26 Juni 2017

Egon Friedell über Lichtenberg und Lessing

»Könnte ich das alles«, sagt Lichtenberg, »was ich zusammengedacht habe, so sagen, wie es mir ist, nicht getrennt, so würde es gewiß den Beifall der Welt erhalten. Wenn ich doch Kanäle in meinem Kopfe ziehen könnte, um den inländischen Handel zwischen meinem Gedankenvorrate zu befördern!« Aber das konnte er nicht, er konnte alles nur so sagen, »wie es ihm war«, er konnte eben darum Getrenntes nicht ungetrennt empfinden und nicht künstliche Kanäle zwischen Gedanken herstellen, die nicht von Natur aus verbunden waren; er konnte die Dinge nur so denken, wie sie in seinem Kopfe lagen. Zum Systematiker war er zu ehrlich. Jene Arbeit des Zurechtmachens und Verschleifens, die jeder Systembildung zugrunde liegt, verstand er nicht. Die zähe Energie, mit der Kant auf der Grundmauer seiner neuen seelenwissenschaftlichen Entdeckungen ein weithinragendes Systemgebäude aufrichtete, ist schon allein als geistige Kraftleistung anzustaunen, aber es steckt darin doch auch viel Entsagung, ein Verzicht auf die völlige Freiheit des Denkens: freilich ein heroischer Verzicht, den wir wiederum bewundern müssen. Aus denselben Gründen, aus denen Kant ein System schuf, ja schaffen mußte, war es für Lichtenberg unmöglich, seine philosophischen Erkenntnisse zu einer einheitlichen Gesamtkonstruktion zu ordnen. Denn er war ein völliger Impressionist, auch im Philosophischen. Für den Impressionisten aber gibt es nur eine Wahrheit: die des Augenblicks, und gerade unsere Zeit wird am wenigsten geneigt sein, diese Methode des Denkens unwissenschaftlich zu finden. Es liegt aber wiederum gerade in dieser besonderen Struktur seines Geistes, daß Lichtenberg imstande war, den Idealismus vollkommener zuendezudenken, als selbst Kant dies vermochte. »Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch ich denke übersetzt.« Hier ist der Phänomenalismus bis an seine äußerste Grenze gedacht. Denker von einer so durchdringenden Schärfe und Konzessionslosigkeit sind immer der Mystik verwandt, weil sie Skeptiker sind. Der absolute Positivist ist ebensosehr der Gegenpol des wahren Denkers wie der abenteuernde Phantast. [...]
Richtete sich Lessings literarische Aktion mehr nach außen, so ging Lichtenbergs Polemik mehr nach innen. Beide haben gekämpft, der eine draußen im Leben und im Getümmel der Meinungen, der andere in der Stille und Einkehr, jener mit der Welt und ihren Vorurteilen, dieser mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken. Darum sollte man beide immer zusammen nennen. Sie bilden vereinigt die wahre geistige Signatur der deutschen »Aufklärung«, die in diesen beiden Männern eine wirkliche Aufklärung gewesen ist. [...]
Aber man kann nicht sagen, daß Lessings Name Lichtenberg verdunkelt hat, denn das deutsche Publikum weiß ja auch von Lessing nichts. (Egon Friedell)

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