Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus
Es ist ein historischer Roman aus einer längst vergangenen Zeit aus der frühen BRD. Das merkt man an dem Zitat: "es reiste sich gut mit der Deutschen Bundesbahn".
Zitat:
Er reiste im Schutz der Immunität, denn er war nicht auf frischer Tat ertappt worden. Aber wenn es sich zeigte, daß er ein Verbrecher war, ließen sie ihn natürlich fallen, lieferten ihn freudig aus, sie, die sich das Hohe Haus nannten, und welch ein Fressen war es für sie, welch ein Glück, welche Befriedigung, daß er mit einem so großen, mit einem so unvorhergesehenen Skandal abging, in die Zelle verschwand, hinter den Mauern der Zuchthäuser vermoderte, und selbst in seiner Fraktion würden sie bewegt von der Schmach sprechen, die sie alle durch ihn erlitten (sie alle, sie alle Heuchler), doch insgeheim würden sie sich die Hände reiben, würden froh sein, daß er sich ausgestoßen hatte, daß er gehen mußte, denn er war das Korn Salz gewesen, der Bazillus der Unruhe in ihrem milden trägen Parteibrei, ein Gewissensmensch und somit ein Ärgernis.
Er saß im Nibelungenexpreß. Es dunstete nach neuem Anstrich, nach Renovation und Restauration; es reiste sich gut mit der Deutschen Bundesbahn; und außen waren die Wagen blutrot lackiert. Basel, Dortmund, Zwerg Alberich und die Schlote des Reviers; Kurswagen Wien Passau, Fememörder Hagen hatte sich's bequem gemacht; Kurswagen Rom München, der Purpur der Kardinäle lugte durch die Ritzen verhangener Fenster; Kurswagen Hoek van Holland London, die Götterdämmerung der Exporteure, die Furcht vor dem Frieden. Wagalaweia, rollten die Räder. Er hatte es nicht getan. Er hatte nicht gemordet. Wahrscheinlich war es ihm nicht gegeben zu morden; aber er hätte morden können, und die bloße Vorstellung, daß er es getan hatte, daß er das Beil gehoben und zugeschlagen hatte, diese Annahme stand so klar, so lebendig vor seinen Augen, daß sie ihn stärkte. Die Mordgedanken liefen wie Ströme hochgespannter Energie durch Leib und Seele, sie beflügelten, sie erleuchteten, und für einen Weile hatte er das Gefühl, es würde nun alles gut werden, er würde alles besser anpacken, er würde zupacken, er würde sich durchsetzen, er würde zur Tat gelangen, sein Leben/ ausschöpfen in neue Reiche vorstoßen - nur leider hatte er wieder nur in seiner Phantasie gemordet, war der alte Keetenheuve geblieben, ein Träumer von des Gedankenblase angekränkelt.Er hatte seine Frau beerdigt. Und da er sich im bürgerlichen Leben nicht gefestigt fühlte, erschreckte ihn der Akt der Grablegung, so wie ihn auch Kindtaufen und Hochzeiten entsetzten und jedes Geschehen zwischen zwei Menschen, wenn die Öffentlichkeit daran teilnahm und gar noch die Ämter sich einmischten." (S.7/8)
"Elke war zu ihm gekommen, als sie hungrig war, und er hatte damals Konserven, ein warmes Zimmer, Getränke, einen kleinen schwarzen Kater und nach langem Fasten Appetit auf Menschenfleisch, eine Formulierung, die Novalis für die Liebe gebraucht." (S.11)
"Die Hauptfigur ist der Mittvierziger Felix Keetenheuve, Journalist in der Weimarer Republik, während der Zeit des Dritten Reichs vorwiegend in England im Exil und dort für Rundfunksendungen Richtung Deutschland eingesetzt. Nach 1945 kehrt er nach Deutschland zurück und wird Bundestagsabgeordneter für die SPD. Zu Beginn des Romans reist Keetenheuve mit dem Zug nach Bonn, wo im Parlament die entscheidenden Abstimmungen zur Westintegration der jungen Republik stattfinden sollen. Er hat gerade seine junge Frau Elke beerdigt. Deren Eltern hatten sich bei Kriegsende umgebracht, weil der Vater Gauleiter der NSDAP war. Keetenheuve hatte Elke zugunsten der Politik vernachlässigt. Deswegen war sie dem Alkohol verfallen, wie er sich nun vorwirft. Keetenheuve ist – nicht nur aufgrund des erlittenen Verlustes – verstört und unsicher. Er ist ein kompromissloser Intellektueller, ein Schöngeist, der der Lyrik von E. E. Cummings und Charles Baudelaire mehr abgewinnen kann als einem bürgerlichen Lebensstil. Aufgrund seines Exils ist er das Aushängeschild seiner Partei, gleichzeitig dort aber genauso isoliert wie im gesamten Parlament: die pragmatische Arbeit der Abgeordneten ist ihm zuwider, den Fraktionszwang lehnt er ab, besteht darauf, sich in eigener Verantwortung zu entscheiden. Er sieht die alten Eliten aus der Weimarer Republik und der Nazizeit wieder nach der Macht greifen. Exnazis und Mitläufer sitzen bereits wieder an den entscheidenden Positionen." (Wikipedia)
Zitat:
"Frost-Forestier schaltete das Licht ein, und es wurde hell in einem enormen Raum, einem prächtigen Festsaal des 19. Jahrhunderts mit Stuckplafond und gedrechselten Säulen, dies war Frost-Forestiers Schlafkammer, Eßraum, Arbeitszimmer, Salon, Küche, Laboratorium, Bad.Keetenheuve erinnerte sich an die schweren Vorhänge vor den hohen Fenstern, sie waren generalsrot und standen, ständig geschlossen, wie ein Feuerball gegen die Natur. Leise nur war das Zwitschern zu hören, das Jubelsingen, das Erwachen der Vögel draußen im Park, und was sich im Saal ereignete, war der Arbeitsbeginn in einer Fabrik, die Ankurbelung eines Fließbandes, ein Ablauf ausgeklügelter wohlberechneter Bewegungen, rationell und präzise und Frost-Forestier war das Werk, das in Gang gesetzt wurde. Er eiferte den elektronischen Gehirnen nach.
Das war ein Knipsen und Schalten! Ein großer Funkkasten sprach Nachrichten aus Moskau. Ein kleiner Bruder des großen glühte und wartete auf seine Zeit. Eine Kaffeemaschine erhitze sich. Aus dem Boiler stürzte das Wasser in die Brause. Frost-Forestier stellte sich unter den Strahl. [...] Frost-Forestier übersah, während er duschte, sein strategisches Feld. / Es berieselte ihn heiß und kalt. Er war ein trainierter, ein proportionierter Mann." (S.25/26)
"Erich war umgekommen. In der kleinen Stadt hatte man später eine Straße nach ihm genannt; aber die Leute, stumpfsinnig, engherzig, vergeßlich wie eh und je, nannten die Gasse weiter die Kurze Reihe. Keetenheuve fragte sich immer wieder, ob Erich wirklich für seine Überzeugung gestorben war, denn er musste den Glauben der Jugend damals schon verloren haben. Vielleicht aber hatte Erich sich im Augenblick seines Todes wieder zu dieser Hoffnung bekannt, und das nur, weil die Menschen der kleinen Städte in jenen Tagen/ gar so entsetzlich waren. Die Gesetzlosigkeit schlug Erich auf dem Markt, aber der Ekel war es, der ihn tötete. [...] Keetenheuve [...] er war unschuldig, ganz unschuldig am Lauf der Welt, aber gerade weil er unschuldig war, stand vor ihm die uralte Frage, was ist Unschuld, was Wahrheit, o alter Statthalter des Augustus. Er sah sich im Spiegel.
Die Augen, der Brille ledig, blickten gutmütig, und einen gutmütigen Trottel hatte in der Kollege vom 'Volksblatt' genannt, am letzten Abend, als er ihn zum letzten Male sah. Das war vor zwanzig Jahren gewesen, an dem Tag, an dem der Kommissar in das 'Volksblatt' einzog. Die jüdischen Redakteure flogen gleich, kluge Leute, gewandte Leitartikler, hervorragende Stilisten, die alles falsch vorausgesehen, alles falsch gemacht hatten, ahnungslose Kälber im Gatter des Schlachthofes; die anderen bekamen die Chance, sich zu bewähren. Keetenheuve verzichtete auf die Bewährung. Er holte sein Gehalt und reiste nach Paris. Er reiste freiwillig, und niemand hinderte ihn. In Paris fragte man verwundert: Was wollen Sie eigentlich bei uns? Erst als die Soldaten über die Champs Élysées marschierten, hätte Keetenheuve es erklären können. Aber da war er auf dem Wege nach Kanada: zusammen mit deutschen Juden, zusammen mit deutschen Antifaschisten, deutschen Nationalsozialisten, jungen deutschen Fliegern, deutschen Seeleuten und deutschen Handlungsgehilfen schwamm er tief unten im Bauch eines Schiffes von England nach Kanada. Der Kommandant des Dampfers war ein gerechter Mann; er haßte sie alle gleichermaßen. Und Keetenheuve war es nun, der sich fragte: was will ich hier, was tue ich hier, nur nicht teilhaben, nur die Hände in Unschuld waschen, ist das genug?
Keetenheuves Kopf saß, wo er hingehörte, kein Fallbeil hatte ihn vom Rumpf getrennt. Sprach das gegen Keetenheuve oder sprach es, wie einige meinten, gegen die Gewerkschaft der Henker in der Welt? Keetenheuve hatte viele Fein/de, und es gab keinen Verrat, dessen man ihn nicht zieh. So hätte mich Georges Grosz gemalt, dachte er. Sein Gesicht trug nun schon sehr den Ausdruck der herrschenden Schicht er war des Kanzlers Abgeordneter und Oppositioneller in Ergebenheit; ach ja, in Ergebenheit. Halbakt eines Managers – so stellte ihn der Spiegel dar. Spiegelein Spiegelein an der Wand, fleischig war er nun, die Muskeln ungeübt, die Haut schimmerte weiß mit einem blauen Unterton wie Magermilch in den Kriegen, entrahmte Frischmilch hieß es, oh schönes Wort des staatlichen Euphemismus, man zählte zu den Gemäßigten, man fand sich ab, man richtete sich ein, man vertrat behutsame Reformen im Rahmen der Tradition, man hatte Kreislaufstörungen und war lüstern (kiss me) you will go. Er war ein stattlicher Mann, er verdrängte mehr Luft, als er je erwartet hatte, Luft zu verdrängen." (S. 28-31)
"Korodin verließ am Bahnhof die Straßenbahn. [...] Die nächste Generation sollte klüger sein, sie sollte es besser haben. Seit fünftausend Jahren! Nicht jedem war ein Schwert gegeben. Und ein Schwert, was nützt es? Man kann mit ihm fuchteln, man kann mit ihm töten und man kann durch das Schwert umkommen. Aber was ist gewonnen? Nichts. Man muss zur rechten Zeit in Gordium erscheinen. Die Gelegenheit macht den Helden. Als Alexander aus Mazedonien kam, war der Knoten seine Trotzes müde. Überdies war das Ereignis belanglos. Indien wurde sowieso nicht erobert; nur die Randgebiete waren ein paar Jahre besetzt, und zwischen der Besatzung und der Bevölkerung entwickelten sich Tauschgeschäfte.
Was ist am wirklichen Potsdamer Platz? Ein Drahtverhau, eine neue und recht kräftige Grenze, ein Weltende, der eiserne Vorhang; Gott hatte ihn fallen lassen, Gott allein wusste, wozu. Korodin eilte zur Haltestelle des Oberleitungsbusses, des hauptstädtisch stolzen, des modernen Vehikels, das zwischen den weit voneinander entfernt liegenden Regierungsvierteln Massen transportieren konnte. Korodin hätte/ es nicht nötig gehabt, sich an der Haltestelle in die Schlange der Wartenden zu reihen. Er hatte zwei Automobile in der Garage seines Hauses. Es war ein Akt der Bescheidenheit und der Kasteiung, daß Korodin in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Politik fuhr, während der Chauffeur, bequem und morgenmunter, Corodins Kinder im Wagen zur Schule brachte. Korodin wurde gegrüßt. Er dankte. Er war ein Volksmann. Aber der Gruß der Unbekannten machte ihn nicht nur dankbar; er machte ihn auch verlegen. [...] (S.41/42)
"Korodin fiel ein, daß er noch nicht gebetet hatte, und er entschloß sich, aus dem Strom zu gleiten und eine Teilstrecke zu Fuß zu gehen.
Keetenheuve hatte seine Wohnung im Bonner Abgeordneten-Ghetto an diesem Morgen nicht aufgesucht, für ihn war sie ein bloßes Pied-a-terre der Unlust, eine Puppenstube der Beengung "morgen Kinder wird’s was geben morgen werden wir uns freun, was sollte er da; was er brauchte, trug er bei sich in der Aktenmappe, und selbst dies war noch Ballast auf der Wanderschaft. [...]" (S.43)
Auch
Keetenheuve
hatte den Bus verschmäht. Auf dem Münsterplatz traf Keetenheuve
Korodin, den Bescheidenen. Korodin hatte zum heiligen Cassius und zum
heiligen Florentius gebetet, den Beschützern dieser Stätte, er
hatte ihnen die Sünde des Hochmuts bekannt ich
danke dir Gott, daß ich nicht bin wie diese hier,
und er hatte sich selbst und vorläufig und für diesen Tag von der
Schuld absolviert. Daß Keetenheuve
ihn zur Münstertür hinaustreten sah, machte Korodin aufs neue
verlegen. Waren die Heiligen durch das Gebet des Abgeordneten nicht
versöhnt worden, und straften Sie nun Korodin, indem sie ihnm
Keetenheuve
in den Weg stellten? Vielleicht aber war die Begegnung auch das
schöne Walten der Vorsehung und ein Zeichen, daß Korodin in Gnade
stand.
Es
galt als ungewöhnlich, wenn Abgeordnete einander feindlicher
Parteien, mochten sie auch in den Ausschüssen zusammenarbeiten,
gelegentlich sogar zusammenhalten, selbzweit spazierten. Für jeden
war es anrüchig, mit dem andern gesehen zu werden, und für die
Parteileiter war es ein Anblick, als wandele einer aus ihrer Herde
öffentlich mit einem Strichjungen und zeige schamlos seine perverse
Veranlagung. [...]
Überdies,
es wimmelte von Journalisten in der Stadt, und das Bild der
Friedlichen konnte am Montag im 'Spiegel' stehen und Anlaß zu
größtem Unfrieden geben. All dies bedach-/te Korodin wohl, aber
Keetenheuve war ihm (beinah hätte er
'hol's der Teufel' gesagt) nicht unsympathisch, deshalb haßte er ihn
auch manchmal mit einem geradezu persönlichen Haß, nicht nur mit
der kalten, routinemäßigen Ablehnung der Parteigegnerschaft, denn
er hatte ('hol's doch der Teufel'), in auffälliger, nicht zu
übersehender, nicht zu unterdrückender Weise das Gefühl, daß hier
eine Seele zu retten sei, daß man Keetenheuve
noch auf den rechten Weg bringen könne, man durfte ihn am Ende
vielleicht sogar bekehren. Korodin, die beiden großen teuren
Automobile meist in der Garage, umschwärmte aufrichtigen Herzens
eine neue Priestergeneration, die Arbeitsgeistlichen des nahen
Reviers. Das waren verknurrte Männer in groben Schuhen, von denen
sich Korodin einbildete, daß sie Bernanos und Bloy gelesen hätten,
während nur er es war, der von diesen Geistern, und das sprach für
ihn, beunruhigt wurde, und so empfingen die verknurrten Männer
zuweilen einen Scheck von Korodin und fanden im übrigen, daß er
menschlich nicht viel hergab. Für Korodin aber war dieses
Scheckgeschenk Urchristentum, reine Opposition gegen die bestehende
Ordnung, gegen die eigene Schicht und gegen die teuren Automobile,
und tatsächlich hatte er schon Schwierigkeiten wegen seiner 'roten
Neigungen', erhielt sanfte Vorwürfe, und der Bischof, sein Freund,
der, wie Korodin, Bernanos gelesen hatte, aber sich durchaus nicht
beunruhigt, sondern nur befremdet fühlte, der Bischof hätte den
Scheck lieber in einer anderen Opferlade gesehen. (S.41-44)
"Keetenheuve
hatte, als er nach Paris reiste, in Frankfurt übernachtet, und am
Morgen hatte er vor dem Schauspielhaus in Frankfurt, von der Terrasse
eines Cafés aus, wo er knusprige Hörnchen aß und Himalayablütentee
trank, einen Aufmarsch der Hitlerjugend beobachtet, und da hatte sich
vor seinen Augen der Platz aufgetan, der weite bunte Platz, und alle,
alle waren sie mit Fahnen, mit Wimpeln, mit Flöten, Trommeln und
Dolchen in ein breites tiefes Grab marschiert. es waren
Vierzehnjährige, die ihrem Führer folgten, und
neunzehnhundertneunddreißig waren sie zwanzigährig, waren sie die
Sturmtruppe, die Flieger, die Matrosen – sie waren die Generation,
die starb. Korodin blickte zum Himmel auf. Die Wolken schwärzten
sich. Er ahnte ein Gewitter. [...] Er winkte ein zufällig des Weges
kommendes Taxi herbei. Er haßte Keetenheuve.
Er
war eben doch ein Verlorener, ein Mann ohne Verantwortung, ein
Vagabund, der keine Kinder hatte. Am liebsten hätte Koordin
Keetenheuve
in der Allee stehen lassen. Mochte der Blitz ihn erschlagen! [...]
Aber dann siegte doch Koordins gute Erziehung über Angst und
Abwendung, und mit gefrorenem Lächeln ließ er Keetenheuve
in den Wagen klettern.
Sie
saßen stumm nebeneinander. Es tropfte und blitzte, und Regenschleier
legten sich wie Nebel über die Häupter der Bäume [...] und wieder
hatte Keetenheuve
die Vorstellung, sich in einem großen Treibhaus zu befinden. Sie
fuhren an der Rückseite des Präsidentensitzes, an der Front der
Kanzlervilla vorbei, schmiedeeiserne Tore standen offen. [...] /
[...] Sie hielten vor dem Bundeshaus. Korodin zahlte den Wagen. Er
wehrte ab, daß Keetenheuve
an den Kosten der kleinen Fahrt partizipiere, aber er ließ sich vom
Fahrer eine Quittung geben, Korodin wollte dem Staat nichts
schenken." (S.47/48)
Nation als Käfig
Keetenheuve fühlte sich einig mit allen Widerständigen, einig selbst mit den Militärs unter ihnen, mit den Männern des zwanzigsten Juli. Er sagte es ist Mergentheim.
Doch der erwiderte: "Ich bin nicht Missionar. Ich bin Journalist. Hier schau dir das Jahrbuch des Hohen Hauses an! Den Widerstand haben deine Kollegen schon wieder aus ihrem Lebenslauf gestrichen. [...] / Du verlierst. Du verlierst mehr, als du ahnst. Denn diesmal kannst du auch nicht mehr emigrieren. Wohin denn? Deine alten Freunde denken heute wie wir, und alle Erdteile, ich sage dir, alle Erdteile sind durch Vorhänge des Misstrauens geschlossen. Du bist vielleicht nur eine Mücke. Aber die Elefanten und die Tiger fürchten sich vor dir. Und deshalb hüte dich vor ihnen. [...] Was Mergentheim gesagt hatte, beunruhigt er Keetenheuve nicht. Es stimmte ihn nur trauriger, der schon traurig war; aber es erschütterte nicht, bestätigt zu hören, was man lange schon weiß und fürchtet, hier die nationale Restauration, den restaurative Nationalismus, auf den alles hinauslief. Die Grenzen öffneten sich nicht. Sie schlossen sich wieder. [...]
Aber er wollte nicht in einem Käfig sitzen, dessen Tür von Bereitschaftspolizei bewacht wurde, die eine nur mit einem Paß hinausließ, um den man den Käfigobersten bitten musste, und dann ging’s weiter, man stand zwischen den Käfigen, dort, wo kein Hausen war, man riebt sich in diesem Stand an allen Gittern, und um in einen anderen Käfig hineinzukommen, / brauchte man wieder das Visum, die Aufenthaltsbewilligung von diesem Käfigherrscher. (S. 60-62)
Knurrewahn
"Sie lebten in Symbiose, in dem Zusammenleben ungleicher Lebewesen zu gegenseitigem Nutzen; aber sie waren/nicht sicher, ob es Ihnen nicht schade. Knurrewahn hätte nicht sagen können, er nehme durch Keetenheuve Schaden an seiner Seele. Doch Knurrewahn, der sich vor dem Ersten Weltkrieg selbst gebildet und mit einer schon damals nicht mehr ganz neuen Literatur fortschrittsgläubiger Naturerkenntnis vollgestopft hatte (die Welträtsel schienen gelöst zu sein [...]) leugnete das Dasein der Seele. So war das Unbehagen, das Keetenheuve ihm bereitete, dem Ärger eines gewissenhaften Unteroffiziers an einem Einjährigen zu vergleichen, der das Exerzierreglement nicht begreift, schlimmer noch, es nicht ernst nimmt. Leider brauchte die Armee Einjährige, und die Partei brauchte Keetenheuve, der (dies ahnte Knurrewahn) vielleicht gar kein Offizier kein Offiziersaspirant, sondern einfach ein Hochstapler war (S. 68/69)
Knurrewahn atte viel durchgemacht; aber er war nicht weise geworden. Sein Herz war gut gewesen; nun hat er es sich verhärtet. Er war aus dem ersten Weltkrieg mit einem Steckschuß heimgekehrt und hatte zum Erstaunen der Ärzte weiter gelebt [...]" (S. 70)
"Lasalle war ein Porträt des Abgeordneten als junger Mann. Der junge Mann war tot; er hatte den Ärzten Recht gegeben und den Herzsteckschuß nicht überlebt. Heute stand K der Schlapphut, den er nicht trug. Er polterte eigensinnig, nicht nur beim Skat [...]" (S. 72)
"Er führte diplomatische Gespräche. Wer waren seine Gäste? Herr Hitler, Führer, Herr
Stendhal, Konsul. Wer servierte? Herr
Chamberlain, Ehrenwert.
Hitler: Diese Luft ist eine milde; die Rheinlandschaft ist eine historische; diese Terrasse ist eine anregende. Schon vor 19 Jahren –
Stendhal: Meine Bewunderung und meine Verehrung! O jung zu sein, als sie von dieser Terrasse nach Wiessee aufbrachen, um ihre Freunde zu killen! Wie bewegt mich das Schicksal der Jünglinge. [...]/
Chamberlain zittern die Hände. Er schüttet die zerlassene Butter auf das Tischtuch und sagt: Peace in our time.
Aus dem Wasser hebt sich der Leichnam der Tschechoslowakei und stinkt. Die Vorsehung ist im Bauch des Leichnams gefangen und wandert ratlos auf und ab. Drei Lautsprecher kämpfen gegeneinander. Der eine schreit: Planmäßig! Der andere brüllt: Plansoll! Der dritte singt den Chor aus der Dreigroschenoper: Ja, mach nur einen Plan. Lautsprecher eins und Lautsprecher zwei fallen wütend über Lautsprecher drei her und verprügeln ihn.
Senator McCarthy schickt Zwei Lügendetektoren herüber, um den Fall zu untersuchen." (S. 85/86)
Ausschussarbeit:
"Korodin las die Zahlen vor, und zuweilen guckte er Keetenheuve an, als erwarte er von ihm einen Einspruch oder eine Zustimmung. Keetenheuve schwieg.. Er konnte sich auf einmal zu Korodins Zahlen so wenig äußern wie der Zuschauer einer Zaubervorstellung zu den rätselvollen und eigentlich langweiligen Vorgängen auf der Bühne; er weiß, dass ein Trick angewandt und er getäuscht wird. Keetenheuve war von der Nation in diesen Ausschuß gesetzt, um aufzupassen, daß niemand hintergangen werde. Dennoch – für ihn war die Beratung jetzt nur noch ein verblüffender Zahlenzauber! Niemand würde die Millionen sehen, von den Korodin sprach. Niemand hatte sie jemals gesehen.[...] So recht begriff es keiner. Selbst Stierides, der Bankier der Reichsten, begriff das magische Spiel der Zahlen nicht; aber er war Meister in einem Yoga, das seine Konten wachsen ließ. (S. 96)
"Eine beliebte Volksschriftstellerin nannte einen ihrer vielen Romane Highlife; sie oder ihr Verleger setzten den englischen Titel auf das deutsche Buch, und Millionen, die gar nicht wußten, was das Wort Highlife bedeutete, verschlangen den Band. Highlife – vornehme Welt, ein Zauberspruch, was war das, wer gehörte dazu?" (S.114)
"Ein Priester kam in die Weinstube. Ein kleines Mädchen begleitete den Priester. Das kleine Mädchen war wohl zwölf Jahre alt und hatte rote Söckchen an. Der Priester war groß und stark. Er sah wie ein Landmann aus, aber er hatte den Kopf eines Gelehrten. Es war ein guter Kopf. Der Priester reichte dem kleinen Mädchen die Weinkarte, und das kleine Mädchen las schüchtern die Namen der Weine. Das kleine Mädchen fürchtete, es würde Limonade bekommen; aber der Priester fragte sie, ob sie Wein trinken wolle." (S.114)
"Keetenheuve hatte kein Verlangen, nach Hause zu gehen; seine Abgeordnetenabsteige war ein Pied-à-terre / der Unlust, eine Puppenstube der Angst, in der er nur eines fühlen würde – wenn er dort stürbe, niemand würde trauern. Den ganzen Tag fürchtete er sich schon vor dieser traurigen Stube." (S.119/20)
Ethik
"Ein Kind zu schlagen, ist eine schlechte Tat. Aber war es ein schlechter Gedanke, die Bank berauben zu wollen? [...] gerade ein entwickelter, ein scharfer, ein zarter Sinn für Gut und Böse wird die Frage, ob ein Bankraub sittlich oder unsittlich sei, überhaupt nicht beantworten können." (S. 127)
Die Heilsarmeemädchen
"Gerda wäre gern davon gelaufen, aber die zweifelte, ob Lena, die kleine Sechzehnjährige, ihr folgen würde, und so musste sie stehen bleiben und die Nähe des räuberischen Mannes erdulden. [... Keetenheuve] "hörte, während Gerda sie verkniffenen Mundes und mit brennenden Augen beobachtete, die Geschichte eines Flüchtlings. Lena erzählte sie ihm mit einem sanften, zärtlich die Silben verschlucken den Dialekt. Sie kam aus Thüringen und war Mechanikerlehrling. Sie behauptete, Zeugnisse zu haben, daß sie Mechaniker sein und schon als Werkzeugemacher gearbeitet habe. Ihre Familie war mit Lena nach Berlin geflogen, und dann waren sie in den Bund geflogen worden und hatten lange in Lagern gelebt. Lena, der kleine Mechaniker, wollte seine Lehrzeit beenden, und dann wollte er als Werkzeugmacher viel Geld verdienen, und dann wollte er studieren und Ingenieur werden, wie man es ihm im Osten versprochen hatte, aber im Westen lachte man ihn aus und sagte ihm, die Drehbank sei hier nichts für Mädchen und das Studieren nichts für Arme. So steckte irgendein Arbeitsamt Lena in eine Küche, steckte sie in die Küche eines Gasthauses, und Lena, der Flüchtling aus Thüringen, mußte die Teller abspülen [...]
So war Lena in die Hauptstadt gekommen. Was tut der Obdachlose, was beginnt der Hungernde? Er hält sich am Bahnhof auf, als ob mit den Zügen das Glück käme. Viele sprachen Lena an. Auch Gerda sprach Lena an. Lena folgte Gerda, dem Heilsarmeemädchen, und sie besah sich die Stadt mit dem 'Kriegsruf' in der Hand, und sie wunderte sich über alles was sie sah." (S. 128/129)
"Es war eine wirkliche Katakombe, ein Keller des Verstecks, ein Hort der Opposition der Jugend gegen die alten Betten der Stadt, aber die junge Opposition gluckste wie Grundwasser dahin, rumorte für eine Nacht im Brunnen/ und verrieselte dann in Hörsälen, in Streberseminaren, auf Büroschemeln und am Arbeitsplatz der Laborantin. "Wir kommen alle, alle in den Himmel", spielte die Studentenkapelle." (S.133/34)
"In den guten Urzeiten der parlamentarischen Idee hätten sich die Abgeordneten geweigert, unter Polizeischutz zu tagen, denn das Parlament war damals, wie es auch zusammengesetzt sein mochte, polizeifeindlich, weil es die Opposition an sich war, die Opposition gegen die Krone, die Opposition gegen der Mächtigen Willkür, die Opposition gegen die Regierung, die Opposition gegen die Exekutive und ihren Säbel, und so bedeutete es eine Pervertierung und Schwächung der Volksvertretung, wenn aus ihrer Mitte die Mehrheit zur Regierung wird und die vollziehende Gewalt an sich reißt. Was heißt dies bei unglücklicher Zusammensetzung des Hauses anderes als Diktatur auf Zeit?" (S.143)
"Aus der Opposition den Kurs der Regierung zu ändern gelänge in Bonn selbst Demosthenes nicht; und auch wenn man mit eines Engels Zungen spräche, man predigte tauben Ohren, und Keetenheuve wußte, während er die letzte Sperrkette passierte, dass es genau gesehen zwecklos war, dass er hier erschien, um im Plenum zu reden. Er würde nichts ändern." (S. 144)
"[...] Knurrewahn will, dass wir uns so oder so verhalten, Knurrewahn und die Partei wünschen, Knurrewahn und die Partei befehlen, statt dass es umgekehrt gewesen wäre, daß die Provinzbooten zu Knurrewahn gesagt hätten, das Volk wünscht, das Volk will nicht, das Volk trägt dir auf, Knurrewahn, das Volk erwartet von dir, Knurrewahn – Nichts. Vielleicht wußte das Volk, was es will. Aber seine Vertreter wußten es nicht, und so taten sie so, als ob wenigstens ein starker Parteiwille da sei. Aber wo kam er her? Aus den Büros." (S.145)
Bespitzelung S.147
Parlamentsdebatte
"Der Kanzler trug sein Anliegen vor. Er war lustlos gestimmt und verzichtete auf Effekte. Er war kein Diktator, aber er war der Chef, der alles vorbereitet, alles veranlaßt hatte, und er verachtet das oratorische Theater, in dem er mitspielen mußte. Er sprach müde und sicher wie ein Schauspieler auf der wegen einer Umbesetzung notwendig gewordenen Durchsprechprobe eines oft gegebenen Repertoirestückes. Der Kanzler-Schauspieler wirkte auch als Regisseur. Er wies den Mitspielern ihrer Plätze an. Er war überlegen. Keetenheuve hielt ihn zwar für einen kalten und begabten Rechner, dem nach Jahren ärgerlicher Pensionierung überraschend die Chance zugefallen war, als großer Mann in die Geschichte einzugehen, als Retter des / Vaterlandes zu gelten, aber Keetenheuve bewunderte auch die Leistung, die Kraft, mit der ein alter Mann einen einmal gefaßten Plan beharrlich und euphorisch zuversichtlich verfolgte. Sah er nicht, daß sein ganzes Vorhaben am Ende nicht an seinen Widersachern, doch an seinen Freunden scheitern würde?" (S. 149/150)
"Keetenheuve wird instrumentalisiert, zum einen von seinem Fraktionsvorsitzenden Knurrewahn (steht für Kurt Schumacher), der ihn als Redner in die Debatte schickt, um die pazifistische Fassade der Partei zu wahren, ihm aber gleichzeitig Verhaltensmaßregeln mitgibt sowie die Bemerkung, dass man ja nicht grundsätzlich gegen die Wiederbewaffnung sei. Zum zweiten aber auch von der Parlamentsmehrheit und ihrem fast autoritär regierenden Kanzler (Konrad Adenauer), die Frost-Forestier, ein wichtiges Mitglied der Regierung, wenn auch ohne Amtsbezeichnung (Reinhard Gehlen?), auf ihn ansetzt, um ihm das Amt eines Botschafters in Guatemala anzubieten und den Störfaktor Keetenheuve damit endgültig ins Abseits zu schieben. Und schließlich zum dritten von einem den Westmächten nahestehenden Journalistenkollegen, der ihm vertrauliches Material zur Verwendung in seiner Rede zukommen lässt, dies aber gleichzeitig auch der Gegenseite aushändigt, so dass in dem Moment, in dem Keetenheuve seinen Auftritt hat, bereits die Stellungnahme der westdeutschen Regierung ebenso wie die ihr den Rücken stärkenden Stellungnahmen der Westmächte vorliegen – und Keetenheuves Rede damit nichts mehr wert ist.
Am Ende der Debatte weiß Keetenheuve, dass er verloren hat. Wie schon am Abend zuvor irrt er noch einmal durch die nächtliche Stadt und erreicht schließlich die Brücke über den Rhein. Mit dem Satz »Der Abgeordnete war gänzlich unnütz, er war sich selbst eine Last, und ein Sprung von der Brücke machte ihn frei« endet der Roman." (Wikipedia)
Es lohnt sich, jetzt im Wikipediaartikel weiterzulesen:
"Keetenheuves Scheitern ist jedoch auch in seiner privaten Situation begründet. Nach dem Tod seiner Frau ist er haltlos geworden. So wird er zum Opfer seiner Triebe, die ihn immer wieder (hart an der Grenze zur Pädophilie) zu sehr jungen Frauen hinführen. Kurz vor seinem Tod hat Keetenheuve die sechzehnjährige Lena kennengelernt, die aus Thüringen geflüchtet und ebenso entwurzelt wie Keetenheuve ist. In Thüringen hat sie eine Lehre als „Mechaniker“ begonnen und wundert sich über die Reaktionen auf ihren „unweiblichen“ Wunsch, diesen Beruf auch in der Bundesrepublik ausüben zu können (Männer mit „fetten Händen“ lachen sie aus und belästigen sie sexuell).
In ihrer Not wendet sie sich gemeinsam mit Gerda, einer (lesbischen?) Heilsarmee-Soldatin, die sie im Westen kennengelernt hat, an Keetenheuve. Dieser will Lena durchaus helfen („Keetenheuve ein guter Mensch“), hält es aber für ihr „Schicksal“, dass er sie (quasi als „Gegenleistung“) verführen werde („Keetenheuve ein schlechter Mensch“).
Als es schließlich wenig später auf einem Ruinengrundstück zum Versuch eines Geschlechtsverkehrs zwischen Keetenheuve und Lena kommt, wird dem Abgeordneten die Fragwürdigkeit seiner Existenz bewusst. Unmittelbar im Anschluss an die Szene ertränkt er sich.
Koeppens Umgang mit der historischen Realität
Bei der Rezeption des ersten Romans der Trilogie des Scheiterns (Tauben im Gras) legten Wolfgang Koeppen und viele Interpreten Wert darauf, dass nicht ständig die Formulierung „die Stadt“ durch „München“ ersetzt wird, obwohl das Lokalkolorit der bayerischen Landeshauptstadt in dem Roman leicht wiederzuerkennen ist. Im Falle des Romans „Das Treibhaus“ ist es klar, dass die damalige Bundeshauptstadt Bonn Ort der Handlung ist, da deren Kessellage im Rheintal das „Treibhausklima“ im wörtlichen Sinn des Buchtitels erklärt. Der Titel verweist aber auch auf die „politische Landschaft“, auf die Ghettoisierung der Berufspolitiker, die sich in Bonn bereits vier Jahre nach Gründung der Bundesrepublik unter Verlust der Bezüge zur Realität und zum Volk bemerkbar macht. [...]" (Wikipedia)
Ich denke, mit den hier vorliegenden Zitaten und dem vollständigen Wikipediaartikel hat man schon einen guten Eindruck von dem Roman. Ich werde aber noch weitere Zitate nachliefern und auch ein paar Bemerkungen zu meinem persönlichen Leseerlebnis machen.
Literatur:
Hilde Schauer: Denkformen und Wertesystemein Wolfgang Koeppens Nachkriegstrilogie
"Er wurde vor allem durch seine Trilogie des Scheiterns bekannt, durch die er sich den Ruf eines bedeutenden Autors der Nachkriegsliteratur erwarb. Diese Trilogie entstand Anfang der 1950er Jahre und setzt sich aus den Romanen Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom zusammen. Anschließend veröffentlichte Koeppen nur noch spärlich und schrieb vorwiegend Reiseberichte. [...]
Die hohen Erwartungen an ihn und das öffentliche Interesse an seinem Schaffen demotivierten Koeppen zunehmend.[9] Das Prosastück Jugend fand 1976 als Alterswerk des Autors noch einmal großes Lob in der Literaturkritik.[10]" (Wolfgang Koeppen)