31 Dezember 2021

Stifter: Feldblumen - Veilchen

 Heute ist weithin heiterer Himmel mit tiefem Blau, die Sonne scheint durch mein geöffnetes Fenster; das draußen schallende Leben dringt klarer herein, und ich höre das Rufen spielender Kinder. Gegen Süden stellen sich kleine Wolkenballen auf, die nur der Frühling so schön färben kann; die Metalldächer der Stadt glänzen und schillern, der Vorstadtturm wirft goldne Funken, und ein ferner Taubenflug läßt aus dem Blau zu Zeiten weiße Schwenkungen vortauchen.

Wäre ich ein Vogel, ich sänge heute ohne Aufhören auf jedem Zweige, auf jedem Zaunpfahle, auf jeder Scholle, nur in keinem Käfig – und dennoch hat mich der Arzt in einen gesperrt und mir Bewegung untersagt; deshalb sitze ich nun da, dem Fenster gegenüber, und sehe in den Lenz hinaus, von dem ein Stück gütig zu mir hereinkommt. Auf dem Fenstergesimse stehen Töpfe mit Levkojenpflänzchen, die sich vergnüglich sonnen und ordentlich jede Sekunde grüner werden; einige Zweige aus des Nachbars Garten ragen um die Ecke und zeigen mir, wie frohe Kinder, ihre kleinen, lichtgrünen, unschuldigen Blättchen.

Zwei alte Wünsche meines Herzens stehen auf. Ich möchte eine Wohnung von zwei großen Zimmern haben, mit wohlgebohnten Fußböden, auf denen kein Stäubchen liegt; sanft grüne oder perlgraue Wände, daran neue Geräte, edel, massiv, antik einfach, scharfkantig und glänzend; seidne, graue Fenstervorhänge, wie matt geschliffenes Glas, in kleine Falten gespannt und von seitwärts gegen die Mitte zu ziehen. In dem einen der Zimmer wären ungeheure Fenster, um Lichtmassen hereinzulassen[44] und mit obigen Vorhängen für trauliche Nachmittagsdämmerung. Rings im Halbkreise stände eine Blumenwildnis, und mitten darin säße ich mit meiner Staffelei und versuchte endlich jene Farben zu erhaschen, die mir ewig im Gemüte schweben und nachts durch meine Träume dämmern – ach, jene Wunder, die in Wüsten prangen, über Ozeanen schweben und den Gottesdienst der Alpen feiern helfen. An den Wänden hinge ein oder der andere Ruysdael oder ein Claude, ein sanfter Guido und Kindergesichtchen von Murillo. In dieses Paphos* und Eldorado ginge ich dann nie anders, als nur mit der unschuldigsten, glänzendsten Seele, um zu malen oder mir sonst dichterische Feste zu geben. Ständen noch etwa zwischen dunkelblättrigen Tropengewächsen ein paar weiße, ruhige Marmorbilder alter Zeit, dann wäre freilich des Vergnügens letztes Ziel und Ende erreicht.

Sommerabends, wenn ich für die Blumen die Fenster öffnete, daß ein Luftbad hereinströme, säße ich im zweiten Zimmer, das das gemeine Wohngehäuse mit Tisch und Bett und Schrank und Schreibtisch ist, nähme auf ein Stündchen Vater Goethe zu Handen oder schriebe, oder ginge hin und wieder, oder säße weit weg von der Abendlampe und schaute durch die geöffneten Türflügel nach Paphos, in dem bereits die Dämmerung anginge oder gar schon Mondenschein wäre, der im Gegensatze zu dem trübgelben Erze meines Lampenlichtes schöne, weiße Lilientafeln draußen auf die Wände legte, durch das Gezweig spielte, über die Steinbilder glitte und Silbermosaik auf den Fußboden setzte. Dann stellte ich wohl den guten Refraktor von Fraunhofer, den ich auch hätte, auf, um in den Licht- und Nebelauen des Mondes eine halbe Stunde zu wandeln; dann suchte ich den Jupiter, die Vesta und andere, dann unersättlich den Sirius, die Milchstraße, die Nebelflecken; dann neue, nur mit dem Rohre sichtbare Nebelflecken; gleichsam durch tausend Himmel zurückgeworfene Milchstraßen. In der erhabenen Stimmung, die ich hätte, ginge ich dann gar nicht mehr, wie ich leider jetzt abends tun muß, in das Gastbaus, sondern....

Doch dies fahrt mich auf den zweiten Wunsch: nämlich außer obiger Wohnung von zwei Zimmern noch drei anstoßende zu haben, in denen die allerschönste, holdeste, liebevollste Gattin der Welt ihr Paphos hätte, aus dem sie zuweilen hinter meinen Stuhl träte und sagte: diesen Berg, dieses Wasser, diese Augen hast du schön gemacht. Zu dieser Außerordentlichen ihres Geschlechts ginge ich nun an jenem Abende hinein, führte sie heraus vor den Fraunhofer, zeigte ihr die Welten des Himmels, und ginge von einer zur andern, bis auch sie ergriffen würde von dem Schauder dieser Unendlichkeit – und dann fingen begeisterte Gespräche an, und wir schauten gegenseitig in unsere Herzen, die auch ein Abgrund sind, wie der Himmel, aber auch einer voll lauter Licht und Liebe, nur einige Nebelflecke abgerechnet; – oder wir gingen dann zu ihrem Pianoforte hinein, zündeten kein Licht an (denn der Mond gießt breite Ströme desselben bei den Fenstern herein), und sie spielte herrliche Mozart, die sie auswendig weiß, oder ein Lied von Schubert, oder schwärmte in eigenen Phantasieen herum – ich ginge auf und ab oder öffnete die Glastüren, die auf den Balkon führen, träte hinaus, ließe mir die Töne nachrauschen und sähe über das unendliche Funkengewimmel auf allen Blättern und Wipfeln unseres Gartens, oder wenn mein Haus an einem See stände – – –

Aber, siehst Du, so bin ich – da wachsen die zwei Wünsche, daß sie mir am Ende kein König mehr verwirklichen könnte. Freilich wäre alles das sehr himmlisch, selbst wenn vor der Hand nur die zwei Zimmer da wären, auch mit etwas geringern Bildern; denn die Herrliche, die ich mir einbilde, wäre ja ohnedies nicht für mich leidenschaftlichen Menschen, der ich sie vielleicht täglich verletzte, wenn mich nicht etwa die Liebe zu einem völligen sanften Engel umwandelte. Indessen aber stehe ich noch hier und habe Mitleid mit meiner Behausung, die nur eine allereinzige Stube ist mit zwei Fenstern, durch die ich auf den Frühling hinausschaue, zu dem ich nicht einmal hinaus darf, und an Wipfeln und Gärten ist auch nichts Hinreichendes, außer den paar Zweigen des Nachbars, sondern die Höhe der Stube über andern Wohnungen läßt mich wohl ein sattsames Stück Himmel erblicken, aber auch Rauchfänge genug und mehrere Dächer, und ein paar Vorstadttürme. Die südlichen Wolken stellten sich indessen zu artigen Partieen zusammen und gewinnen immer liebere und wärmere Farben. Ich will, da ich schon nicht hinaus darf, einige abzustehlen suchen und auf der Leinwand aufzubewahren. – – Ich schrieb las Obenstehende heute morgens und malte fast den ganzen Tag Luftstudien. Abends begegnete mir ein artiger Vorfall. Auch moralischen und sogar zufälligen Erscheinungen gehen manchmal ihre Morgenröten vorher. Schon seit vielen Wochen ist mir die Bekanntschaft eines jungen Künstlers versprochen worden. Heute wurde er als Krankenbesuch von zwei Freunden gebracht, und siehe da! es war derselbe junge, schöne Mann, den ich vor zwei Tagen auf dem Spaziergange, der mir mein jetziges Halsweh zuzog, gefunden hatte. Ich erkannte ihn augenblicklich und war fast verlegen; er gab kein Zeichen, daß er auf den Spaziergänger geachtet habe, der so dreist in sein Gesicht und Studienbuch geschaut hat. Der Besuch war in sehr angenehmer, und die Bitte um Wiederholung wurde zugesagt. Sein Name ist Lothar Disson, und sein vorzugsweises Fach die Landschaft; doch soll er auch sehr glücklich porträtieren.

*Paphos (altgriechisch Πάφος Páphos) ist in der griechischen Mythologie die Namensgeberin der Stadt Paphos auf Zypern.Sie war (nach Ovid) die Tochter des Pygmalion, der nach Verlust seiner nur noch für seine Bildhauerei lebt. Ohne bewusst an Frauen zu denken, erschafft er eine Elfenbeinstatue, die wie eine lebendige Frau aussieht. Er behandelt das Abbild immer mehr wie einen echten Menschen und verliebt sich schließlich in seine Kunstfigur. Am Festtag der Venus fleht Pygmalion die Göttin der Liebe an: Zwar traut er sich nicht zu sagen, seine Statue möge zum Menschen werden, doch bittet er darum, seine künftige Frau möge so sein wie die von ihm erschaffene Statue. Als er nach Hause zurückkehrt und die Statue wie üblich zu liebkosen beginnt, wird diese langsam lebendig. Aus dieser Verbindung geht seine Tochter namens Paphos hervor, nach der später die Stadt benannt werden soll. (Wikipedia: Paphos und Pygmalion)

29 Dezember 2021

Lob der Familie (Stifter: Nachsommer)

 "Es wurden die Speisen aufgetragen, von denen die Mutter vermutete, daß sie mir die liebsten sein könnten. Die Vertraulichkeit und die Liebe ohne Falsch, wie man sie in jeder wohlgeordneten[182] Familie findet, tat mir nach der längeren Vereinsamung außerordentlich wohl."

(Stifter: Der Nachsommer Band 1, 6. Der Besuch, zeno.org, S.181-182)

Zum Zusammenhang: 

"[...] Ich ging wieder gerades Weges nach Hause. Dort machte ich einen Gang durch den Garten, sprach einige liebkosende Worte zu dem Hofhunde, der mich mit Heulen und Freudensprüngen begrüßte, und brachte dann noch[181] eine Weile bei der Mutter und der Schwester zu. Hierauf ging ich in alle Zimmer unserer Wohnung, besonders in die mit den alten Geräten, den Büchern und Bildern. Sie kamen mir beinahe unscheinbar vor.

Nach einiger Zeit kam auch der Vater. Es war heute in dem Stübchen, in welchem die alten Waffen hingen, und um welches der Efeu rankte, zum Abendessen aufgedeckt worden. Man hatte sogar bis gegen Abend die Fenster offen lassen können. Da während meines Ganges in die Stadt mein Koffer und meine Kisten von dem Schiffe gekommen waren, konnte ich die Geschenke, welche ich von der Reise mitgebracht hatte, in das Stübchen schaffen lassen: für die Mutter einige seltsame Töpfe und Geschirre, für den Vater ein Ammonshorn von besonderer Größe und Schönheit, andere Marmorstücke und eine Uhr aus dem siebenzehnten Jahrhunderte, und für die Schwester das gewöhnliche Edelweiß, getrockneten Enzian, ein seidenes Bauertüchlein und silberne Bruskettlein, wie man sie in einigen Teilen des Gebirges trägt. Auch was man mir als Geschenke vorbereitet hatte, kam in das Stüblein: von der Mutter und Schwester verfertigte Arbeiten, darunter eine Reisetasche von besonderer Schönheit, dann sämtliche Arten guter Bleifedern, nach den Abstufungen der Härte in einem Fache geordnet, besonders treffliche Federkiele, glattes Papier, und von dem Vater ein Gebirgsatlas, dessen ich schon einige Male Erwähnung getan, und den er für mich gekauft hatte. Nachdem alles mit Freuden gegeben und empfangen worden war, setzte man sich zu dem Tische, an dem wir heute abend nur allein waren, wie es nach und nach bei jeder meiner Zurückkünfte nach einer längeren Abwesenheit der Gebrauch geworden war. Es wurden die Speisen aufgetragen, von denen die Mutter vermutete, daß sie mir die liebsten sein könnten. Die Vertraulichkeit und die Liebe ohne Falsch, wie man sie in jeder wohlgeordneten[182] Familie findet, tat mir nach der längeren Vereinsamung außerordentlich wohl. 

Als die ersten Besprechungen über alles, was zunächst die Angehörigen betraf, und was man in der jüngsten Zeit erlebt hatte, vorüber waren, als man mir den ganzen Gang des Hauswesens während meiner Abwesenheit auseinandergesetzt hatte, mußte ich auch von meiner Reise erzählen. Ich erklärte ihren Zweck und sagte, wo ich gewesen sei, und was ich getan habe, ihn zu erreichen. Ich erwähnte auch des alten Mannes, und erzählte, wie ich zu ihm gekommen sei, wie gut ich von ihm aufgenommen worden sei, und was ich dort gesehen habe. Ich sprach die Vermutung aus, daß er seiner Sprache nach zu urteilen aus unserer Stadt sein könnte. Mein Vater ging seine Erinnerungen durch, konnte aber auf keinen Mann kommen, der dem von mir beschriebenen ähnlich wäre. [...]"

(Stifter: Der Nachsommer Band 1, 6. Der Besuch, zeno.org, S.180-182)

Vgl. auch: "Lob des Herkommens" in Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 1. Kapitel


20 Dezember 2021

Mörikes unvollendeter Roman und Lucie Gelmeroth

 Lucie Gelmeroth (Text) war nur als Einschub in diesen Roman gedacht.

"Als junger Doktor im Begriff, nach meiner Vaterstadt zurückzukehren, beschloß ich, vorerst einen kleinen Abstecher nach dem Gute meines Oheims, des Professors Killford, zu machen, der als Gelehrter in den besten Jahren seit einiger Zeit im Privatstande lebte. Ein vorläufiger Brief hatte mich bei ihm angesagt. Der eigene, jovialische Mann war mir immer merkwürdig gewesen. Er hatte vordem an der Universität G. als ordentlicher Lehrer der klassischen Literatur gestanden, in welcher Eigenschaft er weniger durch ausgebreitete Kenntnisse als eine geschmackvolle Behandlung seines Gegenstandes Glück gemacht und den Neid gewisser Matadore erregt zu haben scheint. Sein eigentliches Fach waren die Naturwissenschaften gewesen, wofür jedoch zum Unglück nirgend eine Stelle offenstand, allein der Eigensinn eines Ministers wollte den ehemaligen Hofmeister seines Hauses durch einen Lehrstuhl, welcher es auch wäre, in aller Eile ausgezeichnet wissen. [...]

Ich langte erst bei später Nachtzeit an, es schlug zwölfe vom Dorf, und alles lag zu Bette, nur kam mir der alte Bediente des Oheims entgegen, der auf den Fall beordert war, mich zu empfangen. Ich ließ mir ohne Geräusch mein Schlafzimmer zeigen, wo sich Erfrischungen auf einem reinlich gedeckten Tischchen von der vorsorgenden Hand meiner Tante aufgestellt fanden. Nie aber werde ich vergessen, wie ich nach einem kurzen Schlummer gegen drei erwachte und im anstoßenden Zimmer durch die verschlossene Tür eine Mädchenstimme jemanden ansprechen und eine Unterhaltung fortführen hörte, die, wenn sie gleich nur einem kranken Kinde galt, nicht minder alten Leuten das Herz erfrischen und die Augen munter halten konnte. Wer mag meine Nachbarin sein? frug ich mich hin und her. Vom Hause selbst war niemand, dem diese Stimme angehören konnte, die Aussprache schon ließ keine Deutsche von Geburt vermuten, die Lieblichkeit des Tons ging über jede Vorstellung. »Schmerzt denn der Arm wieder so?« war die Frage der Fremden. »Wär es nur Tag«, erwiderte der Kleine, den ich sogleich für Ottmarn, Killfords zehnjährigen Knaben, erkannte. »Es wird bald werden«, versicherte die Unbekannte. »Der Mond scheint gar zu prächtig, ich zieh den Vorhang auf, so wird's dir leichter.« Ottmar bat um eine Erzählung, sie sann eine Weile und sprach: »In jenem kleinen Tale, es heißt der [Lücke], du weißt ja, gegen die Ziegelhütte hin, befindet sich ein Stückchen Buchenwald und gleich dabei die wenigen Weingärten hiesiger Markung. Dies ist nun ein sehr wunderlicher Platz, von dem der krumme Gunnefield mir oft die besondersten Dinge erzählte. Dir ist vom Vater längst bekannt, daß von Gespenstern oder Geistern, wie einfältige Leute sich damit fürchten machen, niemals etwas zu halten ist. Verstorbene besuchen die Erde nicht mehr, was auch den Lebenden ganz recht sein kann. Allein von einer Sorte kleiner, geistartiger Wesen hab ich seit langer Zeit bestimmte Kunde und preise den glücklich, der nur einige Bekanntschaft mit diesem niedlichsten und spaßigsten Geschlecht der Erde machen durfte. Verwichenen Herbst in einer stillen Nacht begab ich mich mit Gunnefield, dem meine Neugier keine Ruhe ließ, an den bewußten Ort.« [Bricht ab.] Soweit erzählte die Fremde. Ottmar schien eingeschlafen, kein Laut mehr ließ sich hören; mir selber flossen die Bilder des Märchens gar bald mit dem Spuk meiner eigenen Träume zusammen. [...]

Als sie daher den Vater aufs inständigste bat, sie indes hier zu lassen, wo es ihr in der Tat ganz wohl behagte, so ließ er ihr zuletzt nach vielen Tränen ihren eignen Willen, sie ward mit guter Art bei der Gesellschaft entschuldigt. Der Baronet hatte seine Gründe, warum er sie nicht gerne in der Stadt bei den Verwandten ließ; so kam sie denn zu uns, wo sie vollkommne Freiheit hat, nach ihrem Sinne zu leben. Sie findet keinen Geschmack an den Vergnügungen der großen Welt, besonders mag sie gerne einsam sein, daher sie manchen Tag da draußen auf dem Schlößchen zubringt. Du wirst« – so schloß die Tante – »ein reizendes Mädchen kennenlernen.« – »Ein wunderliches, wolltest du hinzusetzen«, bemerkte Killford lächelnd, »denn du besannst dich auf ein zweites Beiwort. Nun ja, geht mir's doch selber mit dem Mädchen, wie einem zuweilen mit Logogryphen geschieht: kaum glaubt man einen Teil des Wortes glücklich weg zu haben, so stößt man auf neue Merkmale, welche nicht stimmen, und man wird so vom Hundertsten aufs Tausendste geführt.« [Bricht ab.] [...]

Am Ende, wenn wir lange genug zugesehen haben, wie doch dem anderen all das so natürlich ist, wagt man sich wohl einmal auch aus sich selbst hervor und ist gewonnen, eh mans dachte. So liebt meine Frau diese Mary und liebt sie just um das am meisten, warum sie sie am wenigsten liebt. Siehst du, Vetter, wenn deine Logik das verdauen kann, hier bieten Darum und Warum einander den Rücken und küssen sich über die Achsel. Schade, daß unsere Theologen ihren Vorteil nicht besser verstehen, sonst ließe sich aus solchen Phänomenen vielleicht der Abfall guter Geister ganz bequem ableiten. [...]

Nun erschien auch Mary. Sie führte ihren Liebling Ottmar an der Hand, einen ernsthaft aussehenden Knaben, welcher den Arm noch in der Schlinge trug. Jedoch sie selbst! Fürwahr, mir kam im Leben nichts Ähnliches vor. Ein zierlich langer Hals erhöhte die leichte, nicht eben große Gestalt. Sehr reich geflochten laufen schwarze Zöpfe kranzartig an der klaren Stirn hin, die, von der Natur mit geistigem Finger aufs schönste gebildet, über einem Paar nachtblauer Augen steht; von da verschmälert sich das liebe Angesicht abwärts nach dem schwach vortretenden Kinn. Der dünne Mund [Lücke]. Übrigens schien mir, ich weiß nicht warum, ein blaßgelbes, einfaches Kleid, worin ich sie nie wieder sah, ein breiter Gürtel von sonderbar schwarzer Zeichnung so recht im Begriff dieses eignen Wesens zu sein. Wir tranken den Kaffee, und ich, zu einigen Mitteilungen über mein bisheriges Schicksal durch die Tante aufgefordert, war wie beschämt, vor diesen Fremden von Dingen reden zu sollen, die ihnen, wie ich mir einbildete, doch immer kleinlich gegen ihre Verhältnisse vorkommen oder doch gleichgültig sein mußten. Allein zum wenigsten Herr Thomas hörte, zwar ohne auch nur eine Miene zu verändern, mit sichtbarer Teilnahme zu; und als auf einige bekannte gelehrte Anstalten die Rede kam, bewiesen alle Äußerungen einen sehr unterrichteten und billig denkenden Mann, welcher von jener Seite die vorteilhaftesten Begriffe von unserm Vaterlande hatte. [...]

Auf einmal brachte Ottmar als große Neuigkeit vor, was er soeben entdeckt hatte: »Vater«, rief er lebhaft, »die Nacht sind auf deiner Stube zwei Mäuse zumal gefangen worden, fast glaube ich aber auch, daß Mary hexen kann.« Über die Treuherzigkeit, womit das Kind dies sprach, lachte alles und am innigsten Mary. »Nun, da du meine böse Kunst einmal erraten hast, laß hören, ob du den Zauberspruch noch weißt, womit man um die Falle herumgeht, daß so ein Fang nicht fehlen kann!« Sogleich begann der Kleine den Vers: »Liebes Mäuschen, Da steht ein Häuschen, Du bist geladen Auf ein Stück Braten, Stell dich nur kecklich ein Heut nacht bei Mondenschein, Mach aber die Tür fein hinter dir zu. Hörst du? Dabei hüte dein Schwänzchen! Nach Tische lachen wir Und später machen wir Ein niedliches Tänzchen: Witt, witt! Meine alte Katze tanzt wahrscheinlich mit. Man lachte wiederholt und spaßte. Der Oheim aber, zwischen Scherz und Ernst, bemerkte: »Wer unsere Lady nicht kennte, der möchte in der Tat aus dieser und so mancher frühern Probe besorgen, daß sie das junge Volk tiefer, als rätlich ist, in ihren magischen Kasten sehn lasse.« [...]

Im Verlauf einiger Tage lernte ich den Engländer genauer kennen. Ich hörte durch ihn, es solle noch in diesem Jahr eine Gesellschaft von Missionaren nach [Lücke] gehn, an die auch er samt seiner Braut sich anschließen werde. Da er nun seinen notdürftigen Vorrat medizinischer Kenntnisse, die freilich seinem Stande nicht ganz fehlen dürfen, so viel wie möglich an mir stärken wollte [bricht ab]. Der Ernst dieses Mannes, verbunden mit einer Innigkeit, welche durch frühere Erfahrung mit Menschen sehr hart getäuscht, einen kleinen Ansatz von Mißtrauen so gerne zu überwinden strebte, die Konsequenz und Klarheit seines Wollens zogen mich an, und um so leichter, da seine religiösen Grundsätze meiner Erziehung von Hause aus nicht fremde waren. Es haftete so gar nichts Finsteres, Pedantisches an ihm; er konnte heiter sein und selbst ein Scherzwort in die Unterhaltung einmischen. Killford, dem unser häufiger Umgang nicht gleichgültig sein konnte, zog mich gelegentlich damit auf, während die Tante eine kleine Satisfaktion darin für sich fand. [...]

Leider sollte ich in einer der folgenden Nächte auf eine ganz andere Weise als in der ersten beunruhigt werden. Ein gewaltiger Lärm auf der Straße, ein hastiges Zusammenspringen im Hause, gleich darauf der schauerliche Ton schnell aufeinanderfolgender Glockenschläge vom Turm hatte mich schon aus dem Bett geschreckt, als der Oheim mit Licht bei mir eintrat. »Alterier dich nicht zu sehr! Es brennt außer dem Orte, man kann vermuten in der Ziegelbrennerei: du sollst nachkommen, läßt dir der Engländer sagen, er ist schon fort; unglücklicherweise hält mein Katarrh mich zurück!« – Rasch angekleidet, eil ich nach dem obersten Boden, die Richtung des Feuers zu merken. Nach Westen stand der Himmel abwechselnd in helleren und matteren Gluten, je nachdem der dicke vom Wind gezogene Rauch bald stärker, bald schwächer empordrang. Der nahe Horizont unserer Ebene wird dort von einem spitzauslaufenden Walde begrenzt, dessen oberste Gipfel sich mit schauderhafter Deutlichkeit in die braunrote Luft einzeichneten. Es brannte demnach im Tale, und ich erinnerte mich sogleich eines ganz vereinzelten Gehöfts in dortiger Gegend. Im Begriff die Dachlücke zu verlassen, glaubte ich jetzt ein Frauenzimmer im leichten schwarzen Mantel aus der Haustüre über die Gärten wegschlüpfen zu sehen. Nur Mary kann es gewesen sein. Ich renne angstvoll nach und habe schon Haus und Garten im Rücken; auf zwanzig Schritte erscheint sie mir wieder, schnell wie ein Vogel über Acker und Wiesen vor mir hinfliegend, zwischen Hügeln und Graben auf und nieder tauchend und in gerader Linie nach der Hellung zu. Ich stürzte mehr als einmal zu Boden und war nur froh, solang ich die schwarze Gestalt noch im Auge behielt. Aber schon wird die Landschaft ganz licht um mich her. Das Jammergetümmel von unten zerreißt schon mein Ohr, und just am Punkte angekommen, wo man die Tiefe überblickt, was für ein Schauspiel des Grausens! Ein Nebengebäude sank eben zusammen, indem nun [das] Wohnhaus von der Windseite her die gepeitschte Flamme empfängt. Jetzt hört man näher und näher das dumpfe Gerassel der Spritzen des Dorfs, die einen starken Umweg, den halben Berg umfahrend, nehmen mußten. Ich suchte verwirrt und geblendet den Pfad von der Höhe abwärts und erreichte zuvörderst mit einem Sprung die bewässerte Kluft, die zwischen Wald und Weinberg den Hügel hinabführt: da sah ich mit Verwunderung Mary allein auf einem der Mäuerchen sitzen. Sie scheint aus Angst und Erschöpfung nicht weiter zu können. Mit heftigem Schluchzen nach dem Brande hindeutend, ruft sie mir entgegen: »Ja gehn Sie nur und helfen Sie auch mit, Öl zutragen!« Mir blieb keine Zeit, den seltsamen Worten nachzudenken: nur schnell berührte mich eine Erinnerung, daß ich mich auf dem Grund und Boden jenes nächtlichen Märchens befinde, dessen frohes Getümmel auf ewig vor solchen Schrecknissen entflohen schien. [...]

Wenn ihr den Zorn des Himmels durch bedachte Gegenwehr zu reizen fürchtet, ja wenn selbst der notdürftigste Besitz mitsamt dem Hause geopfert werden sollte, so wundert mich, bei Gott, wie ihr habt wagen mögen, diese Kinder aus der Wiege zu reißen, warum ihr euch selber dem Tod entzogen!« Die Weiber heulten laut auf bei den letzten Worten, sogar die Männer, soviel ihrer den Fremden bei dem übrigen Gelärm hatten vernehmen können, murrten über eine so harte Rede. Der junge Mensch war verschwunden, ohne daß ich erfuhr, wer er sei, oder was ihn in die Gegend geführt haben möchte. Sein kurzer, grüner Jagdrock, den er von Anfang abgeworfen hatte, seine feine Gesichtsbildung ließen die beste Abkunft vermuten. Der Tag fing schwach an zu grauen, als unter durchdringendem Wehgeschrei der letzte Rest des Gebälkes stürzte. Nachdem ich indes vernommen, daß den Unglücklichen schon ein Obdach im Dorfe ausgemacht sei, blieb hier für mich nichts weiter zu tun; ich sah mich nach Herrn Thomas um, der sich jedoch bereits verloren hatte. Von einer einzigen Fackel begleitet, nahm ich den alten, sonst nicht betretnen Weg zurück, in überflüssiger Besorgnis um das Fräulein. Unter hundert traurigen Betrachtungen über das ganze Ereignis kam mir im Gehen auch jenes Rätselwort Marys wieder in Sinn, wovon mir freilich vorkam, es klinge stark nach der unglücklichen Idee der verkehrten Menge, welche dem Brande Vorschub getan. Das Wahre an der Sache aber sollte sich erst nach mehreren Tagen ergeben. [...]

Bei meiner Heimkunft höre ich, Mary sei getrost auf die Nachricht zu Bette gegangen, daß niemand, zumal von den Kindern, mit welchen sie gute Freundschaft gemacht, keines Schaden genommen. Wenige Minuten nach mir traf der Engländer ein; ich stand an Killfords Bette, den Hergang der Begebenheit erzählend, da jener voll Eifer herein und auf den Oheim zutrat: »Verzeihen Sie, wenn ich störe – Wissen Sie wohl, wer in der Nähe ist?« – »Wer denn?« – »Viktor.« – »Um Gottes willen«, rief mein Oheim aus, »was denkt der Junge? Sie haben ihn gesprochen?« – »Ich hütete mich wohl, ihm zu begegnen. Er war beim Feuer tätig, verwegen, ich kann wohl sagen, brav und liebenswürdig nach seiner heftigen Art. Sein Aufenthalt ist mir und jedermann noch ein Geheimnis.« – Nun sprachen beide leiser zusammen, worauf ich mich denn still entfernte, nur hört' ich die Tante noch sagen: Daß es doch Mary ja verborgen bleibe! Den andern Tag, da ich um zehn mein Schlafzimmer öffne, erstaun ich nicht wenig, das Gefährt meines Oheims vor dem Hause zu sehn und die Tante mit Mary zur Abfahrt bereit. Es war ein sonniger schöner Maimorgen. »Haltet wacker Haus, bis ich zu Abend wiederkomme, wir machen einen kleinen Ausflug«, rief mir die Tante auf dem Vorsaal entgegen, indem sie etlichen Personen einen großen Pack alter und neuer Sachen nebst einen Vorrat Lebensmitteln zur Verteilung unter die Verunglückten empfahl und Mary bei der Hand nahm, die schon an der Treppe stand und verstohlen freundlich bei allem darein sah; obgleich, wie mir deuchte, nicht ohne einiges Befremden über die eilige Expedition. Der Oheim bezeichnete mir, wie sie weg waren, ein altes freiherrliches Ehepaar, das, in der Nachbarschaft wohnend, dem Fräulein schon seit Jahr und Tag um einen längeren Besuch anliege; »und«, setzte er hinzu, »da der Jammer von gestern dem Mädchen heftig zusetzt [so ohne Lücke] passend sein, daß man sie einige Tage aus diesen aufgeregten Umgebungen wegnehme.« Zwar vor dir braucht man den eigentlichen Grund nicht zu verstecken, Vetter. Es ist nichts ungezogener, als den Gast, nachdem man irgendeine Heimlichkeit erst bei ihm blicken lassen, nachher mit allerlei Flausen und hustenden Gesprächsabläufen davon ausschließen wollen.«  Und sofort hatte Killford kaum den Mund zu einer ausführlichen Erklärung aufgetan, als ihm der Geistliche des Orts gemeldet wurde, den er auf seiner Stube zu empfangen sogleich mit einiger Verwunderung sich anschickt. Im hintern, größeren Garten treffe ich Herrn Thomas an. 

»Sie finden mich so wie ich Sie nachdenkend über die letzten Begebenheiten, die Ihnen zum Teil rätselhaft und wohl gar verdächtig sein mögen. Seit Ihrem Eintritt in dies Haus entging mir Ihr Interesse für Lady Mary und ihre Familie nicht. Sie machen hierin keine Ausnahme von den vielen Deutschen, welche mit Leithems Bekanntschaft gefunden: aber nicht ebenso unbillig und nicht so hämisch wie jene werden Sie diese Erscheinung von der Seite ansehen, nachdem Sie ihr einigermaßen nahekommen. Ich nehme es daher getrost auf mich, Sie etwas tiefer in das Innere dieser Verhältnisse blicken zu lassen, wenn Sie mir jetzt zuhören mögen.« – 

Ich gab dem wackern Manne meinen lebhaften Anteil und meinen Dank zum voraus zu erkennen, und er begann, indem wir beide niedersaßen: »Zuerst sei Ihnen unverhohlen: daß ich sowohl als Killfords uns seit lange stillschweigend gewöhnen mußten, den jungen Wagehals, den Sie die Nacht gesehn, und Lady Leithem entschieden als ein Paar zu betrachten, wenn wir es gleich weder vor Mary, ja kaum unter uns selbst geständig sind. Auf welchen sonderbaren Wegen sie sich fanden, wie weit ihr beiderseitiges Geschick auseinanderliegt und doch wie unzertrennlich es erscheint, erfahren Sie nachher. Zugleich ist es mir aber Bedürfnis, mich bei Ihnen über eine Angelegenheit [?] auszusprechen, worüber ich mich sonst hier wenig äußern darf; Sie wissen, wie verschieden Ihr Oheim und ich in Absicht auf die ersten Bedingungen aller [Erziehung] urteilen. Notwendig sind wir deshalb wegen Mary uneins. Er läßt ihr überall unbedingte Gerechtigkeit widerfahren, sieht daher in allem nur das unschuldige Gepräge einer liebenswürdigen Originalität, dem er auf keine Art zu nahe getreten wissen will, das er um keine Linie anders wünscht.[...]

Auszüge aus  Lucie Gelmeroth:

"Ich wollte – so erzählt ein deutscher Gelehrter in seinen noch ungedruckten Denkwürdigkeiten – als Göttinger Student auf einer Ferienreise auch meine Geburtsstadt einmal wieder besuchen, die ich seit lange nicht gesehen hatte. Mein verstorbener Vater war Arzt daselbst gewesen. Tausend Erinnerungen, und immer gedrängter, je näher ich der Stadt nun kam, belebten sich vor meiner Seele. Die Postkutsche rollte endlich durchs Tor, mein Herz schlug heftiger, und mit taumligem Blick sah ich Häuser, Plätze und Alleen an mir vorübergleiten. Wir fuhren um die Mittagszeit beim Gasthofe an, ich speiste an der öffentlichen Tafel, wo mich, so wie zu hoffen war, kein Mensch erkannte. [...]

Die Gesellschaft war schon im Begriff auseinanderzugehen, als ihre Unterhaltung noch einige Augenblicke bei einer Stadtbegebenheit verweilte, die das Publikum sehr zu beschäftigen schien und alsbald auch meine Aufmerksamkeit im höchsten Grad erregte. Ich hörte einen mir aus alter Zeit gar wohlbekannten Namen nennen; allein es war von einer Missetäterin die Rede, von einem Mädchen, das eines furchtbaren Verbrechens geständig sein sollte; unmöglich konnte es eine und dieselbe Person mit derjenigen sein, die mir im Sinne lag. Und doch, es hieß ja immer: Lucie Gelmeroth, und wieder: Lucie Gelmeroth; es wurde zuletzt ein Umstand berührt, der mir keinen Zweifel mehr übrigließ; der Bissen stockte mir im Munde, ich saß wie gelähmt.

Dies Mädchen war die jüngere Tochter eines vordem sehr wohlhabenden Kaufmanns. Als Nachbarskinder spielten wir[387] zusammen, und ihr liebliches Bild hat, in so vielen Jahren niemals bei mir verwischt werden können. Das Geschäft ihres Vaters geriet, nachdem ich lange die Heimat verlassen, in tiefen Zerfall, bald starben beide Eltern. Vom Schicksal ihrer Hinterbliebenen hatte ich die ganze Zeit kaum mehr etwas gehört; ich hätte aber wohl, auch ohne auf eine so traurige Art, wie eben geschah, an die Familie erinnert zu werden, in keinem Fall versäumt sie aufzusuchen. Ich ward, was des Mädchens Vergehen betrifft, aus dem Gespräch der Herren nicht klug, die sich nun überdies entfernten; da ich jedoch den Prediger S., einen Bekannten meines väterlichen Hauses, als Beichtiger der Inquisitin hatte nennen hören, so sollte ein Besuch bei ihm mein erster Ausgang sein, das Nähere der Sache zu vernehmen. [...]

Die zwei verwaisten Töchter des alten Gelmeroth fanden ihr gemeinschaftliches Brot durch feine weibliche Handarbeit. Die jüngere, Lucie, hing an ihrer, nur um wenig ältern, Schwester Anna mir der zärtlichsten Liebe, und sie verlebten, in dem Hinterhause der vormaligen Wohnung ihrer Eltern, einen Tag wie den andern zufrieden und stille. Zu diesem Winkel des genügsamsten Glücks hatte Richard Lüneborg, ein junger subalterner Offizier von gutem Rufe, den Weg aufgefunden. Seine Neigung für Anna sprach sich aufs redlichste aus und verhieß eine sichere Versorgung. Seine regelmäßigen Besuche erheiterten das Leben der Mädchen, ohne daß es darum aus der gewohnten und beliebten Enge nur im mindesten herauszugehen brauchte. Offen vor jedermann lag das Verhältnis da, kein Mensch hatte mit Grund etwas dagegen einzuwenden. [...]

Allein wie erschrak, wie erstaunte die Welt, als – Lucie Gelmeroth, das unbescholtenste Mädchen, sich plötzlich vor den Richter stellte, mit der freiwilligen Erklärung: sie habe den Lieutenant getötet, den Mörder ihrer armen Schwester, sie wolle gerne sterben, sie verlange keine Gnade! – Sie sprach mit einer Festigkeit, welche Bewunderung erregte, mit einer feierlichen Ruhe, die etlichen verdächtig vorkommen wollte und gegen des Mädchens eigne schauderhafte Aussage zu streiten schien; wie denn die Sache überhaupt fast ganz unglaublich war. Umsonst drang man bei ihr auf eine genaue Angabe der sämtlichen Umstände, sie blieb bei ihrem ersten einfachen Bekenntnisse. Mit hinreißender Wahrheit schilderte sie die Tugend Annas, ihre Leiden, ihren Tod, sie schilderte die Tücke des Verlobten, und keiner der Anwesenden erwehrte sich der tiefsten Rührung. [...]

Inzwischen sperrte man das sonderbare Mädchen ein und hoffte ihr auf diesem Weg in Bälde ein umfassendes Bekenntnis abzunötigen. Man irrte sehr; sie hüllte sich in hartnäckiges Schweigen, und weder List, noch Bitten, noch Drohung vermochten etwas. Da man bemerkte, wie ganz und einzig ihre Seele von dem Verlangen zu sterben erfüllt sei, so wollte man ihr hauptsächlich durch die wiederholte Vorstellung beikommen, daß sie auf diese Weise ihren Prozeß niemals beendigt sehen würde; allein man konnte sie dadurch zwar ängstigen und völlig außer sich bringen, doch ohne das geringste weiter von ihr zu erhalten.

Noch sagte mir Herr S., daß ein gewisser Hauptmann Ostenegg, ein Bekannter des Lieutenants, sich unmittelbar auf Luciens Einsetzung entfernt und durch verschiedenes verdächtig gemacht haben solle; es sei sogleich nach ihm gefahndet worden, und gestern habe man ihn eingebracht. Es müsse sich bald zeigen, ob dies zu irgend etwas führe. [...]

Es folgt der Bericht über die früheren Erlebnisse des Erzählers mit Lucie Gelmeroth:

Auf einmal zeigte sich von fern ein Licht – es war, wie ich richtig mutmaßte, in der Hofmeisterei – wir kamen ihm näher und riefen um Hülfe, was nur aus unsern Kehlen wollte – da prallte das Pferd vor der weißen Gestalt eines kleinen Obelisken zurück und schlug einen Seitenweg ein, wo es aber sehr bald bei einer Planke ohnmächtig auf die Vorderfüße niederstürzte und zugleich uns beide nicht unglücklich abwarf.

Nun zwar für unsere Person gerettet, befanden wir uns schon in einer neuen großen Not. Das Pferd lag wie am Tode keuchend, und war mit allen guten Worten nicht zum Aufstehn zu bewegen; es schien an dem, daß es vor unsern Augen hier verenden würde. Ich gebärdete mich wie unsinnig darüber, meine Freundin jedoch, gescheiter als ich, verwies mir ein so kindisches Betragen, ergriff den Zaum, schlang ihn um die Planke und zog mich mit sich fort, jenem tröstlichen Lichtschein entgegen, um jemand herzuholen. Bald hatten wir die Meierei erreicht. Die Leute, soeben beim Essen versammelt, schauten natürlich groß auf, als das Pärchen in seiner fremdartigen Tracht außer Atem zur Stube hereintrat. Wir trugen unser Unglück vor, und derweil nun der Mann sich gemächlich anzog, standen wir Weibern und Kindern zur Schau, die uns durch übermäßiges Lamentieren über den Zustand unserer kostbaren Kleidung das Herz nur immer schwerer machten. Jetzt endlich wurde die Laterne angezündet, ein Knecht trug sie, und so ging man zu vieren nach dem unglücklichen Platz, wo wir das arme Tier noch in derselben Stellung fanden. Doch auf den ersten Ruck und Streich von einer Männerhand sprang es behend auf seine Füße, und der Meier in seinem mürrischen Ton versicherte sofort, der dummen Kröte fehle auch kein Haar. Ich hätte in der Freude meines Herzens gleich vor dem Menschen auf die Kniee fallen mögen: statt dessen fiel mir Lucie um den Hals, mehr ausgelassen als gerührt und zärtlich allerdings, doch wohler hatte mir im Leben nichts Ähnliches getan. [...]

Hier bricht die Handschrift des Erzählers ab. Wir haben vergeblich unter seinen Papieren gesucht, vom Schicksal jenes flüchtigen Kaufmanns noch etwas zu erfahren. Auch mit Erkundigungen anderwärts sind wir nicht glücklicher gewesen."


(Hier der vollständige Text.)

15 Dezember 2021

Stifter: Nachsommer -Gebirgswanderung: Der Weg zum Gletscher

"Die Wirkung, welche sich aus dem Aneinandergrenzen der oberen, wärmeren Luft und der unteren, kälteren, wie ich schon am schwarzen Steine bemerkt hatte, ergab, war noch stärker geworden, und ein einfaches, wagrechtes, weißlichgraues Nebelmeer war zu meinen Füßen ausgespannt. Es schien riesig groß zu sein und ich über ihm in der Luft zu schweben. Einzelne schwarze Knollen von Felsen ragten über dasselbe empor, dann dehnte es sich weithin, ein trübblauer Strich entfernter Gebirge zog an seinem Rande, und dann war der gesättigte, goldgelbe, ganz reine Himmel, an dem eine grelle, fast strahlenlose Sonne stand, zu ihrem Untergange bereitet. Das Bild war von unbeschreiblicher Größe. Kaspar, welcher neben mir stand, sagte: »Verehrter Herr, der Winter ist doch auch recht schön.« 

»Ja, Kaspar,« sagte ich, »er ist schön, er ist sehr schön.«

Wir blieben stehen, bis die Sonne untergegangen war. Die Farbe des Himmels wurde für einen Augenblick noch höher und flammender, dann begann alles nach und nach zu erbleichen, und schmolz zuletzt in ein farbloses Ganzes zusammen. Nur die gewaltigen Erhebungen, die gegen Süden standen, und die das Eis, das wir besuchen wollten, enthielten, glommen noch von einem unsichern Lichte, während mancher Stern über ihnen erschien. Wir gingen nun in dem beinahe finster gewordenen und ziemlich unwegsamen Raume zur Hütte, um in derselben unsere Vorbereitungen zum Übernachten zu treffen. Die Hütte war, wie es im Winter immer ist, wo sie leer steht, nicht gesperrt. Ein Holzriegel, der sehr leicht zu beseitigen war, schloß die Tür. Wir traten ein, steckten eine Kerze in unsern Handleuchter und machten Licht. Wir suchten das Gemach der Sennerinnen und ließen uns dort nieder. In den Schlafstellen war etwas Heu, ein grober Brettertisch stand in der Mitte des Gemaches, eine Bank lief an der Wand hin, und eine bewegliche stand an dem[678] Tische. Wir hatten vor, hier erst unser eigentliches warmes Tagesmahl zu bereiten. Aber, worauf wir kaum gefaßt waren, es zeigte sich nirgends auch nicht der geringste Vorrat von Holz. Ich hatte für den Fall Weingeist bei mir, um einige Schnitten Braten in einer flachen Pfanne rösten zu können; aber wir zogen es vorzüglich wegen der Erwärmung des Körpers vor, ein Stock Bank zu verbrennen und dem Eigentümer Ersatz zu leisten. Kaspar machte sich mit der Axt an die Arbeit, und bald loderte ein lustiges Feuer auf dem Herde. Ein Abendessen wurde bereitet, wie wir es oft bei unsern Gebirgsarbeiten bereitet hatten, aus dem Heu der Schlafstellen, den Decken und den Pelzen wurden Betten zurecht gemacht, und nachdem ich noch meine Meßwerkzeuge, die im Freien vor der Hütte aufgehängt waren, betrachtet hatte, begaben wir uns zur Ruhe. Auch jetzt am späten Abende war bei ganz heiterem, sternenvollen Himmel eine viel mindere Kälte in dieser Höhe, als ich vermutet hatte.

Ehe der Tag graute, standen wir auf, machten Licht, kleideten uns vollständig an, richteten all unsere Dinge zurecht, bereiteten ein Frühmahl, verzehrten es, und traten unsern Weg an. Die Echernspitze stand fast schwarz im Süden, wir konnten sie deutlich in die blasse Luft über dem Haustein, der uns noch unsere Eisfelder deckte, empor ragen sehen. Der Tag war wieder ganz heiter. Obgleich es noch nicht licht war, durften wir eine Verirrung nicht fürchten, denn wir mußten geraume Zeit zwischen Felsen empor gehen, die unsere Richtung von beiden Seiten begrenzten und uns nicht abweichen ließen. Wir legten, weil der Schnee in diesen Rinnen sich angehäuft hatte, unsere Schneereifen an und gingen in der ungewissen Dämmerung vorwärts. Nach etwas mehr als einer Stunde Wanderung kamen wir auf die Höhe hinaus, wo die Gegend sich wieder öffnet und gegen Osten weite Felder hinziehen. Diese biegen, nachdem sie sich ziemlich[679] hoch erhoben, gegen Süden um einen Fels herum, und lassen dann den Eisstock erblicken, zu dem wir wollten. Dieser drückt mit großer Macht von Süden gegen Norden herab und hat zu seiner südlichen Begrenzung die Echernspitze. Auf den erklommenen Feldern war es schon ganz licht; allein die Berge, welche wir am östlichen Rande derselben unter uns und weit draußen erblicken sollten, waren nicht zu sehen, sondern am Rande der mit Schnee bedeckten Felder setzte sich eine Farbe, die nur ein klein wenig von der Schneefarbe verschieden war, fast ins Unermeßliche fort, die des Nebels. Er hatte seit gestern noch mehr überhand genommen und begrenzte unsere Höhe als Insel. Kaspar wollte erschrecken. Ich aber machte ihn aufmerksam, daß der Himmel über uns ganz heiter sei, Daß dieser Nebel von jenem sehr verschieden sei, der bei dem Beginne des Regen- oder Schneewetters zuerst die Spitzen der Berge in Gestalt von Wolken einhüllt, sich dann immer tiefer, oft bis zur Hälfte der Berge hinabzieht und den Wanderern so fürchterlich ist; unser Nebel sei kein Hochnebel, sondern ein Tiefnebel, der die Bergspitzen, auf denen das Verirren so schrecklich sei, freilasse, und der beim Höhersteigen der Sonne verschwinden werde. Im schlimmsten Falle, wenn er auch bliebe, sei er nur eine wagrechte Schichte, die nicht höher stehe, als wo der schwarze Stein liegt. Von dort hinab aber ist uns der Weg sehr bekannt, wir müssen unsere eigenen Fußstapfen finden und können an ihnen abwärts gehen. Kaspar, welcher mit dem Gebirgsleben sehr vertraut war, sah meine Gründe ein und war beruhigt.

Während wir standen und sprachen, fing sich an einer Stelle der Nebel im Osten zu lichten an, die Schneefelder verfärbten sich zu einer schöneren und anmutigeren Farbe, als das Bleigrau war, mit dem sie bisher bedeckt gewesen waren, und in der lichten Stelle des Nebels begann ein Punkt zu glühen, der immer größer wurde, und[680] endlich in der Größe eines Tellers schweben blieb, zwar trübrot, aber so innig glimmend wie der feurigste Rubin. Die Sonne war es, die die niederen Berge überwunden hatte und den Nebel durchbrannte. Immer rötlicher wurde der Schnee, immer deutlicher, fast grünlich seine Schatten, die hohen Felsen zu unserer Rechten, die im Westen standen, spürten auch die sich nähernde Leuchte und röteten sich. Sonst war nichts zu sehen als der ungeheure dunkle, ganz heitere Himmel über uns, und in der einfachen Großen Fläche, die die Natur hieher gelegt hatte, standen nur die zwei Menschen, die da winzig genug sein mußten. Der Nebel fing endlich an seiner äußersten Grenze zu leuchten an wie geschmolzenes Metall, der Himmel lichtete sich, und die Sonne quoll wie blitzendes Erz aus ihrer Umhüllung empor. Die Lichter schossen plötzlich über den Schnee zu unsern Füßen und fingen sich an den Felsen. Der freudige Tag war da.

Wir banden uns die Stricke um den Leib und ließen ein ziemlich langes Stück von der Leibbinde des einen zu der des andern gehen, damit, wenn einer, da wir jetzt über eine sehr schiefe Fläche zu gehen hatten, gleiten sollte, er durch den andern gehalten würde. Im Sommer war diese Fläche mit vielen kleinen und scharfen Steinen bedeckt, daher der Übergang über sie viel leichter. Im Winter kannte man den Boden nicht, und der Schnee konnte ins Gleiten geraten. Ohne Hilfe der Schneereife, die hier, weil sie unbehilflich machten, nur gefährlich werden konnten, gelangten wir mit angewandter Vorsicht glücklich hinüber, lösten die Stricke, bogen nach einer darauf erfolgten mehrstündigen Wanderung um die Felsen, und standen an dem Gletscher und auf dem ewigen Schnee."

Stifter: Nachsommer - Gebirgswanderung Heinrichs

 "Gegen die Mitte des Januars, zu welcher Zeit gewöhnlich das Wetter am ausdauerndsten zu sein pflegt, stellten sich die Zeichen ein, daß längere Zeit schöne Tage sein werden. Ein etwas weicher Luftzug der vorigen Tage hatte sich verloren, die graue Decke am Himmel war verschwunden, und den verwaschenen Federwolken war eine tiefe Bläue gefolgt. Die Luft zog aus Osten, die Kälte[673] mehrte sich, der Schnee flimmerte, und abends zeigte sich der feine blauliche Duft in den Gründen, der heitere Morgen und immer größere Kälte versprach. Meine Werkzeuge gaben starken Luftdruck und große Trockenheit an.

Ich sagte dem alten Kaspar, daß wir nunmehr aufbrechen würden. Wir nahmen an Alpenstöcken, Steigeisen, Stricken, Schneereifen, Decken, Kleidern, was wir nötig erachteten, eine Schaufel, eine Axt, Kochgeschirr und Lebensmittel auf mehrere Tage. So bepackt gingen wir zu dem See. Dort teilten wir unsere Dinge in zwei bequeme Lasten, daß jeder mit der seinigen so leicht als möglich gehen könne, und erwarteten den nächsten Morgen.

Beim Grauen des Lichtes machten wir uns auf den Weg, und stiegen mit unseren sehr hohen Stiefeln, die ich eigens zu diesem Zwecke hatte machen lassen, in den tiefen Schnee der Wege, die zu den Höhen, auf die wir wollten, führten, die aber nur im Sommer betreten wurden, die jetzt keine Spur zeigten, und die wir nur fanden, weil wir der Gegend sehr kundig waren. Wir gingen mehrere Stunden in diesem tiefen Schnee, dann kamen Wälder, in denen er niederer lag, und durch welche das Fortkommen leichter war. Viele Gerölle und schiefliegende Wände, die nun folgten, zeigten ebenfalls weniger Schnee als die Tiefe, und es war über sie im Winter leichter zu gehen, als ich es im Sommer gefunden hatte, da die Unebenheiten und die kleinen scharfen Riffe und Steine mit einer Schneedecke überhüllt waren. Als wir die ersten Vorberge überwunden hatten und auf die Hochebene der Echern gekommen waren, von der man wieder den blauen See recht tief und dunkel in der weißen Umgebung unten liegen sah, machten wir ein wenig Halt. Die Oberfläche der Echern oder die Hochebene, wie man sie auch gerne nennt, ist aber nichts weniger als eine Ebene, sie ist es nur im Vergleiche mit den steilen Abhängen, welche[674] ihre Seitenwände gegen den See bilden. Sie besteht aus einer Großen Anzahl von Gipfeln, die hinter und neben einander stehen, verschieden an Größe und Gestalt sind, tiefe Rinnen zwischen sich haben, und bald in einer Spitze sich erheben, bald breitgedehnte Flächen darstellen. Diese sind mit kurzem Grase und hie und da mit Knieföhren bedeckt, und unzählige Felsblöcke ragen aus ihnen empor. Es ist hier am schwersten durchzukommen. Selbst im Sommer ist es schwierig, die rechte Richtung zu behalten, weil die Gestaltungen einander so ähnlich sind, und ein ausgetretener Pfad begreiflicher Weise nicht da ist: wie viel mehr im Winter, in welchem die Gestalten durch Schneeverhüllungen überdeckt und entstellt sind, und selbst da, wo sie hervorragen, ein ungewohntes und fremdartiges Ansehen haben. Es sind mehrere Alpenhütten in diesem Gebiete zerstreut, und es befinden sich im Sommer Herden hier oben, die aber, wie zahlreich sie auch sind, in der Großen Ausdehnung verschwinden und sich gegenseitig oft Monate lang nicht sehen. Wir wünschten noch beim Lichte des Tages über diese Erdbildungen hinüber zu kommen, und hatten vor, zur Einhaltung der Richtung uns gegenseitig in unserer Kenntnis der Riffe und der Hügelgestaltungen zu unterstützen und uns die entscheidenden Bildungen wechselseitig zu nennen und zu beschreiben. Am oberen Ende der Hochebene, wo wieder die größeren Felsenbildungen beginnen und das Verirren weit weniger möglich ist, steht im Bereiche großer Kalksteinblöcke eine Sennhütte, die Ziegenalpe genannt, welche das Ziel unserer heutigen Wanderung war. Am Rande der Bergansteigung und dem Anfange der Hochebene, wo wir jetzt waren, setzten wir uns nieder. Es liegt da ein großer Stein, der beinahe ganz schwarz ist. Er ist nicht nur dieser Farbe willen an sich merkwürdig, sondern besonders darum, weil er durch eben diese Farbe, dann durch seine Größe und seine seltsame[675] Gestalt von weitem gesehen werden kann, und denen, die von der Ziegenalpe durch die Hochebene abwärts kommen, zum Zeichen und, wenn sie bei ihm angelangt sind, zur Beruhigung des richtig zurückgelegten Weges dient. Weil vielen, die auf der Hochebene sind, Sennen, Alpenwanderern, Jägern, der Stein ein Versammlungsort ist, so findet sich von ihm ab schon ein merkbar ausgetretener Pfad, und man kann die Richtung zu dem See hinab nicht mehr leicht verfehlen. Auch ist die gegen Sonnenaufgang überhängende Gestalt des Felsens geeignet, vor Regen und heftigen Westwinden zu schützen. Als wir bei ihm angelangt waren, sahen wir freilich keine Spur eines Menschen rings um ihn; denn unberührter Schnee lag bis zu seinen Wänden hinzu, und er stand noch einmal so schwarz aus dieser Umgebung hervor. Wir fanden aber auf kleineren Steinen, die unter seinem Überdache lagen, und auf die der Schnee nicht hereingefallen war, Raum zum Sitzen, und folgten dieser Einladung willig, da sich schon Ermüdung eingestellt hatte. Kaspar schnallte die Umhüllungen der Decken auseinander und holte zwei leichte, aber wärmende Pelze und andere Pelzsachen hervor, die ich dazu bestimmt hatte, unsere Körper und Füße, die im Wandern sich sehr erwärmt hatten, in der Ruhe vor Verkühlung zu schützen. Als wir diese Pelzdinge umgetan hatten, schritten wir dazu, uns durch Speise und Trank zu erquicken. Etwas Wein und Brod reichte zu dem Zwecke hin. Ich betrachtete, nachdem unser Mahl vollendet war, den Wärmemesser, welchen ich gleich nach unserer Ankunft an einer freien Stelle auf meinen Alpenstock aufgehängt hatte, und zeigte meinem Begleiter Kaspar, daß die Wärme hier oben größer sei, als wir sie gestern zu gleicher Tageszeit unten in der Ebene des Sees gehabt hatten. Die Sonne schien sehr kräftig auf den Schnee, es wehte kein Lüftchen, an dem grünlich blaulichen Himmel lagerten nur[676] ein paar sehr dünne weißliche Streifen. Auch konnte man von dem Steinvorsprunge, von dem aus der See zu erblicken war, fast deutlich wahrnehmen, daß unten nicht nur die dichtere, sondern auch kältere Luft liege. Denn so deutlich und klar der See zu erblicken war, so zog sich doch an den weißen oder weißgesprenkelten Wänden desselben ein feiner, blaulich schillernder Dunst hin, zum Zeichen, daß dort unsere obere, wärmere Luft mit der unteren, schon seit längerer Zeit über dem See stehenden kälteren zusammengrenze, und sich da ein sanfter Beschlag bilde. Ich schaute nur noch auf den Feuchtigkeitsmesser und den des Luftdruckes, dann packte Kaspar unsere Decken und Pelze, ich meine Geräte ein, und wir gingen unsers Weges weiter.

Mit großer Vorsicht suchten wir die Richtung, die uns nottat, zu bestimmen. Auf jeder Stelle, die eine größere Umsicht gewährte, hielten wir etwas an, und suchten uns die Gestalt der Umgebung zu vergegenwärtigen und uns des Raumes, auf dem wir standen, zu vergewissern. Ich zog zum Überflusse auch noch die Magnetnadel zu Rate. In den Niederungen und Mulden zwischen einzelnen Höben mußten wir uns der Schneereife bedienen. Gegen den spätern Nachmittag stiegen uns die höheren und dunkleren Zacken der Echern aus dem Schnee entgegen. Als die Sonne fast nur mehr um ihre eigene Breite von dem Rande des Gesichtskreises entfernt war, kamen wir in der Ziegenalpe an. Hier hatten wir einen eigentümlichen Anblick. Es ist da eine Stelle, von welcher aus man nicht mehr zu dem See oder zu seiner Umgebung zurücksehen kann, dafür öffnet sich gegen Sonnenuntergang ein weiter Blick in die Lichtung des Lautertales, besonders aber in das Echertal, in welchem der Mann wohnt, welcher meine und Klotildens Zither gemacht hatte. In diese Ferne wollte ich noch einen Blick tun, ehe wir in die Hütte gingen. Aber ich konnte die Taler nicht sehen.[677]

(Stifter: Nachsommer, 3. Band, 3. Die Mitteilung)

07 Dezember 2021

Erich Mühsam: Der Revoluzzer

 

Der Revoluzzer
Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet

War einmal ein Revoluzzer,

im Zivilstand Lampenputzer;

ging im Revoluzzerschritt

mit den Revoluzzern mit.


Und er schrie: »Ich revolüzze!«

Und die Revoluzzermütze

schob er auf das linke Ohr,

kam sich höchst gefährlich vor.
[127]

Doch die Revoluzzer schritten

mitten in der Straßen Mitten,

wo er sonsten unverdrutzt

alle Gaslaternen putzt.


Sie vom Boden zu entfernen,

rupfte man die Gaslaternen

aus dem Straßenpflaster aus,

zwecks des Barrikadenbaus.


Aber unser Revoluzzer

schrie: »Ich bin der Lampenputzer

dieses guten Leuchtelichts.

Bitte, bitte, tut ihm nichts!


Wenn wir ihn' das Licht ausdrehen,

kann kein Bürger nichts mehr sehen.

Laßt die Lampen stehn, ich bitt! –

Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!«


Doch die Revoluzzer lachten,

und die Gaslaternen krachten,

und der Lampenputzer schlich

fort und weinte bitterlich.


Dann ist er zu Haus geblieben

und hat dort ein Buch geschrieben:

nämlich, wie man revoluzzt

und dabei doch Lampen putzt.


Mühsam zu Unrecht weithin vergessen. Eine tragische Gestalt, wenn es denn Tragik in der Wirklichkeit geben kann. 

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 127-128.


04 Dezember 2021

Christian Fürchtegott Gellert

Christian Fürchtegott Gellert (1715-69)

"Vielleicht würde ich bei der Erzählung meines Geschlechts ebenso beredt oder geschwätzig als andre sein, wenn ich anders viel zu sagen wüßte. Meine Eltern sind mir in den zartesten Jahren gestorben, und ich habe von meinem Vater, einem Livländischen von Adel, weiter nichts erzählen hören, als daß er ein rechtschaffener Mann gewesen ist und wenig Mittel besessen hat. 

Mein Vetter, der auch ein Landedelmann war, doch in seiner Jugend studiert hatte, nahm mich nach meines Vaters Tode zu sich auf sein Landgut und erzog mich bis in mein sechzehntes Jahr. Ich habe die Worte nicht vergessen können, die er einmal zu seiner Gemahlin sagte, als sie ihn fragte, wie er es künftig mit meiner Erziehung wollte gehalten wissen. »Vormittags«, fing er an, »soll das Fräulein als ein Mann und nachmittags als eine Frau erzogen werden.« Meine Muhme hatte mich sehr lieb, zumal weil sie keine Tochter hatte, und sie sah es gar nicht gern, daß ich, wie ihre jungen Herren, die Sprachen und andere Pedantereien, wie sie zu reden pflegte, erlernen sollte. Sie hätte mich dieser Mühe gern überhoben; allein ihr Gemahl wollte nicht. [...]" (Romananfang)

"Cleon. Lottchen. 

 LOTTCHEN. Lieber Papa, Herr Damis ist da. Der Tee ist schon in dem Garten; wenn Sie so gut sein und hinuntergehen wollen? 

CLEON. Wo ist Herr Damis? 

 LOTTCHEN. Er redt mit Julchen. 

 CLEON. Meine Tochter, ist dir's auch zuwider, daß ich den Herrn Damis auf eine Tasse Tee zu mir gebeten habe? Du merkst doch wohl seine Absicht? Geht dir's auch nahe? Du gutes Kind, du dauerst mich. Freilich bist du älter als deine Schwester und solltest also auch eher einen Mann kriegen. Aber ... 

 LOTTCHEN. Papa, warum bedauern Sie mich? Muß ich denn notwendig eher heiraten als Julchen? Es ist wahr, ich bin etliche Jahre älter; aber Julchen ist auch weit schöner als ich. Ein Mann, der so vernünftig, so reich und so galant ist als Herr Damis und doch ein armes Frauenzimmer heiratet, kann in seiner Wahl mit Recht auf diejenige sehen, die die meisten Annehmlichkeiten hat. Ich mache mir eine Ehre daraus, mich an dem günstigen Schicksale meiner Schwester aufrichtig zu vergnügen und mit dem meinigen zufrieden zu sein. 

 CLEON. Kind, wenn das alles dein Ernst ist: so verdienst du zehn Männer. Du redst fast so klug als dein Bruder und hast doch nicht studiert. [...]" (Anfang eines Theaterstücks)

"Die schlauen Mädchen

Zwei Mädchen brachten ihre Tage

Bei einer alten Base zu.

Die Alte hielt zu ihrer Muhmen Plage

Sehr wenig von der Morgenruh'.

Kaum krähte noch der Hahn bei frühem Tage,

So rief sie schon: »Steht auf, ihr Mädchen! es ist spät;

Der Hahn hat schon zweimal gekräht.«

Die Mädchen, die so gern noch mehr geschlafen hätten,

(Denn überhaupt sagt man, daß es kein Mädchen giebt,

Die nicht den Schlaf und ihr Gesichte liebt)

Die wandten sich in ihren weichen Betten

Und schwuren dem verdammten Hahn

Den Tod und taten ihm, da sie die Zeit ersahn,

Den ärgsten Tod rachsüchtig an.

Ich hab's gedacht, du guter Hahn!

Erzürnter Schönen ihrer Rache

Kann kein Geschöpf so leicht entfliehn.

Und ihren Zorn sich zuzuziehn,

Ist leider! eine leichte Sache.

Der arme Hahn war also aus der Welt.

Vergebens nur ward von der Alten

Ein scharf Examen angestellt.

Die Mädchen taten fremd und schalten

Auf den, der diesen Mord gethan,

Und weinten endlich mit der Alten

Recht bitterlich um ihren Hahn.

Allein was half's den schlauen Kindern?

Der Tod des Hahns sollt' ihre Plage mindern,

Und er vermehrte sie noch mehr.

Die Base, die sie sonst nicht eh' im Schlafe störte,

Als bis sie ihren Haushahn hörte,

Wußt' in der Nacht itzt nicht, um welche Zeit es wär'.

Allein weil es ihr Alter mit sich brachte,

Daß sie um Mitternacht erwachte:

So rief sie die auch schon um Mitternacht,

Die, später aufzustehn, den Haushahn umgebracht.

Wärst du so klug, die kleinen Plagen

Des Lebens willig auszustehn:

So würdest du dich nicht so oft genötigt sehn,

Die größern Übel zu ertragen." (Fabel)


Im dritten Buch der Fabeln schreibt er dann zu moralphilosophischen Themen.

Die Lerche

Die Lerche, die zu Damons Freuden

Frei im Gemach ihr Lied oft sang

Und ungewohnt, den Widerhall zu leiden,

Der aus dem nahen Zimmer drang,

Mit desto stärkrer Stimme sang;

Saß itzt dem Spiegel gegenüber

Und sang und sah ihr eignes Bild

Und floß, mit Eifersucht erfüllt,

Von schmetternden Gesängen über;

Und bildete zu ihrer Pein[195]

An ihrem eignen Wiederschein

Sich einen Nebenbuhler ein.


Noch oft erhöhte sie die Stimme;

Allein umsonst war Kunst und Müh',

Stets sang der Wiederhall wie sie.

Sie schoß darauf mit ehrsuchtsvollem Grimme

Auf ihren Nebenbuhler zu,

Den ihr der Spiegel vorgelogen,

Und starb, sich selbst zu sehr gewogen,

Fast so, Ruhmsüchtiger, wie du!

Durch Eitelkeit und durch ein Nichts betrogen.


Der Hochzeittag

Das Glück und die Liebe



Geistliche Gesänge

Die Ehre Gottes aus der Natur
Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre,
 

Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort.

Ihn rühmt der Erdkreis, ihn preisen die Meere;

Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort!

Wer trägt der Himmel unzählbare Sterne?

Wer führt die Sonn aus ihrem Zelt?

Sie kömmt und leuchtet und lacht uns von ferne,

Und läuft den Weg, gleich als ein Held.


Vernimm's, und siehe die Wunder der Werke,

Die die Natur dir aufgestellt!

Verkündigt Weisheit und Ordnung und Stärke

Dir nicht den Herrn, den Herrn der Welt?


Kannst du der Wesen unzählbare Heere,

Den kleinsten Staub fühllos beschaun?

Durch wen ist alles? O gib ihm die Ehre!

Mir, ruft der Herr, sollst du vertraun.


Mein ist die Kraft, mein ist Himmel und Erde;

An meinen Werken kennst du mich.

Ich bin's, und werde sein, der ich sein werde,

Dein Gott und Vater ewiglich.


Ich bin dein Schöpfer, bin Weisheit und Güte,

Ein Gott der Ordnung und dein Heil;

Ich bin's! Mich liebe von ganzem Gemüte,

Und nimm an meiner Gnade teil.

(von Beethoven vertont)


Preis des Schöpfers

Wenn ich, o Schöpfer! deine Macht,

Die Weisheit deiner Wege,

Die Liebe, die für alle wacht,

Anbetend überlege:

So weiß ich, von Bewundrung voll,

Nicht, wie ich dich erheben soll,

Mein Gott, mein Herr und Vater!


Mein Auge sieht, wohin es blickt,

Die Wunder deiner Werke.

Der Himmel, prächtig ausgeschmückt,

Preist dich, du Gott der Stärke!

Wer hat die Sonn an ihm erhöht?[251]

Wer kleidet sie mit Majestät?

Wer ruft dem Heer der Sterne?


Wer mißt dem Winde seinen Lauf?

Wer heißt die Himmel regnen?

Wer schließt den Schoß der Erden auf,

Mit Vorrat uns zu segnen?

O Gott der Macht und Herrlichkeit!

Gott, deine Güte reicht so weit,

So weit die Wolken reichen!


Dich predigt Sonnenschein und Sturm,

Dich preist der Sand am Meere.

Bringt, ruft auch der geringste Wurm,

Bringt meinem Schöpfer Ehre!

Mich, ruft der Baum in seiner Pracht,

Mich, ruft die Saat, hat Gott gemacht;

Bringt unserm Schöpfer Ehre!


Der Mensch, ein Leib, den deine Hand

So wunderbar bereitet;

Der Mensch, ein Geist, den sein Verstand,

Dich zu erkennen, leitet;

Der Mensch, der Schöpfung Ruhm und Preis,

Ist sich ein täglicher Beweis

Von deiner Güt und Größe.


Erheb ihn ewig, o mein Geist!

Erhebe seinen Namen!

Gott, unser Vater, sei gepreist,

Und alle Welt sag Amen!

Und alle Welt fürcht ihren Herrn,

Und hoff auf ihn, und dien ihm gern!

Wer wollte Gott nicht dienen? 

(EG 506; GL 463)


Jesus lebt, mit ihm auch ich (EG 115; GL 336


Gellert kenne ich vor allem aus der Literaturgeschichte (dort wird meist auch sein bekanntester Roman erwähnt (sieh oben) und aus Goethes Dichtung und Wahrheit. Er wirkt menschlich sympathisch und weit lockerer als der damalige Literaturpapst Gottsched, an dem sich die, die für eine Erneuerung der deutschen Literatur eintraten, abarbeiteten. Als wichtigster Lessing in seinen Briefen, die neueste Literatur betreffend:

"Für die spätere Literaturgeschichtsschreibung ist vor allem der viel zitierte 17. Literaturbrief von Bedeutung. Darin wendet sich Lessing entschieden gegen Johann Christoph Gottscheds normative Poetik:[11]

»Niemand, sagen die Verfasser der Bibliothek,* wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.« Ich bin dieser Niemand; ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen.[12]"

Von dieser Kritik, erholte sich Gottscheds Ruf bis heute nicht. Gellert blieb davon verschont. Grund genug, hier einmal auf ihn aufmerksam zu machen, indem ich meine Beschäftigung mit ihm hier dokumentiere.