02 Februar 2025

Gunter Hofmann: Richard von Weizsäcker

 Gunter Hofmann: Richard von Weizsäcker, C.H. Beck 2010

Die Familie von Weizsäcker bürgerlich, aber mehr und mehr in die Politik hineingewachsen. Der Großvater Karl Hugo Ministerpräsident im kaiserlichen Württemberg, der Vater Ernst von der Marine kommend nach dem Krieg in den diplomatischen Dienst der Weimarer Republik gewechselt, schließlich dann unter Ribbentrop 1938 Staatsekretär im NS-Staat. 

Richtig regiert, so Richard, wurde vom Preußenkönig Friedrich II. nach dem Siebenjährigen Krieg. Friedrich hatte Preußen 'fest in der Hand', überließ dem Bürgertum Handel und Gewerbe (S.13), seine Beamten waren Adelige. Damals war Politik 'berechenbar': Zutrauen in die "Berechenbarkeit der Welt", mit den preußischen Reformen (S.14). Auch Richard glaubt nicht an Hegels Weltgeist, sondern sieht Politik als "menschengemacht". 

Die bestimmende Person seiner Kindheit war Marianne von Gravenitz, sein Vater wenig anwesend, in große Konflikte eingespannt. Charakterisierend für ihn, Ernst von Weizsäcker, (so sehe ich das), dass er stolz war auf das Münchener Abkommen, für das er Mussolini gewonnen hatte (seine größte diplomatische Leistung). 'Zeit gewinnen'*, den Krieg vermieden, wo Hitler schon hatte zuschlagen wollen. Ernst war mit C.J. Burckhardt befreundet. Über ihn hat Richard als 11-Jähriger Stefan George erlebt, 'seine Hand im Nacken' gespürt (erst später lernte er, wer das gewesen war). 

* ("Ende 1936 führten Burckhardt und Ernst von Weizsäcker ein Gespräch, dass den Geist der Zeit innerhalb des Diplomatischen Dienstes treffend reflektieren dürfte. 'Weizsäcker: Die Männer guten Willens, müssen alles tun, um den drohenden Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Burckhardt: Alle aktiven Elemente in beiden Lagern der Welt arbeiten auf dem Krieg hin, der im Übrigen in Spanien schon begonnen hat und nicht wieder zum Erlöschen kommen wird Weizsäcker: Er muss gelöscht werden. Kommt der allgemeine Krieg, so werden so furchtbare Verbrechen entfesselt, dass kein Sieg jemals wieder gutmachen kann, was dann geschehen ist. Wir müssen Zeit gewinnen, dem muss man alles andere unterordnen." (S.25)

"Mit Vernunftgründen, das blieb seine Grundhaltung, und daran klammerte er sich wohl, müsse man doch Resonanz finden. Es brauchte Zeit, bis er verstand, dass das für die Nationalsozialisten nicht galt." (S.26)

Mit 19 Jahren ging Richard zusammen mit seinem älteren Bruder Heinrich in den Krieg. Heinrich fiel schon in den ersten Kriegstagen. Carl Friedrich war nicht Soldat, sondern forschte zusammen mit Werner Heisenberg an der "Uranmaschine" (S.44) Sein erstes ernsthaftes Gespräch führte Richard mit seinem 8 Jahre älteren Bruder, dem 'jungen Genie'  erst mit  22 Jahren. - Zu seinem Freund wird Axel von dem Bussche "Am 5. Oktober 1942 wurde der hochdekorierte Oberleutnant als 23-Jähriger auf dem Flugplatz von Dubno in der Ukraine zufällig Zeuge einer Massenexekution von über dreitausend Zivilisten, Männern, Frauen und Kindern – überwiegend Juden – die während zweier Tage von acht SS- und mehreren SD-Leuten systematisch vollzogen wurde. Von dem Bussche hat dieses Verbrechen beschrieben: „SS-Leute führten die Juden an eine Grube. Dort mußten sie sich entkleiden, danach in die Grube steigen, in der schon eine Schicht zuckender Leiber lag: Mit dem Gesicht nach unten mußten sie sich dem Befehl gehorchend auf die Ermordeten legen und wurden dann durch Schüsse in den Hinterkopf getötet.“[1]"(Wikipedia) Von dem Bussche (S.55-61) stellt sich den Widerstandskämpfern vom 20. Juli als Selbstmordattentäter zur Tötung Hitlers zur Verfügung. Der Plan scheitert, und da er kurz darauf im Kampf schwer verletzt wurde, wurde er nicht verhaftet. Axel, zwei Jahre älter als Richard, war für diesen in jeder Hinsicht ein Vorbild. Wichtig wird für ihn auch die Begegnung mit Marion Gräfin Dönhoff, 11 Jahre älter als er und ihm vorbildhaft in ihrer liberalen Einstellung. Sein Geschichtsbild der Weimarer Republik und der Nazizeit ist stark geprägt von Sebastian Haffner, der die Schwächen der Weimarer Republik früh durchschaut hatte und 1938 nach England kam und unter Verweis auf seine jüdische Verlobte um politisches Asyl bat. (S.31ff.) 
Nach dem Krieg arbeitet Richard mit bei der Verteidigung seines Vaters, weil er fest an die Unschuld seines Vaters glaubte, der ab 1939 alles verloren sah und nur noch die Chance sah, in Einzelfällen zu helfen. (S.69ff.) Schon im Herbst hatten Gräfin DönhoffBussche und Richard v.W der mit ihm befreundet war, "sich eine eigenes Bild vom gerichtlichen Umgang mit der Nazizeit zu machen" (S.69) Gräfin Dönhoff, die wie der Verteidiger E von Weizsäckers Hellmut Becker die Gelegenheit hatte, mit Robert Kempner, dem Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson, zu sprechen, übernahm es, in der Öffentlichkeit E. v. Weizsäcker zu verteidigen.
Über R. v. Weizsäckers Rede von 1985  kam es danach zu einer kleinen Kontroverse zwischen ihm und Helmut Schmidt wegen der Aussage, "niemandem habe es entgehen können, dass Deportationszüge rollten, wenn er es wissen wollte" (S.65). Schmidt hielt dem entgegen, in der gesellschaftlichen Oberschicht habe man sehr viel mehr wissen als die Durchschnittsbürger. Sein eigener Vater, "Halbjude", habe ein Berufsverbot gefürchtet, wenn es herauskäme, aber nicht mehr, und er habe von der Judenvernichtung bis zum Ende nichts gewusst. (S.65-68)
Hermann Priebe  als Zeuge über kleinere Aktionen, die durchaus gefährlich waren und halfen:

Wikipedia: "Hermann Priebe näherte sich nach dem Überfall auf Polen der Widerstandsgruppe um Friedrich Hielscher an. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 in der Wolfsschanze wurde er, ebenso wie Hielscher und Paul Widany von der Gestapo in Berlin verhaftet. Nach der Entlassung aus dem Zellengefängnis Lehrter Straße wurde er in das Infanterie-Regiment 9, genannt „Graf Neun“, eingezogen und an die Ostfront „zwecks Frontbewährung“ abkommandiert. Richard von Weizsäcker, der in Wartenburg als Regimentsadjutant bei dieser Einheit diente, vernichtete den Rückrufbefehl und schützte Hermann Priebe vor der Gestapo.[1] Priebe erklärte später: „Ich könnte sagen, ich habe Richard von Weizsäcker mein Leben zu verdanken“.

„Priebe, später Professor an der Universität Frankfurt am Main, war Führer der I. Kompanie, Weizsäcker Regimentsadjutant. An eine Episode aus dem Januar 1945 erinnerte er sich, die große russische Schlussoffensive hatte begonnen. Wegen persönlicher Verbindungen zu den Verschwörern des 20. Juli war Priebe unmittelbar nach dem Attentat von der Gestapo in Potsdam verhaftet und einige Monate im Zuchthaus Lehrter Straße inhaftiert worden, bevor er seine ‚Schande‘ bei einem Fronteinsatz wiedergutmachen sollte. Er wurde der 23. Grenadierdivision auf der Halbinsel Sworbe im Finnischen Meerbusen zugeteilt, da die Kämpfe aber schon beendet waren, kam er zum Infanterieregiment 9 nach Ostpreußen. Überraschend forderte die Gestapo ihn zur sofortiger Rückkehr nach Berlin auf. Beim Kampf um Wartenburg verwundete ihn eine Granate schwer. Der Regimentsadjutant, Weizsäcker, vernichtete den Rückrufbefehl, der an Priebe ergangen war, er kam in russische Gefangenschaft und überlebte.“

– Richard Weizsäcker. Ein deutsches Leben[2]
 Fortsetzung von Priebes Argumentation über die Rolle des Widerstandes S.82-83:




























  


1957 kam das Memorandum der Göttinger Achtzehn heraus gegen Bundeswehr  mit Atomwaffen und für eine friedliche Verwendung der Atomenergie.1961das Tübinger Memorandum von evangelischen Prominenten und Wissenschaftlern das gegen eine nukleare Aufrüstung und für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze eintrat, beide auf Initiative von Richards Bruder Carl Friedrich von Weizsäcker1965 folgte die Ostdenkschrift der EKD (für Richard v. W. eine Voraussetzung für die SPD Ostpolitik). (S.123-126)
1964-70  und 1979-81 wurde Richard v. W. Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. 1969 wurde er in den Bundestag gewählt.
Über die Ostverträge handelt das 6. Kapitel (S.135-155), in dem geschildert wird, wie Richard mit seiner Befürwortung der Verträge und der Fraktionsdisziplin in Schwierigkeiten kam. Dabei wird auch angesprochen, dass er Brandts Bericht über die Nürnberger Prozesse, den er erst 2007 Gelegenheit zu lesen fand, sehr beeindruckend fand (obwohl er damals Verteidiger eines deutschen Regierungsvertreters und Brandt für die von den Deutschen besetzten schließlichen Sieger stand).
" 'Verneigen könne man sich nur vor der 'unglaublichen Kenntnis, der moralischen Strenge und der historischen Fairness des Autors, bekannte Weizsäcker bei der Präsentation des Buches im Deutschen Historischen Museum. Der Kontrast könne gar nicht größer sein zwischen diesen Brandt, damals auch gerade erst 32 Jahre alt, und den jungen Leuten wie ihm. Um Essen hätte man sich so kurz nach dem Krieg bemüht, um Heizung für den Ofen, 'einen Stein hat man auf den anderen gestellt', die Alltags- und Überlebenssorgen, füllten das Leben aus – und da kommt dieser Brandt, so alt wie seine älteren Geschwister, und schreibt über die Zeitverhältnisse, über die deutsche Schwierigkeit, eine Nation zu werden, die Unfähigkeit, ein verlässliches Bürgertum zu entwickeln, schreibt, fair über das Ende des Ersten Weltkrieges und den Versailler Vertrag, redet über ein 'europäisches Deutschland' – vor allem aber will er den europäischen Nachbarn klarmachen, das es neben den Verbrechern, die auf der Anklagebank saßen, auch 'andere Deutsche' gab.
 An die moralisch aufbauenden Kräfte dieser Minderheit glaubte der Autor, wie Weizsäcker bei der Lektüre entdeckt, / ganz wie er selber. Er marschierte im Infanterieregiment 9, quer durch Osteuropa. Brandt bekämpfte Hitler von Skandinavien aus und im Untergrund, und Franco in Spanien. Und dort teilten sie diese Überzeugung. Die Minderheit, dachte Brandt, könne und müsse Verantwortung übernehmen, 'Verantwortung, nicht Schuld'. Ja, für legitim, hielt er den Prozess, obwohl es ein Völkerrecht nicht gab, auf das er sich hätte stützen können. 'Die raus, wir rein', wie Weizsäcker und Bussche vor dem Justizpalast, das hätte Brandt nicht gerufen,. Daran, dass die Richtigen zu Gericht sitzen, hegte Richard von Weizsäcker erheblich. größere Zweifel. Ein deutscher Richter, das fand aber auch Brandt, hätte mit dabei sitzen sollen. Worin sie jedoch vollends übereinstimmten, das war dieses Gefühl, dass es auch sie als Deutsche angehe, die eigene Sache, werde verhandelt. Einen frühen Geistesverwandten entdeckt er damit in Brandt, der viel mehr im europäischen Kontext dachte als er, der Lehrling, der seinen Uniformrock noch nicht lange abgelegt hatte." (S.153/154)
"Richard von Weizsäcker, der am 9. Juli 1987 den Piskarjowskose-Friedhof   in Leningrad besuchte, hatte selber als zwei/undzwanzigjähriger Oberleutnant zu jenen deutschen Belagerern gehört, die bis auf fünfzehn Kilometer an die Stadt heran gerückt waren. 470.000 Menschen lagen dort unter der Erde. Bei einem früheren Besuch, 1973, hatte er bekannt, er habe im Zweiten Weltkrieg zu den 'deutschen Hunnen' vor den Toren der Stadt gehört.
Am Abend dieses Besuches spielte er erneut darauf an: 'Ich selbst bin im Krieg als junger Soldat nicht weit von hier gewesen. Uns haben die Leiden des Krieges, die wir miterlebt haben oder ahnen mussten, tief geprägt. Ich bin heute hier, um alles in meinen Kräften Stehende dazu beizutragen, das künftigen Generationen erspart bleibt, was der Krieg an Gewalt, Not und Tod mit sich gebracht hat.' Für welche andere Politik als eine des Ausgleichs, die sich um 'Entfeindung' bemüht, hätte er an dem Ort werben können? Dass für jemanden wie ihn (oder Genscher) instinktiv das Beben in Europa eine andere Rolle spielen musste als für die nächste Generation, zu der auch Kohl zählte, lag das nicht nahe? " (S. 209/210)

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