30 Juli 2024

Franz Grillparzer: Libussa u.a.

 Grillparzer war mir sehr früh aus unserem Dichterquartett aufgrund seiner charakteristischen Locken bekannt, dann spielte meine Schwester in einer Schulaufführung von Weh dem, der lügt! mit. Gelesen habe ich von ihm mit Ausnahme der Novelle Der arme Spielmann (1847) wohl nichts mehrmals.   Bekannt war mir aus seinem Lobgedicht An Radetzky („Glück auf, mein Feldherr, führe den Streich! Nicht bloß um des Ruhmes Schimmer – In deinem Lager ist Österreich!“) nur das Zitat "In deinem Lager ist Österreich!“ (und auch das war mir nicht ganz korrekt in Erinnerung. Dagegen fand ich sehr geistreich sein Wort "Eifersucht ist eine Leidenschaft, // Die mit Eifer sucht, was   Leiden schafft.", von dem ich erst heute gelernt habe, dass es von ihm stammt. Beide Zitate habe ich nicht durch eigene Lektüre für mich gewonnen, sondern nur von meinen Lehrern gehört.

Gestern habe ich zwei Reclamhefte mit Stücken von ihm aus einem 'Austauschbücherregal' mitgenommen und darin etwas gelesen. Sie sollen künftige Wartezimmerlektüre werden (so wie in letzter Zeit Fidelio) und zwar Libussa und Medea. Libussa steht bei Grillparzer für das sagen- und märchenhafte Matriarchat sowie für für Dichtung als schöpferisches Prinzip als Grundlage für Weltverständnis. Eine Tragödie wird das Stück, weil Libussa sich in Primislaus (Přemysl) verliebt und dann das von ihr gegründete Prag ihm zur Herrschaft überlässt. ("Nach den Ausführungen in der Chronica Boemorum des Cosmas von Prag sind die Přemysliden Nachkommen des sagenhaften Stammvaters Přemysl des Pflügers, eines eingeheirateten Stammesführers, und seiner Frau Libussa. Cosmas überlieferte auch die Namen weiterer vorchristlicher Přemysliden" -Wikipedia) Grillparzer verdankt seinen Ruf als Nationaldichter Österreichs wohl nicht zuletzt Libussa und Ein Bruderzwist in Habsburg (1848), vgl. auch Ottokar I. .

Zitate aus Libussa:

Zunächst unwillig, ihr Geisterreich zu verlassen, fühlt sich Libussa dann zur Herrschaft über die Tschechen berufen und will sie in weiblicher Weise lenken.

Nicht losen? Und wer weiß, ob ich's auch will?
Ein Schritt aus dem Gewohnten, merk ich wohl,
Er zieht unhaltsam hin auf neue Bahnen,
Nur vorwärts führt das Leben, rückwärts nie.
Ich soll nicht losen? Und ich will es nicht.
Wo sind die Männer aus der Czechen Rat?
Den Vater will ich ehren durch die Tat,

Mögt ihr das Los mit dumpfen Brüten fragen:
Ich will sein Amt und seine Krone tragen.

Tetka. Libussa, oh!

Kascha.         Hör erst auf mich, Libussa!
Wenn ich gekränkt dich mit zu raschem Wort –

Libussa. Du kränktest mich nicht mehr, ich seh's, als dich.
Doch was ich sprach, es bleibt. Mein Wort ein Fels.
Und mag ich's nur gestehn! Denk ich von heut
Mich wieder hier in eurer stillen Wohnung
Beschäftigt mit – weiß ich doch kaum womit –
Mit Mitteln zu den Mitteln eines Zwecks,
Mit Mond und Sternen, Kräutern, Lettern, Zahlen,
Dünkt's allermeist einförmig mir und kahl.
Dies Kleid es reibt die Haut mit dichtern Fäden
Und weckt die Wärme bis zur tiefsten Brust
Mit Menschen Mensch sein dünkt von heut mir Lust,
Des Mitgefühles Pulse fühl ich schlagen,
Drum will ich dieser Menschen Krone tragen.

Heraus Wladiken! Czechenvolk heraus! [...]

Doch hört mein Wort.
Es hielt euch fest des Vaters strenge Rechte
Und beugt' euch in heilsam weises Joch.
Ich bin ein Weib und, ob ich es vermochte,
So widert mir die starre Härte doch.
Wollt ihr nun mein als einer Frau gedenken,
Lenksam dem Zaum, so daß kein Stachel not,
Will freudig ich die Ruhmesbahn euch lenken,
Ein überhörtes wär' mein letzt' Gebot.
So wie ich ungern nun von hinnen scheide,
Lenkt' ich zurück dann meinen müden Lauf
Und träte bittend zwischen diese beide;
Ihr nähmet, Schwestern, mich doch wieder auf? [...]

Domaslav. Nicht fruchtlos sollst du, zweimal nicht uns mahnen,
Nimm unsern Schwur darauf und unsrer Untertanen.

Libussa. Dies letzte Wort, es sei von euch verbannt,
In Zukunft herrscht nur eines hier im Land:
Das kindliche Vertraun. Und nennt ihr's Macht,
Nennt ihr ein Opfer das sich selbst gebracht,
Die Willkür, die sich allzu frei geschienen
Und, eigner Herrschaft bang, beschloß zu dienen.
Wollt ihr als Brüder leben, eines Sinns,
So nennt mich eure Fürstin und ich bin's;
Doch sollt' ich zwein ein zweifach Recht erdenken,
Wollt' eher ich an euch euch selbst als Sklaven schenken.
Seid ihr's zufrieden so? [...]

Swartka
Der Osten graut, dem Tage weicht die Nacht!"


Besonders die Adligen wollen aber nicht Güte, von der die Armen genauso profitieren wie sie, sondern wollen ihre Vorrechte behalten. So fordern sie, Libussa solle heiraten, damit wieder ein Mann sie regiert. Drei treten im Stück auf, planen Zusammenarbeit, entzweien sich aber bald wieder. 

Libussa gibt ihrer Forderung nach, lässt aber das Pferd, das sie bei ihrer Rettung aus einem Bach von einem Bauern erhalten hat, seinen Herrn (Primislaus) suchen. 


Gehöft vor Primislaus' Hütte wie zu Anfang des ersten Aufzuges. Ein umgewendeter Pflug rechts im Vorgrunde.

Primislaus [...]

Wär' sie ein Hirtenmädchen, nicht Libussa,
Und ich der Pflüger der ich wirklich bin,
Ich träte vor sie hin und sagte: Mädchen,
Ich bin derselbe dem du einst begegnet.
Sieh hier das Zeichen. Wird's nun licht in dir,
Wie längst in dieser Brust, so nimm und gib!
(Die Hand hinhaltend.)
Dann könnte sie nicht sprechen: Guter Mann,
Stellt dort euch zu den Dienern meines Hauses,
Des, wes ihr mich erinnert, denk ich kaum.

Ei wackrer Mann, setz dich nur wieder hin,
Nimm Käs' und Brot aus deiner Pflügertasche
Und halte Mahl am ungefügen Tisch.
Ist's eignes Brot doch, das erhält und stärkt,
Das Brot der Gnade nur beengt und lastet.
(Er hat sich wieder gesetzt und den Inhalt seiner Tasche auf die Pflugschar ausgelegt.)

Sie hat mein Roß, das etwa so viel gilt
Als diese goldnen Spangen die ich trage,
Und so sind sie mein Eigentum zu Recht.

Ich wollte, sie bestieg' einmal den Zelter
Und in Gedanken ihm die Zügel lassend,
Trüg' sie das Tier hieher.
        Doch welch Geräusch?
Täuscht mich mein Aug? Das ist mein Roß; doch leer
Und ohne Reiter, rings von Volk umgeben.
Bin ich im Land der Märchen und der Wunder?
Doch folgen die Wladiken, seh ich nun,
Die sich erdachten etwa solchen Fund
Um zu ergänzen was nur halb in ihrer
Und halb in meiner Hand. Kommt immer, kommt!
Ich fühle mich als Herr in meinem Haus,
Und so brech ich mein Brot. Ist doch der Pflüger,
Indem er alle nährt, den Höchsten gleich:
Wie Wasser und wie Luft, die niemand kauft,
Doch mit dem Leben zahlt, entbehrt er ihrer.

(Die drei Wladiken kommen, von Volk begleitet, von der linken Seite.)

Biwoy. Hier blieb der Zelter stehn, hier ist der Ort.

Domaslav. Und hier der Mann, der, wie Libussa sprach,
An einem Tisch von Eisen sitzt, sein Brot
Auf einer Pflugschar mit den Händen teilend.

Biwoy. Derselbe ist's, es ist der nämliche,
Der unsern Streit geschlichtet.

Lapak.         Mir wird's hell.

Primislaus (aufstehend).
Glück auf ihr Herrn! Was führt euch her zu mir?

(Man hat das Pferd gebracht. Primislaus hinzutretend und es streichelnd.)

Ha Prischenk, du mein Roß, du wieder heim?

Lapak. Sein Roß?

Primislaus.         Noch einmal denn: was führt euch her?

Domaslav. Der Fürstin Wort.

Primislaus.         Libussas?

Lapak.                 Sie befahl
An ihren Hofhalt dich mit uns zu führen.

Primislaus. Galt mir auch, euch zu folgen, der Befehl?

Lapak. Das nicht.

Primislaus.         Doch, wenn ich's nun verweigerte,
Kommt ihr mit Macht, mich nöt'genfalls zu zwingen.
Seid unbesorgt, ich folg euch ohne Zwang.
Was aber war der hohen Ladung Grund?

Domaslav. Wir wissen's nicht.

Lapak.         Vielleicht doch ward ihr kund,
Daß du ein schlauer Richter bist zu eignem Nutzen,
Und wünscht als Richter dich zu nutz dem Volk.
Zum mindsten lag ein Fall vor, der verwirrte.

Primislaus. Ich richte niemand als mich selber etwa,
Und täusche nicht, als wer sich selbst getäuscht.

Domaslav. Besteig das Roß denn und folg uns nach Hof.

Primislaus. Dies Tier, das meine Fürstin hat getragen,
Besteige niemand, der nicht eignen Rechts,
Nebstdem daß es das ihre, und ich wünsche,
Daß es das ihre bleibe, nach wie vor.
Dann, sollt' ich mit der Arbeit Staub beladen
Mich nahn dem Ort, wo Arbeit nur ein Gast,
Nicht der Bewohner ist? Ich geh ins Haus
Und schmücke mich wie sich der Landmann schmückt.
Auch, da man Höhern naht mit Ehrengaben,
Bring ich von Früchten und von Blumen ihr,
Wie sie der Armut eignen, ein Geschenk.
So lang, ihr Herrn, zerstreut euch im Gehöft.
Man reicht euch Met und Milch und nährend Brot,
Auf daß gestärkt wir gehn, wo Stärke not.

(Er entläßt sie mit einer Handbewegung und geht in die Hütte.)

Lapak. Hast du gehört?

Domaslav.         Wie stolz.

Biwoy.                 Nun um so besser.
Stolz gegen Stolz, wie Kiesel gegen Stahl,
Erzeugt, was beiden feind, den Feuerstrahl."
(Grillparzer: Libussa 3. Akt           Gutenberg.org)


Ähnlich stolz tritt er dann vor Libussa.




Grillparzer Aphorismen

Wir sind gegen keine Fehler an andern intoleranter, als welche die Karikatur unsrer eigenen sind.


(1818.)

Man ist nie eifersüchtiger, als wenn man in der Liebe anfängt, zu erkalten. Man traut dann der Geliebten nicht mehr, weil man dunkel fühlt, wie wenig einem selbst mehr zu trauen ist.


(1822.)

Der Mann thut durch Untreue seiner Frau ein Unrecht, die Frau, indem sie untreu ist, dem Mann einen Schimpf. Die Frau eines untreuen Mannes bedauert man, über den Mann einer untreuen Frau spottet man. Schon hierin liegt genug von dem Unterschiede, der zwischen beiden Geschlechtern in Bezug auf den Grad der Beleidigung obwaltet, die sie sich durch Untreue zufügen.

(1846)

Die gescheiten und die dummen Leute erkennt man unter andern auch daraus, daß die Dummen das verehren, was in ihrer eigenen Richtung liegt, die Gescheiten aber, was sie fühlen, daß ihnen abgeht.


(1834.)

Von einem haben die sogenannten gebildeten Leute gewöhnlich keine Vorstellung: daß jemand den zusammengesetzten und künstlichen Zustand, den sie Bildung nennen und der auch wirklich Bildung ist, durchgemacht haben könne und auf der andern Seite wieder ins Einfache und Natürliche herausgekommen sei. Ihnen scheint alles Schlichte: Unkultur.



  • Marie von Ebner Eschenbach über Grillparzer

    "[...] Das schwere Blut hatte er von seiner Mutter geerbt, das war sein Unglück, unter dem er litt und leiden machte. Ein Meister der Selbstquälerei, zerpflückte er eine der kleinen Freudenblüten, die ihm noch geblieben waren, nach der andern.

    Was die Musik ihm bedeutete, weiß jeder, der den »rhythmischen Zauber« seiner Verse empfunden hat. »Die Musik der älteren Zeit, das ist für mich nicht Musik, in ihr liegt mein[888] Leben, in ihr rauscht meine Jugend«, sind seine eignen Worte. Die Musik hatte ihn mit den Schwestern Fröhlich zusammengeführt. Durch Anna und Josephine, beide hochgeschätzte Gesangs- und Klavierlehrerinnen, hatte er Schuberts Lieder kennengelernt. Er war ein guter Klavierspieler, phantasierte mit sehr viel Talent. Vor einigen Jahren noch hatte es ihm Vergnügen gemacht, täglich eine Stunde mit Anna zu musizieren. Sie kam zu ihm herüber, und sie spielten vierhändig Symphonien von Haydn, Beethoven, Mozart. Einmal nun hatte sie wie gewöhnlich Platz genommen am Klavier, Noten aufgelegt und wartete. Grillparzer blieb an seinem Schreibtisch sitzen, rührte sich nicht, und als sie endlich fragte: »Nun, ist's heute nichts, wird nicht gespielt?« schüttelte er den Kopf: »Heute nicht und überhaupt nicht mehr.« – »Ja, um Gottes willen, warum denn nicht?« – »Meine Finger sind steif geworden, es geht nicht mehr.« – »Und gestern ist's doch noch gegangen. Was Ihnen nur einfallt, Grillparzer!«

    Sie lachte ihn aus, wurde im Scherz böse und auch im Ernst, bat innigst, inständigst, doch nicht einer Laune nachzugeben. Schad um jedes Wort. Er hat seine Hände nie wieder aufs Klavier gelegt.

    Es war aus von einem Tag zum andern und für immer.

    So vergrub er vorzeitig ein Talent, dem er noch manche schöne Stunde hätte verdanken können. Aber das ist der ganze Grillparzer: der Reichtum im Ausüben einer Kunst hat abgenommen, und auf die Überbleibsel legt er keinen Wert. Nicht anders hält er's mit der Poesie, und ohne die Dazwischenkunft der drei Getreuen wären uns viele seiner geflügelten Worte vorenthalten worden.

    Es ist seine Gewohnheit, beim Frühstück allerlei Verse auf Papierschnitzel zu kritzeln, die er jämmerlich zerknüllt und auf das Kaffeebrett wirft. Die Verse haben einer momentanen Stimmung Ausdruck gegeben, ihre Aufgabe ist erfüllt, nun fort mit ihnen. Aber Susanne legt die dem Untergang Geweihten in die Hände ihrer Gebieterinnen; sie werden entfaltet, gelesen, geordnet. Wenn eine hübsche Anzahl beisammen ist, lernt Anna sie auswendig, geht zu Grillparzer hinüber, stellt sich in Positur und spricht: »Der kleine Deklamator ist da.«

    Vielen Dank erntet sie für ihren Vortrag nicht, meistens heißt es: »Schon gut, schon gut. Sein S' noch nit fertig?«

    Aber ein Befehl, die kleinen Dichtungen geheimzuhalten, wurde nicht gegeben, sie dürfen Freunden mit geteilt werden,[889] und viele von ihnen haben schon bald nach ihrem Entstehen eine Wanderung durch ganz Wien angetreten. [...]"

28 Juli 2024

Fynn: "Hallo Mister Gott, hier spricht Anna"

Der Vergleich mit dem "kleinen Prinzen" passt, auch wenn es etwas weniger originell (Elefant in Hut) und weniger philosophisch ist; aber auch eine Begegnung eines aufgeschlossen Erwachsenen mit einem Kind, dessen magische Welt ihm viel zu bieten hat. Hier ein vernachlässigtes Mädchen, gewiss kein Prinz und Herrscher über einen Planeten, sondern "eine große Puppe [...] wie eine Bombe auf zwei Beinen (vergleiche Reiner Kunze: Eine "unmögliche Metapher", "die weinen kann" - Zwischenbilanz in "Die wunderbaren Jahre", S.271) 

"Hallo Mister Gott, hier spricht Anna" (Wikipedia)

Zitat:

  • "Der Unnerschied von einen Mensch und einen Engel ist leicht. Das meiste von ein Engel ist innen, und das meiste von ein Mensch ist außen." Fischer TB, Frankfurt am Main, 1978. ISBN 3-596-22414-4, S. 7.

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends und andere Texte

 Zitat:

 "Die Ideen, die folgenlos blieben. So wirken auch wir mit an der Aufteilung der Menschheit in Tätige und Denkende. Merken wir nicht, wie die Taten derer, die das Handeln an sich reißen, immer unbedenklicher werden? Wie die Poesie der Tatenlosen den Zwecken der Handelnden immer mehr entspricht? Müssen wir, die wir uns in keine praktische Tätigkeit schicken können, nicht fürchten, zum weiblichen Geschlecht der Lamentieren zu werden, unfähig zu dem kleinsten Zugeständnis, das die alltäglichen Geschäfte einem jeden abverlangen, und verrannt in einem Anspruch, den auf Erden keiner je erfüllen kann: Tätig zu werden und dabei wir selber zu bleiben." (S. 165) Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends, Aufbau Verlag, zweite Auflage 1980, gelesen 1981

Wiederholte Lektüre von "Der geteilte Himmel" (fast vollständig 1981)

neu: Unter den Linden (nicht erwiderte Liebe, die verarbeitet wird und stärker macht); wie Kein Ort. Nirgends von Kollegin der ES Culham ausgeliehen hat mich zur erneuten Lektüre des Anfangs von Nachdenken über Christa T. geführt, neue Sicht darauf. 

Till Eulenspiegel Filmerzählung zusammen mit Gerhard Wolf, Lesen und Schreiben (Aufsätze und Prosa)

Kassandra 1985 (wenig Erinnerung daran außer: 'Achilles, das Vieh')

Störfall' mit Interesse gelesen (wohl Anfang der 1990er Jahre) 

Susanna Agnelli: Wir trugen immer Matrosenkleider

 Susanna AgnelliWir trugen immer Matrosenkleider. Piper Verlag, München 1976, engl. Original 1974, italien. Fassung 1975 Fischer TB 2037

Leben

"Nach dem Unfalltod ihres Vaters kamen sie und ihre fünf Geschwister zum väterlichen Großvater, der ihrer Mutter verbot, mit den Kindern Kontakt zu haben. Erst auf Drängen Benito Mussolinis, den ihre Mutter um Hilfe gebeten hatte, konnten die Kinder zu ihr zurück. Susanna Agnelli war Mitglied der Piccole Italiane, einer der Balilla entsprechenden Organisation für Mädchen. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete sie nach dem Abitur zunächst als Krankenschwester im römischen Lazarett der Luftwaffe, dem Ospedale Littorio. Nachdem ihre Mutter sie und ihre Schwestern in die Schweiz nach Ouchy zur Weiterbildung geschickt hatte, schrieb sie sich an der Universität Lausanne zum Medizinstudium ein, welches sie nach Kriegsende an der Universität Rom fortsetzte, ohne es jedoch abzuschließen. Wie aus ihren Memoiren eindeutig hervorgeht, war sie von Jugend auf eng befreundet mit der Familie des italienischen Außenministers Graf Galeazzo Ciano und hatte auch Kontakt zu Emilio Pucci.[1]

Danach war sie von 1974 bis 1984 Bürgermeisterin von Monte Argentario. Seit 1982 antwortete sie auf Leserprobleme in der Wochenzeitschrift Oggi.[2]

Für zwei Legislaturperioden, von 1976 bis 1983, vertrat Agnelli den Partito Repubblicano Italiano (PRI) in der Camera dei deputati. 1979 wurde sie ins Europäische Parlament gewählt. Dort blieb sie etwas über zwei Jahre und war Mitglied im Ausschuss für Außenwirtschaftsbeziehungen. 1983 und 1987 wurde sie zur Senatorin gewählt. Zwischen 1984 und 1987 war Susanna Agnelli Mitglied in der Menschenrechtskommission der UNO. 1993 bewarb sich Susanna Agnelli um den Bürgermeisterposten in Rom. Nachdem sie bereits in verschiedenen Regierungen (von 1983 bis 1991) Staatssekretärin des Außenministeriums gewesen war, wurde sie von 1995 bis 1996 in der Regierung von Ministerpräsident Dini zur ersten Außenministerin in der Geschichte Italiens.

1984 verlieh ihr das Mount Holyoke College einen Ehrendoktortitel in Rechtswissenschaften.

Sie bezeichnete ihre Familie oft als die „Kennedys“ Italiens. Agnelli war mit Urbano Rattazzi (1918–2012[3]) verheiratet, von dem sie sich später scheiden ließ, und Mutter von sechs Kindern." (Wikipedia)


Über dies Buch im Fischer TB 2037:

"Die jüngste Schwester des Fiat-Königs Gianni Agnelli hat ihre Erinnerung geschrieben an Kindheit und Jugend in einer der reichsten Familien Europas. Es ist ein ebenso buntes wie informatives Familienalbum der Fiat-Dynastie im Italien, Mussolini, in dem klangvolle Namen, rauschende Feste, politischer Ereignisse verzeichnet sind. Kein Familientratsch, keine billigen Enthüllungen, sondern die Entwicklung eines Kindes, das mit fünf Geschwistern, meist in Matrosenkleidern, in einem goldenen Käfig, aufwuchs, umgeben von Kindermädchen, Gouvernanten und Dienern zur selbstständigen jungen Frau, die – und hier enden die Erinnerungen – wie fast alle Agnellis in die höchsten Adelskreise einheiratete. Es ist ein romanhafte Lebensweg an der Seite der schönen Mutter und Freundin von Malaparte, umgeben von Literaten* und den höchsten Politikern des Landes. Und überall öffnete dem jungen Mädchen das Zauberwort Agnelli, Tür und Tor, drehte sich das an Agnelli-Karussell zur Beseitigung aller Schwierigkeiten in der Zeit von Faschismus und Krieg. Aber Susanna genoss nicht nur die Welt des europäischen Hochadels und der politischen Creme. Zwischen Turin, der Schweiz und Rom, lag nicht nur an den Mittelmeerstränden und lutschte Eis – sie wuchs auch in ein eigenwilliges Denken, in politische Verantwortung hinein und schloss sich  zusammen, mit Gianni zu guter Letzt dem Widerstand an." 

* z.B. Alberto Moravia

Ähnlich habe ich es auch bei der zweiten Lektüre gelesen, durchweg interessiert. Verstörend die Einschränkungen durch die britische Gouvernante Miss Parker, die zügellose Freiheit und Empörung, als ihrer Mutter durch deren Vater Senator Agnelli nach dem Tod ihres Mannes Eduardo Agnelli zeitweise das Sorgerecht entzogen war und die Bediensteten den Kindern keinen Einhalt mehr gebieten konnten. Dann Rückgabe des Sorgerechts an die Mutter, die die Kinder in der Schweiz und an der Riviera leben ließ, sie ohne Führerschein mit 15 Jahren weit herumfahren ließ, oft ohne Schulbesuch. Susannas Liebschaft mit dem sizilianischen Macho Raimonndo, einem unehelichen Sohn des Fürsten von Trabia. Dann aber ließ Susannas Mutter diese  nach ca. 5 Jahren versäumten Unterricht durch Professoren und einen jüdischen Nachhilfelehrer in 3 Monaten so coachen, dass sie die externe Reifeprüfung bestand, dann Medizin studierte (ohne Abschluss) und als Rotkreuzschwester auf Lazarettschiffen als Krankenschwester arbeitete.

Zusammen mit anderer biographischer und halbautobiographischer Lektüre in en frühen 1980er Jahren an der ES Culham in der Oberstufe behandelt:

Adelheid Popp: Jugend einer Arbeiterin (Anf. 1981)

Ingeborg Drewitz: Gestern war heute

Der Matrosenanzug


Zitat:

"[...] Wir trugen immer Matrosenkleider: blaue, im Winter, blauweiße in der Übergangszeit und weiße im Sommer. Zum Abendessen zogen wir uns ein elegantes Kleid und seidene Kniestrümpfe an. Mein Bruder Gianni wechselte nur den Matrosenanzug.

Beim abendlichen Waschen ging es sehr laut zu, mit viel Gekreisch und Geplansche. Wir drängelten uns im Badezimmer, in der Badewanne und brachten die Zimmermädchen zur Verzweiflung. Sie kämpften und bürsteten uns die langen, krausen Haare und banden sie schließlich mit riesigen schwarzen Schleifen zusammen. Dann erschien Miss Parker. Wenn sie uns alle beisammen hatte, sagte sie: 'Let’s go, und macht keinen Lärm!' Wir flitzten, so schnell wir konnten den Korridor entlang, durch die Marmoreingangshalle, wirbelten um die Ecke, wobei wir uns an der Säule der Herrschaftstreppe festhielten,  und weiter bis zum kleinen Esszimmer, wo wir keuchend stehenblieben. 'Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt nicht rennen', tadelte Miss Parker, 'one day verletzt ihr euch, und wir sind daran schuld. Dann werdet ihr es keinem danken.'
Zu essen, gab es immer das, was wir am wenigsten mochten; ich glaube, das gehörte zu unserer britischen Erziehung. Und was wir auf den Teller bekommen hatten, musste aufgegessen werden." (S. 9) 

23 Juli 2024

Jana Simon: Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit Christa und Gerhard Wolf

Vorwort (S.9-14)

"Zu Weihnachten 1988 bekam ich ein Geschenk von meinen Großeltern, die Bücher meiner Großmutter, ihr Werk, elf Bände lagen unter dem Weihnachtsbaum im Berliner Amalienpark. Heiligabend verbrachte die Familie immer bei ihnen, die Tanne reichte bis zur Decke, und mein Großvater kochte für die ganze Familie Reh oder Kaninchen. Auf die ersten Buchseiten hat meine Großmutter jeweils mit schwarzem Kugelschreiber kleine Texte an mich geschrieben – was sie in jener Zeit bewegt, was sie gedacht und was sie gefühlt hatte. Ich war damals 16 und von dem Geschenk nicht gerade begeistert. Eine Madonna-Platte hätte mir besser gefallen.
Zu Hause wuchtete ich die elf Bände in mein Regal, und dort blieben sie. Ab und an zog ich eines der Bücher heraus, wog es mit meiner Hand, und manchmal las ich es auch. Am meisten berührten mich diese kleinen Texte.  Ich empfand sie als Angebot meiner Großeltern, mir etwas über sich zu erzählen, auch wenn ich das zu jener Zeit noch nicht zu schätzen wusste. (S.9)
Auf den ersten Seiten von Der geteilte Himmel schrieb sie: 'Ich war zwischen 30 und 34 Jahre alt, in vielen naiver, als selbst ihr Sechzehnjährigen es heute seid ...' Dieser Satz wird sich wie ein Motiv in verschiedenen Variationen durch unsere Gespräche ziehen, die wir viele Jahre später führen.
Ein Jahrzehnt nach jenem Weihnachten, 1998 fing ich an, mich mit meinen Großeltern zu treffen, um mich mit ihnen über ihr Leben zu unterhalten. Die DDR existierte nicht mehr.  [...]
In jener Zeit telefonierte ich oft mit meinen Großeltern, meist mit meiner Großmutter, da mein Großvater eine Abneigung gegen längere Telefongespräche hält. Wir hielten uns auf dem Laufenden, über das Gegenwärtige. Was meine Großeltern tatsächlich bewegte, was ihr Leben ausmachte, über ihre Kämpfe der Vergangenheit, erfuhr ich wenig. Damals, dachte ich, wenn ich einmal Kinder hätte, wüsste ich gern mehr über meine Herkunft,  über unsere Familie, über die Konflikte. Über zehn Jahre hinweg trafen wir uns immer wieder, und unterbrochen von langen Pausen. Als 2008 meine Tochter Nora geboren wurde, brachen die Gespräche ab. Im Juli 2012 redete ich noch einmal mit meinem Großvater allein. /

Zu Beginn dachte ich nicht an eine Veröffentlichung, diese Idee entstand erst im Laufe der Jahre. Es war als Familienprojekt geplant. [...] Meine Fragen sind nicht objektiv und können es nicht sein. Ich frage als Enkelin, nicht als Journalistin. [...] Beim Verfassen der Anmerkungen für dieses Buch bemerkte ich, wie viele Bekannte, Freunde oder Kollegen meiner Großeltern unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, entweder im KZ, im Exil oder im Widerstand gewesen waren und wie viele von ihnen danach in der DDR wieder in große Konflikte gerieten." (S. 10-11)  

Gespräch Berlin-Pankow, 22.8.1998

Gerhard Wolf: "Damals, als ich ein Junge war, hatte Bad Frankenhausen 8000 Einwohner, ein Sole-Schwimmbad, ein Heim für Asthmakranke, das nach dem Krieg ein Kinderheim war und von Christas, Vater, Opa Ihlenfeld, geleitet wurde. Bei Frankenhausen gibt es den berühmten Schlachtberg, wo 1525 die aufständischen Bauern besiegt wurden. Mein Vater war in der Partei gewesen und Buchhalter beim Reichskiegerbund. [...]

Jana Simon: Wie war das für dich, dein Vater war NSDAP-Mitglied und du warst nicht in der Hitlerjugend, oder?

GW: Doch. Im Gegensatz zu Christa war ich aber kein begeisterter Hitler-Anhänger. Ich passte nicht in die Hitlerjugend. Damit verknüpfe ich eher traumatische Erinnerungen:  Einmal führte uns der Fähnleinführer ins Schwimmbad und warf alle Nichtschwimmer einfach ins Wasser, wo sie absoffen. Die Fähnleinführer, das waren große, kräftige Kerle, und ich war ein kleiner, dünner, blonder / Junge. Manche lernten dann mit Eifer schwimmen, aber ich weigerte mich, hatte so eine Abwehrhaltung, die sich noch verstärkte, als mein Vater im Krieg wieder heiratete. Meine Mutter war 1938 an Brustkrebs gestorben, da war ich zehn.  Und mein Vater hatte seine neue Frau Felicitas, genannt, Feechen, durch einen Feldpostbrief kennengelernt. Das war eine richtige Nazi-Frau, sie trug das goldene Sportabzeichen und wollte mich auch gleich wieder zum Schwimmen schleppen. Aber ich machte nicht mit. [...]
GW: Mein Vater gehörte wie Opa Ihlenfeld zu den Jahrgängen, die noch im ersten Weltkrieg gekämpft hatten.  [...] Übrigens wollte er einmal Journalist werden, der Einzige in der Familie. Die anderen waren alle Handwerker, mehrere Generationen Büchsenmacher in Suhl. Die waren nie im Krieg, sondern haben Gewehre gebaut. [...] (S.16/17) 
GW über seine Stiefmutter. 
"Wir haben neulich übrigens einen untertänigen Brief von mir an sie gefunden. Das muss ich gemacht haben , damit ich einen guten Stand bei ihr hatte. 
JS Du mochtest diese neue Frau nicht besonders?
GS Nein, aber mein Bruder Dieter hat eben diesen Brief gefunden, in dem ich die neue Mutti begrüße. Indem ich schreibe: 'Gut, dass wir wieder eine Familie sind.' Ziemlich brav und unterwürfig.
Christa Wolf: Ganz gefühltriefend. / 
GW: Was mich selbst erstaunte, weil es ja nicht der Wahrheit entsprach. [...] Mit 15 Jahren wurde ich als Luftwaffenhelfer eingezogen. Wie jung wir da waren! [...]" (S.18/19)
"Dort passierte nicht viel. Bis Januar 1945. Dann wurden wir alle an die Front, an die Oder geschmissen.  Hier standen viele Flakbatterien großen Kalibers, die hatten aber kaum Munition [...] Und dann geriet ich in Gefangenschaft. Oben in Mecklenburg, noch auf östlicher Seite der Elbe. Alle strömten dorthin. Es hieß: Weg von Russen, hin zu den Amerikanern. Es ging über Eberswalde bis hoch nach Mecklenburg, immer parallel zu den Flüchtlingstrecks. Wir saßen auf einem alten Feuerwehrwagen. Gewehr und Stahlhelm war ich weg. Als die Amerikaner uns gefangen nahmen hatte ich schon nichts mehr. [...] (S.19/20) 
"JS: Warst du erleichtert, dass der Krieg vorbei war?
GW: Ja, man wollte nach Hause. Viele, die früh nach Hause kamen, wurden von den Russen noch einmal geschnappt und gerieten erneut in Gefangenschaft. Es herrschte großes Durcheinander. [...] Ich war Telefonist, richtig gekämpft habe ich also nicht. Das ist hochinteressant, einige Jahre später arbeitete ich, als Dramaturg an dem Film Ich war neunzehn von Konrad Wolf mit. Seine Familie hatte in Russland in Exil gelebt, und er kämpfte auf Seiten der Russen. Im Krieg lagen wir beide uns 1945 an der Oder gegenüber, und ich hörte deren Agitation über Funk, die spielten deutsche Schlager und forderten uns auf, die Waffen niederzulegen. Diese Parolen trafen bei uns auf völlig taube Ohren. Sollten wir über die Oder schwimmen oder was? [...]
JS: Das heißt, du hast damals an den Nationalsozialismus geglaubt?" (S.21)
GW: Du, das ist eine komische Frage! Was heißt geglaubt? Wir haben uns an der Front darüber unterhalten, dass die Amerikaner schon in Eisenach standen, fragten uns: Was soll das eigentlich alles noch? Wie kommen wir nach Hause? Was ist los? Das waren die Fragen, die uns bewegten 
JS: Hattest du Angst um dein Leben? 
GW: So eine richtige Urangst hatte ich eigentlich nie. [...] An eine Begebenheit kann ich mich erinnern, aber nicht mehr an den Ort, an dem das geschah. Da haben wir uns eingegraben und Geschütze aufgestellt. Mich stellten sie sogar an ein Maschinengewehr, womit ich mich überhaupt nicht auskannte , dann kamen die Russen, liefen in Reihen auf uns zu, und die Kugeln surrten. Gott sei Dank gab es den Befehl, dass wir Fernsprecher wegrücken sollten. Ich war froh, wir rannten, und die Kugeln pfiffen um uns herum. Unsere Batterie passierte aber nicht viel, die gaben ein paar Schüsse ab, sprengten die Kanonen und setzten sich ab. Ich saß in einem Funkwagen, neben mir verblutete, ein Mann, er war ganz bleich im Gesicht, und das Blut sickerte aus seinem Arm.  Dann erschien ein Ritterkreuzträger und wollte uns aufhalten. Er schoss in die Luft, schrie wir sollten uns verteidigen. Es war ein völliges Durcheinander. Die Flucht war sehr abenteuerlich.[...]" (S.22)
JS; Wusstest du in dieser zu dieser Zeit, dass es Konzentrationslager gab? Hattest du irgendwas mitbekommen?
GW (überlegt) Das ist schwer zu beantworten. 
CW: Ich wusste es.
GW: Da müsste ich sehr genau überlegen. Gesprochen wurde darüber sicher kaum. 
CW: Bei uns hießen die KZs, wenn die Erwachsenen darüber sprachen – Konzertlager.
JS: Wieso Konzertlager? 
CW: [...] Es muss 1935 oder 1936 gewesen sein, dass ich das erste Mal dieses Wort hörte. Mein Vater sagte es selbst: Ein Kunde, der Mann von Soundso, der sei jetzt aus dem Konzertlager gekommen,  Aber die dürften ja nichts erzählen. Das merkte ich mir, weil es von einem Geheimnis umgeben war und von etwa sehr Ungutem. Man spürte es daran, wie leise die Erwachsenen darüber sprachen, sie flüsterten. Dass KZs gab, das wusste man. / 
JS: Konntet ihr euch etwas Konkretes darunter vorstellen?  
CW: Nein, überhaupt nicht. 
GEW: Das ist ganz schwer genau nachzuvollziehen. Ich weiß noch, dass wir gleich nach dem Krieg mit Freunden in Bad Frankenhausen in das Stück des Schriftstellers Günther Weisenborn Die Illegalen gingen. Darin verarbeitete er seine Zeit im Widerstand gegen die Nazis, darüber lachten wir nur." (S. 23/24) 

"JS: Alles andere habt ihr erst nach dem Krieg erfahren? Wie haben diese furchtbaren Enthüllungen auf euch gewirkt? Das muss doch ein Schock gewesen sein!
CW: Es war vernichtend. Na, pass mal auf, was ich zum Beispiel vorher wusste oder ahnte, ist, dass die Juden verfolgt wurden. Meine Tante Grete, hatte nach damaliger Einschätzung einen jüdischen Touch – dunkle Haare, gebogene Nase. Sie war eine aparte Frau und hatte einen Mann, den sie wahnsinnig lebte. Aber der hatte eine Geliebte. Deshalb trennte sich Tante Grete von ihm. Eines Tages kam sie zu uns und sagte: 'Stellt euch vor, diese Geliebte verbreitet, dass ich Jüdin bin!' Das war in den dreißiger Jahren eine Katastrophe. Ich war noch klein, vielleicht sieben Jahre alt, und bekam ein furchtbaren Schreck. Ich ging in die Küche, setzte mich auf den Kohlenkasten. Meine Mutter fragte: 'Was ist denn?' Ich sagte: 'Ich will keine Jüdin sein.' Da sagte meine Mutter: 'Um Gottes willen, woher weiß das Kind, was eine Jüdin ist.' Ich will damit nur andeuten, es lag etwas in der Luft. Aber ich könnte heute nicht sagen, woher ich mit sieben Jahren wusste, dass es gefährlich ist, Jüdin zu sein." (S.25) 

18 Juli 2024

Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler

 Ich habe die "Geschichte eines Deutschen" über die Zeit vor 1933 sehr geschätzt und mich gefragt, weshalb ich die "Anmerkungen zu Hitler" nicht hatte. Vermutlich, weil das Buch 1978 herauskam und wir 1979 nach England gegangen sind.

Und in diesem Buch war mir vor allem der Abschnitt "Leistungen" interessant. Er hebt hervor, das "Wirtschaftswunder" (S. 35), wobei er betont, dass der Ausdruck besser auf Hitlers Leistung als auf Ehrhard passe. Dann nennt er die Aufrüstung und die Entscheidung für die Panzerwaffe. Alles unter den positiven Leistungen, nachdem er zuvor die Beseitigung der Opposition durch KZ, als "psychologische Meisterleistung" (S. 35) bezeichnet hat und in diesem Zusammenhang die Ausschaltung der Parteien und die Gleichschaltung nicht erwähnt hat, sondern erst später zur Sprache bringt (als "Beseitigung des Staates", die ein Chaos hinterließ, was nur er bändigen konnte.)

So gelingt es Haffner, das abgedroschene Hitler-Lob, "aber die Autobahnen" wie neu erscheinen zu lassen und dadurch den Leser fast in die Rolle des Zeitgenossen zu versetzen, der den Terror über dem Staunen über das Erreichte, verdrängte. 

Das hat mir an Haffners Darstellung der Inflation (in "Geschichte eines Deutschen") so imponiert, wo er am Beispiel seines Vaters, eines hohen Regierungsbeamten, vorführt, wie hilflos, der dem Geschehen ausgesetzt war, während die Jugend, die sich auf Spekulation einzustellen vermochte, schlagartig den Lebenserfolg der älteren Generation übertrumpfen und als wertlos erscheinen lassen konnte. 


Haffner erläutert allgemein gesehen dazu:
Nach Hitlers Verständnis ist Geschichte der Lebenskampf von Völkern und jedes Volk hat die Absicht, so viel Lebensraum zu erwerben, dass es sich möglichst weit entwickeln kann. Das Endziel ist dabei, die Weltherrschaft über alle Völker zu gewinnen.
Daneben steht aber die Auffassung, dass ein Volk (oder eine Rasse?) eine andere Absicht verfolge. Das seien die Juden. Denn die Juden kämpften nicht um Lebensraum, sondern darum, die Lebensmöglichkeit aller anderen Völker der Welt zu zerstören. Deshalb müssten  alle anderen Völker Gegner der Juden sein. Haffner verweist darauf, dass der Widerspruch darin liegt, dass einerseits alle Völker gegeneinander kämpfen müssten, um für sich selbst den Sieg zu erringen, dass aber andererseits alle Völker die Juden als gemeinsame Gegner haben müssten.
Das Problem des Gedankengebäudes ist demnach, dass  der Lebenskampf um Lebensraum der Völker und der Kampf gegen die Juden im Widerspruch stehen.
Um das Verhalten der Juden zu erklären, führt Hitler ein, dass die Juden für alles sind, was international ist und was über den Bereich eines Volkes hinausgeht und dass dies zu der Zerstörung der Völker allgemein führen müsse.

Dass beides schon in der Theorie nicht recht zusammenpasst, ist das eine. Das andere ist, dass sein Ziel die Weltherrschaft für das deutsche Volk zu erzielen, in eindeutigem Widerspruch dazu steht, dass er für die Menschheit die Juden insgesamt vernichten will und damit seine Kraft aufspaltet , weil gleichzeitig die Weltherrschaft erreicht und gleichzeitig die Juden auf der gesamten Welt zerstört werden sollen. 

Zitate:

"Die Geschichte Frankreichs zwischen 1919 und 1939, die Geschichte eines bitter-schwer errungenen und dann ganz und gar verlorenen Sieges und eines stufenweisen Abstiegs von stolzestem Selbstbewusstsein zur fast schon vollzogenen Selbstaufgabe, ist eine Tragödie. In Deutschland, wo man Frankreich immer noch als den boshaften Quälgeist der ersten Nachkriegsjahre im Gedächtnis hatte, wurde sie natürlich nicht so gesehen. Vielmehr: Sie wurde überhaupt nicht gesehen. Man glaubte, es immer noch mit noch nicht nur mit dem triumphierenden Frankreich von 1919, sondern auch mit dem heroischen Frankreich von 1914 zu tun zu haben. Die deutschen Generale hatten vor einer neuen Marne und einem neuen Verdun fast ebenso viel Angst wie die Franzosen. und nicht nur die Deutschen – das war das erstaunliche: die ganze Welt, England und Russland voran , setzten in ihre Rechnungen bei Kriegsausbruch 19 39 wie selbstverständlich ein Frankreich ein, dass jederzeit, wie 1914, bereit sein würde, zur Verteidigung seines Bodens das Blut seiner Söhne in Strömen fließen zu lassen. Nur Hitler tat nichts dergleichen." (S.85)

"Hitler war seiner Sache sicher. Und man muss es ihm/lassen, er hatte recht. Der Frankreichfeldzug wurde sein größter Erfolg. (S. 86/87).

"Hitler, so sehr er in Fragen der Taktik und des Timing, seinem Instinkt – seiner "Intuition" – vertraute, richtete sich in seiner politischen Strategie durchaus nach festen, sogar starren Grundideen, die er sich über dies so zurechtgelegt hatte, dass sie ein in sich einigermaßen schlüssiges, wenn auch an den Rändern ausgefranztes System bildeten– eine "Theorie" im marxistischen Sinne." (S. 90)

"Träger, alles geschichtlichen Geschehen sind nur Völker oder Rassen – weder Klassen noch Religionen und streng genommen nicht einmal Staaten. Geschichte "ist die Darstellung des Verlaufs des Lebenskampfes eines Volkes"  Oder auch, wahlweise: "Alles weltgeschichtliche Geschehen aber ist nur die Äußerung des Selbsterhaltungtriebes der Rassen."  Der Staat ist "prinzipiell nur ein Mittel zum Zweck und faßt als seinen Zweck die Erhaltung des rassischen Daseins der Menschen auf". Oder, etwas weniger defensiv: "Sein Zweck liegt in der Erhaltung und Förderung einer Gemeinschaft physisch und seelisch gleichartiger Lebewesen." "Die Innenpolitik hat einem Volk die innere Kraft zu sichern für seine außenpolitische Behauptung." / Diese außenpolitische Behauptung besteht im Kampf: "Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht", und der Kampf zwischen Völkern (oder Rassen) spielt sich normaler- und natürlicherweise als Krieg ab.  Richtig betrachtet, "verlieren Kriege den Charakter einzelner mehr oder minder gewaltiger Überraschungen, sondern gliedern sich ein in ein natürliches, ja selbstverständliches System einer gründlichen, gut fundierten, dauerhaften Entwicklung eines Volkes." "Politik ist die Kunst der Durchführung des Lebenskampf eines Volkes um sein irdisches Dasein. Außenpolitik ist die Kunst, einem Volke den jeweils notwendigen Lebensraum in Größe und Güte zu sichern.  Innenpolitik ist die Kunst, einem Volke den dafür notwendigen Machteinsatz in Form seines Rassenwertes und seiner Zahl zu erhalten." (S.93)

In seinem zweiten Buch schreibt Hitler über die Juden:
" 'So wie jedes Volk als Grundtendenz seines gesamten, irdischen Handelns, die Sucht der Erhaltung seiner selbst als treibende Kraft besitzt, genauso auch das Judentum.' Er fügt aber gleich hinzu: 'Nur ist hier entsprechend der grundverschiedenen Veranlagung, arischer Völker und des Judentums der Lebenskampf auch in seinen Formen verschieden.' 
Denn die Juden [...] sind in ihrem Wesen nach international, unfähig zur Staatsbildung. 'Jüdisch' und 'international' sind für Hitler geradezu Synonyme; alles, was international ist, ist jüdisch und in diesem Zusammenhang spricht Hitler dann sogar doch von einem jüdischen Staat:  'Der jüdische Staat war nie in sich räumlich begrenzt, sondern universell unbegrenzt auf den Raum, aber beschränkt auf die Zusammenfassung einer Rasse.'. Und daher – nun kommt es – ist dieser 'jüdische Staat', das 'internationale Weltjudentum', der Feind aller übrigen Staaten, die er mit allen Mitteln gnadenlos bekämpft,  Außenpolitisch durch Pazifismus und Internationalismus, Kapitalismus und Kommunismus, innenpolitisch durch Parlamentarismus und Demokratie. Alles / dies sind Mittel zur Schwächung und Zerstörung des Staates, und alles ist die Erfindung der Juden, denn mit allem sind sie nur auf eines aus: die 'arischen' Völker in ihrem prächtigen Kampf um Lebensraum (an dem die Juden listiger Weise nicht teilnehmen) zu stören und zu schwächen, umso ihre eigene, verderbliche Weltherrschaft sicherzustellen. [...]. Warum müssen alle Völker gegen die Juden zusammenstehen, obwohl sie doch eigentlich voll damit beschäftigt sind, untereinander, um Lebensraum zu kämpfen? Antwort: Sie müssen es, gerade weil sie um Lebensraum zu kämpfen haben, und damit sie sich ungestört ihrem Kampf um Lebensraum widmen können.  Die Juden sind in diesem schönen Spiel die Spielverderber; mit ihrem Internationalismus und Pazifismus, ihrem (internationalen), Kapitalismus und (ebenso internationalen) Kommunismus lenken Sie die arischen Völker von ihrer Hauptaufgabe und Hauptbeschäftigung ab, und deswegen müssen sie weg, ganz weg, aus der Welt, nicht etwa nur aus Deutschland;  sie müssen 'entfernt' werden, aber nicht wie ein Möbelstück, dass man entfernt, in dem man es anderswohin schafft, sondern wie ein Fleck, den man entfernt, indem man ihn auslöscht. Man darf Ihnen auch keinen Ausweg lassen. Wenn sie ihre Religion ablegen, bedeutet das gar nichts, da sie ja keine Religionsgemeinschaft sind, sondern eine Rasse;  Und wenn sie sogar ihre Rasse durch Vermischung mit 'Ariern' zu entkommen suchen, dann ist das noch schlimmer, denn damit verschlechtern Sie die 'arische' Rasse und machen das jeweilige Volk untüchtig für seine notwendigen Lebenskampf. Wenn sie aber in diesem Volk aufgehen wollen und deutsche, französische, englische oder sonstige Patrioten werden, dann ist das alles ist das das Allerschlimmste:  Denn dann sind sie darauf aus, 'die Völker in / gegenseitige Kriege zu stürzen (aber ist das denn nicht laut Hitler gerade das, wozu die Völker da sind?) und auf diesem Wege langsam mithilfe der Macht des Geldes und der Propaganda, sich zu ihren Herren aufzuschwingen.' Man sieht die Juden können tun, was sie wollen: im Unrecht sind sie immer; und ausgerottet werden müssen Sie auf jeden Fall." (S. 99-101). 

Zu Hitlers Kriegserklärung an die USA:
Als im April 1941 der deutsche Aufmarsch gegen Russland unübersehbar wurde, hatte Japan mit Russland ein Neutralitätsabkommen getroffen, das es auch korrekt einhielt; und es waren sibirische Truppen gewesen, von der russisch-japanischen Militärgrenze in der Mandschurei abgezogen, die die deutsche Moskauoffensive zum Stehen gebracht hatten. Hitler wäre nicht nur juristisch, sondern auch moralisch vollkommen im Recht gewesen, Japans Krieg gegen Amerika als willkommene Ablenkungs- und Entlastungsoperation zu behandeln, die er für Deutschland hätte sein können, und ihm ebenso kaltlächelnd, zuzuschauen, wie Japan, dem deutschen Krieg gegen Russland zuschaute –  zumal er ja auch gar nichts tun konnte, um Japan irgendwelchen aktiven Beistand zu leisten. Und dass er nicht der Mann war, seine Politik durch sentimentale Anhänglichkeitsgefühle beeinflussen zu lassen, schon gar nicht gegenüber Japan, braucht wohl nicht gesagt zu werden.
Nein, was Hitler veranlasste, den Eintritt Amerikas in den deutschen Krieg, den er bisher nach Kräften hintangehalten hatte, nun selbst herbeizuführen, war nicht der japanische Angriff auf Pearl Harbor, sondern die erfolgreiche russische Gegenoffensive vor Moskau, die bezeugtermaßen Hitler, die intuitive Erkenntnis vermittelt hatte, 'daß kein Sieg mehr errungen werden konnte'. Soviel lässt sich mit einiger Sicherheit sagen. Aber erklärt ist Hitlers Schritt damit nicht." (S.138) 

Haffner bringt als Motivation ins Spiel, dass Hitler jetzt, da er nicht mehr an einen Sieg glauben konnte, das deutsche Volk aufgegeben hat und sich auf sein zweites Ziel: 'Vernichtung der Juden' konzentriert hat.
"[...] vor zwei ausländischen Besuchern, dem dänischen Außenminister Scavenius und dem kroatischen Außenminister Lorkowitsch, hatte er schon am 27. November – als die russische Gegenoffensive noch nicht einmal eingesetzt hatte, sondern nur die deutsche Offensive auf Moskau zum Stehen gebracht worden war – seltsame Reden geführt, die aufgezeichnet worden sind. 'Ich bin auch hier eiskalt', hatte er gesagt. 'Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein eigenes Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen stärkeren Macht vernichtet werden… Ich werde dann dem deutschen Volk keine Träne nachweinen.' " (S.141)

"Während die deutschen Armeen ihren langen opferreichen und vergeblichen Verzögerungskampf führe, rollen Tag für Tag Züge mit Menschenfracht in die Vernichtungslager. Im Januar 1942 ist die 'Endlösung der Judenfrage' angeordnet worden." (S.143)

"Die Vernichtung Deutschlands war das letzte Ziel, das Hitler sich setzte. Er hat es nicht ganz erreichen können, so wenig wie seine anderen Vernichtungsziele. Erreicht hat er damit, dass Deutschland sich am Ende von ihm lossagte – schneller als erhofft, und auch gründlicher. Dreiunddreißig Jahre nach dem endgültigen Sturz Napoleons wurde in Frankreich ein neuer Napoleon zum Präsidenten der Republik gewählt.  Dreiunddreißig Jahre nach Hitlers Selbstmord hat niemand in Deutschland auch nur die kleinste politische Außenseiterchance, der sich auf Hitler beruft und an ihn anknüpfen will. Das ist nur gut so. Weniger gut ist, dass die Erinnerung an Hitler von den älteren Deutschen verdrängt ist und dass die meisten Jüngeren rein gar nichts mehr von ihm wissen.  Und noch weniger gut ist, dass viele Deutsche sich seit Hitler nicht mehr trauen, Patrioten zu sein. Denn die deutsche Geschichte ist mit Hitler nicht zu Ende. Wer das Gegenteil glaubt und sich womöglich darüber freut, weiß gar nicht, wie sehr er damit Hitlers letzten Willen erfüllt ." (Haffner, S.190)

Von heute aus, 46 Jahre nach Haffners Buch, ist seine damals durchaus sehr treffende Aussage leider überholt.