24 Oktober 2010

B. v. Weizsäcker: Die Unvollendete

Beatrice von Weizsäcker spricht mir in ihrem Buch über "Deutschland zwischen Einheit und Zweiheit" mit vielem aus dem Herzen. Dass die Bürgerrechtsbewegung so ganz ihren Einfluss auf die politische Entwicklung verlor, dass es ein Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes wurde und keine Einigung mit neuer Verfassung im Sinne des Artikels 146, beides steht der Vollendung der Einheit im Wege.
Beachtenswert ist auch ihr Hinweis auf die fortbestehenden Unterschiede in Virginia (USA), wo die Trennung des Staates während des Amerikanischen Bürgerkrieges noch heute nach weit über 100 Jahren spürbar ist. Es muss mehr für die innere Einigung getan werden.
Dankbar bin ich auch für die Erinnerung an manche beschämende Vorgänge. Wie mit Bürgerrechtlern, mit Schriftstellern und Büchern aus der ehemaligen DDR umgegangen wurde, war ein Skandal. Ihre Ausführungen - großenteils Zitate aus der damaligen Zeit - möchte ich hier wörtlich anführen:
Im Oktober 1990 folgte der Beitritt, und vorbei war es mit dem Interesse an östlichen Andersdenkenden. Das aufgestoßene Fenster war wieder zu, der aufrechte Gang gebrochen. [...] »Der Mut und die Lust, mitzusprechen in der verei­nigten Demokratie, ist denen im Osten rasch wieder aus­getrieben worden«, brachte es Gunter Hofmann von der Zeit später treffend auf den Punkt. Christa Wolf beispielsweise habe sich »von den Belehrungen aus dem Westen bis heute nicht recht erholt«. Christa Wolf war vielleicht die Bekannteste, der es so ging, aber bei weitem nicht die Einzige.
[...] Schriftsteller hatten keine Lektoren mehr und schon gar keine Kritiker. Selbst Autoren wie Ulrich Plenzdorf, der zur Zeit der Teilung im Westen noch als Kronzeuge des östlichen Aufbegehrens gefeiert worden war, resig­nierten bald. Plenzdorfs westdeutscher Verlag verlor das Interesse an ihm, später lehnte auch das Femsehen seine Drehbücher immer wieder ab. »Ich habe die Auseinan­dersetzung über die Deutungshoheit östlicher Schicksale glatt verloren«, sagte er 2003, wenige Jahre vor seinem Tod, verbittert in einem Interview.
Der gesamten DDR-Kunst sei vorgeworfen worden, sie habe dem Staat gedient und das Unrechtsregime un­terstützt, resümiert die Publizistin Dahn in ihrem Buch »Wehe dem Sieger!« - »ob Malerei, Literatur, Film oder Theater«. Wie weit die Verachtung alles Östlichen ging, beschreibt sie an einem Beispiel, das im Westen kaum bekannt ist. Eine halbe Million druckfrischer Bücher wurden »an der Peripherie der Bücherstadt Leipzig auf Müllkippen entsorgt« - Klassiker, Werke antifaschis­tischer Exilanten, wissenschaftliche Literatur, Bildbände, sogar Noten von Bach. Sie alle wurden »zu Abfall degra­diert«, nur weil sie in der DDR gedruckt worden waren. Es war der westdeutsche Pfarrer Martin Weskott, der dies entdeckte und einen Großteil der Bücher rettete." (S.48-50)
Wichtig ist in diesem Kontext Daniela Dahns Buch "Wehe dem Sieger!"

Doch die tiefere Spaltung unserer Gesellschaft liegt meiner Meinung nach bei dem Umgang mit den Gefahren des Klimawandels, mit den daher sich abzeichnenden Kriegsgefahren, bei der tiefen sozialen Ungerechtigkeit auf der Welt (Jean Ziegler spricht von der "kannibalistischen Weltordnung") und den ebenfalls schmerzhaften sozialen Ungerechtigkeiten in Deutschland.

Solange die Preise nicht die ökologische Wahrheit sagen und der internationale Austausch weiterhin primär der Plünderung der Naturschätze der wirtschaftlich schwächeren Länder dient, ist die Welt nicht in Ordnung.
Auch der Gegensatz zwischen den sich entvölkernden neuen Bundesländern und den einem naturzerstörenden Wachstum verschriebenen alten ist nicht primär ein ideologischer, sondern wesentlich durch die wirtschaftlichen Unterschiede mitbestimmt.

Der Talmud über die Schöpfung

Unsere Meister lehrten: Die vom Lehrhause Schammais sagten: Die Himmel wurden zuerst erschaffen, und daraufhin die Erde erschaffen, denn es heißt [1. Mose 1,1] Im Anfang erschuf Gott die Himmel und die Erde. Und die vom Lehrhause Hillels sagten: Die Erde wurde zuerst erschaffen und daraufhin die Himmel, denn es heißt [1. Mose 2,4]: Am Tage, da der Herr, Gott, Erde und Himmel machte.
Die vom Lehrhause Hillels sagten zu denen vom Lehrhause Schammais: Nach euren Worten baut ein Mensch den Oberstock, und daraufhin baut er das Haus, denn es heißt [Amos 9,6]: Der in den Himmeln sein Obergemach baut und sein Gewölbe über die Erde gründet. Die vom Lehrhause Schammais sagen zu denen vom Lehrhause Hillels: Nach euren Worten macht ein Mensch den Fußschemel, und daraufhin macht er den Stuhl, denn es heißt [Jesaja 66,1]: So spricht der Herr: Die Himmel sind mein Stuhl und die Erde meiner Füße Schemel.
Die Weisen aber sagen: Diese und jene wurden gemeinsam erschaffen, denn es heißt [Jesaja 48,13]: Hat doch meine Hand die Erde gegründet und meine Rechte die Himmel ausgespannt. Ich rufe ihnen zu - zusammen stehen sie da.
Der Talmud ist in seinem Wesen Auslegung der Heiligen Schrift, das heißt der hebräischen Bibel, der Tanach. Obwohl er die Schrift primär als Weisung für das tägliche Leben auslegt, denn der fromme Jude will sein ganzes Leben nach den Weisungen der Schrift leben, so finden sich doch auch Passagen zu fast allen Themen, die in der hebräischen Bibel, dem Alten Testament, behandelt werden.
Im Talmud ist die jahrhundertelange Diskussion zur Bibelauslegung festgehalten, die der schriftlichen Niederlegung dieser Diskussion vorausging. Deshalb enthält er nicht nur den bei Niederlegung des Textes neusten Wissensstand, sondern in verkürzter Form diese jahrhundertelange Diskussion. So versteht er sich als Ausgangspunkt für die Fortsetzung dieses Lehrgesprächs in der Gegenwart.
Wesentlich ist dabei immer der Dialogcharakter und dass Meinungen nicht unterschlagen werden, auch wenn sie gegenwärtig von der Mehrheit als falsch angesehen werden [Zunächst denken die Verfasser dabei an ihre Gegenwart zum Zeitpunkt der Verschriftlichung, im Grundsatz ist aber die jeweilige zukünftige Gegenwart mitgedacht.] Man kann dieses Gespräch über die Jahrtausende also durchaus mit dem herrschaftsfreien Diskurs vergleichen, den Habermas sich als die Voraussetzung für das Entstehen menschlicher Wahrheit denkt.
Weiteres Textbeispiel zum Talmud
Internetseite zum Talmud mit Erläuterungen und Textbeispielen
Günter Stemberger: Der Talmud. Einführung. Texte, Erläuterungen, Beck München, 4. Aufl. 2008
Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, Talmudische Zeit. 1853-1875; Zeno zum Talmud

17 Oktober 2010

Krankheitsbild - ex ovo

Velázquez und Rudolf Virchow mit der Zwergin Maria Barbola unter der Flagge Krankheitsbild zu vereinen, ihnen dann Flaubert und Charcot hinzuzufügen, das gelingt Peter Bamm, alias Curt Emmrich, in seinen medizinischen Essays "Ex Ovo" bewundernswert gebildet und geistreich. Hat Velázquez doch schon das Krankheitsbild Myxödem am Beispiel der Barbola auf seinem Bild Las Meninas bis ins kleinste Symtom hin dargestellt, lange bevor irgend jemand wusste, dass es Hormone, geschweige denn Hormonstörungen gibt.
Da Velásquez "seine Entdeckung nicht benannte, konnte sie nicht einmal zur Aufforderung für die Forschung werden [...] die Idee war da. Der Name nicht. Habent nomina aliquid numinosi." So fasst Peter Bamm sentenzenhaft den Unterschied von Maler und Pathologen zusammen, immer wieder seine geliebte klassische Bildung hervorkehrend, statt zu schreiben: "Namen haben etwas wie göttliche Kraft."
Kurz darauf bringt Bamm Charcot und Voltaire in der Sentenz zusammen: "Erst nachdem man aufgehört hatte, Hexen zu verbrennen, konnte man anfangen, sie zu behandeln. Die Voraussetzung für die Arbeit Charcots war nicht das Mikroskop, sondern Voltaire."
Dass Bamm dabei nebenbei für "Hexen" das Krankheitsbild Hysterie diagnostiziert, macht das Irritierend-Faszinierende solcher Sätze aus.

07 Oktober 2010

Chinesen auf dem Zwischendeck oder Stuttgart 21?

Es ist überhaupt ein wildes Volk, täglich kommen Reibereien zwischen ihnen und einem Schiffsunter- oder -oberoffizier vor, und nur die riesigen Dampfschlauchspritzen, die gegen die beiden Eingänge vom Zwischendeck zum Ober- und Quaterdeck gerichtet sind, und aus denen bei aufkommendem Aufruhr die Bande wie Ratten durch heiße Dämpfe abgesengt wird, gewähren Sicherheit.
(G. Michaelis: Für Staat und Volk. Eine Lebensgeschichte. Berlin 1922, S.87)


Georg Michaelis über die 1180 Chinesen auf dem Zwischendeck der "City of Peking", in der er zu 48 Erste-Kajüte-Passagieren gehört, die "fast soviel Raum wie 150 auf der 'Werra' haben" [dem Schiff, mit dem er von Deutschland nach Nordamerika fuhr].
Er ist feinfühlig, ein sehr bewusster Christ, sympathisch, späterer Reichskanzler. Seine Bemerkungen stammen aus seinem Reisetagebuch von 1889.