15 Mai 2011

Die Lust zu leben und die Lust zu sterben

Ich bin noch mit der Ethik der Eddaverse aus Strophe 77 des Havamal aufgewachsen, die Felix Genzmer so übersetzt hat:

Besitz stirbt, Sippen sterben,
du selbst stirbst wie sie;
eins weiss ich, das ewig lebt:
des Toten Tatenruhm.

Entsprechend hat mich der Heroismus, der in der isländischen Sagas und auch noch in den vorhöfisch inspirierten Teilen des Nibelungenliedes vorzufinden ist, angesprochen. Auch habe ich begeistert Felix Dahns "Kampf um Rom", dann Karl Mays Wildwestgeschichten und noch als Erwachsener Tolkiens "Der Herr der Ringe" gern und andere Fantasyliteratur noch mit einem gewissen Wohlwollen gelesen.

Als ich jetzt Ernst Jüngers "Auf den Marmorklippen" las, fand ich dort mit Erstaunen
Kampfszenen wieder, wie ich sie aus Karl May (z.B. Sklavenkaravane, aber auch im Spätwerk Ardistan und Dschnnistan) und Tolkien (Kämpfe mit Orks und anderen "Bösen") kannte, und eine Ästhetisierung des Untergangs, wie sie im Nibelungenlied zu finden ist.
Ich verzichte auf die Schilderungen, wo Hundemeuten auf Menschen gehetzt werden und begnüge mich mit der Ästhetisierung des Untergangs:
„weithin leuchteten die alten und schönen Städte am Rande der Marina im Untergange auf. Sie funkelten im Feuer gleich einer Kette von Rubinen, und kräuselnd wuchs aus den dunklen Tiefen der Gewässer ihr Spiegelbild empor. Es brannten auch die Dörfer und die Weiler im weiten Lande, und aus den stolzen Schlössern und den Klöstern im Tale schlug hoch die Feuersbrunst empor. Die Flammen ragten wie goldene Palmen rauchlos in die unbewegte Luft, […] So flammen ferne Welten zur Lust der Augen in der Schönheit des Untergangs auf.“

Dass Jünger, als er an den Marmorklippen schrieb, den Nationalsozialismus ablehnte, scheint mir aus der Schilderung von Köppelsbleek, einer Art Allegorisierung der Vernichtungslager, und auch aus der Wertung der Gestalt des Oberförsters zureichend klar hervorzugehen.

Doch überzeugt mich nach der Lektüre dieser Passagen auch Helmuth Kiesels Kritik in Ernst Jüngers Marmor-Klippen. "Renommier"- und Problem"buch der 12 Jahre", Kapitel 6  "daß seine Absage wider Willen ein Moment der Affirmation erhielt: zwar das herrschsüchtige Vernichten-Wollen kritisierte, aber das Vernichtet-Werden ästhetisch verbrämte und feierte als Voraussetzung einer neuen und höheren Schöpfung." und: "Sein Werk ist dadurch in hohem Maß kritisierbar; im selben Maß aber eignet ihm dokumentarische Qualität, die es, eine entsprechende Sensibilität vorausgesetzt, ermöglicht, die von Hans Erich Nossack für seine Generation einbekannte Untergangslust wenigstens annäherungsweise nachzuerfahren." (ebenda, Kapitel 6 )

Fast kann ich es nicht glauben, dass ein Autor von Anspruch unironisch solche Passagen schrieb. Das zeigt, wie wenig uns der Stil der Zeit noch bewusst ist.

In Kapitel 14 sagt Jüngers Ich-Erzähler "Wir fühlten, wie die Lust zu leben und die Lust zu sterben sich in uns einten [...] Er hatte uns ein Mysterium vertraut." Ein Mysterium, das Jünger im Ersten Weltkrieg  in "Stahlgewittern" erfahren hatte.
In Kenntnis dieses Mysteriums ist Jünger, schon im Ersten Weltkrieg mehrfach verletzt, 102 Jahre alt geworden. Ist es ein Lebenselixier? ;-)

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