29 März 2017

Lope de Vega: Die Liebesheuchler IV

Beatriz (zu Octavia)
Ich hätt' Euch allerlei Geschichten 
Von Felisardo zu berichten. 
Octavia Nun wohl, ich höre zu. 
Beatriz Sein Plan Ist, Euch zu fühlen auf den Zahn.
Drum soll der Hauptmann sich so stellen,
Als hätt' er sich in Euch vergafft,
Und soll versuchen, Euch zu fällen,
Damit er sich Gewißheit schafft,
Ob treu Ihr seid und tugendhaft.
Octavia Du scherzest!
Beatriz             Nicht doch.
Octavia Das ist echt! Wer sagte dir's?
Beatriz             Mendoza.
Octavia             Recht!
Im Heucheln bin auch ich beschlagen.
Beatriz Wie meint Ihr das?
Octavia             Oft hört' ich sagen,
Es gelt' als Regel beim Gefecht:
Die beste Deckung ist der Hieb.
Ich will so tun, als hätte wunder
Wie sehr ich ebenfalls ihn lieb.
Er ist Soldat; wenn man den Plunder
Versteht, so flammt er auf wie Zunder.
Beatriz Vorzüglich!
Octavia             Achtung! Ich beginne.
(Sie ruft) He, Felisardo!
Felisardo (eilt zu ihr)             Stets bereit. Nun?
Octavia             Falls in freundschaftlichem Sinne
Du den Herrn Hauptmann eingeweiht
In das Geheimnis unsrer Minne,
So bring ihn heute mit zu Tisch.
Ich will ihm Gastlichkeit erweisen
Als deinem Freund.
Felisardo (geht zu Don Lorenzo)             Bei ihr zu speisen, Lädt sie Euch ein.
Don Lorenzo             Aha, der Fisch Beißt an.
Felisardo             Seid recht verführerisch.
Octavia (zu Beatriz) Der Wolf hat sich wohl gar gedacht,
Zu tun hab' er's mit einem Schafe?
Verdient nicht solch ein Pinsel Strafe?
Don Lorenzo (zu Felisardo) Paßt auf, sie wird zu Fall gebracht.
Octavia (zu Beatriz) Einseifen werd' ich ihn, hab acht,
Und ausziehn, daß sich Gott erbarm'.
Don Lorenzo (zu Felisardo) Die wird im Handumdrehn bemeistert.
Octavia Das Essen, meine Herrn, steht warm –
Herr Hauptmann, reicht mir Euren Arm.
Don Lorenzo Ich bin beglückt.
Octavia             Ich bin begeistert. (Alle ab ins Haus rechts) [...]
Don Lorenzo (zu Tristan)
Drum laß auch du dir bloß zum Schein
Von Beatriz den Sinn verwirren
Und hüte dich vor ihr; dein Girren
Darf gleichfalls nur erheuchelt sein.
Tristan Ich werde tun, was Ihr befehlt,
Wenngleich mit großer Überwindung,
Da nicht von anderer Empfindung
Mein Herz wie Eures ist gestählt.
Als gestern abend sie ein Schnitzel
Mir auftrug und ich ihre Hand
Ergriff, da, weiß es Gott, empfand
Ich in der Seele einen Kitzel.
Sie zog die Hand zurück, das heißt
Sie tat wie jemand, der zum Lachen
Den Anreiz fühlt in sich erwachen
Und drum sich auf die Lippen beißt.
Don Lorenzo Auch bei Octavia selbst gelingt
So schneller Sieg mir, daß ich staune.
Tristan Es ist ein Weib von guter Laune
Und gutem Herzen, unbedingt.
Wie gastlich sie die Schüsseln hob
Und jedem reichte; wie beflissen
Sie stets die besten Leckerbissen
Euch zierlich auf den Teller schob!
Wie reizend pflegte sie zu nippen
Von Eurem Becher und erkor
Die gleiche Stelle, wo zuvor
Ihr selber hattet Eure Lippen!
Gott gebe nur, daß Euer Freund
Bei ihr nicht Euren Kuppler machte
Und in ein Labyrinth Euch brachte,
Das rings ein Stachelwall umzäunt. [...]  
Octavia Drum zu den Waffen! Ein Verräter
Kommt mit erheucheltem Gefühl,
Will mich erhitzen, selber kühl,
Und ohne Lieb' um Liebe fleht er.
Weil ich jedoch von Eva stamme,
So wickle mich in lauter List,
Die reich gefüllt mit Vorrat ist,
Gleich einem vollgesognen Schwamme.
Gib mir den starken Helm der Lüge,
Den Federbusch der Schmeichelei,
Der Sehnsucht nachgeahmten Schrei,
Der Leidenschaft gefälschte Züge.
Gib mir der Vorsicht Rückenschild,
Gib mir die Schlinge der Erhörung,
Den Degen gleißender Betörung,
Den Pfeil, der Trug mit Spott vergilt. [...]
Ob Fässer oder Besenstiele,
Sie sind doch Männer insgesamt.
Und mögen sie den Unterschied
In ihrer Liebe laut betonen,
Sie gleicht den Geißlerprozessionen,
Wo man, was kommt, voraus schon sieht.

26 März 2017

Lope de Vega: Die Liebesheuchler III

Don Lorenzo Gibt's Weiber, die so leicht sich wandeln, 
Daß niemand ihnen trauen darf, 
Ist das noch lang kein Grund, so scharf 
Die edlen Frauen zu behandeln. 
Ein Weib, das eines andern wegen 
Den fernen Liebsten hintergeht, 
Glaub, guter Tristan, die versteht 
Das grad so gut, wenn er zugegen. 
Tristan Ach, Herr, wievielen weißen Lämmern, 
Bringt die Gelegenheit Gefahr, 
Die sündlos stets gelebt, sogar 
In ihres Traumes halbem Dämmern. 
Der Gegenwärtige hat recht, 
Weil der Entfernte nicht als Wache 
Eintreten kann für seine Sache, 
Und darum geht es diesem schlecht. 
Entfernung ist wie tiefer Schlaf, 
Und Schläfer prellt man allzu gerne; 
Plagt den Galan drum in der Ferne 
Nicht Eifersucht, ist er ein Schaf. [...]
Felisardo 
Ist sie nicht zauberhaft? 
Don Lorenzo             Sie gleicht 
Der Venus. 
Felisardo Findet Ihr? So streicht 
Um sie herum, nach Gunst begierig: 
Sie zu beschenken ist zwar leicht, 
Doch sie zu lieben äußerst schwierig. 
Don Lorenzo Wieso? 
Felisardo             Sie dankt, wenn man sie liebt, 
Indem sie spricht, schreibt, nimmt. 
Don Lorenzo             Und gibt? 
Felisardo Davon hab' ich in den drei Jahren, 
Seit ich sie liebe, nichts erfahren. 
Don Lorenzo Drei Jahre! 
Doch weshalb verschiebt Sie jetzt noch jedes Gnadenzeichen? 
Felisardo Sie wünscht wohl, daß ich am Altar Ihr als Gemahl die Hand soll reichen. 
Don Lorenzo Ein sehr gewicht'ger Grund fürwahr. Ließt Ihr sie's hoffen? 
Felisardo             Ziemlich klar. 
Don Lorenzo Ei, wenn man von der Heirat spricht 
Mit einer Frau, dann braucht man nicht 
Erstaunt zu sein, daß zum Gewähren 
Sie sich erst will bereit erklären, 
Nachdem man sie geehelicht. 
Felisardo Dies Weib ist manches Opfer wert; 
Es haben wohl in den drei Jahren 
Dreitausend Männer sie verehrt, 
Die sämtlich ihre Gimpel waren, 
Da, wer sie sieht, sie auch begehrt. 
Nur fragt sich, ob sie jemals einem 
Von diesen ihre Gunst geweiht; 
Denn Lieb' und Achtung zeigt sie keinem. 
Doch seltsam wär's, hätt' all die Zeit 
Ein Weib wie sie sich so kasteit. 
Das ist der Argwohn, der unsäglich 
Mir zusetzt, weil ich ohnehin 
Nicht weiß, woran ich mit ihr bin, 
Und weil als Steckenpferd alltäglich 
Sie unsre Heirat hegt im Sinn. 
Kein Wunsch von mir, dem sie sich fügt; 
All meinen Plänen widersteht sie, 
All meine Absichten verdreht sie, 
Zermürbt mich, quält mich, lügt und trügt, 
Und es gibt nichts, was ihr genügt. 
Sie flieht vor mir, komm' ich ihr nah, 
Und geh' ich, folgt sie mir in Dichte; 
Sag' ich ihr »nein«, sagt sie mir »ja«; 
Ich bin der Schatten ihrem Lichte, 
Und schwindet sie, werd' ich zunichte. 
Wein' ich, dann singt sie; sing' ich, weint sie; 
Will ich etwas von ihr, verneint sie; 
Vernein' ich, will sie's ihrerseits: 
Je mehr sie mit mir spielt, erscheint sie 
Mir so von immer größrem Reiz.

25 März 2017

Martin Walser: „Ein fliehendes Pferd“ und andere Lektüren - verschiedene Sichten auf Walser

Ein Kritiker liest die von Marcel Reich-Ranicki hochgelobte Novelle jetzt erstmals und konstatiert:
"Walser enttäuscht die Lesererwartung aufs Entzückendste. Auf dem Höhepunkt der dramatischen Handlung schildert sein Held auf einer halben Seite mit Musilscher Genauigkeit ein Insekt, ein grünes Heupferd, das auf seinem Bettvorleger liegt." (Michael Maar, FAZ 24.3.17)

Ich habe die Novelle damals gelesen und Reich-Ranickis Lob nicht nachvollziehen können. 
Für mich bleibt "Ehen in Philippsburg" das stärkste Leseerlebnis meiner Walserlektüre. 
Mit der Kristlein-Trilogie konnte ich nichts anfangen, ich bin über ein erstes Hineinlesen nie hinausgekommen. Das Schwanenhaus und der Brief an Lord Liszt halfen mir, die dabei entstandene Allergie zu überwinden. Finks Krieg hat mir wegen des Gegenstands recht gut gefallen. Die Verteidigung der Kindheit sprach mich ebenfalls vom Gegenstand her an. In beiden Fällen imponierte mir die positive Sicht auf den vom Schicksal gebeutelten Helden, die mir nicht so larmoyant erschien wie Kristlein. 
Ein springender Brunnen hat mir gut gefallen, freilich habe ich eine gewisse Schwäche für Autobiographisches, insofern sagt das nicht viel. Ein liebender Mann und Muttersohn habe ich vor allem aus Interesse an Goethe und Theologie gelesen. Aber ich habe nicht die Besorgnis, dass ich etwas verpasse, wenn ich Werke von Walser nicht kennen lerne. 

Bei den beiden Malen, wo ich ihn auf Dichterlesungen erlebt habe, hat er mir imponiert (er las ausgezeichnet), und andererseits hat mich seine Verletzlichkeit* gerührt. *
Bei Frisch und Johnson hätte ich keine ihrer wichtigeren Schriften verpassen wollen. Bei Grass wollte ich alles zumindest angelesen haben und habe ich manches mit Vergnügen gelesen. 
Mehrmals lesen will ich vor allem Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts und Thomas Mann. Und natürlich meine Favoriten unter den Erzählungen von Kafka. 
De Bruyns autobiographische Schriften hätte ich beinahe übergangen. Aber jetzt fallen mir die englischen Autoren ein, und da höre ich lieber auf, sonst merke ich, dass ich viel zu pauschal geschrieben habe. Ich lasse es aber trotzdem einmal so stehen. 

*Julia Encke ist aus einer Lesung mit Walser hinausgegangen:
"Ich ging auf Distanz. Im Moment, in dem ich Martin Walser zum ersten Mal sah, begann ich, mich von ihm zu entfernen. Für das Monument Walser, den staatstragenden Gestus* bin ich, auch später, deshalb nie anfällig gewesen. Ich fand die Paulskirchen-Rede unmöglich und las lieber Camus und Simone de Beauvoir. Vor einem Jahr habe ich ein Gespräch mit ihm geführt. Meine Distanz, dachte ich, wäre eine gute Voraussetzung. Ich verabredete mich mit ihm in einem Gasthaus in München. Er war sehr freundlich, und ich erzählte ihm von meinem Deutschlehrer und dass er als Autor von „Ein fliehendes Pferd“ und „Brandung“ eine Weile lang mein Lieblingsschriftsteller gewesen sei. Er fand, ich hätte einen sehr guten Deutschlehrer gehabt. Ich musste lachen. Aber er hatte ja recht. Ich mag „Brandung“ noch immer." Der vollständige Artikel findet sich hier.

*"staatstragend" habe ich Walser nie erlebt. Und ich bin fasziniert davon, wie unterschiedlich man ihn sehen und seine Werke aufnehmen kann. Offenbar ist er - bei aller Ähnlichkeit seiner Suada - imstande, in seinen Lesern ganz unterschiedliche Saiten anzuschlagen.

23 März 2017

Botho: "Und doch gebunden" (Fontane: Irrungen Wirrungen)

Er hing dem noch eine Weile nach, dann aber wechselten die Bilder, und längst Zurückliegendes trat statt Käthes wieder vor seine Seele: der Dörrsche Garten, der Gang nach Wilmersdorf, die Partie nach Hankels Ablage. Das war der letzte schöne Tag gewesen, die letzte glückliche Stunde... »Sie sagte damals, daß ein Haar zu fest binde, darum weigerte sie sich und wollt es nicht. Und ich? warum bestand ich darauf? Ja, es gibt solche rätselhaften Kräfte, solche Sympathien aus Himmel oder Hölle, und nun bin ich gebunden und kann nicht los. Ach sie war so lieb und gut an jenem Nachmittag, als wir noch allein waren und an Störung nicht dachten, und ich vergesse das Bild nicht, wie sie da zwischen den Gräsern stand und nach rechts und links hin die Blumen pflückte. Die Blumen – ich habe sie noch. Aber ich will ein Ende damit machen. Was sollen mir diese toten Dinge, die mir nur Unruhe stiften und mir mein bißchen Glück und meinen Ehefrieden kosten, wenn je ein fremdes Auge darauf fällt.«
Und er erhob sich von seinem Balkonplatz und ging, durch die ganze Wohnung hin, in sein nach dem Hofe hinaus gelegenes Arbeitszimmer, das des Morgens in heller Sonne, jetzt aber in tiefem Schatten lag. Die Kühle tat ihm wohl, und er trat an einen eleganten, noch aus seiner Junggesellenzeit herstammenden Schreibtisch heran, dessen Ebenholzkästchen mit allerlei kleinen Silbergirlanden ausgelegt waren. In der Mitte dieser Kästchen aber baute sich ein mit einem Giebelfeld ausgestattetes und zur Aufbewahrung von Wertsachen dienendes Säulentempelchen auf, dessen nach hinten zu gelegenes Geheimfach durch eine Feder geschlossen wurde. Botho drückte jetzt auf die Feder und nahm, als das Fach aufsprang, ein kleines Briefbündel heraus, das mit einem roten Faden umwunden war, obenauf aber, und wie nachträglich eingeschoben, lagen die Blumen, von denen er eben gesprochen. Er wog das Päckchen in Händen und sagte, während er den Faden ablöste: »Viel Freud, viel Leid. Irrungen, Wirrungen. Das alte Lied.«
Er war allein und an Überraschung nicht zu denken. In seiner Vorstellung aber immer noch nicht sicher genug, stand er auf und schloß die Tür. Und nun erst nahm er den obenauf liegenden Brief und las. Es waren die den Tag vor dem Wilmersdorfer Spaziergange geschriebenen Zeilen, und mit Rührung sah er jetzt im Wiederlesen auf alles das, was er damals mit einem Bleistiftstrichelchen bezeichnet hatte. »Stiehl... Alleh... Wie diese liebenswürdigen ›h's‹ mich auch heute wieder anblicken, besser als alle Orthographie der Welt. Und wie klar die Handschrift. Und wie gut und schelmisch, was sie da schreibt. Ach, sie hatte die glücklichste Mischung und war vernünftig und leidenschaftlich zugleich. Alles, was sie sagte, hatte Charakter und Tiefe des Gemüts. Arme Bildung, wie weit bleibst du dahinter zurück.«
Er nahm nun auch den zweiten Brief und wollte sich überhaupt vom Schluß her bis an den Anfang der Korrespondenz durchlesen. Aber es tat ihm zu weh. »Wozu? Wozu beleben und auffrischen, was tot ist und tot bleiben muß? Ich muß aufräumen damit und dabei hoffen, daß mit diesen Trägern der Erinnerung auch die Erinnerungen selbst hinschwinden werden.«
Und wirklich, er war es entschlossen, und sich rasch von seinem Schreibtisch erhebend, schob er einen Kaminschirm beiseit und trat an den kleinen Herd, um die Briefe darauf zu verbrennen. Und siehe da, langsam, als ob er sich das Gefühl eines süßen Schmerzes verlängern wolle, ließ er jetzt Blatt auf Blatt auf die Herdstelle fallen und in Feuer aufgehen. Das letzte, was er in Händen hielt, war das Sträußchen, und während er sann und grübelte, kam ihm eine Anwandlung, als ob er jede Blume noch einmal einzeln betrachten und zu diesem Zwecke das Haarfädchen lösen müsse. Plötzlich aber, wie von abergläubischer Furcht erfaßt, warf er die Blumen den Briefen nach.
Ein Aufflackern noch, und nun war alles vorbei, verglommen.
»Ob ich nun frei bin...? Will ich's denn? Ich will es nicht. Alles Asche. Und doch gebunden.«

Beim Grab von Frau Nimptsch (Fontane: Irrungen Wirrungen)

Botho hatte sich der Führung eines gleich am Kirchhofseingange beschäftigten Alten anvertraut und das Grab der Frau Nimptsch in guter Pflege gefunden: Efeuranken waren eingesetzt, ein Geraniumtopf stand dazwischen, und an einem Eisenständerchen hing bereits ein Immortellenkranz. »Ah, Lene«, sagte Botho vor sich hin. »Immer dieselbe... Ich komme zu spät.« Und dann wandt er sich zu dem neben ihm stehenden Alten und sagte: »War wohl bloß 'ne kleine Leiche?«
»Ja, klein war sie man.«
»Drei oder vier?«
»Justement vier. Und versteht sich unser alter Supperndent. Er sprach bloß 's Gebet, und die große mittelaltsche Frau, die mit dabei war, so vierzig oder drum rum, die blieb in einem Weinen. Und auch 'ne Jungsche war mit dabei. Die kommt jetzt alle Woche mal, und den letzten Sonntag hat sie den Geranium gebracht. Und will auch noch 'n Stein haben, wie sie jetzt Mode sind: grünpoliert mit Namen und Datum drauf.«
Und hiernach zog sich der Alte mit der allen Kirchhofsleuten eigenen Geschäftspolitesse wieder zurück, während Botho seinen Immortellenkranz an den schon vorher von Lene gebrachten anhing, den aus Immer grün und weißen Rosen aber um den Geraniumtopf herumlegte. Dann ging er, nachdem er noch eine Weile das schlichte Grab betrachtet und der guten Frau Nimptsch liebevoll gedacht hatte, wieder auf den Kirchhofsausgang zu. Der Alte, der hier inzwischen seine Spalierarbeit wieder aufgenommen, sah ihm, die Mütze ziehend, nach und beschäftigte sich mit der Frage, was einen so vornehmen Herrn, über dessen Vornehmheit ihm, seinem letzten Händedruck nach, kein Zweifel war, wohl an das Grab der alten Frau geführt haben könne. »Das muß so was sein. Und hat die Droschke nicht warten lassen.« Aber er kam zu keinem Abschluß, und um sich wenigstens auch seinerseits so dankbar wie möglich zu zeigen, nahm er eine der in seiner Nähe stehenden Gießkannen und ging erst auf den kleinen eisernen Brunnen[147] und dann auf das Grab der Frau Nimptsch zu, um den im Sonnenbrand etwas trocken gewordenen Efeu zu bewässern.
Botho war mittlerweile bis an die dicht am Rollkruge haltende Droschke zurückgegangen, stieg hier ein und hielt eine Stunde später wieder in der Landgrafenstraße. Der Kutscher sprang dienstfertig ab und öffnete den Schlag.
»Da«, sagte Botho... »Und dies extra. War ja 'ne halbe Landpartie«
»Na, man kann's auch woll vor 'ne ganze nehmen.«
»Ich verstehe«, lachte Rienäcker. »Da muß ich wohl noch zulegen?«
»Schaden wird's nich... Danke schön, Herr Baron.«
»Aber nun futtert mir auch den Schimmel besser raus. Is ja ein Jammer.«

22 März 2017

„Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.“

"F.W. Bernstein ist bis heute nicht berühmt geworden. [...] „Auch die Hühner werfen Schatten,/wenn sie in der Sonne stehn.“ [...] " 
(F.W. Bernstein: "Vom Sinn", Frankfurter Anthologie)

Blumen (Fontane: Irrungen Wirrungen)

»Ich möchte dir einen recht schönen Strauß pflücken«, sagte Botho, während er Lene bei der Hand nahm. »Aber sieh nur, die reine Wiese, nichts als Gras und keine Blume. Nicht eine.«
»Doch. Die Hülle und Fülle. Du siehst nur keine, weil du zu anspruchsvoll bist.«
»Und wenn ich es wäre, so wär ich es bloß für dich.«
»Oh, keine Ausflüchte. Du wirst sehen, ich finde welche.«
Und sich niederbückend, suchte sie nach rechts und links hin und sagte: »Sieh nur, hier... und da... und hier wieder. Es stehen hier mehr als in Dörrs Garten; man muß nur ein Auge dafür haben.« Und so pflückte sie behend und emsig, zugleich allerlei Unkraut und Grashalme mit ausreißend, bis sie, nach ganz kurzer Zeit, eine Menge Brauchbares und Unbrauchbares in Händen hatte.
»Der kommt uns zupaß«, sagte Botho, »hier wollen wir uns setzen. Du mußt ja müde sein. Und nun laß sehen, was du gepflückt hast. Ich glaube, du weißt es selber nicht, und ich werde mich auf den Botaniker hin ausspielen müssen. Gib her. Das ist Ranunkel, und das ist Mäuseohr, und manche nennen es auch falsches Vergißmeinnicht. Hörst du, falsches. Und hier das mit dem gezackten Blatt, das ist Taraxacum, unsere gute alte Butterblume, woraus die Franzosen Salat machen. Nun meinetwegen. Aber Salat und Bouquet ist ein Unterschied.«
»Gib nur wieder her«, lachte Lene. »Du hast kein Auge für diese Dinge, weil du keine Liebe dafür hast, und Auge und Liebe gehören immer zusammen. Erst hast du der Wiese die Blumen abgesprochen, und jetzt, wo sie da sind, willst du sie nicht als richtige Blumen gelten lassen. Es sind aber Blumen und noch dazu sehr gute. Was gilt die Wette, daß ich dir etwas Hübsches zusammenstelle.«
»Nun da bin ich doch neugierig, was du wählen wirst.«
»Nur solche, denen du selber zustimmst. Und nun laß uns anfangen. Hier ist Vergißmeinnicht, aber kein Mäuseohr-Vergißmeinnicht, will sagen kein falsches, sondern ein echtes. Zugestanden?«
»Ja.«
»Und das hier ist Ehrenpreis, eine feine kleine Blume. Die wirst du doch auch wohl gelten lassen? Da frag ich gar nicht erst. Und diese große rotbraune, das ist Teufelsabbiß und eigens für dich gewachsen. Ja, lache nur. Und das hier«, und sie bückte sich nach ein paar gelben Blumenköpfchen, die gerade vor ihr auf der Sandstelle blühten, »das sind Immortellen
»Immortellen«, sagte Botho. »Die sind ja die Passion der alten Frau Nimptsch. Natürlich, die nehmen wir, die dürfen nicht fehlen. Und nun binde nur das Sträußchen zusammen.«
»Gut. Aber womit? Wir wollen es lassen, bis wir eine Binse finden.«
»Nein, so lange will ich nicht warten. Und ein Binsenhalm ist mir auch nicht gut genug, ist zu dick und zu grob. Ich will[was Feines. Weißt du, Lene, du hast so schönes langes Haar; reiß eins aus und flicht den Strauß damit zusammen.«
»Nein«, sagte sie bestimmt.
»Nein? warum nicht? warum nein?«
»Weil das Sprüchwort sagt: ›Haar bindet.‹ Und wenn ich es um den Strauß binde, so bist du mitgebunden.«
»Ach, das ist Aberglauben. Das sagt Frau Dörr.«
»Nein, die alte Frau sagt es. Und was die mir von Jugend auf gesagt hat, auch wenn es wie Aberglauben aussah, das war immer richtig.«
»Nun meinetwegen. Ich streite nicht. Aber ich will kein ander Band um den Strauß als ein Haar von dir. Und du wirst doch nicht so eigensinnig sein und mir's abschlagen.«
Sie sah ihn an, zog ein Haar aus ihrem Scheitel und wand es um den Strauß. Dann sagte sie: »Du hast es gewollt. Hier, nimm es. Nun bist du gebunden.«

Er versuchte zu lachen, aber der Ernst, mit dem sie das Gespräch geführt und die letzten Worte gesprochen hatte, war doch nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben.
(Fontane: Irrungen Wirrungen 11. Kapitel)

Im 14. Kapitel sagt Lene:
»Du fühlst selbst, daß ich recht habe; dein gutes Herz sträubt sich nur, es zuzugestehen, und will es nicht wahr haben. Aber ich weiß es: Gestern, als wir über die Wiese gingen und plauderten und ich dir den Strauß pflückte, das war unser letztes Glück und unsere letzte schöne Stunde.«

Gegen Ende des Romans verbrennt Botho Lenes Briefe und damit zusammen den Blumenstrauß. Als alles verbrannt ist, sagt er: "Und doch gebunden."

20 März 2017

Longos: Daphnis und Chloe 3. Folge

Vorige Folge

Lamon bereitet den Besuch seines Herrn vor, indem er den Lustgarten des Herrn verschönert.
Ein Mitsklave Lamons war jetzt aus Mitylene gekommen und brachte die Nachricht, der Herr werde kurz vor der Weinlese eintreffen, um sich selbst zu unterrichten, ob seine Besitzungen durch den Überfall der Methymnäer gelitten hatten. Da nun der Sommer Abschied nahm und der Herbst nahte, bereitete ihm Lamon einen Aufenthalt voll jeder Art Augenlust.  Er reinigte die Bäche, damit das Wasser darin recht hell wäre, und führte den Dünger vom Hofe weg, damit sein Geruch niemanden belästige, und pflegte den Lustgarten, damit er schön in die Augen fiele. Dieser Lustgarten war eine gar schöne, den königlichen Gärten ähnliche Anlage.[...]  
Man hätte ihn für eine weite Aue halten können. Alle Arten von Bäumen wuchsen darin, Äpfel, Myrten, Birnen, auch Granaten und Feigen und Olivenbäume; auf der andern Seite hohe Weinstöcke, die sich mit reifenden Trauben an die Äpfel- und Birnbäume anschmiegten, gleich als wollten sie in der Frucht mit ihnen wetteifern. Dies waren die Bäume zahmer Arten. Aber auch Zypressen waren da und Lorbeern und Platanen und Pinien. Um diese alle schlang sich statt des Weines Efeu, und seine Dolden, die groß und schwarz waren, ahmten die Trauben nach. Im innern Bezirk standen die fruchttragenden Bäume, gleichsam umschirmt: von außen standen die unfruchtbaren, wie eine Umfriedigung von Menschenhand; und um dieses lief wieder ein schmales Mauerwerk als Einfassung. Alles war durchschnitten und gesondert, und ein Stamm stand in gehöriger Entfernung von dem andern. In der Höhe aber stießen die Zweige zusammen und vermischten gegenseitig ihr Laub; aber auch ihre Natur schien Kunst. Es waren auch Beete von Blumen da, deren einige die Erde erzeugte, andere die Kunst bildete; Rosenhecken und Hyazinthen und Lilien waren durch Kunst gezogen; Veilchen, Narzissen und Anagallis trug die Erde von selbst. [...]
Als nun Eudromos schon im Begriff war, nach der Stadt zurückzukehren, gab ihm Daphnis, außer andern nicht wenigen Gaben, alles, was nur ein Ziegenhirt schenken kann, gut gepreßte Käse, ein spätgeworfenes Zicklein und ein weißes, zottiges Ziegenfell, um es im Winter beim Laufen umzunehmen. Jener freute sich und küßte den Daphnis und versprach ihm, seinem Herrn viel Gutes von ihm zu sagen, und trennte sich so von ihnen mit freundlicher Gesinnung. Daphnis aber blieb voll Bangigkeit zurück mit Chloe. Auch sie war voll Bangigkeit. Denn er, ein Knabe, bisher nur gewohnt, Ziegen zu sehn und Schafe und Landleute und Chloe, sollte jetzt zum erstenmal einem Herrn unter die Augen treten, den er bisher nur hatte nennen hören. Sie war also seinetwegen voll Sorgen, wie er sich gegen den Herrn benehmen würde; auch ihrer Heirat wegen war sie voll Unruhe, sie möchte vielleicht nur ein eitler Traum gewesen sein. Ununterbrochen waren daher ihre Küsse und ihre Umarmungen, als ob sie miteinander verwachsen wären; aber mit ihren Küssen war Furcht gemischt, und voll Besorgnis waren ihre Umarmungen, als ob sie schon das Auge des Herrn fürchteten oder ihre Liebe verbergen müßten. [...]
Es wohnte dort ein gewisser Lampis, ein frecher Rinderhirt. Dieser hatte auch bei Dryas um Chloe gefreit und ihm viele Geschenke gegeben, um ihn für seinen Wunsch zu gewinnen. Da er nun merkte, daß, wenn der Herr einwilligte, Daphnis sie heimführen würde, sann er auf eine List, den Herrn gegen beide aufzubringen; und weil er wußte, wie viele Freude er an dem Lustgarten hatte, beschloß er, diesen, so weit er könnte, zu verheeren und zu verunstalten. Wenn er nun die Bäume niederhieb, so war er in Gefahr, bei dem Geräusche darüber ertappt zu werden; er hielt sich also an die Blumen, die er leicht verwüsten konnte; erwartete die Nacht, und nachdem er über die Mauer gestiegen war, riß er einige aus, brach andere ab, noch andere zertrat er, wie ein Schwein getan hätte. Dann entfernte er sich unbemerkt; Lamon aber kam am folgenden Morgen in den Garten und wollte die Blumen aus der Quelle wässern. Wie er nun den ganzen Platz verheert und eine Verwüstung sah, wie sie nur ein Feind, aber kein Räuber anzurichten pflegt, zerriß er augenblicklich seinen Rock und rief mit lauter Stimme die Götter an, so daß Myrtale, was sie unter den Händen hatte, stehen ließ und hinaus lief, und Daphnis, der eben die Ziegen ausgetrieben hatte, zurückkehrte. Auch diese erhoben bei dem Anblick ein Jammern und vergossen beim Jammern Tränen. [...]
Lamon rief jetzt in seinem Schrecken: »Weh, weh über die Rosenhecken, wie sind sie gebrochen! Weh über das Veilchenbeet, wie ist es niedergetreten! Weh über die Hyazinthen und Narzissen, die ein böser Mensch ausgerissen hat! Der Frühling wird kommen; sie aber werden nicht sprießen: es wird Sommer werden; aber sie werden nicht blühen: Herbst; aber sie werden niemanden kränzen. Hast denn auch du dich, o Dionysos, dieser armen Blumen nicht erbarmt, bei denen du wohntest, die du unter den Augen hattest, mit denen ich dich oftmals bekränzt habe? Wie, wie soll ich nun den Garten dem Herrn zeigen? Was wird er bei diesem Anblick tun? [...]
Chloe hatte sich aus Furcht und Scheu vor dem Gewühl in den Wald geflüchtet; Daphnis aber stand da, mit einem zottigen Ziegenfell angetan und einer neugenähten Hirtentasche über den Schultern und hielt in beiden Händen – in der einen frische Käse, in der andern säugende Zicklein. Wenn jemals Apollo im Dienste Laomedons die Rinderherden weidete, so war er so gestaltet, wie damals Daphnis erschien. [...]
Ich aber liebe eine freie Schönheit, wenn schon in einem unfreien Leibe. Siehst du nicht, wie sein Haar den Hyazinthen gleicht, wie unter seinen Brauen die Augen leuchten, wie in goldener Fassung ein Edelstein? Sein Gesicht ist mit Röte bedeckt; sein Mund aber voll von Zähnen, so weiß wie Elfenbein. Wer möchte nicht wünschen, von diesen Lippen süße Küsse zu schlürfen? [...]
Lamon um die Erlaubnis bat zu sprechen und also begann: »Vernimm, o Herr, von einem bejahrten Manne ein wahrhaftes Wort; ich schwöre beim Pan und bei den Nymphen, daß ich nichts Falsches sagen werde. Ich bin nicht Daphnis' Vater, und Myrtale hat nie das Glück gehabt, Mutter zu werden. Andre Eltern haben ihn als Kind ausgesetzt, vielleicht weil sie schon genug größere Kinder hatten; ich aber habe ihn ausgesetzt und von meiner Ziege genährt gefunden, die ich denn auch nach ihrem Tode in der Umgebung des Gartens begraben habe, aus Liebe, weil sie wie eine Mutter getan hat. Ich habe auch Erkennungszeichen mit ihm niedergelegt gefunden; ich bekenne dies, Herr, und bewahre sie auf; sie verraten einen bessern Stand als der unsrige ist. Daß er nun Astylos Diener sei, der schöne Diener eines schönen und edlen Herrn, weise ich nicht zurück; das aber kann ich nicht zugeben, daß er den Lüsten eines Gnathon diene, der ihn nach Mitylene zu führen und zum Weibe zu machen bestrebt ist.« [...]
Statt indes weiter den Mutmaßungen nachzuhängen, verlangte er die Erkennungszeichen zu sehen, ob sie wirklich ein glänzenderes und ausgezeichneteres Los verrieten, und Myrtale entfernte sich, um alles zu holen, wie sie es in einer alten Hirtentasche aufbewahrte. Nachdem es gebracht worden, betrachtete es Dionysophanes zuerst, und als er eine purpurne Chlamys sah, eine goldene Schnalle und ein kleines Schwert mit elfenbeinernem Griff, schrie er laut auf: »O Zeus! o Gott!« und ruft seine Gemahlin, um es zu betrachten. Auch diese rief ebenfalls beim ersten Blicke aus: »O ihr heiligen Parzen! Haben wir das nicht unserem eigenen Sohne mitgegeben? Haben wir nicht Sophrosynen damit hier auf das Land geschickt? Nichts anderes war es, sondern ebendasselbe, lieber Mann. Es ist unser Kind; Daphnis ist dein Sohn; er weidete seines Vaters Ziegen!« Während sie noch sprach und Dionysophanes die Sachen küßte und vor übergroßer Freude weinte, warf Astylos, als er hörte, daß Daphnis sein Bruder sei, seinen Mantel von sich und lief nach dem Garten, um ihn zuerst zu küssen. Als ihn Daphnis aber nebst so vielen andern herzulaufen sah und ihn »Daphnis! Daphnis!« rufen hörte und nicht anders meinte, als er wolle ihn gefangennehmen, warf er Hirtentasche und Syrinx von sich und eilte dem Meere zu, um sich von dem hohen Felsen herabzustürzen. [...]
Jetzt nahm Daphnis all sein Hirtengerät zusammen und verteilte es unter die Götter als Weihgeschenke. Dem Dionysos weihte er die Hirtentasche und das Fell; dem Pan die Syrinx und die Querpfeife; den Hirtenstab den Nymphen und die Milchgefäße, die er selbst verfertigt hatte. Wie aber immer das Gewohnte einem erfreulicher ist als ein fremdes und ungewohntes Glück, so weinte er bei jedem Stücke, von dem er sich trennte und hing die Milchgefäße nicht eher auf, als bis er gemolken, das Fell nicht eher, als bis er es umgehängt, die Syrinx, bis er darauf geflötet hatte; ja, er küßte das alles und redete die Ziegen an und rief die Böcke mit Namen. Aus der Quelle trank er auch, weil er oft mit Chloe daraus getrunken hatte. Noch aber bekannte er seine Liebe nicht, sondern erwartete die gelegene Zeit. Während der Zeit, wo Daphnis mit den Opfern beschäftigt war, trug sich mit Chloe folgendes zu. Sie saß bei ihrer Herde und weinte und sagte, wie natürlich war: »Daphnis hat mich vergessen. Er träumt von einer reichen Heirat. Warum ließ ich ihn auch statt bei den Nymphen bei den Ziegen schwören? Er hat sie verlassen, wie Chloe. Nicht einmal jetzt, wo er dem Pan und den Nymphen opfert, hat er Chloe zu sehen gewünscht. Er hat vielleicht bei seiner Mutter Mägde gefunden, die besser sind als ich. Nun wohl ihm! Ich aber will nicht länger leben.« Indem sie so bei sich sprach und so bei sich dachte, überfiel sie Lampis, der Rinderhirt, mit einer Begleitung von Landleuten und raubte sie weg, [...]
Sie wurde also unter kläglichem Geschrei fortgerissen; aber einer, der es gesehen hatte, zeigte es der Nape an, Nape dem Dryas, Dryas dem Daphnis. Dieser geriet darüber fast von Sinnen; da er aber nicht wagte, mit seinem Vater zu sprechen und sich doch nicht fassen konnte, ging er in den Garten und jammerte: »O welch unseliges Finden!« sagte er. »Wieviel besser war' es für mich, die Herde zu weiden! Wieviel glücklicher war ich, da ich ein Knecht war! Da sah ich doch Chloe. Da küßt' ich sie. Nun hat Lampis sie geraubt, und wenn die Nacht kommt, wird er bei ihr liegen. Ich aber trinke und schwelge und habe umsonst beim Pan und den Ziegen und den Nymphen geschworen.« Diese Worte des Daphnis vernahm Gnathon, der in dem Garten versteckt war, und da er jetzt den günstigen Zeitpunkt zur Aussöhnung gefunden zu haben glaubte, nahm er einige von Astylos' Dienern mit sich und eilte dem Dryas nach. Nachdem er sich von diesem die Wohnung des Lampis hatte zeigen lassen, beschleunigte er seine Schritte und traf ihn, als er eben Chloe in sein Haus führte, nahm sie ihm ab und züchtigte die Bauern, die ihm geholfen hatten, mit Faustschlägen. Auch wollte er den Lampis binden und wie einen Kriegsgefangenen fortführen; dieser aber war vorher davongelaufen. Nach so rühmlicher Tat kehrte er bei Anbruch der Nacht zurück. Den Dionysophanes fand er schlafend; Daphnis aber wachte noch und weinte im Garten. Er führte also Chloe zu ihm, und nachdem er sie ihm übergeben hatte, erzählte er ihm den ganzen Verlauf; bat ihn hierauf, das Geschehene zu vergessen, ihn als einen treuen Diener zu behalten und nicht von seinem Tische zu verstoßen, [...]
Jetzt gingen sie miteinander zu Rate und beschlossen ihren Bund geheimzuhalten, und daß Daphnis Chloe im verborgenen behalten und nur seiner Mutter diese Liebe bekennen sollte. Dryas aber gestattete das nicht, sondern verlangte, mit dem Vater zu sprechen und versprach, ihn zu bereden. Am folgenden Morgen begab er sich mit den Erkennungszeichen in der Hirtentasche zu Dionysophanes und der Klearista, die in dem Lustgarten saßen; auch Astylos war zugegen und Daphnis; und als alle schwiegen, hub er also an: »Eine gleiche Notwendigkeit, wie dem Lamon, gebietet auch mir, das bisher bewahrte Geheimnis kundzutun. Diese Chloe hier hab' ich nicht gezeugt, ihr auch nicht die erste Nahrung gereicht; andere haben sie erzeugt, und als sie in der Grotte der Nymphen lag, hat-ein Schaf sie ernährt. Dies sah ich mit eigenen Augen und staunte, als ich es sah; dann zog ich sie auf. Für meine Worte zeugt ihre Schönheit; denn uns gleicht sie nicht; es zeugen auch die mit ihr gefundenen Merkmale, die zu kostbar für Hirten sind. Seht sie hier, und sucht die Angehörigen des Mädchens auf, ob sie sich vielleicht des Daphnis würdig zeigt.« [...]
Diese Worte warf Dryas nicht ohne Bedacht hin, und auch Dionysophanes hörte sie nicht achtlos an; sondern mit einem Blicke auf Daphnis, den er erblassen und heimlich weinen sah, erkannte er sogleich seine Liebe; und mehr aus Sorge für seinen eigenen Sohn als für ein fremdes Mädchen prüfte er die Erzählung des Dryas mit größter Genauigkeit. Als ihm aber auch die Erkennungszeichen vorgelegt wurden, die übergoldeten Schuhe, die Spangen, die Mitra, rief er Chloe zu sich und sprach ihr Mut ein; sie habe schon den Mann, bald würde sie auch Vater und Mutter finden. Jetzt nahm sich Klearista ihrer an und schmückte sie als die Gattin ihres Sohnes; den Daphnis aber nahm Dionysophanes beiseite und fragte ihn, ob sie noch Jungfrau sei; und da er mit einem Eide beteuerte, daß nichts weiter als Küsse und Schwüre unter ihnen vorgefallen, freute er sich der Versicherung und ließ sie zusammensitzen. [...]
Jetzt konnte man sehen, was die Schönheit ist, wenn sie im Schmucke erscheint; denn jetzt, da Chloe angekleidet war, ihr Haar aufgeflochten und ihr Angesicht gewaschen hatte, fanden alle ihre Schönheit um ein bedeutendes erhöht, so daß selbst Daphnis sie kaum wiedererkannte; und auch ohne die Erkennungszeichen hätte man geschworen, daß Dryas nicht der Vater eines solchen Mädchens sei. [...]
Nun hatte Dioriysophanes einst, als er nach vielem Sinnen in einen tiefen Schlaf gesunken war, folgenden Traum. Es kam ihm vor, als bäten die Nymphen den Eros, endlich doch den Liebenden die Ehe zuzugestehen; und als ob dieser den Bogen abspanne und zu dem Köcher von sich lege und dem Dionysophanes befehle, die Edelsten der Mitylenäer zu einem Mahle einzuladen, und, wenn er den letzten Mischkrug gefüllt habe, die Erkennungszeichen jedem vorzulegen und hierauf den Hochzeitsgesang anzustimmen. Wie er nun dies gesehen und gehört hatte, stand er mit Tagesanbruch auf und befahl ein glänzendes Mahl zu bereiten von den Gaben des Landes und des Meeres, und was Seen und Flüsse böten und lud hierauf alle die Vornehmsten der Mitylenäer zu Gästen ein. Als es nun schon Nacht geworden und der Mischkrug gefüllt war, aus dem sie dem Hermes spenden, brachte ein Diener auf einem silbernen Becken die Erkennungszeichen herein, trug sie rechts  herum und zeigte sie allen vor. Von den andern erkannte sie keiner; ein gewisser Megakles aber, der um seines Alters willen den obersten Platz hatte, sah sie nicht so bald, als er sie erkannte und mit lauter und kräftiger Stimme ausrief: »Was seh ich hier? Was ist aus dir geworden, mein Töchterchen? Lebst du wohl auch noch? oder hat ein Hirt nur dies gefunden und aufgehoben? Ich bitte dich, Dionysophanes, sage mir, woher du die Erkennungszeichen meines Kindes hast. Gönne nach deines Daphnis Entdeckung auch mir, etwas zu finden.« Da nun Dionysophanes von ihm verlangte, daß er zuerst die Geschichte der Aussetzung erzähle, begann Megakles, ohne den Ton der Stimme zu senken: »Meine Habe war in früherer Zeit gering; denn was ich hatte, war für Choregien und Trierarchien daraufgegangen. In diesen Umständen wurde mir eine Tochter geboren. Weil ich sie nun nicht in Dürftigkeit erziehen wollte, setzte ich sie geschmückt mit diesen Merkzeichen aus, weil ich wußte, daß viele auch so Väter zu werden wünschen. Sie war nun also in einer Grotte der Nymphen ausgesetzt und den Göttinnen anvertraut; mir aber strömte täglich Reichtum zu, und ich hatte keinen Erben; denn nicht einmal eine Tochter gönnte mir das Glück; sondern als ob die Götter meiner spotteten, sandten sie mir Träume bei Nacht, daß ich durch ein Schaf Vater werden würde.« Jetzt stieß Dionysophanes noch lautere Ausrufungen aus als Megakles vorher, sprang von seinem Sitze auf und führte Chloe, köstlich geschmückt, mit diesen Worten herein: »Dieses Kind hast du ausgesetzt: diese Jungfrau hat dir ein Schaf durch der Götter Vorsehung ernährt, wie mir eine Ziege den Daphnis. Nimm diese Merkzeichen und die Tochter, nimm sie und gib sie dem Daphnis als Braut zurück. Wir haben beide ausgesetzt und beide wiedergefunden; für beide hat Pan, haben die Nymphen und Eros gesorgt.« [...]
Hier war nun alles, wie natürlich in solcher Gesellschaft, dörflich und landgemäß: einer sang, wie die Schnitter singen; ein anderer ahmte die spottende Kurzweil der Kelternden nach; Philetas spielte die Syrinx; Lampis flötete; Dryas und Lamon tanzten; Chloe und Daphnis küßten sich. Es weideten auch die Ziegen in der Nähe, als ob sie ebenfalls an dem Feste Anteil nähmen. Für die Städter hatte dies keinen großen Reiz; Daphnis aber rief einige mit Namen herbei, gab ihnen grünes Laub, faßte sie bei den Hörnern und küßte sie. Und nicht bloß damals, sondern solange sie lebten, führten sie die meiste Zeit ein Hirtenleben, verehrten die Götter, die Nymphen, den Pan, den Eros, schafften große Herden von Schafen und Ziegen an und kannten keine süßere Kost als Obst und Milch. Auch legten sie ein Knäbchen einer Ziege an, und ihr zweites Kind, ein Töchterchen, ließen sie an einem Schafe trinken; und nannten jenes Philopömen, dieses Agele. So lebten sie mit ihnen auch dort zusammen bis in ihr spätes Alter und schmückten die Grotte und stellten Bilder auf und weihten einen Altar dem hirtlichen Eros; dem Pan aber gaben sie statt der Pinie einen Tempel zum Obdach und nannten ihn Pan den Krieger. [...]
Doch dies taten sie erst in der Folge. Damals aber wurden sie, als es Nacht geworden, von allen in das Brautgemach geleitet, wobei die einen die Syrinx, andere die Flöte bliesen, noch andere große Fackeln trugen. An der Türe sangen sie mit harter und rauher Stimme, als ob sie die Erde mit Dreizacken aufrissen, nicht aber ein Brautlied sängen. Daphnis und Chloe aber lagen entkleidet zusammen, umarmten einander und küßten sich und schliefen in dieser Nacht nicht mehr als die Nachteulen tun. Daphnis übte jetzt aus, was er von Lykänion gelernt, und Chloe erfuhr nun zuerst, daß ihre Kurzweil am Walde nur Hirtenspiel gewesen war.