26 Juni 2021

Lewis Wallace: Ben Hur - Latein und die Römer; der König, der da kommen sollte

Ein privater Konflikt mit Messala und der jüdische Wunsch nach Autonomie

"[...]  »Heute nachmittag, Scheik, werde ich dir Sirius zurückgeben.« Ben Hur streichelte bei diesen Worten den Hals des alten Pferdes. »Ich werde ihn dir zurückgeben und es mit dem Wagen versuchen.« »So bald schon?« fragte Ilderim. »Bei Tieren wie diesen, guter Scheik, genügt ein Tag. Sie sind nicht furchtsam. Sie haben Menschenverstand und lieben die Übungen. Dieses da« – er schüttelte das Leitseil über dem Rücken des Jüngsten des Viergespanns – »du nanntest es, glaube ich, Aldebaran, ist das schnellste. Auf einer Runde um die Rennbahn würde es die anderen um das Dreifache seiner Körperlänge überflügeln.«

Ilderim wühlte in seinem Bart und sprach mit leuchtenden Augen: »Aldebaran ist das schnellste.«

»Ich habe nur eine Besorgnis, Scheik.«

Der Scheik wurde doppelt ernst.

»In seiner Gier nach Sieg kann ein Römer die Ehre nicht rein bewahren. Ihre Kniffe bei den Spielen sind unzählbar, im Wagenrennen erstreckt sich ihre Hinterhältigkeit auf alles, vom Pferd bis auf den Lenker, vom Lenker bis auf den Herrn. Deshalb, guter Scheik, laß von heute an, bis das Rennen vorüber ist, keinen Fremden die Pferde auch nur sehen. Willst du vollkommen sicher sein, so tue noch mehr: bewache sie mit bewaffneter Hand wie mit schlaflosem Auge, dann will ich für den Ausgang nichts fürchten.«

Am Zelteingang stiegen sie ab.

»Deine Worte sollen beachtet werden. Bei der Herrlichkeit Gottes! Niemand soll ihnen nahekommen und keine Hand sie berühren, außer sie gehöre einem meiner Getreuen. Heute nacht werde ich Wachen aufstellen. Doch, Sohn des Arrius,« – Ilderim zog das Päckchen hervor und öffnete es langsam, während sie an den Diwan traten und sich setzten – »sieh hier und hilf mir mit deinem Latein aus.«

Er reichte Ben Hur das Schriftstück hin.

»Da, lies. Lies laut und übertrage, was du liesest, in die Sprache deiner Väter. Latein ist mir ein Greuel.*«

Ben Hur war in guter Laune und begann sorglos zu lesen: »Messala an Gratus!« Er hielt inne. Eine Ahnung trieb ihm das Blut zum Herzen. Ilderim bemerkte seine Erregung. »Nun, ich warte.«

Ben Hur bat um Entschuldigung und begann neuerdings zu lesen. Die ersten Zeilen waren nur insofern bemerkenswert, als sie ihm bewiesen, daß der Schreiber seine Spottsucht nicht abgelegt hatte. Als der Leser sodann zu den Stellen kam, die des Gratus Gedächtnis auffrischen sollten, zitterte seine Stimme und er setzte zweimal ab, um seine Fassung wiederzugewinnen. Mit großer Anstrengung las er weiter: »– erinnere ich Dich daran, wie Du über die Familie Hur verfügtest« – hier hielt der Leser abermals inne und holte tief Atem – »und wie wir beide damals den gefaßten Plan für den wirksamsten zur Erreichung unserer Absichten hielten, nämlich die Familie zum Stillschweigen und zum unvermeidlichen, aber natürlichen Tode zu verurteilen.«

Hier versagte Ben Hur vollends die Stimme. Das Papier entfiel ihm und er barg sein Gesicht in den Händen.

»Sie sind tot – tot! Ich allein bin übrig!«

Der Scheik hatte schweigend, aber nicht teilnahmlos den Schmerz des jungen Mannes mitangesehen. Nun erhob er sich und sprach: »Sohn des Arrius, es ist an mir, dich um Entschuldigung zu bitten. Lies den Brief für dich allein. Wenn du stark genug bist, mir den Rest mitzuteilen, so laß es mich wissen, und ich werde wiederkommen.«

Er ging aus dem Zelte hinaus; nichts in seinem ganzen Leben hatte ihm besser gestanden. [...]" (19. Kapitel)


*Diesen Satz hatte mein Bruder in dem Exemplar unserer Familie unterstrichen. Daher besinne ich mich an ihn. - In dem mir vorliegenden gedruckten Exemplar steht er im 23. Kapitel. - Weshalb die Zählung von der in gutenbg.org abweicht, ist mir nicht bekannt. 


"[...] Bald darauf wurden die Taue der Galeere gelöst, diese drehte sich herum und stieß unter dem Schein der Fackeln und unter den lauten Rufen fröhlicher Schiffsleute ins Meer. Ben Hur blieb an die Sache des Königs gebunden, der da kommen sollte."  (21. Kapitel)

23 Juni 2021

Charles Dickens: Oliver Twist

 "And what an excellent example of the power of dress young Oliver Twist was! Wrapped in the blanket which had hitherto formed his only covering, he might have been the child of a nobleman or a beggar;—it would have been hard for the haughtiest stranger to have fixed his station in society. But now that he was enveloped in the old calico robes, which had grown yellow in the same service, he was badged and ticketed, and fell into his place at once—a parish child—the orphan of a workhouse—the humble half-starved drudge—to be cuffed and buffeted through the world, despised by all, and pitied by none.

Oliver cried lustily. If he could have known that he was an orphan, left to the tender mercies of churchwardens and overseers, perhaps he would have cried the louder." (Chapter 1)

"Upon this, the parish authorities magnanimously and humanely resolved, that Oliver should be "farmed," or, in other words, that he should be despatched to a branch-workhouse some three miles off, where twenty or thirty other juvenile offenders against the poor-laws rolled about the floor all day, without the inconvenience of too much food or too much clothing, under the parental superintendence of an elderly female who received the culprits at and for the consideration of sevenpence-halfpenny per small head per week. Sevenpence-halfpenny's worth per week is a good round diet for a child; a great deal may be got for sevenpence-halfpenny—quite enough to overload its stomach, and make it uncomfortable. The elderly female was a woman of wisdom and experience; she knew what was good for children, and she had a very accurate perception of what was good for herself. So, she appropriated the greater part of the weekly stipend to her own use, and consigned the rising parochial generation to even a shorter allowance than was originally provided for them; thereby finding in the lowest depth a deeper still [...]

Oliver Twist's ninth birth-day found him a pale, thin child, somewhat diminutive in stature, and decidedly small in circumference. But nature or inheritance had implanted a good sturdy spirit in Oliver's breast: it had had plenty of room to expand, thanks to the spare diet of the establishment; and perhaps to this circumstance may be attributed his having any ninth birth-day at all. Be this as it may, however, it was his ninth birth-day; and he was keeping it in the coalcellar with a select party of two other young gentlemen, who, after participating with him in a sound threshing, had been locked up therein for atrociously presuming to be hungry"  (Chapter 2)

Oliver entgeht dem Schicksal, als "climbing boy" bei einem Schornsteinfeger angestellt zu werden.

  • Quelle: Wikipedia
  • The one on the left is in the correct climbing position, with right hand above, left in front, moving using back knees and feet.
  • The child on the left is jammed, knees up against the chin and will need to pulled out, or the chimney will need to be broken to retrieve the body.


"[...] "It's a nasty trade," said Mr. Limbkins when Gamfield had again stated his wish.

"Young boys have been smothered [erstickt] in chimneys before now," said another gentleman.

"That's acause they damped the straw afore they lit it in the chimbley to make 'em come down again," said Gamfield; "'that's all smoke, and no blaze; vereas smoke ain't o' no use at all in makin' a boy come down, for it only sinds him to sleep, and that's wot he likes. Boys is wery obstinit, and wery lazy, gen'lmen, and there's nothink like a good hot blaze to make 'em come down vith a run; it's humane too, gen'lmen, acause, even if they've stuck in the chimbley, roastin' their feet makes 'em struggle to hextricate [heraushexen] theirselves." [...]" (Chapter 3)


Als Noah Claypole, der ältere Lehrjunge des Sargmachers Olivers Mutter grob beleidigt, wird dieser so wütend, dass er auf Noah einschlägt. Als Oliver dafür eingesperrt wird und aufgrund falschen Zeugnisses von Noah selbst der Sargmacher, der ihm immer wohl wollte, ihn verprügelt (weil er unfähig ist, sich den Forderungen seiner Frau zu widersetzen) läuft Oliver fort.

Auf dem Weg kommt er in frühster Morgenstunde beim Armenhaus vorbei und trifft einen kleineren Jungen, mit dem er sich gut verstanden hat, und mit ihm macht Oliver eine Erfahrung, die er in seinem ganzen Leben noch nicht hatte:


"Kiss me," said the child, climbing up the low gate, and flinging his little arms round Oliver's neck. " Good-b'ye, dear! God bless you!"

The blessing was from a young child's lips, but it was the first that Oliver had ever heard invoked upon his head; and through all the struggles and sufferings, and troubles and changes of his after life, he never once forgot it." (Chapter 7)

15 Juni 2021

Frank Schätzing: Was, wenn wir einfach die Welt retten?

 Teil 1: Eigentlich - (S.11ff.)

- wollte ich ein ganz anderes Buch schreiben, einen Thriller. 

Dann dachte ich: Wir sind in einem Triller [...]

Als Akteure. [S.11 - Nämlich in der Menschheitsgeschichte]

"Jetzt aber werfe ich sie in ein schwarzes Loch." (S.17)

Teil 2: Frankenstein und die Klimakatastrophe (S.21ff.)

Teil 3: Thriller (S37ff.)

Zukunftsszenarios je nach Umfang der Erwärmung Zeitphasen 2015/20 (bereits historisch), von da ab etwa in Jahrzehnten 2021ff, 2030ff; 2040-54, 2055-70 (S.70), 2071-99 (S.71), 2100 - ? (S.73)

Teil 4: Ursache Wirkung (S.75ff.)

Wo Methan gebunden ist und wie es freigesetzt werden kann

Methan ist im Eis des Permafrostes eingeschlossen und wird freigesetzt, wenn der bis in größere Tiefen auftaut. So geschieht es gegenwärtig in Sibirien, wenn es im Sommer längere Zeit besonders warm ist. Extrem beschleunigt wird das, wenn es bei großer Trockenheit Tausenden Flächenbränden von vielen Quadratkilometer großen Flächen kommt. Bei der extremen Oberflächenhitze taut der Permafrost bis in größere Tiefe auf. (S.86)

Methan ist auch in Methanhydrat gebunden, das in Küstenbereichen durch den Druck des das dort lagernden Sediments verfestigt wird und seinerseits das Sediment davor bewahrt, fortgespült zu werden. Lässt der Druck nach oder steigt die Temperatur an, wird es flüssig und das Methan entweicht in die Atmosphäre. - Ein solcher Vorgang hat etwa 8200 Jahre v. Chr. an der norwegischen Küste zur Storegga-Rutschung geführt, als auf "über 800 km Länge und einem Volumen von etwa 5600 km³" unter der Meeresoberfläche Land ins Rutschen kam. Dabei wurde in einem Tsunami  mit über 10 m hohen Wellen die damals noch bestehende Insel Doggerland im Bereich der heutigen Doggerbank überflutet und eine Steinzeitkultur vernichtet. 

Schöne Bilder und Formulierungen:

 "Viren sind das reiselustigste Völkchen der Welt, machen unentwegt Bekanntschaft mit Spezies, deren Immunsystem nicht auf sie eingestellt ist, übertragen sich von Tier zu Tier, mutieren und springen auf Menschen über, den Rest besorgen interkontinentale Verkehrsmittel. [...]  Was gar nicht in deren Sinne ist. Könnten sie denken, würden sie sagen, stopp! - wir wollen niemanden töten! Wir sind doch nicht bescheuert und töten den Wirt, der uns ernährt." (S.88)

Schön formuliert, auch wenn die Vermenschlichung zu einem Widerspruch führt: Eben waren sie noch "reiselustig", dann rufen sie: Stopp!

Teil 5: Die Guten - und die Bösen (S.91ff)

Mutter Erde hat Millionen Jahre liebevoll Kohlenstoff für uns eingezahlt: Jedes umgefallene Bäumchen unter geothermischen Druck verkohlen lassen, alle sterbenden Algen und Kleinstlebewesen zu Öl und Gas gemacht. 

Und wir haben "Binnen weniger Hundert Jahre die Dividenden mehrerer Erdzeitalter verprasst. [...] Wie bescheuert kann man sein? Zurück auf die Bäume, möchte man rufen, aber die haut Bolsonaro gerade ab." (S.97)

Teil 6: Handeln (S.183ff)

Vernunftgemäß sind wir vernünftig und wir wollen gut sein. Daran hindert uns unser "Reptiliengehirn" (Hirnstamm), das uns ständig dazu bringen will, egoistisch zu handeln. 

Dadurch kommt es zur Tragik der Allmende [die freilich nicht unvermeidbar ist].

"Im Nordpazifikwirbel zwischen Asien und Amerika treiben auf einer Fläche von über anderthalb Millionen Quadratkilometern (das sind ungefähr drei Frankreichs) geschätzt 1,8 Billionen Plastikteilchen [...] zusammen die sechsfache Menge allen Planktons der Welt." (S. 224) [Und das sind  nicht einmal 0,14 % des gesamten Plastikmülls in den Meeren. (Wikipedia)]

(Zu beachten auch die Gefahren durch das Schmelzen der Eisschilde auf den Polarkappen und denen auf Grönland und in der Arktis, vgl. auch Einfluss auf das Klima   durch Polarozeane,  Eisschilde und Meereis.)

Teil 7: Wie wir wachsen oder auch nicht (S.277ff.)

Ein Mentalitätswandel zu Kooperation könnte die bei Effektivitätsgewinnen (Faktor vier) gefährlichen Reboundeffekte (Mehrverbrauch, der Effektivität zunichte macht, z.B. SUV) verhindern und bei der Bemühung um Nachhaltigkeit (VeggiedayBackfireeffekte ("Verbotskultur") vermeiden. Prognosen, die heute noch den Reboundeffekt einrechnen müssen, könnten sich bei gesamtgesellschaftlichem Nachhaltigkeitsbewusstsein als viel zu pessimistisch erweisen, wenn es dann schick ist, alle Einsparungsmöglichkeiten wirklich effektiv zu nutzen. (S.282)

Teil 8: Science-Faction

Im letzten Abschnitt leistet Schätzing sich den Spaß, vorhandene Lösungsansätze geradlinig zu extrapolieren, um zu lauter Lösungen für Umweltprobleme zu kommen.

Ein Beispiel für viele: "Künstliche Intelligenz wird Extremwetter und Naturkatastrophen vorhersagen, Ökosysteme durch Auswertung von Satellitendaten lückenlos überwachen und gezielt Strategien gegen Artensterben, marine Vermüllung, Wilderei und Überfischung zu entwickeln." (S.321)

Die Lösungsansätze wie CO2-Bindung durch Algen (S.308/09), Zentrale Steuerung sich den Nutzerwünschen anpassender Fahrzeuge gibt es (S.312). Schätzing überspringt bei seiner Utopie für 2050 nur alle nur denkbaren Hindernisse, um uns eine denkbare Lösung vorzuführen. 
So plädiert er für sicherere Atomspaltungs- und -fusionsreaktoren als Übergangstechnologie, weil außerhalb Deutschlands so und so neue Atomreaktoren entstehen* (S.325-27).

"Gibt es ein Best–Case–Szenario? Ich weiß es nicht. 
Lohnt es, dafür zu kämpfen? 
Unbedingt!" (S.332)

14 Juni 2021

Irrlichternd Ingeborg Bachmann

Ingeborg Bachmann (Wikipedia)

Malina (Wikipedia)  Malina (Film)




Werkausgabe:

Vorstellung bei FAZ 24.2.2017

Verlagsseite bei Suhrkamp

 „Male oscuro“. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe. (Rezension)

Zitate aus Male obscuro bei Deutschlandfunk

Film:
Schauspiel:
Wiedereröffnung Schauspiel Frankfurt: Ich bin doch vernichtet worden von Sylvia Staude FR 13.6.21
"Das Frankfurter Schauspiel beginnt den Spielbetrieb mit einer flirrenden Version von Ingeborg Bachmanns „Malina“.
Zuletzt, nach zwei Stunden, im Fast-Dunkel, hört man Ingeborg Bachmann selbst. Sie liest das Gedicht „An die Sonne“, in dem das Schöne besungen wird mit einer Vehemenz, als wäre es der letzte Strohhalm. [...] 
Im Nachtwald voller Fragen bleiben fast alle offen (und das ist gut so), auch wenn manche Sätze wie ein Fazit klingen. „Ich bin doch vernichtet worden“, sagt Inga/Inge, die Schauspielerin/die Ich-Erzählerin wirft es einem hin wie eine Aufforderung, genau hinzuhören, genau hinzusehen; vielleicht auch in der Folge dieses Abends genau zu lesen."

Zitate:
Wenn einer in sein dreißigstes. Jahr geht, wird man ihn nicht aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderungen an sich entdecken kann, wird unsicher; ihm ist, als stünde es ihm nicht mehr zu, sich für jung auszugeben. Und eines Morgens wacht er auf, an einem Tag, den er vergessen wird, und liegt plötzlich da, ohne sich erheben zu können, getroffen von harten Lichtstrahlen und entblößt jeder Waffe und jeden Muts für den neuen Tag. [...]
Wenn er in sein dreißigstes Jahr geht und der Winter kommt, wenn eine Eisklammer November und Dezember zusammenhält und sein Herz frostet, schläft er ein über seinen Qualen. Er flieht in den Schlaf, flieht zurück ins Erwachen, flieht bleibend und reisend, geht durch die Verlassenheit kleiner Städte und kann keine Türklinke mehr niederdrücken, keinen Gruß mehr entbieten, weil er nicht angesehen und angesprochen werden will. Er möchte sich wie eine Zwiebel, wie eine Wurzel unter die Erde verkriechen, wo sie warm geblieben ist. [...] Ich lebe ja!
Er wird bald geheilt sein.
Er wird bald dreißig Jahre alt sein. Der Tag wird kommen, aber niemand wird an einen Gong schlagen und ihn künden. Nein, der Tag wird nicht kommen – er war schon da, enthalten in allen Tagen dieses Jahres, das er mit Mühe und zur Not bestanden hat. Er ist lebhaft mit dem Kommenden befasst, denkt an Arbeit und wünscht sich, durch das Tor unten bald hinaus gehen zu können, weg von den Verunglückten, den Hinfälligen und Moribunden.
Ich sage dir: Steh auf und geh! Es wird dir kein Knochen gebrochen."

08 Juni 2021

Vischer: Auch Einer - In Norwegen

Zum größeren Zusammenhang sieh: Herr Rau: Lehrerzimmer Auch Einer (1879) – Teil 3

"Norwegen. Christiania. Schlimmes kann doch auch Gutes tragen, zum Beispiel Sorge vor Emphysem ein freies Jahr. Möchte schon lang Italien sehen, aber auch Norwegen. Gut, gut, Herr Doktor, Sie wollen mich nach Italien, aber da ist Juli und August zu heiß, dagegen in Norwegen die Zeit der hellen Nächte, also zuerst Norden, dann Süden! Durchgesetzt und – einmal ein Glück – ein Stellvertreter geschickt zur Hand, Urlaub herausgeschlagen, fort, fort!

Wie freier schon die Brust, seit ich das Meer wieder gesehen! Eigentlich zum erstenmal; denn damals auf Sylt und Föhr habe ich es noch nicht so recht verstanden, brachte noch nicht Ernst genug. Zuerst groß, unendlich in Stille. Dann mäßig bewegt, also alles sehen dürfen: die Großheit der Horizontale, Helldunkel, Farbe, Durchsichtigkeit, Spiel der Reflexe und der herrlichen, schwanenhalsigen Bogenlinien! Die Seele jauchzte mir. O, da gibt es viel Gott! [...]


O Rappe, o Rappe, dein Sattel ist leer,
Sag an, was bringst du für traurige Mär'?
    Merk auf, Herr Olaf!

›Dein Liebster ist hin, daß Gott sich erbarm',
Ihn wieget die Nixe im schneeweißen Arm!‹
    Merk auf, Herr Olaf!

›Bei den Fischen wohnt er im tiefen Meer,
Die Sonne siehet er nimmermehr.‹
    Merk auf, Herr Olaf!«

Wer könnte die Töne dieses Gesangs beschreiben! Schweres Dunkel, sich verdichtend, anschwellend, war ihre Grundstimmung. Bei den Lockworten der Nixe gingen sie in eine schmelzende Süßigkeit über, wurden heißer und heißer, man meinte den wollüstigen Jubel zu hören, der nach den gezogenen Klagelauten aus den Wirbeln der Nachtigallstimme auflodert. Sie sanken in ein tiefes Weh gegen das Ende, aber wirklich am Ende, beim letzten Verse stieg wie ein Geist aus den gesungenen Tränen des Mitleids ein Etwas hervor und mischte sich unsagbar mit ihnen, – ein Etwas – Triumph und Schadenfreude wären ein plumper Ausdruck; auch wenn ich es umschreiben wollte: »dahin kann ein Weib einen Mann bringen,« es wäre nackt und roh übersetzt, o, es war unheimlich und doch unwiderstehlich! – Die letzten Töne verklangen im Echo der Felsen, und jetzt sah sie wieder zurück, diesmal auf mich. Wer kann sagen, was über ihr Angesicht zuckte! Ein Schatten von Ernst, dann wieder Lust, Reiz, Wonne, Mutwille, Witzgeist, Spott, Uebermut, helles Siegesfrohlocken, das beim Himmel noch etwas andres besagte, als: »so kann ich singen!« Aber wer hätte das triplex aes circa pectus bewahrt! Ja, so konnte sie singen – und? – [...]


Bergen. Alter Königssitz; jetzt still trotz Handelsverkehr. Eingemietet in einer »Stube« der alten Hansekaufleute. Getäfelt, behaglich. Deutsche Erinnerungen. Tüchtige alte Stadt; bürgerlich, angenehm philisteriös; Holzhäuser, mit weißer Oelfarbe angestrichen; Almendingsplätze, zum Teil anziehend langweilig mit Gras bewachsen. Festung darüber, hoch auf den mastenreichen Hafen herabschauend. Will arbeiten, einmal wieder etwas lesen, nur selten hingehen. Es regnet viel, mir jetzt recht. Goldrun auf der Herreise lang still, dann voll Spott, höhnte auf Registraturen, Amtsstuben, Sitzen, Verdorren. – Jetzt still und zahm.

Man hat die griechischen Studien wieder aufgenommen; Phädon, dann soll es an den Oedipus König. Ich muß doch teilnehmen; man lädt mich sehr ein.

*

Stille Tage. Gesammelte Abende. Dieser Dyring ist doch dem wilden Wesen ein Halt. Wie sanft ist sie, wenn sie an seinen Blicken hängt, auf seine Worte lauscht! Seine hohe Stirn, sein tiefes Auge breitet Meeresstille aus. Arnhelm in einer wahren Andacht, oft wie verzückt. Das Griechische fließt wie Honig des Hymettus von ihren Lippen; wie ertönt da das klangvolle ος der Endungen!

*

Merkwürdig, wie der Tod Leben entzünden kann! Ueber dem Phädon, dem sterbenden Sokrates gibt's viel zu denken an ihn. Der Tod ist pures Nichts, sage ich; der Tod ist, wobei man überhaupt nichts denken kann. Entweder ich lebe, dann bin ich nicht tot, oder ich bin tot und dann lebt keiner, der es bedauerte, daß er tot ist. Man hat Angst davor, sich einmal tot vorzufinden, aber der Tote sucht und sieht sich ja nicht. Daher ist es purer Unsinn, an den Tod zu denken. Wenn nur die Phantasie nicht wäre, die uns zwingen will, uns vorzustellen als im Tode lebend und uns tot wissend! Eine Witwe hat mir erzählt, sie habe den plötzlichen Tod des Vaters dem kleinen Töchterchen einen Tag lang verheimlicht, dann aber das nicht länger gekonnt. Das Kind schweigt eine Weile und sagt dann: aber da wird der Vater traurig sein, daß er tot ist! – Genau wie die alten Völker: Schattenleben im Scheol, im Hades; – tot und im Tod so viel lebend, um zu wissen, wie unangenehm der Tod sei. – Was ist nun das Uebel? Es braucht Denken, viel Denken, diese Phantasie fernzuhalten, als stäken wir lebend im Tod, und zu begreifen, daß man an den Tod schlechthin nicht denken soll. So kommt es, daß man vor lauter Denken, warum man an den Tod nicht denken soll, zuviel an den Tod denkt. [...]

Drontheim. Da wär' ich! Frei! Weit weg! Wie am Ende der Welt! – Wild auf wilden Wegen weiter, immer weiter. – Frei? Wenn nur die Träume nicht wären – auch ins Wachen herein! Diese beständige Bangigkeit, dies Weh in der Herzgrube! Ich fürchte keinen Menschen und bin doch so atemlos zusammengeschnürt – Träume voll Todesangst – ich bin vergeistert, wohne im Reich der Dämonen. * Hätte mich das Ungetüm zerrissen bei Jostedalsbrä, mir wäre wohl besser. Die Bärenjagd mitmachen, – ich hoffte eine Kraftkur für die arme Seele. Im ewigen Schnee, am Eis der Gletscher: Ausstürmen, Kühlung! Will es ohne Schuß wagen, mit angepflanztem Haubajonett. Bär steht, Stoß fehlt. Die Rotjacke hat mich mit wohlgezieltem Schusse gerettet. Unkraut verdirbt nicht. Aber Tatzenhieb über die Schulter. Gut, daß der Doktor die Jagd mitmachte, der Schwede Erik hat mich in den Gard bringen lassen, verbunden. Wundfieber. Wilde Phantasien: Goldrun, goldglänzende Bärin, haut mich über die Brust, schleppt mich hinter den Ovsthusfoß, umarmt mich dort als Meerfräulein, verwandelt sich plötzlich in den Wolf Fenrir. – Am andern Tage wieder hell, doch schwach. Der Doktor gar guter, gesund nüchterner junger Mann. Sitzt an meinem Lager, der Ton seiner Stimme, der Blick seiner Augen so ehrlich und beruhigend; erzählt: hat sich als Arzt in Bergen nieder gelassen, holt bald seine Braut von Schottland herüber. Wird nicht müde, sie zu rühmen, wie reiches Seelenleben, und dabei so sanft, gut, brav; Vater ein Schotte, Mutter auf Perugia; heißt Cordelia, »und,« sagt er, »ist auch Cordelia«. Malt sich rührend sein nahes Glück auf, – wie die Zimmer einrichten – alles. Mir tönt das wie ferne Glocken, wie alte Sage von der ins Meer versunkenen Stadt. Einfaches Menschenglück! – Für mich nie! * Geheilt weitergewandert. Ueber wüste Hochebenen, todeseinsam. Oft hungernd fortgeschleppt, bis ein ärmlicher Säter mich aufnahm. Ein Schneehuhn flattert auf, ein Fuchs schleicht, keine Menschenseele. An Bergseen schwerträumend. Hinab? Unter? Nein, weiter! Ich sehe Gestalten im Geist über diese Wüsten schreiten, kriegerische, abgemagert, zerlumpt, ungebeugt, ein jugendlich Haupt ihr Führer. König Sverrir, der du mit deinen kühnen Banden einst hier ringend mit Kälte, Schnee, Hunger umhergeirrt, Kriegern in Birkenrinde gekleidet, oft der Verzweiflung nahe, sich fragend, ob sie sich nicht lieber hoch von den Klippen stürzen oder gegenseitig töten sollten, – hast ausgehalten mit deiner Schar, ein halb Jahrhundert gekämpft gegen Priesterherrschaft, drunten im Sognefjord in blutiger Seeschlacht gesiegt, – o, so etwas! wer mir das brächte! – Aber will aushalten! Will mich nicht schämen vor euch Heldengeistern. Bin Mann. [...]

Als sie mich wegschüttelte, als ich den Kopf an den Schrank schlug, da fiel mir Siegfried ein: »Daz im sin Houbet lute an eime Schamel erklank«. Er hat dann das wilde Weib bezwungen, dafür hat sie ihn morden lassen. – Bin ich fertig mit ihr? Daß aber doch auch das Denken nichts, gar nichts helfen will! Besinne mich auf alle Weisheitssprüche – was ich nur aufgraben kann, aus dem gefrornen Gedächtnis heraushauen – Sprüche Salomonis, Weisheit der Brahmanen, Sakja-Munis herrliche Arzneien gegen die Leidenschaft, Konfutses Weisheit, Sieben Weise Griechenlands, Plato – ach, über dem fällt mir der sanfte Gang in Westfjorddalen wieder ein, unsre Plato-Abende in Bergen, jede Stunde, wo sie gut war und vernünftig – – fort, weiter; die Stoiker, Markus Aurelius, der reine Kühlbrunnen seines Εἰς ἑαυτὸν –, Goldworte des Neuen Testaments –: da taute aus Knabenzeit wieder in mir auf: »Denen, die den Herrn lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen,« – die Augen wurden mir feucht –; mein Spinoza – Kant – der fiel mir nach langer Zeit wieder ein, sein ehrliches Schriftchen: »Von der Macht des Gemütes, durch den bloßen Vorsatz seiner kranken Gefühle Meister zu werden«, – u. s. w. u. s. w. u. s. w. – Und alles umsonst! Die Leidenschaft ist eine profunde Sophistin. Was sagt sie? Sie sagt: alles ganz wahr und schön, mag auf alle Fälle passen, nur auf diesen nicht; der ist von absoluter Besonderheit. Das Diese kämpft gegen die Wahrheit und Macht des Allgemeinen, will sich in seiner zäh gebackenen Dichtigkeit nicht von ihm perforieren lassen. Ja die Diesheit, das ist etwas gar Dunkles, Schweres, ein großes Geheimnis. [...]

Mein Zentrum ist außer mir, heißt Goldrun, läuft um, wo es – wo sie mag, mißhandelt mich, entehrt mich. Ich bin nicht mehr Ich. * Dämonisch ist das Weib, dessen Reiz noch fortwirkt, während man sie schon verachtet – Eine Definition unter andern, es gibt noch mehrere. * Oft war sie zwischen Herrschsucht, Siegeshohn ganz untertänig, mehr als recht. Der Hochmut und der Sklavensinn, Die sind in einer Schublad' drin. [...]

        Jetzt schnaube nur, Dampf, und brause! Jetzt rolle nur, Rad, und sause! Es geht nach Hause, nach Hause! Du kannst nicht jagen, o Wagen, Wie meine Pulse mir schlagen! Zur Geliebten sollst du mich tragen! Vorüber, ihr ragenden Stangen! Verschwindet, ihr Meilen, ihr langen! Wer ahnt mein Verlangen und Bangen! Auf den Bänken, wie sie sich dehnen! Wie sie schwatzen und gaffen und gähnen! Es ist nichts, wonach sie sich sehnen. Dort raset der Sturm durch die Tannen, Zum Dampfe noch möcht' ich ihn spannen, Daß er rascher mich reiße von dannen! Hinweg aus dem plappernden Schwarme, O, hin an die Brust, an die warme, In die offnen, die liebenden Arme! * Lekanger am Sognefjord. Getroffen. – Sjöstrand eine Lustaue, als wäre man in Italien, Fruchtgarten an Fruchtgarten. Vögel girren und schlagen, Eichen und Eschen flüstern, Bäche rieseln, groß brandet die Woge. Aber welche Berge, welche Schneehäupter ragen herüber wie Ewigkeit in den Moment der Wonne! Ja hier, hier! Gönne mir mein Glück in deinem heiligen Hage, deiner alten Friedens- und Opferstätte, du Jugendgott mit den blühenden Wangen, gönne mir's, Baldur! Hast's auch Frithjof nicht mißgönnt, als er herübersteuerte von Framnäs. des Vaters Haus, auf seinem Schiff Ellidi, und sie besuchte, die Gespielin seiner Kindheit, die holde Ingeborg, ihm verweigert von den stolzen Brüdern Helgi und Halfdan und verwahrt in deinem Heiligtum! 

Selige Tage, nur Tage, denn noch scheint die Mitternachtssonne unsern Entzückungen. [...]

Diese Nacht, wie ich so die Schlummernde, Hingegossene beschaute, warum kam denn plötzlich ein Grauen über mich? Ich bin doch so sehr im Vollglück. Und warum beim Anblick von Dyrings Bild, das sie als Medaillon am Busen trägt? Er war doch so eine platonische Natur, so ernst, so edel! * Warum wächst denn dies Grauen und muß mir einfallen, wie Faust in der Helena, die ihm der Teufel zuführt, ein Gerippe umarmt? * Habe den griechischen Einladungsbrief wieder gelesen. Wo war meine Nase? Zur Lust locken hart am Grabesrande des väterlichen Freundes! – Und sollte er, er sterbend sie an mich –, ist's glaublich, wenn ich mich gewisser Blicke – doch nein, diese Mißgeburt stoße aus, mein krankes Hirn! – Aber der Brief! Ein Geflick aus Lappen der Sapphobruchstücke! – * Mit ihrem Griechisch ist es auch so weit nicht her, als ich meinte. Dyring und Arnhelm haben ihr immer geschickt nachgeholfen. [...]

Ich meine immer, ich müsse ihr recht fürchterliche Predigten halten und dafür solle sie mich recht küssen. Vereinigter, gleichzeitiger Kußregen und Ohrfeigenregen – so steht's hier ums Wetter, dies wäre meine Losung. [...]

Du reizend Ungeheuer,     

Neig her den schönen Leib! 

Reich mir den Kelch voll Feuer,     

Du wunderbares Weib! 

Willst du mich küssen, drücken,     

Werd' ich mich nicht entziehn, 

Spür' ich in meinem Rücken     

Den Dolch auch immerhin. 

Wie salzlos wär' die Liebe,     

Wie matt ihr Himmelsgold, 

Wenn sie aus einem Triebe     

Allein bestehen sollt'! 

Da ist man erst gerühret,     

Das ist der rechte Spaß, 

Wenn Haß die Liebe schüret     

Und Liebe schürt den Haß. 

In unsrem Liebesorden     

Mag man das Schlichte nicht, 

Da möchte man sich morden,     

Wenn man sich heiß umflicht. 

Sag, welches Erdgeists Laune     

Hat dich so stolz gebaut? 

Mir graut, indem ich staune,     I

ch staune, wie mir graut. 

Sag, welcher wilde Dichter     

Hat dich, o Weib, erdacht? 

In dir die Himmelslichter     

Gemischt mit Hadesnacht? 

Du winkst mir in den Wagen,     

Es ist schon eingespannt, 

Zwei Rappen uns wohl tragen –     

Du weißt, in welches Land. 

Da bin ich schon zur Stelle,     

Die Geißel schwinge frei! 

Nun im Galopp zur Hölle!     

Hurra, ich bin dabei! 

Soll ich's ihr zum Lesen geben? Entsetzlich! Unmöglich! Und doch! – »So war ich mit ihm.« Mit dem Platolehrer! – Sind mit dem Knaben Arnhelm zwei gleichzeitig, drei so gut als gleichzeitig! Denn daß sie mit dem jungen Schöngeist auch »so war«, wie könnt' ich noch zweifeln! – Und hingesagt hat sie's leichtweg, als verstände sich's nur so von selbst!"

(Vischer: Auch Einer Kapitel 18)



06 Juni 2021

Boccaccio: Fiammetta

Das Schicksal der Griseldis hat Boccaccio ganz aus der Perspektive des Mannes berichtet.  Der unternimmt es, seine Frau so viel zu quälen, wie nur möglich, damit sie ihren Willen seinem total unterwirft, als ob er Gott wäre und gibt das als Prüfung aus. 

Das Schicksal der Fiametta schildert er durchweg aus der Perspektive der Frau. Diese sieht sich als größte Dulderin der Geschichte. Wie kommt sie dazu?

Prolog

[...] Es liegt mir nicht am Herzen, daß meine Rede zu den Männern gelange, vielmehr bleibe sie ihnen, soviel ich dazu vermag, gänzlich verborgen; denn so jammervoll hat sich an mir die Härte eines einzelnen erwiesen, daß ich, alle andere ihm ähnlich wähnend, eher höhnendes Lächeln als mitleidige Tränen von ihnen erwarte. Euch allein, die ich durch mich selbst als beweglich und für Unglück mitleidend kenne, bitte ich, mich zu lesen. [...]

Fiamettas Ausgangssituation (1. Buch)

Die freudenvollsten Umgebungen hatten mich auf Erden empfangen; Vergnügen war meine Nahrung, und als die zarte Kindheit verschwunden war und das liebliche Mädchenalter begann, lehrte eine ehrwürdige Meisterin mir alle die Sitten, die einer edlen Jungfrau angemessen sind. Und so, wie ich an Alter wuchs, wuchsen auch meine Reize, die vornehmsten Quellen meines Unglücks.

Ach! wie stolz schlug mir das Herz, so klein ich auch noch war, wenn ich meine Schönheit von so vielen preisen hörte! wie bemüht war ich, sie durch Sorgfalt und Kunst immer mehr zu erhöhen! Und als ich in ein reiferes Alter getreten war und die Natur mich wahrnehmen lehrte, wie heftig weibliche Schönheit die Jünglinge zu entflammen vermag, da bemerkte ich bald, daß mein Reiz – ach ein trauriges Geschenk für ein Herz, das ruhig und tugendhaft zu leben wünscht! – alle meine Gespielen und viele andere edle Männer immer mehr mit zärtlicher Glut entzündete.

Sie alle waren bemüht, durch ausdrucksvolle Blicke und Worte, in zahllosen Versuchen mir das Gefühl mitzuteilen, das sie verzehrte und das mich selbst in der Folge stärker als alle anderen zu entflammen und zu verzehren bestimmt war. Viele auch zeigten sich, die mit höchstem Eifer meine Hand zu erhalten strebten.

Doch da bald darauf derjenige unter ihnen, welcher mir in jeder Hinsicht am angemessensten war, mein Gemahl ward, so zerstreute sich mit der verlorenen Hoffnung die beschwerliche Schar der Liebhaber, und sie hörten auf, mich mit ihren verliebten Torheiten zu bestürmen.

Mit einem so würdigen Gemahl, wie billig, vollkommen zufrieden, lebte ich nun höchst glücklich, bis die sinnberaubende Liebe mit nie empfundenem Feuer mein jugendliches Gemüt erfüllte. Ach! damals gab es nichts in der Welt, was meinen Wunsch – ja den Wunsch irgend einer Frau – hätte reizen können, was mir nicht sogleich im vollen Maß gewährt worden wäre!

Mein junger Gemahl fand in mir sein einziges Gut, seine höchste Glückseligkeit, und so wie er von mir geliebt ward, liebte er mich auch wieder.

O! wie weit glücklicher als andere hätte ich mich preisen können, wenn das Gefühl solcher Liebe mir stets treu geblieben wäre! Ich war zufrieden, und mein Leben schien ein immerwährendes Fest, als das Glück, welches schnell die irdischen Dinge verkehrt und die mir geschenkten Güter selbst zu beneiden schien, auf einmal seine Hand von mir abzog und mit schlauer Überlegung, auf welche Art es meine Ruhe am besten vergiften könne, mich durch meine eigenen Augen den Weg ins Verderben finden ließ. Und gewiß, kräftiger hätte das Gift auf keine andere Weise wirken können als auf diese. [...]

Der "schreckliche Schicksalsschlag", der sie unverdient trifft

Mein Schicksal also wollte, daß ich glänzend und mit sorglosem Mut mein Haus verließ. Von mehreren begleitet, gelangte ich mit abgemessenen Schritten in den geheiligten Tempel, wo die an solchen Tagen üblichen, feierlichen Gebräuche bereits begonnen hatten. Mir aber hatten ein alter Gebrauch und mein Rang unter den andern Frauen eine sehr ausgezeichnete Stelle aufbewahrt, und sobald ich Platz genommen hatte, unterließ ich nicht, meiner Gewohnheit nach die Augen nach allen Seiten hin zu wenden und die vielen Männer und Frauen zu betrachten, welche in verschiedenen Gruppen den Tempel erfüllten.

Die heiligen Gebräuche huben an, und sobald man mich im Tempel wahrnahm, geschah es, wie ich schon gewohnt war, daß nicht allein die Männer, sondern auch die Frauen ihre Blicke bewundernd auf mich hefteten, nicht anders, als wäre eine Göttin sichtbar zu ihnen herabgestiegen. O! wie oft hatte ich bei mir selbst diesen Wahn belächelt, der mich jedoch sehr ergötzte und mich in meinen Gedanken wirklich zu einer Göttin erhob. Alle die Kreise von Jünglingen hörten nun auf, sich um andere zu drehen, und bildeten, dicht um mich versammelt, gleichsam einen Kranz, indes sie abwechselnd über meine Schönheit sprachen und mich fast einstimmig erhoben und rühmten. Und ich, indes meine Augen mit andern Gegenständen beschäftigt schienen, lauschte ihren Worten mit der süßesten Wollust und gönnte ihnen dann wohl, als wäre ich ihnen deshalb verpflichtet, einige günstigere Blicke. O! nicht einmal, sondern oft bemerkte ich dann, wie einer oder der andere sich deshalb mit leerer Hoffnung schmeichelte und gegen seine Gefährten voll Eitelkeit brüstete. So von vielen angestaunt, nur wenigen einen Blick gönnend und fest glaubend, daß meine Schönheit alles besiegte, nahte der Augenblick, wo ein fremder Reiz meiner selbst sich gänzlich bemeistern sollte.

Er erschien, der verderbliche, schmerzhafte Augenblick, der mir gewissen Tod oder ein unendlich qualvolles Leben erschaffen sollte, und von einem unbekannten Geist getrieben, erhob ich mit leichtem Anstand die Augen und überschaute die Menge der um mich versammelten Jünglinge mit festem und sicherm Blick.

Dicht in meiner Nähe zeigte sich mir an eine Marmorsäule gelehnt ein Jüngling, dessen Ansehen und Anstand, was bis dahin noch nie geschehen, meine Aufmerksamkeit unwiderstehlich an sich fesselte. Seine Gestalt – so urteilte ich schon damals, da mein Urteil noch nicht durch Liebe befangen war – hatte die schönste Form, seine Bewegungen zeigten die größte Anmut, Anstand und Kleidung Würde und Schicklichkeit. Die Zartheit seiner Wangen gab ein sprechendes Zeugnis seiner Jugend, und seine Blicke, mit denen er aus der ganzen Versammlung mich auszeichnete, waren ebenso zärtlich als verständig. Zwar stand es in meiner Gewalt, meine Augen von ihm wegzuwenden, aber keine Gewalt vermochte, wie ich mich auch immer bemühte, die schnell empfangenen Eindrücke aus meinem Herzen zu verdrängen und meinem Sinn eine andere Richtung zu geben. Das Bild seiner Schönheit war bereits tief in meine Seele gedrückt, mit geheimer Wollust schaute ich es an, und erfinderisch wußte ich mit Gründen die Empfindung all des Herrlichen, was mir in ihm erschien, zu rechtfertigen. Es entzückte mich, der Gegenstand seiner Blicke zu sein, doch war ich stets auf meiner Hut, sooft sein Auge mir begegnete. Aber einmal, als ich, ganz sorglos über die Gefahr, ihn betrachtete und meine Augen länger und fester als gewöhnlich auf den seinigen verweilten, da schien es mir, als läse ich in ihnen deutlich die Worte: ›O Gebieterin! Du allein bist meine Seligkeit!‹, und mein Entzücken war so groß, so überraschend, daß mit einem leisen Seufzer mein Herz die Antwort gab: ›Und du die meinige!‹ Doch schnell mich fassend und meiner selbst bewußt, drängte ich sie von der Lippe zurück. Doch was auch der Mund verschweigt, wird dennoch von dem Herzen verstanden, und hätte ich damals ausgesprochen, was ich im Innern verschlossen hielt, vielleicht daß ich jetzt noch frei wäre. So aber schwieg ich und verstattete meinen törichten Augen die größte Freiheit, sich an den Reizen zu sättigen, die sie bereits so sehr entzückt hatten.

Ach! hätten die Götter, die jedes Ereignis zu einem verständigen Zweck leiten, mir damals nicht allen Verstand geraubt, ich könnte jetzt noch mir selbst angehören! Doch ich verbannte alle Überlegung, ich folgte meinen Gelüsten und setzte so mein Gemüt in den Stand, leicht eine Beute der Liebe zu werden.

Und wie der Lichtstrahl eigenmächtig von einem Ort zum andern fliegt, drang ein Feuer aus seinen Augen, das mit dem feinsten Strahl die meinigen traf. Aber nicht die Augen allein; weiß ich es, durch welche geheimen Wege er plötzlich bis zum Herzen drang, daß dieses, erschreckt über die unvermutete Erscheinung des fremden Gefühls, alle Lebensgeister zu sich rief und ich äußerlich ganz blaß und fast ohne Leben und Wärme blieb?

Aber nicht lange, so entzündete eine schnelle Glut das Herz; alle Lebensgeister waren von der innern Flamme ergriffen. Die Blässe verschwand, eine brennende Röte trat auf meine Wangen, und ich seufzte still über die Quelle dieses Wechsels, den ich verwundernd wahrnahm. Von diesem Augenblick an hatte ich keinen andern Gedanken mehr als den, ihm allein zu gefallen.

Dies alles ward von ihm, der unbeweglich seinen Platz behielt, mit feinem, scharfem Blick beobachtet. Vielleicht schon erfahren im Reich der Liebe und mit den Waffen bekannt, welche die gewünschte Beute leicht erobern können, nahm er sogleich die Miene der frömmsten Demut und eines liebenden Verlangens an. Ach! welche Arglist war unter dieser Milde, dieser Unterwürfigkeit verborgen! Einmal aus seinem Herzen entwichen – so hat es mich der Erfolg gelehrt –, war die fromme Liebe nie wieder dahin zurückgekehrt und leuchtete nur mit betrügerischem Schein aus den Zügen seines Angesichts. [...]

Die Qual, mit der das Schicksal sie schlägt: Der Jüngling, den sie liebt, liebt eine andere. Und ihr Ruhm, dass sie mehr duldet als jede andere Frau der Geschichte (7. Buch)

Amor, der grausame Herr meiner Seele, quält mich um so mehr, je weiter er meine Hoffnungen entfliehen sieht, und facht mit einem Hauch die Flammen der Liebe zu neuer Glut an. Und das nie gestillte Verlangen wird immer ungestümer und peinigt wie mit Schlangenbissen das leidende Herz. Sicherlich hätte die Heftigkeit meiner Begierden mir in der Folge einen sichern Weg zu dem schon vordem so sehnlich gewünschten Tod eröffnet. Aber um der festen Hoffnung willen, auf der beabsichtigten Reise den Urheber meiner Qual wiederzusehen, habe ich mich bemüht, meine Schmerzen zwar nicht zu mildern, aber doch sie zu ertragen. Zu welchem Ende ich unter allen Mitteln nur ein einziges wirksam gefunden habe, nämlich: meine eigenen Leiden mit den Leiden anderer zu vergleichen. Aus dieser Quelle schöpfte ich mir zwei lindernde Tropfen. Erstens sah ich, daß ich mich in meinem Jammer weder als die einzige noch als die erste betrachten dürfe, wie schon die Amme mir tröstend vorstellte, zweitens beruhigte mich, daß, wenn ich die Leiden anderer in ihrem ganzen Umfange mit meinen verglich, meine sie alle übertreffen. Ich rechne es mir zu keinem geringen Ruhm, sagen zu können, daß ich unter allen Lebenden die größte Dulderin bin. Und mit dem Bewußtsein dieses Ruhmes, von jedem Eingeweihten als ein Bild des größten Jammers geflohen werden zu müssen (auch von mir selbst, wenn ich könnte), habe ich bis heute die melancholischen Tage in Betrachtungen hingebracht. Ich gedachte der Tochter des Inachos, die, ein zartes schönes Jungfräulein, wie ich einst eines war, passend mit mir verglichen werden kann. Ich malte mir ihre Glückseligkeit aus, als sie sich vom Jupiter geliebt sah und ein Glück erfuhr, das der Frau für das Höchste gelten muß. Ich dachte daran, wie sie in eine Kuh verwandelt auf Junos Bitten vom Argus bewacht ward, und fühlte in ihrer Seele die große, unaussprechliche Angst und Bedrängnis, die sie dabei gelitten. Auch würde ich gewiß ihre Schmerzen weit über die meinen stellen, wenn nicht das Auge des liebenden Gottes unausgesetzt schützend über ihr gewacht hätte. – Ach! wenn mein Geliebter meine Trauer geteilt oder nur Mitleid mit mir gehabt hätte, welcher Schmerz wäre mir dann zu groß gewesen? Und überdies, wurden nicht alle ihre vergangenen Leiden durch das Ende verherrlicht und leicht? Argus war tot, und trotz ihrer Körperhaftigkeit wurde sie mit Hilfe des Gottes leicht nach Ägypten getragen, wo ihr die vorige Gestalt zurückgegeben und sie als Gemahlin des Osiris in die glücklichste Königin verwandelt ward. Ja! dürfte ich hoffen, meinen Geliebten, wenn auch erst im Alter, wiederzusehen, so wollte ich meine Leiden nicht mit den Leiden dieser Frau vergleichen. Aber Gott allein weiß, ob dies je geschehen wird, oder ob diese Hoffnung nur ein leerer Selbstbetrug ist.

Hierauf stand die Leidenschaft der unglücklichen Byblis vor meinen Augen; ich sah, wie sie allen irdischen Gütern entsagte und dem unerbittlichen Caunus folgte. Neben ihr gedachte ich der verbrecherischen Myrrha, die nach der unseligen Befriedigung ihrer Leidenschaft, den Tod fliehend, mit dem ihr Vater sie bedrohte, doch den jammervollsten Untergang fand. Auch der beklagenswerten Canace, die sich selbst den Tod geben mußte, nachdem sie die unglückliche Frucht einer unseligen Liebe geboren hatte. Wenn ich so die Qualen einer jeden nachfühlte, so begriff ich wohl, wie unendlich sie gelitten hatten, mochten ihre Leidenschaften auch verabscheuungswürdig genug sein. Das aber ist der Unterschied zwischen ihrem und meinem Schicksal, daß ihre Leiden, so groß sie waren, doch in einem kurzen Zeitraum zu Ende gingen.

Myrrha ward von den mitleidigen Göttern unverzüglich in einen Baum verwandelt, der ihren Namen führt, und wenn sie auch als Baum noch Tränen vergießt wie damals, als sie ihre erste Gestalt verlor, so empfindet sie doch seitdem keinen Schmerz mehr. So nahte sich ihr mit der Ursache ihres Leidens auch zugleich das Ende desselben. Byblis setzte ihrem Leben durch den Strick ein Ende, aber die Nymphen verwandelten sie huldreich in eine Quelle, die Byblis-Quelle. Und dies geschah erst, als sie Gewißheit hatte, daß ihr Geliebter ihr durchaus kein Gehör geben würde. Darf ich nun nicht meine Qual für weit größer erachten als das Leiden dieser Frauen, wenn ich ihre längere Dauer in Erwägung ziehe?

Nun erregte das Schicksal des unglücklichen Pyramus und seiner Thisbe meine Teilnahme, wie sie so lange Zeit mit aller Qual der unbefriedigten Sehnsucht sich treu geliebt hatten und in ihr Verderben gingen, als sie befriedigt werden sollte. Ach! wie fühlte ich so lebhaft, welch ein bitterer Schmerz den armen Jüngling in jener schweigenden Nacht durchdrang, als er an dem klaren Brunnen das Gewand seiner Thisbe von dem wilden Tier ganz zerrissen und blutig fand! Wie fest mußte er nach solchen Zeichen an ihr schreckliches Ende glauben! Konnte er seinem Schmerz tieferen Ausdruck verleihen als durch den freiwilligen Tod? Ach! und was litt das Herz der unglückseligen Thisbe, als sie nun ihren Geliebten blutend vor sich sah und kaum noch einen Strahl von Leben in seiner Brust zucken fühlte. Ich empfand ihren Schmerz und weinte ihre Tränen, die kaum weniger bitter geflossen sein mögen als meine. Aber ihr Leid war so kurz als heftig, und ihre Trauer hörte da auf, wo sie begann. O! ihr seligen Seelen, wenn ihr euch in jener Welt so liebend begegnet wie in dieser, welches Leid darf sich dann der Wollust des ewigen Zusammenseins vergleichen?

Jetzt trat das Bild der verlassenen Dido mit größerer Gewalt und Lebhaftigkeit als irgendein anderes vor meine Seele, denn ihr Schmerz ist ja dem meinen ähnlich und verwandt. Sie, die Erbauerin Karthagos, gibt ihren Völkern im höchsten Glanz ihrer Herrlichkeit im Tempel der Juno Gesetze, sie nimmt den Fremdling Äneas, der Schiffbruch gelitten hat, wohlwollend auf und unterwirft, von seiner Schönheit ergriffen, sich selbst und alles, was sie besitzt, der freien Willkür des trojanischen Heerführers. Er aber reist ab und verläßt sie, nachdem er die königlichen Freuden nach Gefallen genossen und sie von Tag zu Tag mehr mit seiner Liebe entzündet hat. O! wenn ich mir denke, wie sie die schwellenden Segel ihres geliebten Flüchtlings auf offner See erblickt, wie über alle Maßen elend erscheint sie mir da! Denke ich aber an ihr Ende, so halte ich sie für weniger beklagenswert. Gewiß empfand ich bei Panfilos Trennung einen ebenso heftigen Schmerz als Dido bei Äneas' Flucht, aber mir war die Erlösung durch den schnellen Tod versagt, der sie aller ihrer Leiden enthob.

Es erschien mir auch die trauernde Hero in ihrem tiefen Jammer. Mir war, als sähe ich sie, wie sie von ihrem hohen Turm an das Meeresufer herabsteigt, um den kühnen Leander in ihren Armen aufzunehmen, und wie sie nun mit dem Schrei des heftigsten Jammers den toten Geliebten erblickt, der von den Wellen ans Ufer gespült nackt auf dem Meeresstrande liegt. Mit ihrem Gewand trocknet sie von seinem bleichen Gesicht das salzige Meerwasser und badet ihn mit ihren Tränen. Ach! wie erfüllt mich dieses Bild mit so unendlichem Mitleid! Ja! ihr Schicksal rührte mich tiefer als das aller übrigen Frauen, und sooft ich meines eigenen Schmerzes auf Augenblicke vergaß, habe ich den ihren beweint. Doch ich erkannte, daß sie zwei Mittel besäße, Trost zu finden: sterben oder den Toten vergessen. Eines von diesen ergreifen hieß ihren Schmerz endigen. Ein unwiederbringlicher, ganz hoffnungsloser Verlust kann das Herz zwar heftig, aber nicht lange betrüben.

Doch die Götter verhüten, daß mir solches je widerfahre! Für mich bliebe in solchem Falle kein anderer Rat als sterben. Mögen die Götter das Leben meines Geliebten so sehr verlängern, als er selbst es wünscht! Aber solange er unter den Lebenden ist, so lange kann meine Hoffnung nicht sterben. Sehe ich nicht alles Irdische in ewiger Bewegung und Abwechslung? Und muß dies nicht in mir den Glauben wachhalten, daß er einmal zu mir zurückkehren wird, wie er ehemals bei mir war? Gleichwohl breitet diese unerfüllte Hoffnung über mein ganzes Leben die schwerste Trauer und Unruhe, und so kann ich wohl behaupten, daß ich mehr leide als alle andern. Ich habe französische Romane gelesen, in denen, wenn man ihnen Glauben beimessen darf, Tristan und Isolde als das zärtlichste und treueste Liebespaar dargestellt sind. Sie haben, so liest man da, ihre jungen Jahre in Freude und im Schmerz der Sehnsucht hingebracht, und damit sie, die sich so innig liebten, vereinigt würden, haben sie freiwillig die irdischen Freuden verlassen, nicht ohne großen Schmerz, wie es scheint. Freilich kann man verstehen, daß sie diese Welt mit großem Weh verlassen mußten, wenn sie glaubten, daß sie ihre Freuden im Jenseits nicht wiederfinden würden. Hatten sie aber im Gegenteil die Überzeugung, daß sie ihnen dort ebenso blühen würden wie hier, so muß das Sterben freudevoll gewesen sein und der Tod leicht, der vielen hart und voller Angst, mir nur ein Freund zu sein scheint. Und wie kann jemand behaupten, daß etwas schmerzhaft sei, was er nie erfahren hat? Gewiß niemand; wie, daß etwas schwer sei, was nur einmal und in solcher Schnelligkeit geschieht?

So endigten Isolde und Tristan in einem Augenblick ihre Freuden und ihre Schmerzen. Mir aber ist eine lange Zeit in Leiden hingegangen, die die genossenen Freuden ohne Zweifel überwiegen. Zu der Reihe der unglücklich Liebenden gesellt sich auch Phädra, die durch ihre mißleitete Wut Ursache an dem schrecklichen Tod dessen wurde, den sie mehr als sich selbst liebte. Was in ihr vorging, weiß ich nicht, aber das weiß ich, daß mich von solchem Verbrechen nichts anders als ein schneller Tod hätte reinigen können. Doch da sie, wie man weiß, noch, das Leben ertrug, so hatte sie gewiß den Geliebten vergessen, wie man die Toten, die unwiederbringlich sind, zu vergessen pflegt. Ähnlich wie ihr erging es der Laodemia, Deiphile, Argia, Evadne, der Deianira und mehreren anderen, die entweder durch den Tod oder durch ein unvermeidliches Vergessen von ihrem tiefen Leide geheilt wurden. Und also blieb ich einzig in meinem Schmerz. Was kann die Flamme oder der glühende Stahl oder das geschmolzene Metall schaden, wenn der Finger es schnell berührt und ebensoschnell wieder verläßt? Sehr viel gewiß; aber nichts im Vergleich damit, wenn der ganze Körper lange Zeit in der Glut verweilen muß. Alle, deren Leiden ich eben geschildert, berührte der Schmerz nur flüchtig wie den Finger am Metall, ich aber bin ihm ganz und gar ausgesetzt.

Aber nicht allein die Qualen der Liebenden, auch andere Wunden, die das Schicksal geschlagen, schienen mir der Betrachtung und der Tränen wert; wenn es wahr ist, daß glücklich sein nur eine Abstufung des höchsten Unglücks ist. Unter die vom Schicksal hart Verfolgten gehören vor allem Jocaste, Hecuba, Sophonisbe, Cornelia und Cleopatra. O! von welchem Elend, fähig auch den stärksten Mut zu erschüttern, finden wir Jocasten ihr Leben hindurch verfolgt! Als zarte Jungfrau ward sie mit Laius, König von Theben, verheiratet und mußte die erste Frucht ihres Leibes den wilden Tieren zur Speise aussetzen, um von dem unglücklichen Vater abzuwenden, was die Gestirne ihm doch unabwendbar bereitet hatten. O welch unendlichen Schmerz muß sie als Mutter und Königin dabei gefühlt haben! Durch die Vollstrecker ihres Willens von dem Tode ihres unglücklichen Kindes überzeugt, ward ihr Gemahl nach Verlauf der Zeit von ebendem, den sie geboren hatte, elendiglich getötet; sie selbst aber ward die Gattin des unbekannten Sohnes und gebar ihm vier Kinder. Und so sah sie sich mit einem Male als Gattin und Mutter eines Vatermörders und erkannte in ihrem Gemahl ihren Sohn, nachdem er sich selbst der Augen und des Königreichs beraubt und damit seine Schuld kundgetan hatte.

Wer sich in ihre Lage versetzen kann, der wird fühlen, wie unendlich sie, die, schon dem Alter nahe, der Ruhe und des Seelenfriedens mehr bedurfte, bei solchem Geschick leiden mußte. Aber die noch nicht mit ihr versöhnten Götter bereiteten ihr der Qualen noch mehr. Nach einem zwischen ihren Söhnen abgeschlossenen Vertrag sollten sie sich in die Zeit der Regierung teilen. Was geschah in Wirklichkeit? Sie wurde von dem treulosen Bruder in die Stadt eingeschlossen, ein großer Teil Griechenlands unter sieben Könige verteilt, nach vielen Schlachten und Feuersbrünsten töteten ihre beiden Söhne einander, die Regierung fiel einem Fremden anheim, und ihr Sohn und Gemahl wurde verjagt. Sie sah die alten Mauern ihrer Erbstadt fallen, die einst von Amphion durch den Schall seiner Laute erbaut waren. Ihr Reich wurde zerstört, und als sie selbst ihr Leben endigte, ließ sie ihre Töchter einem vielleicht schimpflichen Leben als Beute zurück. Sagt, was konnten Götter, Welt und Schicksal mehr gegen diese Unselige tun? Alle Qualen waren erschöpft, und ich glaube, daß selbst in der Hölle nicht größeres Elend zu finden ist. Sie hat jeden Schmerz und auch jede Schuld erfahren. Und keiner wird sein, der sagt, daß meine Leiden diesen verglichen werden könnten; auch ich nicht, wenn mein Schmerz nicht der Schmerz der Liebe wäre.

Aber wer darf leugnen, daß Jocaste, wenn sie wußte, daß ihr Haus und ihr Gemahl der Götter Zorn verdienten, nicht alles für wohlverdient und gerecht erkennen mußte, was ihr begegnete? Gewiß mußte sie es, wenn sie weise war. Aber sie war töricht, und da ihr diese Erkenntnis mangelte, so fühlte sie auch ihr Unglück weniger, und ihr Schmerz war geringer. Wurde ihr aber die Gerechtigkeit ihres Schicksals bewußt, so mußte sie es ohne Unmut und gelassen ertragen.

Ich aber habe nie etwas verbrochen, was den gerechten Zorn der Götter hätte auf mich laden können oder müssen. Immer habe ich die Götter geehrt und durch Gebete und Opfer nach ihrer Gunst gestrebt, auch nie sie verachtet, wie einst die Thebaner getan. ›Aber‹, höre ich eine Stimme sagen, ›wie darfst du behaupten, daß du nicht jede Strafe verdient und viel verschuldet hast? Hast du nicht die heiligsten Gesetze übertreten und mit dem verbrecherischen Jüngling die eheliche Treue verletzt?‹

Ja, ich tat es; aber bedenkt, daß dies die einzige Schuld meines ganzen Lebens ist, durch die ich unmöglich so große Strafe verdienen kann. Erwägt, daß ich als zarte Jungfrau der Gewalt nicht widerstehen konnte, durch die selbst Götter und Heroen besiegt wurden. Auch bin ich nicht die erste, nicht die letzte und nicht die einzige. Beinahe die ganze Welt teilt mein Vergehen, und Sünden gegen die Gesetze, die ich verletzte, pflegt die Menschheit zu verzeihen. Auch deckt ein dichter Schleier meine Schuld, weshalb die Rache um vieles gemildert werden müßte. Sollten aber die Götter mit Recht gegen mich erzürnt sein und mein Verbrechen rächend heimsuchen wollen, müßten sie dann nicht ihre Blitze auf den schleudern, der meine Schuld veranlaßte und teilte? Ich weiß nicht, was mich zur Übertretung der heiligen Gesetze verführte, ob des Liebesgottes oder des Geliebten Göttlichkeit; durch wen es auch geschehen ist, beide hatten die größte Gewalt in Händen, mich auf die schmerzhafteste Art zu quälen; dies war also nicht eine Folge der begangenen Schuld, sondern ein eigener, selbständiger, überaus peinigender Schmerz. Soll ich ihn aber dennoch als den verdienten Lohn meiner Schuld betrachten, so würden die Götter gegen ihr gerechtes Urteil und ihre gewohnte Handlungsweise verfahren. Sie würden die Strafe nicht nach der Schuld abmessen; denn wer Jocastens Schuld und Strafe mit meiner eigenen vergleicht, der muß bekennen, sie sei zu gelinde bestraft und ich zu hart. ›Wie,‹ höre ich sagen, ›sie verlor ein Königreich, die Kinder, den Gemahl und endlich das eigene Leben und du nur den Geliebten allein?‹ Ja, aber dieser Geliebte war mir alles, mit ihm verlor ich jede Art von Glückseligkeit, und was in den Augen der Menschen für Glück gehalten wird, gewährt mir gerade das Gegenteil. Alles, Gemahl, Reichtümer, Stand, Verwandte und andere Dinge sind mir nur drückende Lasten und meinem Wunsch entgegen. Hätte ich sie verloren wie meinen Geliebten, so wäre mir zur Erreichung meiner Sehnsucht freie Bahn geblieben; ich hätte sie betreten, und wenn mich auch ein Zufall vom Ziel zurückgedrängt hätte, so standen tausend Wege offen, der Qual durch einen schnellen Tod zu entgehen. So aber bestätigt es nur meine Behauptung, daß alle Pein der andern nicht an meine heranreicht. [...] " (7. Buch)

Eine eindrucksvolle Demonstration dafür, wie die Perspektive einen vom neutralen Standpunkt betrachteten Vorgang verzerren kann, und dafür, wie ein Bericht aus der Perspektive einer Frau ganz von der Perspektive des männlichen Autors geprägt sein kann. 


05 Juni 2021

Literarische Frauengestalten aus moderner Sicht

 Griseldis - Eine arme Bauerntochter wird von einem Grafen geheiratet und dann von ihm einer dreizehnjährigen Prüfung unterworfen, ob sie sich von ihm wirklich alles gefallen lässt. 

Nacheinander fordert er von ihr zweimal das gemeinsame Kind, um es zu töten. Vergleichbar mit der Forderung des alttestamentarischen Gottes an Abraham, ihm seinen Sohn Isaak zu opfern. Hier fehlt aber jeder religiöse Bezug. Der Graf fordert bedingungslose Unterwerfung unter seinen Willen als Vorbedingung für die Ehe schon am Anfang, als sie sich öffentlich nackt auszuziehen hat, dann verteilt über 13 Jahre, in denen sie ihm offenbar stets zu willen gewesen ist, drei grausame Prüfungen. Am Ende der 13 Jahre verstößt er sie, weil sie seinen Anforderungen nicht gerecht geworden sei, und verlangt zum Überfluss noch, dass die die Hochzeit seiner neuen Frau vorbereiten solle. Es reicht nicht, dass sie sich widerspruchslos fügt, sie gratuliert ihm sogar zu seiner neuen Frau, die besser zu ihm passe als sie, Griseldis. 

In seiner Forderung nach sklavischem freiwilligen und gutwilligen Gehorsam gegenüber Forderungen äußerster Grausamkeit kann man von heute aus gesehen nur einen Triebtäter erkennen, der die äußerste Erniedrigung seiner Frau verlangt, um sich zu ihrem absoluten Herrn zu machen. - Männerphantasie: Für meine Frau will ich der Gott sein.

Während in der Ältesten überlieferten Fassung der Sage (einer Novelle von Boccaccio) das Verhalten des Grafen von seiner Umgebung zumindest noch stark kritisiert wird, steht in der lateinischen Version von Petrarca einzig das als bewundernswert gewertete Dulden der Griseldis im Mittelpunkt.

Sehr anregend erscheinen mir die Schilderungen der Frauengestalten Fontanes in Burkhard  Spinnens: Und alles ohne Liebe vor allem für die Behandlung als Schullektüre. 

Rigoros reißt er sie aus ihrem historischen Kontext und kritisiert an diesen "zeitlosen Heldinnen" eines "universellen Alltags", dass sie sich zu sehr auf den richtigen Mann als Voraussetzung für das Lebensglück konzentrieren oder gar wie die Töchter Poggenpuhl gar nicht erst den Versuch machen, sich aus dem Familienzusammenhang zu lösen.

Sophie Poggenpohl, "taff", wie sie sei, hätte sich doch einen Broterwerb suchen sollen. Das klingt ganz, als hätte er sich gewünscht, sie hätte Journalistin, Moderatorin oder Influencerin werden sollen. Für die unterrichtliche Behandlung scheinen mir solche Anregungen fruchtbar, auch wenn ich selbst das überzeitlich Gültige an Fontanes Gestalten nicht darin suchen würde, ob sie auch heutigen Frauenrollen mit den zeittypischen Doppelbelastungen  gerecht werden würden.