stand, meine Aufmerksamkeit mehr fesselte als die bunten Züge der Studirenden, die den beiden Greisen Vivat zurufend und die Fahnen schwenkend vorbeizogen. Reinhard war es, der die erste Liebe Bollmann's, das gebildetste Mädchens Deutschlands, wie dieser sie nannte, die Tochter von Reimarus heirathete, während er als Resident bei den Hansestädten accreditirt war, und zur Zeit, wo Bollmann in Amerika eine Heimat suchte, hatte er seine junge Frau als Gesandtin nach Florenz geführt. Allein das neidische Schicksal raffte sie bald von seiner Seite, wie er, auf kurze Zeit, Minister der auswärtigen Angelegenheiten in Paris war. [...] Nach damaliger Sitte theilte Boisserée dem Freunde Reinhard die Briefe, welche er von Friedrich Schlegel und Dorothea Schlegel und andern berühmten Leuten erhielt, mit, und diese wurden dann an Theeabenden vorgelesen, und man gewann so Einsicht in Gemüthsstimmungen, Lebensanschauungen, innere und äußere Wandlungen bedeutender Menschen, die wieder Gelegenheit zu interessanten Unterhaltungen gaben."
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre