Durch
das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren
Genuß er sich für alle das Unangenehme in seiner wirklichen Welt
einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts
als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte oder er
sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem
Buche. So ward er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine
unnatürliche idealistische Welt verdrängt, wo sein Geist für
tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller
Seele genießen können. […]
An
dem Tage vor der beschloßnen Amputation kam ein mitleidiger Schuster
zu Antons Mutter und brachte ihr eine Salbe, durch deren Gebrauch
sich die Geschwulst und Entzündung im Fuße während wenigen Stunden
legte. Zum Fußabnehmen kam es nun nicht, aber der Schaden dauerte
demohngeachtet vier Jahre lang, ehe er geheilt werden konnte, in
welcher Zeit unser Anton wiederum unter oft unsäglichen Schmerzen
alle Freuden der Kindheit entbehren mußte. Bei diesem Schaden konnte
er zuweilen ein ganzes Vierteljahr nicht aus dem Hause gehen, nachdem
er eine Weile zuheilte und immer wieder
aufbrach.Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen können.Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen können. […]
Dies
entfernte ihn natürlicherweise noch mehr aus der Welt und von dem
Umgange mit seinesgleichen und fesselte ihn immer mehr an das Lesen
und an die Bücher. Am häufigsten las er, wenn er seinen jüngern
Bruder wiegte, und wann es ihm damals an einem Buche fehlte, so war
es, als wenn es ihm itzt an einem Freunde fehlt: denn das Buch mußte
ihm Freund und Tröster und alles sein. […]Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an; daher schrieb sich ganz natürlich während seiner Schuljahre die Wut, Komödien zu lesen und zu sehen. – Durch jedes fremde Schicksal fühlte er sich gleichsam sich selbst entrissen und fand nun in andern erst die Lebensflamme wieder, die in ihm selber durch den Druck von außen beinahe erloschen war.
Es war also kein echter Beruf, kein reiner Darstellungstrieb, der ihn anzog: denn ihm lag mehr daran, die Szenen des Lebens in sich als außer sich darzu stellen. Er wollte für sich das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert.
Um seinetwillen wollte er die Lebensszenen spielen – sie zogen ihn nur an, weil er sich selbst darin gefiel, nicht weil an ihrer treuen Darstellung ihm alles lag. – Er täuschte sich selbst, indem er das für echten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufälligen Umständen seines Lebens gegründet war. – Und diese Täuschung, wie viele Leiden hat sie ihm verursacht, wie viele Freuden ihm geraubt!
Hätte er damals das sichere Kennzeichen schon empfunden und gewußt, daß, wer nicht über der Kunst sich selbst vergißt, zum Künstler nicht geboren sei, wie manche vergebene Anstrengung, wie manchen verlornen Kummer hätte ihm dies erspart!
Allein sein Schicksal war nun einmal von Kindheit an, die Leiden der Einbildungskraft zu dulden, zwischen welcher und seinem würklichen Zustande ein immerwährender Mißlaut herrschte, und die sich für jeden schönen Traum nachher mit bittern Qualen rächte.
K.Ph. Moritz: Anton Reiser, 4. Teil, S.357
Anton Reiser fasziniert mich durch seine Verbindung von intensiver pietistisch angeleiteter Selbstbetrachtung und recht genauer Milieuschilderung.
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