31 Mai 2016

Auftritt Don Fernandos und Auflösung seiner Liebeshändel

Don Fernando, den wir bisher nur aus den Erzählungen Cardenios und Dorotheas kennen, tritt in die Geschichte ein.


Indem rief der Wirt, der in der Tür der Schenke stand: »Da kömmt ein schöner Trupp von Gästen gezogen, wenn die hier einkehren wollen, so können wir gaudeamus rufen!«
»Was sind es für Leute?« fragte Cardenio.
»Vier Männer«, antwortete der Wirt, »reiten zu Pferde und mit kurzen Bügeln, sie führen Lanze und Schild, und alle haben schwarze Masken vor; mit ihnen kömmt ein Frauenzimmer, weiß gekleidet, die auf einem Damensattel sitzt, auch ihr Gesicht ist verhüllt, und dann folgen noch zwei Burschen zu Fuß.«
»Sind sie schon nahe?« fragte der Pfarrer.
»So nahe«, antwortete der Wirt, »daß sie schon da sind.«
Als Dorothea das hörte, bedeckte sie ihr Gesicht, und Cardenio ging in Don Quixotes Gemach; sie hatten dies kaum getan, als alle diejenigen in die Schenke hereintraten, die der Wirt beschrieben hatte; die vier Ritter, die ein sehr feines Ansehen hatten, stiegen ab und hoben dann die Dame vom Sattel herunter; einer von ihnen empfing sie in den Armen und führte sie zu einem Sessel, der vor dem Gemache stand, in das sich Cardenio zurückgezogen hatte. In dieser ganzen Zeit nahm keiner von ihnen allen die Maske ab, auch sprach keiner ein Wort; nur die Dame, die sich in den Sessel gesetzt hatte, stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ die Arme niedersinken, wie jemand, der sich krank und ohnmächtig fühlt. Die Burschen, die zu Fuß folgten, brachten indes die Pferde in den Stall. Der Pfarrer, der dies sah und gern wissen wollte, wer die Leute wären, die in diesem Aufzuge und so stillschweigend reisten, ging den Burschen nach und befragte den einen um das, was er gern erfahren hätte, der ihm folgende Antwort gab: »Mein' Seel', Herr, ich kann Euch nicht sagen, wer die Leute sind, nur das weiß ich wohl, daß sie vornehm sind, besonders der eine, der die Dame, wie Ihr gesehen habt, in die Arme nahm; ich glaube es deshalb, weil ihm die andern große Achtung erweisen und auch alles nach seinen Befehlen geschieht.«
»Und wer ist denn die Dame?« fragte der Pfarrer.
»Das kann ich ebensowenig sagen«, antwortete der Bursche, »denn ich habe noch auf der ganzen Reise ihr Gesicht nicht gesehen; nur höre ich sie oft seufzen und so ächzen, als wenn sie mit jedem Seufzer den Geist aufgeben wollte; es ist auch kein Wunder, daß wir so gar nichts von ihnen wissen, denn mein Kamerad und ich, wir sind nur erst seit zwei Tagen in ihrer Gesellschaft, wir sind ihnen unterweges begegnet, und sie haben uns zugeredet, mit ihnen bis nach Andalusien zu gehen, wofür sie uns gut bezahlen wollen.«
»Und habt Ihr den Namen von keinem unter ihnen gehört?« fragte der Pfarrer.
»Durchaus nicht«, antwortete der Bursche, »denn sie reisen alle in solcher Stille, daß es zum Erstaunen ist, denn man hört keinen andern Laut als das Seufzen und Schluchzen der armen Dame, das uns zum Mitleiden bewegt; ich glaube auch, daß sie nur mit Zwang dahin geht, wohin sie soll, und soviel ich aus ihrem Anzuge schließen kann, ist sie eine Nonne oder soll es noch werden, was mir wahrscheinlicher vorkömmt; und vielleicht entsteht ihre Traurigkeit eben daher, weil ihr das Nonnenwerden nicht sonderlich ansteht.«
»Das ist alles wohl möglich«, sagte der Pfarrer und verließ sie, indem er sich wieder dahin verfügte, wo sich Dorothea befand. Diese, die auch das Seufzen der Verschleierten gehört hatte, von natürlichem Mitleiden angetrieben, ging zu ihr und fragte sie: »Was ist Euch, Señora, fehlt Euch etwas, worin Euch die Erfahrung eines Weibes behülflich sein kann, so biete ich hiermit meinen besten Willen zu Euren Diensten an.«
Die betrübte Dame antwortete hierauf nicht, und obgleich Dorothea noch größere Höflichkeiten hinzufügte, so brach sie doch nicht ihr Schweigen, bis sich jener maskierte Ritter nahte, von dem der Bursche erzählt hatte, daß ihm die übrigen gehorchten, und zu Dorothea sagte: »Bemüht Euch nicht damit, meine Dame, diesem Frauenzimmer irgend Artigkeiten zu erweisen, denn es ist ihre Gewohnheit, Freundschaft mit Unerkenntlichkeit zu vergelten, bewegt sie auch nicht zu antworten, wenn Ihr nicht eine Lüge aus ihrem Munde hören wollt.«
»Nie hab ich eine gesprochen«, rief sogleich die, die bisher geschwiegen hatte, »sondern vielmehr weil ich zu aufrichtig und ohne lügenhafte List lebe, befinde ich mich in meinem gegenwärtigen Unglück, und das müßt Ihr selbst bezeugen, denn meine reine Wahrhaftigkeit hat Euch falsch und zum Lügner gemacht.« 
 Cardenio hörte diese Worte deutlich und vernehmlich, weil er sich der Sprechenden ganz nahe befand, denn nur durch die Tür von Don Quixotes Gemach war er von ihr gesondert, und sowie er sie hörte, rief er mit überlauter Stimme: »Heiliger Gott! Was hör ich? Welche Stimme dringt in meine Ohren?«
Auf dieses Geschrei drehte sich die Dame mit Entsetzen um, und da sie niemanden sah, stand sie auf, um in das Gemach hineinzugehen; kaum aber hatte der Ritter dies bemerkt, als er sie zurückhielt, daß sie sich nicht von der Stelle bewegen konnte. Sie, verwirrt und erschrocken, wie sie war, ließ den seidenen Schleier fallen, der ihr Gesicht bedeckte, und entdeckte dadurch eine unvergleichliche Schönheit und ein wunderwürdiges Antlitz, obgleich blaß und mit verzückten Mienen, denn sie rollte in der schnellsten Bewegung ihre Augen nach allen Seiten umher, daß man sie für eine Wahnsinnige halten mußte, wodurch Dorothea sowie die übrigen, die zugegen waren, innig gerührt wurden. Mit aller Kraft hielt sie der Ritter bei den Schultern zurück, und da er so beschäftigt war, konnte er seine Maske nicht halten, die herabzufallen drohte und die nun auch wirklich auf die Erde fiel; und indem Dorothea, die die Dame umfaßt hielt, die Augen aufschlug, sah sie, daß der Ritter, der sie ebenfalls umfaßte, ihr Gemahl Don Fernando war, und kaum hatte sie ihn erkannt, so stieß sie aus ihrer innersten Brust ein langes und herzdurchdringendes Ach! und fiel hinterrücks ohnmächtig nieder, so daß sie auf den Boden gestürzt wäre, wenn der Barbier, der daneben stand, sie nicht in seinen Armen aufgefaßt hätte.
Der Pfarrer lief sogleich hinzu und nahm ihr die Maske ab, um ihr Wasser in das Gesicht zu spritzen, und in demselben Augenblicke erkannte sie auch Don Fernando, der die andere Dame in seinen Armen hielt, und wäre fast gestorben, als er sie sah, doch ließ er deswegen Luzinden nicht los, die sich aus seinen Armen zu wickeln strebte, denn sie hatte Cardenio an der Stimme, wie er sie, erkannt. Zugleich vernahm Cardenio den Ausruf, den Dorothea ausstieß, als sie ohnmächtig niedersank, und glaubte, daß es seine Luzinde sei; er brach also mit Entsetzen aus dem Gemach, und das erste, was er erblickte, war Don Fernando, der Luzinden in den Armen hielt. Auch Don Fernando erkannte sogleich Cardenio, und alle drei, Luzinde, Cardenio und Dorothea, standen stumm und erstaunt, als wenn sie sich nicht besinnen könnten, was ihnen begegnet sei. Alle schwiegen, und alle schauten sich an, Dorothea den Don Fernando, Don Fernando den Cardenio, Cardenio Luzinden und Luzinde den Cardenio; wer aber zuerst das Schweigen brach, war Luzinde, die so zu Don Fernando redete: »Laßt mich los, Don Fernando, um dessentwillen, was Ihr Euch selber schuldig seid, wenn Ihr es auch aus keiner andern Rücksicht tun wollt, daß ich mich um die Mauer schlinge, deren Efeu ich bin und von der mich sowenig Eure Bewerbung wie Drohungen, Versprechungen und Geschenke losreißen konnten; seht, wie mich der Himmel auf wunderbaren und unbekannten Wegen zu meinem wahren Gemahl geführt hat; und Ihr wißt ja durch tausend teure Erfahrungen, daß nur der Tod allein imstande ist, ihn aus meinem Gedächtnisse zu vertilgen; dies wiederhole ich jetzt noch einmal, damit Ihr – wenn Ihr nicht anders könnt – Eure Liebe in Wut, Eure Zuneigung in Haß verwandelt und mir so das Leben nehmt, das ich doch nicht für verloren achte, wenn ich es hier vor meinem teuren Gemahl aufopfre; dann überzeugt ihn wohl mein Tod von der Treue, die ich ihm bis zum letzten Atemzuge meines Lebens bewahrt habe.«
Dorothea war indessen zu sich gekommen und hatte alles gehört, was Luzinde sagte; daraus erfuhr sie, wer sie sei, und da sie sah, daß Don Fernando sie immer noch nicht aus seinen Armen ließ, ihr auch nicht antwortete, nahm sie alle ihre Kraft zusammen, stand auf und kniete vor seinen Füßen nieder, und unter Vergießung vieler schönen und rührenden Tränen fing sie also an zu reden: »Wenn nicht, mein Gebieter, die Strahlen der Sonne, die du verdunkelt in deinen Armen hältst, deinen Augen alles Licht geraubt haben, so hast du schon gesehen, daß diejenige, die jetzt zu deinen Füßen kniet, die unglückliche Dorothea ist, die elend bleiben wird, solange du es beschließest. Ich bin jenes demütige Landmädchen, die du durch deine Güte oder Liebe so hoch emporheben wolltest, daß sie sich die Deinige nennen dürfte; ich bin die, die von den Grenzen der Sittsamkeit beschränkt, ein zufriedenes Leben lebte, bis sie auf deine ungestüme Bitten und auf deine ernsthaft scheinende Liebe die Tore ihrer Einsamkeit öffnete und dir die Schlüssel ihrer Freiheit übergab: ein Geschenk, das du schlecht erkanntest, wie man deutlich sehen kann, da ich gezwungen bin, daß du mich hier findest, wo du mich fandest, daß ich dich so wiedersehe, wie ich dich wiedersehe, aber darum muß der Gedanke nicht in deine Seele kommen, daß mich meine Unehre hierher geführt, nein, nur der Schmerz, mich von dir vergessen zu sehen, hat mich so weit gebracht. Du wolltest, ich sollte die Deinige sein, und wolltest es so, daß, wenn du es nun auch nicht mehr willst, du dennoch immer der Meinige bleiben mußt; erwäge, mein Geliebter, daß für die Schönheit und den Adel, um derentwillen du mich verlässest, meine innigste Liebe dir ein Ersatz ist; du kannst der schönen Luzinde nicht angehören, denn du bist mein, sie kann nicht dein werden, denn sie gehört dem Cardenio; wie viel ist es also leichter, deine Zuneigung zu der zurückzuführen, die dir mit Liebe entgegenkommt, als diejenige, die dich haßt, so umzuwandeln, daß sie dich lieben könnte. Ich lebte eingezogen und du warbest um mich, du flehtest mich an, die ich tugendhaft war, dir war nicht unbekannt, wer ich sei, du weißt wohl, auf welche Weise ich mich gänzlich deinem Willen ergab, so daß dir keine Ausrede irgendeines Irrtumes übrigbleibt; wenn dem nun so ist, wie du nicht leugnen kannst, und du ebenso Christ wie Ritter bist, warum zögerst du nun auf so weiten Umwegen, mich am Schluß so glücklich zu machen, wie du es im Beginnen tatest? Willst du mich aber nicht zu dem machen, was ich bin, nämlich deine wahrhaftige und rechtmäßige Gemahlin, so nimm mich wenigstens zu deiner Sklavin an, denn wenn ich dir nur angehöre, bin ich zufrieden und beglückt; nicht dulde es, daß ich so verlassen und einsam sei, daß, mich zu entehren, Spott und Hohn über mich ausgeschüttet werde; du darfst meinen Eltern kein so unglückseliges Alter zubereiten, denn das verdient die Treue nicht, die sie dir immer als wackere Untertanen gezeigt haben; meinst du aber, daß du dein Blut durch die Verbindung mit mir entehrst, so bedenke, daß es vielleicht keinen Adel in der Welt gibt, der unvermischt geblieben, auch daß die Frauen keiner adeligen Familie Unehre bringen können, um so mehr, da der wahre Adel in der Tugend besteht, und wenn diese dir fehlt, indem du mir das versagst, was mir mit allem Rechte gebührt, so fühle ich mich edler, als du es jemals werden kannst. Alles, was ich dir, Señor, sagen kann, ist, daß ich deine Gemahlin bin, du magst es wollen oder nicht, dies bezeugt dein Wort, das nicht falsch sein kann noch darf, wenn du nämlich jene Hoheit an dir schätzest, deren Mangel du an mir geringschätzest; der Schwur bezeugt es, den du mir gabst, der Himmel, den du zum Zeugen deiner Versprechungen anriefst; am meisten aber dein eigenes Bewußtsein, welches dich in jedem Vergnügen anreden und dir die Wahrheiten wiederholen wird, die ich gesagt habe, und dich so in jeder Freude, in jedweder Entzückung stören.«
Die gerührte Dorothea sagte dies und noch mehr mit solcher Empfindung und unter Vergießung so häufiger Tränen, daß selbst die Gefährten des Don Fernando sowie alle, die zugegen waren, auf das innigste bewegt wurden. Don Fernando hörte sie an, ohne ein Wort zu sagen, bis sie endlich schluchzend und mit herzlichen Seufzern ihre Rede beschloß, daß es ein ehernes Herz hätte sein müssen, das nicht von diesen heftigen Äußerungen des Schmerzes erschüttert wäre. Luzinde stand und betrachtete sie, von ihrem Unglück gerührt und über ihre Schönheit wie über ihren Verstand verwundert; sie wollte endlich zu ihr gehen, um ihr einige tröstende Worte zu sagen, aber Don Fernando ließ sie nicht, sondern hielt sie immer noch in seinen Armen eingeschlossen. Er, voller Verwirrung und Erstaunen, nachdem er lange Dorothea mit großer Aufmerksamkeit beschaut hatte, öffnete die Arme, ließ Luzinden fahren und rief: »Du hast gesiegt, schöne Dorothea, du hast gesiegt, denn kein Herz kann sich so vielen vereinigten Wahrheiten verschließen!« Die erschöpfte Luzinde, als sie von Don Fernandos Armen frei war, war im Begriff zu Boden zu fallen, aber Cardenio, der sich hinter Don Fernando gestellt hatte, damit jener ihn nicht kennen sollte, ließ nun alle Furcht fahren, indem er sich auf alles gefaßt machte, er nahm Luzinden in seine Arme und sprach: »Will dich der heilige Himmel von deinem Unglück erlösen, du meine rechtmäßige Gattin, du meine getreue und schöne Gebieterin, so sollst du nirgend so sicher ruhen als in diesen Armen, die dich jetzt aufnehmen, wie sie dich dann aufnehmen werden, wenn es das Glück mir vergönnt, dich völlig die Meinige zu nennen.«
Bei diesen Worten warf Luzinde ihre Augen auf Cardenio, und wie sie ihn erst an der Stimme erkannt hatte, so erkannte sie ihn jetzt völlig an seiner Gestalt, und ohne alle weitere Rücksicht schlug sie[329] nun die Arme um Cardenio, küßte ihn auf den Mund und rief: »Ja, Ihr seid mein Gebieter, der rechtmäßige Herr Euerer Dienerin, wenn sich das Schicksal auch noch härter widersetzen und diesem Leben, das an dem Eurigen hängt, noch grimmiger drohen sollte!«
Dieses war ein überraschendes Schauspiel für Don Fernando sowie für alle Gegenwärtigen, die sich über diese plötzliche Erkennung verwunderten. Dorothea bemerkte, wie Don Fernando die Farbe verlor und Miene machte, Cardenio anzufallen, denn er griff mit der Hand nach dem Degen, indem aber warf sie sich schon in der größten Schnelligkeit nieder und umfaßte seine Knie, die sie drückte und küßte, so daß er sich nicht regen konnte, und sagte unter tausend Tränen: »Was willst du bei diesem plötzlichen Vorfall, o du mein einziges Glück, unternehmen? Zu deinen Füßen liegt deine Gattin, und diejenige, die du erwählen willst, ist in den Armen ihres Gemahls; du kannst es nicht wollen, ja es ist dir unmöglich, das zu trennen, was der Himmel verbunden hat; wie kannst du diejenige zur Deinigen machen wollen, die, jedes Übel verschmähend, die Wahrheit ihrer Aussage bekräftigt und vor deinen Augen dasteht, Augen und Wangen naß von den Freudentränen ihres wahrhaftigen Gemahls? Um Gottes willen, um deinetwillen flehe ich dich an, laß dies nicht deinen Zorn in dir entflammen, sondern dulde vielmehr friedlich, daß diese beiden Liebenden sich so lange besitzen, als es ihnen der Himmel gönnt, und zeige hierin die Großmut deines hohen Herzens, damit die Welt gewahr werde, daß die Vernunft über dich mehr als die Leidenschaft vermöge.«
Indem Dorothea dieses sprach, verließ Cardenio, ob er gleich Luzinden umarmt hielt, den Don Fernando nicht mit den Augen, entschlossen, sobald er nur eine verdächtige Bewegung merkte, sich nach allen seinen Kräften zu verteidigen, falls ihm auch alle entgegen wären und wenn er selbst das Leben darüber verlöre. Aber die Freunde des Don Fernando kamen herbei, nebst dem Pfarrer und Barbier, die immer zugegen gewesen waren, selbst ohne Ausnahme des wackern Mannes Sancho Pansa, und alle umgaben den Don Fernando und baten ihn, auf Dorotheas Tränen zu achten und sie nicht in ihren gerechten Hoffnungen zu täuschen, wenn anders das wahr sei, was sie gesprochen habe, wie sie doch nicht zweifeln könnten; er möchte erwägen, daß es gewiß nicht Zufall, sondern eine besondere Schickung des Himmels sei, daß sie sich alle an einem Orte getroffen hätten, wo sie es am wenigsten vermuten konnten. Der Pfarrer fügte hinzu, daß er glauben möchte, Cardenio und Luzinde könnten nur durch den Tod geschieden werden, ja wenn sie selbst die Schneide des Schwertes trennte, so würden sie ihren Tod doch glücklich preisen; in Dingen, die sich nicht ändern ließen, sei es die größte Weisheit, sich selbst zu besiegen und ein edles Gemüt zu zeigen, daher solle er durch seinen freien Willen das Glück von beiden bestätigen, welches ihnen der Himmel schon gegönnt habe; zugleich möchte er die Augen auf die Schönheit der Dorothea wenden, mit der sich wenige oder wohl keine vergleichen dürften, viel weniger sie überträfen, mit ihrer Schönheit solle er ihre Demut und die zärtliche Liebe zu ihm erwägen; vorzüglich aber, daß er sich rühme, Ritter und Christ zu sein, und wie er deshalb sein gegebenes Wort erfüllen müsse, und wenn er es erfülle, habe er seine Pflicht gegen Gott erfüllt wie den Beifall aller edlen Menschen gewonnen, die es wohl einsehen, daß Schönheit auch im niedrigen Stande, wenn sie die Tugend zur Gefährtin hat, sich allerdings erheben dürfe und sich der Hoheit gleichstellen, ohne daß derjenige darunter litte, der sich erhebe und sich selber gleichmachte; und darüber, daß einer den heftigen Forderungen der Leidenschaft gehorche, wenn es keine Sünde sei, dürfe niemand getadelt werden.
Zu diesen Gründen fügten die übrigen noch andre und so dringende hinzu, daß die starke Brust des Don Fernando, mit edlem Blute erfüllt, endlich erweicht ward und sich von der Wahrheit besiegen ließ, die er nicht leugnen konnte, wenn er auch gewollt hätte. Zum Zeichen seiner Nachgebung umarmte er Dorothea und sagte: »Steht auf, meine Gebieterin, denn es ziemt sich nicht, daß die zu meinen Füßen[330] kniee, die ich in meiner Seele trage, wenn ich mich aber bis jetzt anders gezeigt habe, so geschah es vielleicht nach dem Willen des Himmels, damit ich sehen sollte, mit welcher Treue Ihr mich liebt, und ich Euch so schätzen mußte, wie Ihr es verdient; jetzt bitte ich Euch, mir mein bisheriges übles Betragen nicht zum Vorwurf zu machen, denn dieselbe Gewalt, die mich jetzt zwingt, Euch als die Meinige zu erkennen, hat mich bis hierher zurückgehalten, nicht der Eurige zu sein, und daß dieser Ausspruch Wahrheit sei, so betrachtet nur die Augen der vergnügten Luzinde, und Ihr werdet in ihnen die Entschuldigung aller meiner Fehler finden; da sie nun gefunden hat, was sie von Herzen wünschte, so wie ich Euch, mein höchstes Glück, gefunden habe, so mag sie auch sicher und vergnügt viele Jahre mit ihrem Cardenio leben, so lange, wie ich den Himmel auf meinen Knien bitten will, daß er mich an der Seite meiner Dorothea leben lasse.« Nach diesen Worten umarmte er sie von neuem und küßte sie mit so inniger Zärtlichkeit, daß er mit Gewalt die Tränen zurückhalten mußte, die beinah aus seinen Augen brachen, um seine Liebe und Reue unbezweifelt zu bezeugen. Cardenio und Luzinde aber taten sich diese Gewalt nicht an, ebensowenig die übrigen, die zugegen waren, sondern alle fingen an so zu weinen, jene über ihr Glück, diese vor Freuden darüber, daß es nicht anders schien, als ein großes Leid habe sie alle plötzlich betroffen; selbst Sancho Pansa weinte, ob er gleich nachher gestanden, daß er es nur darum getan habe, weil Dorothea nicht, wie er geglaubt, Königin des Mikomikonischen Reiches sei, von der er so große Belohnungen erwartet hatte.
Das Weinen und die Verwunderung währte bei allen einige Zeit, dann warfen sich Cardenio und Luzinde zu den Füßen Don Fernandos nieder und dankten ihm in so edlen Ausdrücken für seine Güte, daß Don Fernando nicht antworten konnte, sondern sie aufhob und mit der größten Liebe und Artigkeit umarmte.
Cervantes: Don Quijote, 1. Teil 4. Buch 5. Kapitel

22 Mai 2016

Dorothea erzählt die Geschichte, wie sie als Mikomikona ihr Mikomikonisches Reich verlor

Dorothea, die, verständig und witzig, auch schon mit Don Quixotes verschobenem Gemüte bekannt war und sah, daß alle, Sancho Pansa ausgenommen, ihren Spaß mit ihm trieben, wollte auch nicht zurückbleiben und sagte, da sie ihn so heftig erzürnt sah: »Herr Ritter, Ihr wollet Euch der Gabe erinnern, die Eure Gnade mir versprochen, vermöge welcher Verheißung Ihr Euch in kein anderes Abenteuer einlassen dürft, wenn Ihr auch noch so dringend aufgefordert werdet; darum beruhigt Euer tapferes Herz; denn hätte der Herr Lizentiat gewußt, daß durch diesen unüberwindlichen Arm die Ruderknechte wären befreit worden, so hätte er sich wohl lieber dreimal auf den Mund geschlagen, ja dreimal auf die Zunge gebissen, ehe er ein Wort gesprochen, was meines gnädigen Herrn Unwillen erweckt.«
»Das beschwöre ich«, sagte der Pfarrer, »ja ich hätte mir eher den Bart ausgerauft.«
»Ich will mich beruhigen, meine Gebieterin«, sprach Don Quixote, »den gerechten Zorn unterdrücken, der sich in meinem Herzen erhob, und ruhig und friedlich dahinziehen, bis ich Euch die versprochene Gabe gewährt habe; doch zur Belohnung dieses guten Vorsatzes bitte ich Euch demütigst, mir zu sagen, welches Eure Bekümmernis sei, ingleichen wie viele, welche und welcher Gestalt diejenigen Personen, an denen ich die verschuldete, genügende und vollkommene Rache zu nehmen habe.«
»Dieses will ich gern tun«, antwortete Dorothea, »wenn es Euch nicht verdrießlich fällt, traurige Begebenheiten und Unglück zu hören.«
»Niemals wird es mir verdrießlich fallen, meine Gebieterin«, antwortete Don Quixote.
Worauf Dorothea antwortete: »Wenn es sich so verhält, so wollt Ihr mir ein aufmerksames Gehör vergönnen.«
Als sie dies sagte, begaben sich Cardenio und der Barbier ihr zur Seite, neugierig, zu sehen, wie die kluge Dorothea ihre Geschichte ersinnen würde; das nämliche tat Sancho, der so betört wie sein Herr mit ihr zog; sie aber, nachdem sie sich im Sattel zurechtgesetzt, zur Vorbereitung gehustet und andere Bewegungen gemacht hatte, fing sehr zierlich ihren Vortrag auf folgende Weise an:
»So müßt Ihr also, geehrte Herren, zuvörderst wissen, daß ich genannt werde – – –« Hier hielt sie ein wenig inne; denn sie hatte den Namen, den der Herr Pfarrer ihr beigelegt, vergessen; er aber kam ihr sogleich zu Hülfe, weil er die Ursache ihrer Pause erriet, und sagte: »Es ist nicht zu verwundern, gnädige Dame, wenn Eure Hoheit bei der Erzählung Eures Unglücks in Verwirrung und Verlegenheit gerät; denn oft sind die Leiden so groß, daß auch das Gedächtnis derer, die ihnen unterliegen, darunter leidet, so daß die Betrübten sich oft selbst ihres Namens nicht erinnern können, wie es Eurer Durchlauchtigkeit widerfahren, die es in der Tat vergessen, daß sie die Prinzessin Mikomikona ist, rechtmäßige Thronerbin des großen Mikomikonischen Reichs; mit dieser kleinen Erinnerung kann Eure Hoheit nun leicht alles in ihr bekümmertes Gedächtnis zurückrufen, was dieselbe nur hat vortragen wollen.«
»So ist es«, antwortete die Jungfrau, »und ich glaube, daß ich nun ohne weitere Erinnerung mit Leichtigkeit meine wahrhafte Geschichte werde in Worte führen können; mein Vater nämlich, der Tinacrio der Wissende hieß, war ungemein in der Kunst der Magie erfahren und erfuhr durch seine Wissenschaft, daß meine Mutter, die Königin Xamarilla, früher sterben würde als er; daß er aber auch bald darauf das Leben verlassen und mich als vater- und mutterlose Waise zurücklassen müsse; doch bekümmerte ihn dieses nicht so sehr, wie er sagte, als er sich darüber ängstigte, daß er gewiß vorherwisse, wie ein ungefüger Riese, Beherrscher einer großen Insel, die dicht an unser Reich grenzte, und der Pandalifando mit dem schiefen Blicke genannt wurde: denn es ist wahr, daß ihm die Augen zwar gerade und gut stehen, er aber immer in die Quere sieht, als wenn er schielte, was er nur aus Bosheit tut, um die, welche er ansieht, in Furcht und Schrecken zu setzen. Er wußte also, daß dieser Riese kaum erfahren würde, ich sei eine Waise, als er auch schon mit einer großen Macht mein Reich überziehen und es mir ganz entreißen würde, ohne mir zu meinem Aufenthalte auch nur einen kleinen Flecken übrigzulassen; daß ich aber diesem Unglücke entweichen könne, wenn ich mich bequemte, ihn zu heiraten; aber er wußte auch recht gut, daß mir eine solche ungleiche Vermählung niemals in den Sinn kommen würde, und darin hatte er recht; denn es ist mir niemals eingefallen, mich mit diesem oder einem andern Riesen zu verheiraten, wenn er auch noch so groß und ungeheuer wäre; mein Vater sagte mir aber auch zugleich, daß, wenn er tot sei und Pandalifando Miene mache, mein Reich zu überziehen, ich mich nicht verteidigen sollte – denn dieses würde nur zu meinem Untergange gereichen –, sondern daß ich ihm mein Königreich ohne Widerstand überlassen möchte, wenn ich den Tod und das Verderben meiner braven und getreuen Untertanen vermeiden wolle; denn es sei mir unmöglich, mich gegen die Teufelskräfte des Riesen zu verteidigen; daß ich mich aber mit einigen Gefährten sogleich auf den Weg nach Hispania machen solle, denn dort sei meine Hülfe anzutreffen, ich würde nämlich hier einen irrenden Ritter finden, dessen Ruhm sich um diese Zeit schon durch das ganze Land verbreitet hätte und der, wenn ich mich recht erinnere, Don Glühpfote oder Don Kühschoote heißen sollte.«

»Don Quixote wird er gesagt haben, Dame«, fiel hier Sancho Pansa ein, »oder mit seinem zweiten Namen, der Ritter von der traurigen Gestalt.«
»So ist es auch«, sagte Dorothea. »Er sagte mir ferner, daß er groß von Körper sei, von dürrem Antlitz und daß er auf der rechten Seite unter der linken Schulter oder dort herum ein braunes Mal habe, mit einigen borstenähnlichen Haaren.«
Als Don Quixote dies vernahm, sagte er zu seinem Stallmeister: »Hierher, Sohn Sancho, hilf mich entkleiden, damit ich sehe, ob ich der Ritter sei, von dem der weise König prophezeit hat.«
»Warum will sich mein Herr entkleiden?« fragte Dorothea.
»Um zu sehen, ob ich das Mal besitze, von dem Euer Vater gesprochen«, antwortete Don Quixote.
»Es ist nicht nötig, Euch auszukleiden«, sprach Sancho, »denn ich weiß, daß Ihr mitten auf dem Rücken ein solches Mal habt, welches einen tapfern Menschen bezeichnet.«
»Dies ist hinreichend«, sprach Dorothea, »denn Freunde müssen nicht auf Kleinigkeiten achten; ob es nun auf der Schulter oder auf dem Rücken ist, das hat nichts zu sagen, genug, daß sich dort herum das Mal findet: denn alles ist doch ein Fleisch; und gewiß hat mein guter Vater alles richtig getroffen; ich aber ebenso richtig, indem ich mich dem Herrn Don Quixote empfohlen habe, der derselbe ist, von dem mein Vater gesprochen, denn die Anzeigen des Gesichts treffen mit dem großen Rufe vollkommen überein, den dieser Ritter nicht nur in Spanien, sondern auch in der ganzen la Mancha erlangt hat. Denn kaum war ich bei Ossuna ans Land gestiegen, als ich so viel von seinen Unternehmungen erzählen hörte, daß mir mein Geist augenblicklich sagte, er sei derselbe, den ich zu suchen gekommen.«
»Wie seid Ihr aber zu Ossuna ans Land gestiegen, meine Dame«, fragte Don Quixote, »da es doch kein Seehafen ist?«
Ehe aber noch Dorothea antworten konnte, nahm der Pfarrer das Wort und sagte: »Die durchlauchtige Prinzessin muß es wohl so meinen, daß, nachdem sie zu Malaga ans Land gestiegen, Ossuna der erste Ort gewesen, wo sie den Ruf von Euer Gnaden vernommen.«
»Das habe ich sagen wollen«, sagte Dorothea.
»Und somit fahre nun«, sagte der Pfarrer, »Eure Majestät fort, Dero Geschichte zu beendigen.«
»Es ist nichts weiter zu beendigen«, antwortete Dorothea, »als daß mein Schicksal mir endlich so günstig gewesen, daß ich den gnädigen Herrn Don Quixote gefunden und daß ich mich nun schon wieder für die Königin und Beherrscherin meines Reichs ansehe; denn seine Höflichkeit und sein hochadeliger Sinn hat mir versprochen, mir dahin zu folgen, wohin ich ihn führen werde, welches nirgends anders hin sein soll als vor die Augen des Pandalifando mit dem schiefen Blicke, damit er ihn umbringe und mir das wiedergebe, was jener mir gegen alles Recht entrissen hat; auch wird dies alles, von Wort zu Wort, so eintreffen, denn Tinacrio der Wissende, mein edler Vater, hat es so prophezeit, der mir zugleich auch schwarz auf weiß in chaldäischen oder griechischen Buchstaben hinterlassen – denn ich kann sie nicht lesen –, daß, wenn jener prophezeite Ritter, nachdem er den Riesen enthauptet, sich mit mir vermählen will, ich mich ihm sogleich, ohne die mindeste Einwendung, zur rechtmäßigen Gemahlin übergeben muß und ich ihm mit meiner Person zugleich den Besitz meines Königreichs überliefere.«
»Wie dünkt es dir, Freund Sancho?« sagte hierauf Don Quixote; »vernimmst du, was vorgeht? Sagte ich dir dieses nicht? Nun schau doch, ob ein Königreich zur Herrschaft, eine Königin zur Vermählung mangelt.«
»Meiner Seel«, rief Sancho aus, »ein Hundsfott, wer sich nicht gleich vermählt, sowie dem Herrn Pantalonfando das Gurgelchen abgeschnitten ist! denn wenn die Königin häßlich ist, so wollte ich nur, daß sich alle Flöhe in meinem Bette in dergleichen verwandelten!« Bei diesen Worten schlug er zweimal hoch mit den Beinen aus, wodurch er das größte Vergnügen zu erkennen gab; dann faßte er das Maultier der Dorothea beim Zügel, hielt es an, kniete vor ihr nieder und bat, ihm die Hand zum Kusse zu reichen, als einen Beweis, daß er ihr als seiner Königin und Gebieterin huldigte. Wer hätte wohl von den Anwesenden nicht gelacht, da sie diese Tollheit des Herrn und diese Dummheit des Dieners sahen? Dorothea reichte ihm die Hand und versprach, ihn in ihrem Reiche zu einem großen Herrn zu machen, sobald ihr der Himmel so gnädig sei, daß sie es wieder in Ruhe besitze. Sancho dankte mit solchen Redensarten, daß alle von neuem lachen mußten.
»Dieses, meine Herren«, fuhr Dorothea fort, »ist meine Geschichte, es bleibt nur noch das zu erzählen übrig, daß mir von allen den Leuten, die ich zur Begleitung aus meinem Königreiche mit mir nahm, nur dieser großbärtige Stallmeister übriggeblieben ist; denn alle übrigen ertranken in einem heftigen Sturme, der uns im Angesichte des Hafens ergriff; er und ich aber kamen auf zwei Brettern, wie durch ein Wunderwerk, ans Land, wie denn mein ganzes Leben wunder- und geheimnisvoll ist, wie Ihr auch werdet bemerkt haben. Bin ich nun irgendworin zu umständlich oder auch nicht ausführlich genug gewesen, so meßt nur dem die Schuld bei, wovon der Herr Lizentiat gleich im Anfange meiner Erzählung sprach, daß nämlich immerwährende und ungeheuere Leiden dem leicht das Gedächtnis rauben, der ihnen unterliegt.«
(Cervantes: Don Quijote 1. Teil 3. Buch 16. Kapitel)

Prinzessin Mikomikona bittet um Don Quijotes Schutz

Der Pfarrer und der Barbier hören davon, dass Don Quijote beschlossen hat, verrückt zu werden und entwickeln einen Plan, ihn aus seiner Verrücktheit zu befreien und in sein Dorf zurückzubringen.
Auf ihrem Weg zu Don Quijote treffen sie auf Dorothea, die Frau des Don Fernando, die von ihm verlassen worden ist, weil er sich in eine andere verliebt hat. 
Sie ist bereit, ihnen zu helfen, und da sie Ritterromane sehr gut kennt, ist sie bereit, Don Quijote eine Geschichte zu erzählen, die ihn dazu bringen wird, sie unter seinen Schutz zu nehmen und, um ihr zu helfen, mit an den Ort zu ziehen, zu dem sie ihn führen wird.

»Diese schöne Dame, Freund Sancho«, antwortete der Pfarrer, »ist, was man nicht alle Tage sieht, sie ist von männlicher Seite her die rechtmäßige Erbin des großen Mikomikonischen Reichs, welche jetzt her kommt, Euren Herrn aufzusuchen, um eine Gabe von ihm zu begehren, als nämlich: eine große Ungefügheit oder Kränkung zu ahnden, die sie von einem bösen Riesen erleiden müssen; und auf den Ruhm eines gewaltigen Ritters, den Euer Herr auf dem ganzen Erdkreise hat, ist diese Prinzessin von Guinea gekommen, ihn aufzusuchen.«
»Das Suchen und das Finden trifft sich ja herrlich«, rief nun Sancho Pansa aus, »besonders wenn mein Herr so glücklich ist, die Kränkung zu ahnden und die Ungefügheit einzufügen, wenn er nämlich das Hurenkind von Riesen, von dem Ihr sprecht, umbringt, und umbringen wird er ihn gewiß, wo er ihn trifft, wenn er nur kein Gespenst ist: denn gegen die Gespenster hat mein gnädiger Herr durchaus keine Gewalt. Aber um ein Ding will ich doch unter andern den Herrn Lizentiaten bitten, nämlich: damit mein Herr nicht Lust kriegt, Erzbischof zu werden, wie ich immer noch fürchte, so ratet ihm doch, daß er sich gleich mit dieser Prinzessin verheiraten möge; denn alsdann ist es ihm unmöglich, die erzbischöfliche Weihung zu empfangen, und er wird somit leicht zu seinem Kaisertume und ich zur Endschaft aller meiner Wünsche gelangen; denn ich habe es mir wohl überlegt und habe es ausgefunden, daß es mir durchaus nicht zuträglich ist, daß mein Herr ein Erzbischof werde; denn für die Kirche tauge ich nicht, denn ich bin verheiratet, und da noch lange Dispensation zu suchen, um Einkünfte von der Kirche zu genießen, da ich Frau und Kinder habe, heißt die Sache auf die lange Bank schieben; also, lieber Herr, ist das der Hauptpunkt, daß mein Herr sich gleich mit der Dame verheiraten muß, deren Herrlichkeit ich noch nicht weiß und sie also nicht bei ihrem gehörigen Namen nenne.«
»Sie heißt«, antwortete der Pfarrer, »die Prinzessin Mikomikona; denn da ihr Reich Mikomikon genannt wird, so folgt daraus klar, daß sie so heißen müsse.«
»Das ist keine Frage«, antwortete Sancho; »denn ich habe es oft gesehen, wie die Leute ihren Titel und ihre Würde von dem Orte hernehmen, wo sie geboren sind, daß sie sich Pedro von Alcala, Juan von Ubeda und Diego von Valladolid nennen, und dieselbe Mode wird wohl auch in Guinea sein, daß die Königinnen den Namen von ihren Königreichen führen.«
»Freilich ist es so«, sagte der Pfarrer, »und was das Vermählen Eures Herrn betrifft, so will ich dabei tun, was ich nur kann.« Hierüber war Sancho ungemein vergnügt, so wie der Pfarrer über seine Einfalt verwundert, daß er in den nämlichen Tollheiten ebenso fest wie sein Herr verstrickt sei; denn er hatte gar keinen Zweifel daran, daß dieser Kaiser werden würde.
Indessen hatte sich Dorothea schon auf das Maultier des Pfarrers gesetzt; der Barbier hatte sein Antlitz mit dem Ochsenschwanze geziert, und sie verlangten nun von Sancho, dort hingeführt zu werden, wo sich Don Quixote befinde, indem sie ihn erinnerten, sich nicht merken zu lassen, daß er den Lizentiaten oder Barbier kenne; denn darauf, daß sie unbekannt blieben, beruhte es völlig, daß sein Herr Kaiser würde; der Pfarrer und Cardenio wollten überdies nicht mit ihnen gehen, damit sich Don Quixote nicht des Zwistes erinnern möchte, den er mit Cardenio gehabt, und der Pfarrer, weil vorerst seine Gegenwart noch nicht nötig sei; sie ließen also jene voranziehen und folgten ihnen zu Fuße mit gemächlichen Schritten. Der Pfarrer stellte Dorothea noch einmal vor, was sie zu tun habe, worauf sie sagte, sie möchten unbesorgt sein; denn alles solle ganz richtig vor sich gehen, wie es in den Ritterbüchern enthalten und vorgeschrieben sei.

Als sie drei Viertelmeilen fortgezogen waren, entdeckten sie Don Quixote zwischen mehreren durcheinandergeworfenen Klippen, schon bekleidet, aber noch nicht gewappnet, und sowie ihn Dorothea erblickte und von Sancho erfuhr, daß jener Don Quixote sei, trieb sie ihren Zelter mit der Gerte, und nach folgte ihr der wohlbebartete Barbier; und als sie nun nahe genug gekommen, sprang der Stallmeister von seinem Maultiere ab und empfing Dorothea in seinen Armen, die mit vieler Zierlichkeit abstieg, zu den Füßen Don Quixotes sich kniend niederwarf und, sosehr er sich bemühte, sie aufzuheben, ohne sich emporzurichten, ihn auf folgende Weise anredete: »Nicht werde ich mich von allhier erheben, o tapferer und starkmutiger Ritter, bis Eure Gutheit und feine Sitte mir eine Gabe gewährt hat, die so zur Ehre und Ruhm Eurer Person wie zum Wohlsein der trostlosesten und unglücklichsten Jungfrau gereichen wird, die je die Sonne beschienen; und wenn die Tugend Eures starken Armes der Stimme Eures unsterblichen Ruhmes gleichkommt, so seid Ihr verpflichtet, der Unglückseligen beizustehen, die aus weit fernen Landen der Geruch Eures rühmlichsten Namens herbeizieht, um Euch als den Retter in ihrem Elende aufzusuchen.«
»Nicht werde ich Euch ein einziges Wort erwidern, wohlschöne Dame«, antwortete Don Quixote, »noch irgendwas von Euren Mären weiter anhören, bevor Ihr Euch vom Boden erhebt.«
»Nicht werde ich mich erheben, Señor«, antwortete die betrübte Jungfrau, »wenn mir nicht zuvörderst Eure Hübschheit die Gabe bewilligt hat, um die ich flehe.«
»So bewillige ich sie und sage sie zu«, antwortete Don Quixote, »wenn mit der Erfüllung nicht meinem Könige Nachteil oder Schaden geschieht noch meinem Vaterlande, noch derjenigen, die zu meinem Herzen und meiner Freiheit die Schlüssel bewahrt.«
»Es wird denjenigen, die Ihr namhaft macht, nicht zum Schaden oder Nachteil gereichen«, antwortete die betrübte Jungfrau. Zugleich näherte sich Sancho Pansa dem Ohre seines Herrn und sagte ganz leise: »Ihr könnt, mein gnädiger Herr, nur frisch weg die Gabe gewähren, um die gefleht wird; es ist nämlich nichts weiter, als eine Riesenbestie umzubringen, und die das fleht, ist die erhabenste Prinzessin Mikomikona, Königin des mächtigen Mikomikonischen Reichs in Äthiopien.«
»Sei's, wer es sei«, antwortete Don Quixote, »so werde ich tun, was mir meine Pflicht gebeut und mein Gewissen mir befiehlt, dem Stande gemäß, zu welchem ich mich bekenne.« Er kehrte sich zugleich zur Jungfrau und sagte: »Euer Liebden allhohe Schönheit erhebe sich nunmehr; denn gewährt ist die Gabe, welche dieselbe von mir erheischen wird.«
»Was ich also heische«, sagte die Jungfrau, »ist, daß Eure großmütige Person sogleich mit mir ziehe, wohin ich dieselbe zu führen gedenke, und mir verspreche, sich keines andern Abenteuers zu unterfangen, keines Zwistes zu gedenken, bis ich an einem Verräter gerochen bin, der gegen göttliche und menschliche Satzungen mein Königreich mir entrissen hat.«
»Ich sage, daß ich es also gewähre«, antwortete Don Quixote, »und also mögt Ihr, Gebieterin, von Stund an die Melancholie entfernen, die Euch darniederbeugt, und Eurer ohnmächtigen Hoffnung neue Kraft und neuen Atem einflößen; denn mit der Hülfe Gottes und meines Arms sollt Ihr Euch alsbald in Eurem Königreiche wieder eingesetzt erblicken und wieder den Thron Eures alten und mächtigen Reichs in Besitz nehmen, und Trotz und Hohn sei allen Schurken geboten, die dem widersprechen wollen; flugs also, Hand ans Werk: denn im Zögern, sagt man, liegt die Gefahr.«
Die bedrängte Jungfrau beeiferte sich mit größter Mühe, ihm die Hände zu küssen; aber Don Quixote, der durchaus ein höflicher und artiger Ritter war, gab dieses durchaus nicht zu, sondern er hob sie auf und umarmte sie mit äußerster Höflichkeit und artigem Bezeigen, worauf er dem Sancho befahl, des Rozinante Sattelgurt festzuschnallen und ihm plötzlich die vollständige Waffenrüstung anzulegen.
Sancho sammelte die Waffen, die gleich einer Trophäe an einem Baume aufgehängt waren, schnallte den Sattelgurt und bewaffnete seinen Herrn alsbald, welcher, da er sich bewaffnet sah, sprach: »So gehen wir denn im Namen Gottes, uns dieser großen Dame gefällig zu erweisen.«
Der Barbier lag noch auf den Knien und gab sich alle Mühe, sein Lachen zu verbergen und den Bart nicht fallen zu lassen, mit dessen Fall vielleicht die gute Absicht aller durchaus gescheitert wäre, und da er nun sah, daß die Gabe schon gewährt sei und daß Don Quixote sich in größter Eile fertigmache, die Bitte auszurichten, erhob er sich, faßte seine Dame bei der andern Hand, und beide halfen ihr auf den Maulesel; sogleich bestieg Don Quixote den Rozinante, der Barbier setzte sich auf seinem Tiere zurecht, und Sancho blieb zu Fuße, dem sich der Schmerz über den Verlust und die Entbehrung des Grauen erneuerte; aber dennoch trug er alles mit Freudigkeit, denn er meinte nun, sein Herr sei auf dem geraden Wegeund dicht am Ziele, Kaiser zu werden; er zweifelte gar nicht, daß er die Prinzessin heiraten und so zum wenigsten König von Mikomikon werden möchte; nur dieses machte ihm Nachdenken, daß das Königreich im Lande der Neger liege und daß also alle die Menschen, die ihm als Vasallen untergeordnet würden, auch Neger sein müßten; wogegen er aber sogleich ein gutes Mittel ersann und so zu sich selber redete: Was geht's mich denn an, ob meine Vasallen Neger sind? Ich kann sie ja nur zusammenpacken und nach Spanien bringen und sie gegen bares Geld verkaufen; für das Geld kann ich mir dann eine Herrschaft oder sonst ein Amt anschaffen, worin ich ohne Sorgen die übrige Zeit meines Lebens ausdauern kann. Sollte ich wohl nicht so viel Kopf haben und so viel Einsicht, es so einzurichten, daß ich zwanzig oder dreißig Vasallen verkaufe, wie man die Hand umdreht? Wahrhaftig, verkaufen will ich sie, groß und klein, wie sie der Hirt zum Tore hinaustreibt, und wenn sie auch kohlschwarz sind, so sollen sie sich unter meinen Händen in Blanke und Gelbe verwandeln! Ja, ja, man soll mir nur kommen, ob ich wohl ein Einfaltspinsel bin.

Mit diesen Gedanken beschäftigt, ging er so zufrieden einher, daß er den Verdruß vergaß, zu Fuß reisen zu müssen. Cardenio und der Pfarrer sahen zwischen einigen Schlüften hindurch alles und wußten nicht, wie sie es anfangen sollten, um sich mit ihnen zu vereinigen; der Pfarrer aber, der ein sehr anschlägiger Kopf war, hatte bald etwas ausgefunden, um ihren Vorsatz zu vollbringen, er schnitt nämlich mit einer Schere, die er in einem Futteral mit sich führte, dem Cardenio eiligst den Bart ab und zog ihm einen grauen Rock an, den er trug, und hing ihm einen schwarzen Mantel um, er selbst aber blieb in Kamisol und Beinkleidern; Cardenio aber war dadurch mit einem Male so verwandelt, daß er sich selbst nicht gekannt haben würde, wenn er sich in einem Spiegel betrachtet hätte. Als dies geschehen war, obgleich die andern während der Verkleidung ihren Weg fortgesetzt hatten, konnten sie sich doch leicht noch früher als diese auf den großen Weg machen, denn die Abgründe und Umwege dieser rauhen Gegenden erlaubten denen, die zu Pferde reisten, nicht, so schnell fortzukommen, wie es die konnten, die zu Fuße waren. Sie stellten sich hierauf in die Ebene am Eingange des Gebirgs, und wie Don Quixote mit seinem Geleite herauszog, betrachtete ihn der Pfarrer eine lange Weile, machte dann Zeichen, als wenn er ihn erkenne, und nachdem er lange genug gezaudert hatte, ging er mit ausgestreckten Armen auf ihn zu und rief mit lauter Stimme: »Vielmals gegrüßt sei mir der Spiegel der Ritterschaft, mein wackerer Landsmann Don Quixote von la Mancha, die Blume und der Ausbund des Edelmuts, die Hülfe und Stütze aller Hülfsbedürftigen, die Quintessenz der irrenden Ritter!« Mit diesen Worten umfaßte er den linken Schenkel des Don Quixote am Knie. Dieser, erstaunt über das, was er von diesem Manne sah und hörte, fing an, ihn mit großer Aufmerksamkeit zu betrachten, und endlich erkannte er ihn, blieb aber wie erstaunt, ihn zu sehen, und gab sich die größte Mühe, vom Pferde zu steigen; doch der Pfarrer gab es nicht zu, worauf Don Quixote sprach: »Laßt mich, wertgeschätzter Herr Lizentiat, denn unbillig ist es, daß ich zu Pferde sei und eine so ehrwürdige Person wie Ihr zu Fuße gehen müsse.«
»Auf keine Weise werde ich dies zugeben«, sagte der Pfarrer, »bleibe mein durchlauchtiger Herr zu Pferde; denn zu Pferde ist es, wo dieselben die größten Tathandlungen und Abenteuer unternehmen, die in unserm Jahrhunderte gesehen worden; was mich unwürdigen Priester betrifft, so ist es mir genügend, mich hinten auf das Maultier eines von diesen Herren zu begeben, die mit Euch reisen, wenn diese es nicht übel deuten, und dann werde ich es mir für eine solche Ehre schätzen, als ritte ich selber auf dem Pegasus, dem Zebra oder dem mächtigen Streitrosse, auf welchem der Mohr Muzaraque geritten hat, der noch heutzutage auf dem großen Hügel Zulema, nicht weit vom großen Compluto, verzaubert liegt.«
»Auf dieses gedachte ich nicht, Herr Lizentiat«, antwortete Don Quixote, »ich weiß, daß es die erhabene[267] Prinzessin um meinetwillen vergönnen wird und ihrem Stallmeister andeuten, daß er Euch den Sitz im Sattel auf dem Maultiere einräumen möge, damit er sich hinten auf das Tier begebe, wenn es anders solches verträgt.«
»Es wird es vertragen, wie ich glaube«, antwortete die Prinzessin, »auch weiß ich, daß es nicht nötig ist, meinem würdigen Stallmeister solches anzudeuten; denn er ist zu höfisch und zu sehr Hofmann, als daß er zugeben sollte, daß ein Geistlicher zu Fuße gehe, wenn er zu reiten Gelegenheit findet.«
»So verhält es sich«, antwortete der Barbier, und zugleich stieg er ab und half dem Pfarrer, der sich nicht lange dazu nötigen ließ, in den Sattel; es fügte sich aber unglücklicherweise, daß, da der Barbier sich auf das Hinterteil des Maulesels setzen wollte, dieser, der ein Mietesel, das heißt schändlich, war, die Hinterbeine ein wenig erhob und zweimal hoch in die Luft ausschlug, so daß, wenn er den Barbier auf Kopf oder Brust getroffen hätte, dieser gewiß das Ausreisen nach dem Don Quixote zum Teufel gewünscht haben würde; bei alledem wurde er doch so in Schrecken gesetzt, daß er zur Erde fiel und dabei auf seinen Bart so wenig achten konnte, daß er diesen verlor, und wie er sich in diesem Zustande sah, wußte er sich nicht anders zu helfen, als daß er sich mit beiden Händen das Gesicht bedeckte und laut jammerte, daß ihm die Kinnbacken zerschmettert wären.
Als Don Quixote diese große Masse von Bart gewahr ward, die ohne Kinnbacken und Blut weitab vom Gesichte des niedergestürzten Stallmeisters lag, rief er aus: »Bei Gott, dieses ist ein großes Wunder! Der Bart ist ihm vom Gesichte so rein herunter, als wenn man ihm solchen mit Fleiß abgenommen hätte!«
Als der Pfarrer sah, welche Gefahr sein Anschlag lief, entdeckt zu werden, sprang er schnell nach dem Barte und ging mit ihm nach dem Meister Nicolas, der noch immer lag und klagte. Mit einem Wurfe drückte er sich den Kopf des Barbiers gegen die Brust, setzte ihm den Bart an, murmelte einige Worte darüber, wovon er sagte, daß es ein trefflicher Spruch sei, Bärte festzumachen, wie man gleich sehen würde; und als er den Bart festgemacht, ging er wieder fort, und der Stallmeister war so bärtig und so gesund, wie er nur zuvor gewesen, worüber sich Don Quixote über die Maßen verwunderte und den Pfarrer bat, daß er ihm bei Gelegenheit diesen Spruch lehren möge, weil er meine, daß sich seine Kraft wohl noch weiter erstrecken müsse, als Bärte festzumachen; denn es wäre ja deutlich, indem der Bart abgerissen, müsse auch die Haut mitgegangen und verletzt sein, und da alles wieder glücklich geheilt, müsse dies auch auf mehr als nur auf Bärte Einfluß haben. »So verhält es sich«, sagte der Pfarrer und versprach, ihm diesen Spruch bei erster Gelegenheit zu lehren.
Es wurde ausgemacht, daß jetzt der Pfarrer aufsitzen sollte, nachher sich aber die drei nach gewissen Zwischenräumen ablösen möchten, bis sie die Schenke erreichten, die nur zwei Meilen entfernt war.

Da nun die drei zu Pferde, nämlich Don Quixote, die Prinzessin und der Pfarrer, und drei zu Fuße, Cardenio, der Barbier und Sancho Pansa, sprach Don Quixote zur Jungfrau: »Führe Eure durchlauchtige Hoheit mich nunmehr hin, wohin es Ihr am besten gefällt.« Und noch ehe sie antwortete, sagte der Lizentiat: »Nach welchem Reiche will Eure Hoheit? Vielleicht nach dem Mikomikonischen? Ja, so muß es sein, oder ich verstehe wenig von Königreichen.«
Sie, die sich in alles zu schicken wußte, merkte wohl, daß sie es bejahen müsse, und antwortete: »Ja, mein Herr, nach diesem Königreiche ist mein Weg gerichtet.«
»Wenn dem also ist«, sagte der Pfarrer, »so müssen wir gerade durch unsern Wohnort reisen; von dort könnt Ihr den Weg nach Cartagena nehmen, Euch dort mit günstiger Gelegenheit einschiffen und, wenn Ihr dann guten Wind und ruhige Fahrt habt, in ungefähr neun Jahren am Eingange des Kaspischen Meers oder Kaspisser Sees sein, der nicht mehr über hundert Tagereisen von dem Reiche Eurer Hoheit entfernt liegt.«

»Ihr irrt hierin, mein werter Herr«, sagte sie; »denn es sind noch nicht zwei Jahre, seitdem ich abreisete, und ich habe in Wahrheit nicht immer gutes Wetter gehabt, und dennoch bin ich schon in der Gegenwart dessen, den ich so sehr zu sehen wünschte, nämlich des zu verehrenden Don Quixote von la Mancha, von dem mir das Gerücht sagte, sowie ich nur meinen Fuß auf spanischen Boden setzte, wodurch ich auch bewogen bin, ihn aufzusuchen, mich seinem Edelmute zu vertrauen und meine gerechte Sache der Tapferkeit seines unüberwindlichen Arms anheimzustellen.«
»Nicht weiter, man unterlasse dergleichen Lobpreisungen«, unterbrach hier Don Quixote; »denn ich bin ein Feind jeglicher Schmeichelei, und obgleich dieses keine ist, so werden dennoch durch dergleichen Reden meine keuschen Ohren verletzt. Nur das, meine Gebieterin, versichere ich: Mag ich Tapferkeit besitzen oder nicht, so soll diejenige, die ich nur habe, immer in Eurem Dienste, bis zu meinem letzten Blutstropfen, aufgewendet werden. Wir wollen dieses aber seiner Zeit überlassen, und ich bitte vielmehr den Herrn Lizentiaten, mir zu erzählen, was ihn in diese einsamen Gegenden geführt habe, so ohne Diener und so leicht gekleidet, daß ich mich billig darüber verwundern muß.«
»Ich will mit wenigem darauf antworten«, sagte der Pfarrer. »Ihr müßt also wissen, mein gnädiger Herr Don Quixote, daß ich und Meister Nicolas, unser Freund und Barbier, nach Sevilla gingen, um eine Summe Geldes abzuholen, die mir ein Verwandter, der seit vielen Jahren in Indien lebt, geschickt hatte. Es war keine Kleinigkeit; denn es waren zweitausend Taler, in gutem Silber, und das will schon etwas sagen. Wie wir nun gestern durch diese Gegend gingen, überfielen uns vier Straßendiebe, die uns rein bis auf die Bärte ausplünderten: ja, dem Barbier ist es so übel bekommen, daß er sich jetzt wirklich genötigt sieht, einen falschen Bart zu tragen. Und auch diesen jungen Menschen da« – indem er auf Cardenio zeigte – »haben sie ganz artig zugerichtet. Was aber das sonderbarste ist, so geht in diesen Gegenden ein Gerücht, daß diejenigen, die uns so geplündert haben, Ruderknechte sind, die ungefähr an demselben Orte ein Mann frei gemacht haben soll, dessen Tapferkeit so groß gewesen, daß er, trotz dem Commissarius und den Wächtern, sie allen abgewonnen. Dieser Mann muß ohne allen Zweifel von der Vernunft entblößt oder ein ebenso großer Schurke sein als sie selber, oder ein Mensch ohne Gefühl und Gewissen, weil er auf diese Weise den Wolf unter die Schafe sendet, den Fuchs unter die Hühner, die Fliege zum Honig. Er stört die Gerechtigkeit, widersetzt sich seinem Könige und Gebieter; denn er streitet gegen dessen gerechteste Gesetze, indem er dessen Galeeren ihre Füße entzieht, die Heilige Brüderschaft in Aufruhr bringt, die seit manchem Jahre ruhen konnte, indem er endlich eine Tat begeht, wodurch er seiner Seele schadet, ohne seinem irdischen Körper zu nutzen.«
Sancho hatte dem Pfarrer und Barbier das Abenteuer mit den Ruderknechten erzählt, welche sein Herr mit seiner höchsten Glorie zustande gebracht hatte; deshalb ergriff der Lizentiat diese Gelegenheit, dem Don Quixote den Text zu lesen, um zu sehen, was er tun oder sagen würde. Dieser aber wurde bei jedem Worte blasser und hatte nicht das Herz, es zu sagen, daß er der Befreier jener braven Leute gewesen sei.
»Diese also«, schloß der Pfarrer, »waren es, die uns beraubten, und Gott möge nach seiner Barmherzigkeit demjenigen verzeihen, der es verhinderte, daß sie zu ihrer verdienten Strafe abgeführt werden konnten.«
(Cervantes: Don Quijote 1. Teil 3.Buch 15. Kapitel)

14 Mai 2016

Roger Willemsen über Zukunft

"Nur Zeiten, die vieles zu wünschen übrig lassen, sind auch stark im Visionären. Diese Zeit ist es nicht, deshalb befindet sich die Zukunft auch eher im Stillstand. [...] Die Utopie hat keine Konjunktur, und wie alle Ressourcen wird auch die Zukunft knapp.. [...] Da aber die wahren Paradiese ohnehin jene sind, die wir verloren haben, stellen sich manche die Zukunft schon als Wiederkehr des Vergangenen vor oder schlicht als Erlösung.  So gesehen hat die Zukunft keine Zukunft, und Tagespolitik fungiert eher als Ablenkung von den Jahrhundertveränderungen. Näherte man sich ihr realistisch, mit der 'Zukunft' ließe sich kaum Wahlkampf führen." (Das Hohe Haus, S.263)

"In diesen Reden hat sich die Rhetorik so weit von ihrem Gegenstand entfernt, dass man den Eindruck gewinnt, gewisse parlamentarische Entscheidungen können nur gefällt werden, weil es unter Umgehung der Realitätswahrnehmung geschieht." (S.169)

Weshalb taucht bei der jiddischen Literatur "Dukus Horant" auf, weshalb springen die Ausschnitte aus dem Don Quijote zwischen dem ersten und zweiten Teil hin und her?

"Dukus Horant" ist der älteste jiddische Text, von dem ich eine Transkription (Umschrift) in lateinische Schrift im Internet kenne:
 Eś uuåś in tutschån richån aiin kunik uuit | arkånt.
aiin dégån alsa kuna. Aitåna uuåś ér gånånt.
ér uuåś milda aunå schåuna.
ér truk dér airån kråuna: [...]


Das Springen in den zweiten Teil von Don Quijote diente dem Ausbau des Artikels im ZUM-Wiki, der inzwischen bis zum Schluss des Romans geführt ist, während hier noch Stück für Stück weitere Episoden vorgeführt werden. 

13 Mai 2016

Don Quijote beschließt, vor Trauer, dass seine Herrin ihn nicht erhört hat, verrückt zu werden

[...] »Dies eben ist der Punkt«, antwortete Don Quijote, »und darin zeigt sich die ausgesuchte Galanterie meines Vorhabens. Daß ein fahrender Ritter mit Grund verrückt wird, darin ist nichts Freiwilliges, dafür gibt's keinen Dank; die rechte Probe ist, ohne Anlaß wahnsinnig zu sein, damit meine Geliebte denken muß: wenn das am grünen Holze geschieht, was soll's erst am dürren werden! Außerdem habe ich dazu Veranlassung genug in der langen Abwesenheit, die ich mir von meiner ewig mir gebietenden Herrin Dulcinea von Toboso auferlegt habe. Hast du ja doch von dem Ambrosio, dem Schäfer von neulich, gehört: wer abwesend ist, erleidet und befürchtet jegliches Übel. Sonach, Freund Sancho, verwende keine Zeit darauf, daß du mir anratest, von einer so ausbündigen, so glücklich erdachten, so unerhörten Nachahmung abzustehen. Toll bin ich und toll bleib ich, bis du mit der Antwort auf einen Brief zurückkommst, den ich meiner Herrin Dulcinea durch dich zu übersenden gedenke; und wenn sie so ausfällt, wie es meine Treue verdient, dann wird es mit meinem Wahnsinn und meiner Buße zu Ende sein; und wenn sie im entgegengesetzten Sinne ausfällt, dann werde ich im Ernste toll werden und als ein solcher alsdann nichts mehr empfinden. Mithin, auf welche Weise sie auch immer antworten mag, entrinne ich den Seelenkämpfen und Nöten, worin du mich zurücklassest, und ich werde entweder bei Verstande das Glück genießen, das du mir bringst, oder in der Verrücktheit das Unheil nicht empfinden, das du mir verkündest. Aber sage mir, Sancho, hast du den Helm des Mambrin in guter Verwahrung bei dir? Denn ich sah wohl, wie du ihn vom Boden aufhobst, als jener undankbare Mensch ihn in Stücke schlagen wollte. Jedoch er vermochte es nicht, woraus sich die Vortrefflichkeit seines Metalls ersehen läßt.« [...]
»Ei je, ei je«, sprach Sancho, »die Tochter von Lorenzo Corchuelo ist unsere Gebieterin Dulcinea von Toboso, sonst auch Aldonza Lorenzo geheißen?« »Dieselbe«, antwortete Don Quijote, »und sie ist's, die da verdient, die Gebieterin des ganzen Weltalls zu sein.« »Ich kenne sie ganz gut«, sprach Sancho, »und kann sagen, daß sie im Spiel die Eisenstange so kräftig wirft wie der stärkste Bursche im ganzen Ort. Beim Geber alles Guten, das ist eine tüchtige Dirne, schlecht und recht, hat Haare auf den Zähnen und kann jedem jetzt fahrenden oder in Zukunft fahrenden Ritter, der sie zur Gebieterin erkiest, was zu raten aufgeben. Was Teufel hat sie für eine Kraft im Leibe, was hat sie für eine Stimme! Ich sage Euch, sie ist einmal oben auf den Glockenturm des Dorfes hinauf, um vom Brachfeld ihres Vaters Knechte heimzurufen, und wiewohl selbige mehr als eine halbe Stunde fern vom Orte waren, haben sie sie gehört, als hätten sie unten am Turm gestanden. Und das Beste an ihr ist, daß sie durchaus nicht zimperlich ist, sie hat was von so einer Person aus der Residenz, alle hat sie zum besten und hat über alles ihren Spott und Scherz. Jetzt sage ich, Herr Ritter von der traurigen Gestalt, nicht nur kann und soll Euer Gnaden Tollheiten ihretwegen verüben, sondern kann auch mit großem Recht verzweifeln und gar sich aufhängen; denn keiner, der es erfährt, wird umhinkönnen, zu sagen, daß Ihr ausnehmend wohl daran getan, und wenn Euch auch darum der Teufel holen sollte; und gerne möchte ich schon auf dem Wege sein, nur um sie zu sehen, sintemal es schon viele Tage her ist, daß sie mir nicht vor die Augen gekommen; auch muß sie ganz wie verwechselt aussehen; denn nichts verdirbt den Frauenzimmern so sehr ihr Gesicht, als wenn sie in der Sonne und freier Luft im Felde herumlaufen! Auch muß ich Euer Gnaden wahr und wahrhaftig sagen, daß ich bisher in großer Unkenntnis der Sachen gewesen. Ich war nämlich ernst und treulich des Glaubens, das Fräulein Dulcinea müsse irgendeine Prinzessin sein, in die Euer Gnaden sich verliebt hätte, oder sonst ein Frauenzimmer solcher Art, daß sie die von Euer Gnaden gesendeten reichen Gaben verdiente, wie das Geschenk, das Ihr ihr mit dem Biskayer und mit den Galeerensklaven gemacht habt. Und ohne Zweifel werden es noch viele andere Gaben sein, nach den Siegen zu schließen, die Ihr zur Zeit errungen haben müßt, wo ich noch nicht Euer Schildknappe war. Aber wenn man's bei Licht betrachtet, was kann dem Fräulein Aldonza Lorenzo, will sagen dem Fräulein Dulcinea von Toboso, daran liegen, daß die Besiegten, die Euer Gnaden hinsendet und hinsenden wird, kommen und sich auf die Knie vor ihr werfen? Denn es wäre ja möglich, daß gerade zur Zeit, wo selbige ankämen, sie mit dem Hecheln von Flachs oder Dreschen auf der Tenne beschäftigt wäre, und jene würden sich dann schämen, sie in dem Aufzug zu sehen, und sie würde über das Geschenk lachen und sich ärgern.« »Ich habe dir schon früher oftmals gesagt, Sancho«, sprach Don Quijote, »daß du ein gewaltiger Schwätzer bist und, obwohl am Verstande stumpf, doch häufig spitzig sein und sticheln willst. Damit du jedoch siehst, wie dumm du bist und wie verständig meine Handlungsweise, sollst du von mir ein Geschichtchen hören. Vernimm also: Eine schöne junge Witwe, unabhängig und reich, insbesondere aber lustigen Humors, verliebte sich in einen jungen Laienbruder, einen untersetzten kräftigen Burschen; sein Vorgesetzter brachte es in Erfahrung, und eines Tages sagte er zu der wackeren Witwe diese Worte als brüderliche Zurechtweisung: ›Ich bin erstaunt, Señora, und nicht ohne vielfachen Grund, wie eine so vornehme, so schöne, so reiche Frau wie Euer Gnaden sich in einen so schmutzigen, gemeinen und dämlichen Menschen wie den gewissen Jemand verlieben mochte, da doch in diesem Stift so viele Doktoren, so viele Graduierte und so viele Theologen sind, unter denen Euer Gnaden wie aus einem Korb mit Birnen hätten wählen und sagen können: Den mag ich gern, den mag ich nicht.‹  [...]
»Auf mein Wort, Sancho«, sprach Don Quijote, »du kommst mir vor, als wärest du ebensowenig bei Verstand wie ich.« »Ich bin nicht so verrückt wie Ihr«, entgegnete Sancho, »aber ich bin hitziger. [...]
Don Quijote überlegt es sich besser:
Anderseits finde ich, daß Amadis von Gallien, ohne den Verstand zu verlieren und Narreteien zu verüben, solchen Ruhm eines liebestreuen Ritters erwarb, daß ihn keiner darin übertrifft. Und was er tat, wie seine Geschichte bezeugt, war nichts andres, als daß er, zurückgewiesen von seiner Gebieterin Oriana, die ihm geboten, vor ihrem Antlitz nicht wieder zu erscheinen, bis sie ihm es verstatte, sich in Gesellschaft eines Einsiedlers auf dem Armutsfelsen verbarg und sich Weinens ersättigte, bis der Himmel ihm mitten in seiner größten Not und Bedrängnis endlich zu Hilfe kam. Und wenn dies wahr ist, und es ist wahr, warum will ich die Mühsal auf mich nehmen, mich gänzlich auszukleiden oder diesen Bäumen ein Leids zu tun, die mir keinerlei Böses zugefügt? Was hab ich für Grund, das klare Wasser dieser Bächlein zu trüben, die mir zu trinken geben sollen, wenn es mich gelüstet? Nein, hoch lebe das Angedenken des Amadis! Er werde von Don Quijote von der Mancha nachgeahmt in allem, was er vermag. Von Don Quijote wird man sagen, was von jenem gesagt worden: Wenn er nicht Großes vollbracht hat, so strebte er sehnsüchtig danach, Großes zu vollbringen; und wenn ich von meiner Dulcinea nicht verstoßen noch verschmäht wurde, so genügt mir schon, wie ich bereits gesagt, daß ich von ihr abwesend bin. Auf denn, Hand ans Werk, kommt mir ins Gedächtnis, Taten des Amadís, und lehrt mich, womit ich beginnen soll, euch nachzuahmen! Doch ich weiß schon, das allermeiste, was er tat, war beten und sich Gott befehlen, und so will ich auch tun.
Hierbei dienten ihm zum Rosenkranz die großen Galläpfel eines Korkbaums, die er zu zehn aneinanderreihte und zu denen er dann einen größeren fügte. Was ihn aber sehr bekümmerte, war, daß er weit und breit keinen Einsiedler fand, um ihm zu beichten und Trost bei ihm zu suchen. So vertrieb er sich denn die Zeit damit, auf dem schmalen Wiesenrain sich zu ergehen und auf die Rinden der Bäume und in den feinkörnigen Sand zahlreiche Verse zu schreiben und einzugraben, alle seinem Trübsinn entsprechend, doch einige zum Preise Dulcineas. Aber nur folgende waren, nachdem man den Ritter dort aufgefunden, vollständig erhalten und noch lesbar: 
O ihr Bäum in diesem Hage,
Gras und Blumen, grün und rot, 
Die ihr hier entsprießt, ich frage: 
Freut euch meines Herzens Not? 
Wohl, wenn nicht, hört meine Klage. 
Wenn ich trüb den Hain durchtrotte, 
Bebet nicht, mir ist zu weh ja!
Euch zum Trotz, ob man auch spotte, 
Hat geweint hier Don Quijote, 
Weil ihm fern war Dulcinea Von Toboso. 

Hier in Waldes Finsternissen 
Muß der treuste aller Ritter 
Seiner Herrin Anblick missen; 
Hat ein Dasein gar so bitter, 
Ohne wann und wie zu wissen. 
Lieb' war seines Hirns Marotte, 
Liebe bracht ihm großes Weh ja! 
Fässer voll, beim höchsten Gotte! 
Hat geweint hier Don Quijote, 
Weil ihm fern war Dulcinea Von Toboso. 

Alles Unrecht auszumerzen, 
Will zum Kampf den Gaul er spornen; 
Fluchend ihrem harten Herzen, 
Unter Felsen, unter Dornen, 
Find't der Arme stets nur Schmerzen. 
Wie am Licht versengt die Motte, 
Fühlt er Glut und gräßlich Weh ja! 
Da er Amorn ward zum Spotte, 
Hat geweint hier Don Quijote, 
Weil ihm fern war Dulcinea Von Toboso.
(Cervantes: Don Quijote) 

Jiddische Literatur

Heute wird jiddische Literatur meist nur noch in Übersetzung rezipiert. Daher droht die Kenntnis dieser Literatur - meiner Einschätzung nach - in Vergessenheit zu geraten. Deshalb hier ein paar kurze Hinweise, zunächst nur aus der Wikipedia.

"Jiddische Literatur ist die mit hebräischen Schriftzeichen niedergeschriebene Literatur der jiddischen Sprache.* [...] Das Jiddische war die Alltagssprache der aschkenasischen Juden in Mitteleuropa. Hebräisch war dagegen die „heilige Sprache“ der Tora, des Talmuds und anderer religiöser Schriften, rabbinischer Auslegungen und offizieller Urkunden. So hatte die altjiddische Literatur immer einen volkstümlichen Charakter, sie bestand oft aus Epen, die ihre Stoffeaus Bibel, Talmud und Midrasch, aber auch aus weltlichen mittelhochdeutschen und altfranzösischen Vorlagen schöpften.
Der bisher älteste bekannte altjiddische Vers findet sich in einer Handschrift des Wormser Mahzôr aus dem Jahre 1272. Mit der Erfindung des Buchdrucks nahm die Verbreitung der Werke der altjiddischen Literatur zu. [...]
Die moderne jiddische Literatur begann mit Salomo Ettinger und Abraham Bär Gottlober, auch Israel Aksenfeld. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den Werken von Mendele Moicher SforimItzhok Lejb Perez und Scholem Alejchem.
Abraham Goldfaden wurde zum Begründer des modernen jiddischen TheatersJacob Gordin war bald der meistgespielte Autor auf jiddischen Bühnen.
Im westlichen Sprachraum kam es aufgrund der Assimilierung des Westjiddischen an das Hochdeutsche nicht zu einer vergleichbaren Ausbildung einer sprachlich eigenständigen Literatur., doch finden sich Ausprägungen im Bereich der Mundartdichtung wie in den pfälzisch-jiddischen Werken von Christian Heinrich Gilardone.
Etliche Autoren wanderten in die USA aus. Dort entwickelte sich eine Literaturszene aus Emigranten und Einheimischen. Eine große Aufmerksamkeit bekam die jiddische Literatur nach dem Literatur-Nobelpreis für Isaac Bashevis Singer.Die jiddische Literatur entwickelte sich im 20. Jahrhundert mit Autoren wie Salomon An-SkiJosef OpatoschuPinchas Kahanowitsch in Russland und der Sowjetunion oder Schalom AschIsrael Joschua SingerMoische Broderson und Isaak Kazenelson in Polen." (Wikipedia zu Jiddische Literatur)
"Heute wird Jiddisch als Muttersprache noch von betagten Juden aus Osteuropa, von einer kleinen, aber regen Anzahl sogenannter Jiddischisten und ganz besonders von ultraorthodoxen aschkenasischen Juden gesprochen. Ihre Zahl wird auf über eine Million weltweit geschätzt." (Wikipedia zu Jiddisch)

Mich persönlich interessiert u.a.:
"Dukus Horant heißt ein um 1300 entstandenes jüdisch-deutsches Strophenepos, dessen Stoff enge Berührungen mit der mittelhochdeutschen Kudrun aufweist. Stilistisch und motivlich steht das Epos der Spielmannsepik und der späten Heldenepik nahe.
Erzählt wird die Brautwerbung um die griechische Prinzessin Hilde, Tochter des wilden Hagen. Der für seine Sangeskunst hochberühmte Dänenherzog Horand unternimmt die Werbungsfahrt im Auftrag des Königs Etene. In Hagens Hauptstadt gelingt es Horand mithilfe seines Gesanges, Kontakt zu Hilde aufzunehmen und sie von dem Antrag Etenes zu überzeugen. Mit der Einwilligung Hildes und ihrer Entführung während eines Hoffestes bricht der Text ab. Aus dem Hilde-Teil der Kudrun lässt sich der Fortgang der Erzählung erschließen: Die Entführung dürfte die Verfolgung durch den Vater nach sich gezogen haben.
Der Dukus Horant ist nur fragmentarisch erhalten (280 Strophen). Der Text ist in hebräischer Schrift in der sogenannten Cambridger Handschrift von 1382/83, einer altjiddischen Sammelhandschrift, überliefert. Sie stammt aus der Genisa der Esra-Synagoge in Alt-Kairo und gelangte 1896 in die Universitätsbibliothek Cambridge." (Wikipedia zu Dukus Horant)
Die Abweichungen vom mhd. Epos Kudrun sind bemerkenswert, nicht zuletzt die Elemente, die aus einem Lied von König Rother stammen dürften. (So "das durch die Riesen  [ Uuitåult  (Witolt) und Aśpriåun (Aspe)] demonstrierte Gewaltpotenzial" (Wikipedia, aber auch die Verlagerung des Landes aus dem entführt wird aus dem norddeutschen Raum in den geheimnisumwitterten Süden.)

Hier der Anfang des Textes in Transkription


Eś uuåś in tutschån richån aiin kunik uuit | arkånt.
aiin dégån alsa kuna. Aitåna uuåś ér gånånt.
ér uuåś milda aunå schåuna.
ér truk dér airån kråuna:
41.2
{5} aima dintån gåuualdåklichån ala tutscha lånt.
Lånpårtån aunå Phulån śtunt gån an sinår hånt.
Ziziliåun aunå Tuśkån
muśtån aima uuésån aundår tån:
41.3
zu Dinåmårktån truk ér di kråuna aunå śtunt går an sinår hånt.
{10} auch muśtån aima dinån schåuna ala | Śpångån lånt.
dér kunik våun Aungårn uuåś aima aundår tån.
aunå muśta auch di kråuna våun aima hån:
41.4
di hirån våuma lånda uuårån aima ala a[un]dår tån.
aima dintån auś aiima {15} uåulda dri risån uråiischån.
dér aiina uuåś sich Uuitåult gånånt.
dér uuåś aiin kunår uuigånt:
41.5



dér truk aiin ståħålina śtånga di uuåś zuåulf klåuftårn lånk.
da mita ér démå richån kunåga Aitåna ala tutscha richa båtuuånk
{20} ér [håt]a aiinån brudår dér hiś Aśpriåun.
dér håta uund[år]ś gåtån: