29 November 2012

Lasst mich Latein lesen!


Wie selbstverständlich noch Ende des 18. Jahrhunderts Latein gelesen wurde, entnehmen wir den Denkwürdigkeiten Varnhagen von Enses.
"Während dieser langen Krankenzeit nahmen wir mit Erstaunen in dem Vater eine wichtige Veränderung wahr. Schon vor seiner Reise war es uns aufgefallen, daß er in betreff der Franzosen kühler gestimmt war, ihren Siegen wenig Anteil mehr widmete, ihre politischen und militärischen Handlungen häufig mißbilligte. Diese Richtung trat [104] jetzt in offener Entschiedenheit hervor. Die Forderungen Frankreichs an Deutschland auf dem Rastatter Kongreß, die Unternehmungen in der Schweiz und in Italien, ja sogar Bonapartes Zug nach Ägypten erfuhren seinen scharfen Tadel. Wir entdeckten bald, daß hierin sein Freund Kirchhof lebhaft mit ihm einstimmte und daß beide, sooft sie zusammenkamen, sich in diesen Ansichten steigerten. Wir waren nicht wenig betroffen und ich ganz außer mir. Von jeher war ich gewohnt, den Vater in allen Dingen als höchste Autorität anzusehen, in Gedanken und Meinungen ihm nachzufolgen, sein Urteil und seine Handlungen als wahr und richtig anzunehmen; in diesem Falle wurde mir dies unmöglich, seine Umwandlung schien mir ein Verrat an der guten Sache, eine Untreue gegen alle Sympathien seiner früheren Zeit. Ich fühlte, daß hierin zwischen uns eine Scheidewand aufstieg, daß wir fortan getrennt seien, meine Selbständigkeit war mir auf das schmerzlichste klar. Mit ihm zu streiten konnte nicht gelingen; und weil ich ihn leidend sah, vermied ich es ganz. Es war mir lieb, daß auch Mutter und Schwester auf meiner Seite standen und wir unsre Meinungen austauschen konnten; aber ich bedurfte des Anhaltes kaum, denn ich war in mir gewiß, meine Überzeugung sei unabhängig von fremder Gewähr. In der Tat wurde sie durch die Ereignisse mehr und mehr bloßgestellt, das Glück wandte der Sache, der ich anhing, den Rücken, und wir hatten das bittre Leid, meinen Vater noch in den letzten Zeiten seines Lebens, da er schon wenig Anteil mehr an den Dingen nehmen konnte, bei den Unfällen der Franzosen in Deutschland und Italien wohlzufrieden zu sehen und jeder schlimmen Nachricht, die uns das Herz bluten machte, beistimmen zu hören; für uns um so unbegreiflicher, da die Gründe dieser Sinnesänderung nicht ausgesprochen wurden, die der früheren Ansichten aber tief in uns eingepflanzt waren und fortwirkten.
Nicht verletzend, aber doch seltsam und wunderlich, berührte uns eine andre Richtung, in welche der Vater jetzt [105] mehr als sonst einging. Ich habe schon zu erwähnen gehabt, daß ich ihm früher die Psalmen lateinisch vorlesen mußte; hiebei lag unstreitig ein Bedürfnis religiöser Erhebung zum Grunde, dem ich auch andre Bücher nach Gelegenheit dienen sah; denn die kleinen Lieblingsausgaben von des heiligen Augustinus Betrachtungen und Handbüchlein, von Boethius' Tröstungen und andre solche Schriften, die er wieder und wieder zu lesen pflegte, waren doch wohl nicht für bloß geistreiche Unterhaltung bestimmt. Mit der Krankheit nahm die Vorliebe für solche Bücher zu, Thomas a Kempis wurde fleißig gelesen und besonders Hermann Hugos »Pia desideria«. Das letztere Buch, von einem Jesuiten verfaßt, dünkte mich in Ton und Bildern beinahe kindisch, und ich war etwas betroffen, den Vater dazu herabgestimmt zu sehen. Allein es hatte damit eine besondre Bewandtnis; mit jenem Buche war seine frühste Kindheit erfreut und genährt worden, er hatte dasselbe dann völlig vergessen, und jetzt kam es ihm unerwartet wieder vor Augen. Alle Bilder der Jugend, alle lieblichen und reinen Empfindungen frommer Einfalt erwachten in ihm bei diesen einst so vertrauten Blättern, und diesem süßen Eindrucke sich hinzugeben, war auch dem festen, aufgeklärten Manne wohl erlaubt. Übrigens nahm er seine Erbauung ebensogern aus protestantischen Quellen als aus katholischen, ich sah zum Beispiel Wanckelii »Precationes piae« bis zuletzt viel in seinen Händen; nur lateinisch mußten die Bücher sein, denn einzig in diesem Elemente, so sehr wirkte die frühste Gewöhnung fort, befand er sich wahrhaft wohl. Von der Freiheit seines Geistes, der Lebendigkeit seiner Überzeugungen und der Kraft seiner Menschenliebe gab er in dieser Prüfung vielfache Proben, sowohl durch Lehren, die er mir erteilte, als durch Anordnungen, die er traf. Ein zudringlicher Bekannter, der, wiewohl selber ungläubig, doch die Äußerlichkeiten der Kirche in Anregung brachte, wurde zur Ruhe verwiesen, mit heitrem Scherze, der den schönsten Mut bezeugte.
[106] Ein Umzug von der Steinstraße nach den Kaien, der notwendig geworden war, hatte meinen Vater wenig angestrengt, die Aussicht auf den bewegten Hafen freute ihn, und bisweilen sprach er sogar noch Hoffnungen aus, die sich aber in den nächsten Wochen rasch verloren. Er zehrte sichtbar ab, in der Nacht des 5. Juni fühlte er sich plötzlich matter, rief uns an sein Bette, sprach aber nicht mehr, sondern schlummerte sanft hinüber. Den Tag, an dem er sterben würde, hatte er, nicht uns, aber dem Freunde Kirchhof, acht Tage vorher genannt. Er starb im dreiundvierzigsten Jahre. Das Begräbnis war protestantisch. Der Freund setzte seinem Andenken die Worte: »Vir probus et sapiens.«"
(Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten, Kindheit und frühe Jugend, Hamburg 1794-1800, S.103-106)

Dörnbergs Aufstand in Hessen 1808


Dörnbergs Aufstand nach Darstellung des Artikels in der Wikipedia:
"Dörnberg kehrte nach Hessen zurück, [...] Die Regierung in Kassel zweifelte nicht an seiner Loyalität, und so konnte er in geheimen Kontakt und Austausch mit Scharnhorst, Gneisenau, Schill und Katte treten und ungestört Vorbereitungen zu einem Aufstand des nördlichen Deutschland erarbeiten und zudem die Planung eines gleichzeitig ausbrechenden Krieges zwischen Frankreich und Österreich beginnen. Auf Grund der raschen politischen und militärischen Veränderungen sah er sich jedoch gezwungen, inmitten dieser Vorbereitungen am 22. April 1809 in Hessen den Aufstand gegen die französische Fremdherrschaft, obwohl schlecht vorbereitet, trotzdem beginnen zu lassen. Unterstützt wurde er durch die Schwester des ehemaligen preußischen Ministers und Reformers Freiherr vom Stein, die Äbtissin Marianne vom Stein des Stifts Wallenstein in Homberg (Efze) sowie durch Werner von Haxthausen.
Er versammelte in Homberg mehrere tausend schlecht bewaffnete und leicht ausgerüstete Bauern, die nur die Unterstützung von wenigen kriegserfahrenen Soldaten hatten, um den Aufstand losbrechen zu lassen. Auf dem Marktplatz erfolgte eine feierliche Fahnenübergabe durch die Homberger Äbtissinnen Marianne vom Stein und Charlotte von Gilsa, die nach der Überlieferung die Fahne im sog. Dörnberg-Tempel gestickt haben sollen. Das freiwillige Corps zog in Richtung Kassel. Bei Rengershausen (heute Teil Baunatals) bei der Knallhütte südlich von Kassel kam es zu einer kurzen Schlacht, die die westphälischen Regierungstruppen mit wenig Mühe gewannen. Die Toten des Dörnberg'schen Corps wurden auf dem Rengershäuser Friedhof beigesetzt."


"Dörnberg selbst bedurfte einiger Ruhe. Die Aufständischen waren jetzt beinahe sieben Stunden marschirt, viele der eifrigsten waren beinahe achtundvierzig Stunden auf den Beinen.
Während die Ermüdeten Ruhe und Erquickung auf Heuböden, in Ställen und überall suchten, wo sie Raum fanden, sprachen die andern dem Schnapse und Biere zu, das sich hier in guter Qualität vorfand.
Die ersten Ankömmlinge wurden inzwischen von den Nachfolgenden verdrängt, und Dörnberg sah die Nothwendigkeit, jetzt, wo der Tag nahte, einige militärische Ordnung in die Sache zu bringen, und gab dazu die Befehle. Die übergegangene Cavalerie, die Kürassiere, sollten als Avantgarde vorgehen; ein zuverlässiger althessischer Wachtmeister führte sie.
Dann sollten die Felsberger und alle, welche aus der nähern Umgebung Kassels waren, folgen, voran die mit Feuergewehr Bewaffneten. Die Gewehre sollten geladen werden. Das Centrum bildete die Schar der Homberger mit der gestern übergebenen Fahne, ihnen sollten die sehnlichst Erwarteten aus dem Fuldathale und von Wolfhagen sich anschließen.
Während man so die wüsten Massen in der Dunkelheit zu ordnen suchte, war General Reubel mit den aus Kassel ausgerückten Truppen schon über Zweeren hinaus vorgedrungen und rückte den Berg hinauf zur Knallhütte.
Etwa zwanzig Chevauxlegers bildeten seinen Vortrab, dann folgten zwei Compagnien Garde-Jäger, dann zwei mit Kartätschen geladene Kanonen.
Ob die Sonne schon aufgegangen war, wußte man nicht, ein dichter schwerer Nebel, der nicht gestattete, sechs Schritt weit zu sehen, lagerte auf Thal wie Höhen, als die beiden Vortrupps aufeinanderstießen, beiden unerwartet. Es wurden einige Pistolenschüsse gewechselt, und beide Vortrabreiter zogen sich zurück.
Die Nachricht, daß Truppen, in welcher Stärke wußte man nicht, heranrückten, verbreitete unter dem Insurgentenheere einen ungemeinen Schrecken und eine kaum zu bewältigende Verwirrung. Alle schon getroffenen Anordnungen fielen über den Haufen und es würde schon jetzt die Flucht eine allgemeine geworden sein, wenn Martin und die Führer nicht bemüht gewesen wären, der Masse dadurch Muth einzusprechen, daß man sagte: man wisse ja noch gar nicht, ob die Soldaten als Freunde oder als Feinde kämen, und wenn auch vorläufig unter dem Commando feindlich gesinnter Offiziere, ob sie nicht zu dem Volke übergingen.
Dörnberg rief Freiwillige vor, und als sich ein paar hundert Förster, alter Soldaten, junger Leute, mit Feuergewehren bewaffnet, vorangestellt hatten, sammelte sich der Schweif wieder hinter denselben.
Reubel hatte indessen eine Compagnie Garde-Jäger vorgehen lassen mit dem Befehle, wenn mau auf die Rebellen stoße, ein blindes Pelotonfeuer abzugeben, damit kein Blut vergossen würde. Dörnberg hatte seiner Stellung durch die Gebäulichkeit der Knallhütte und durch einige vorgefahrene Fracht- und Mistwagen einige Sicherheit zu geben versucht.
Als nun die Garde-Jäger heranrückten, und er die Leute erblickte, die er vor vierundzwanzig Stunden noch befehligt hatte, ritt er vor und winkte mit seinem Tuche wie mit den Armen, die Leute zum Uebertritt symbolisch ermahnend. Die Antwort war ein Pelotonfeuer. Als aber niemand getroffen war, glaubte das Volksheer, die Garde-Jäger wollten absichtlich auf das Volk nicht schießen.
Da ritt General Reubel vor und forderte die Insurgenten auf, sich zu ergeben. Sofern sie ihre Anführer auslieferten, wurde ihnen Begnadigung zugesagt.
Kaum war der General, der keine Antwort erhielt, zurückgeritten, als eine Salve von seiten der Aufständischen erfolgte. Die vorgegangene Jägercompagnie antwortete diesmal scharf, schwenkte zu beiden Seiten der Chaussee ab, und die beiden Kanonen protzten einen Kartätschenhagel unter die Menge.
Es hatte sich ein Morgenwind erhoben, der den Nebel von den Höhen in die Thalebene trieb, man sah sich gegenseitig, und die Aufständischen sahen nicht nur wohlgeordnete Massen von Infanterie und Cavalerie auf der Chaussee den Berg heraufrücken, sondern, was ihnen noch gefährlicher erschien, von der Seite, von der sie Zufluß erwartet, vom Fuldathale her, rückten die treu gebliebenen Marschalk'schen Kürassiere, ihre Commandeurs an der Spitze, halb in der Flanke, halb im Rücken der Insurgenten, mit gezogenem Säbel den Berg hinauf.
Nun war kein Halten mehr. Ehe die Kanonen zum zweiten mal abprotzten, zerstieb das Volksheer nach allen Seiten. Man ließ Todte und Verwundete liegen, wo sie lagen, man warf die Waffen fort und suchte in Bergablaufen nach Süden und in Erreichung des Waldes nach Westen Schutz.
Dörnberg und die Führer überzeugten sich, daß auch ihre Rettung nur in der Flucht bestehe."
(Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 3. Buch 3. Kapitel)

28 November 2012

Bollmann, die Französische Revolution und Goethes Lili


"Wer den letzten Brief Bollmann's aus Paris gelesen, der weiß, daß das nicht mehr derselbe Mann war, der in der Französischen Revolution den verheißenen Messias der Juden sah, der voll Glut und Hingebung das Evangelium der Freiheit und Gleichheit der ganzen Welt predigte, der mit Forster und seiner Therese, mit Huber und den andern Demokraten in Mainz auch eine volle Erlösung der Menschheit von aller Knechtung, von Unwissenheit und Schlechtigkeit durch die Freiheit hoffte. Wir wissen aus den von Varnhagen von Ense im ersten Bande seiner »Denkwürdigkeiten« veröffentlichten Briefen Bollmann's an die Staatsräthin Brauer und aus den in unserm Besitze befindlichen Briefen an den Vater und die Freunde aber auch ziemlich genau, wie diese Wandlung vor sich gegangen war.
Bollmann war gegen Mitte Januar 1792 nach Strasburg gekommen, wo er in der Familie des Herrn von Türkheim und seiner Gemahlin (Goethe's Lili) seine aristokratische Formen, junge Frauenzimmer, von denen er nicht wußte, ob sie mehr schön oder witzig waren, warme, freundliche Aufnahme und thätige Unterstützung in bedrängten, pecuniären Verhältnissen fand. Den Vater mochte er nicht angehen, der Onkel aus Birmingham, der schon im Januar nach Paris hatte kommen wollen, ließ nichts von sich hören, so kam ihm das freundliche Anerbieten des reichen Bankiers gelegen, und er war nicht blöde, das gebotene Darlehn anzunehmen, trug er doch das Bewußtsein in der Brust, daß die Zeit kommen würde, wo er zurückzahlen könne mit den durch eigene Kräfte verdienten Mitteln.
Unser Freund aus Hoya trat in Strasburg zum ersten mal dem politischen Parteigetriebe näher, aber es stieß ihn ab. Die Demokraten im deutschen Club, denen er sich zugesellte, waren wie heute und immer gänzlich uneinig, man gerieth öfter so heftig aneinander, daß die Wache Ruhe stiften mußte. Menschen, die nichts zu verlieren, die nicht einmal etwas zu geben hatten, da sie arm an Gedanken, desto reicher aber an Phrasen waren, drängten sich vor und die Menge fiel ihnen zu. Der Norddeutsche konnte sich kaum Gehör verschaffen, noch viel weniger sich zum Führer emporschwingen, sah die Führerschaft vielmehr in den Händen der unbedeutendsten Menschen. Er sah die Trägheit und Unwissenheit der Masse, er bemerkte als praktischer Mann früh den Fehler, den die Nationalversammlung begangen hatte, indem sie sich mit ihren eigenen Erfahrungen von der legislativen Versammlung ausschloß. Daß von 8000 activen Bürgern in Strasburg im Februar 1792 nur 400 zur Wahlurne gingen, in Paris von 60000 nur 10000, empörte ihn; er sah, wie die Erbitterung zwischen den mit 15 Sous täglich besoldeten undisciplinirten Nationalgarden und den mit 8 Sous täglich besoldeten Linientruppen letztere nothwendig dahin führen mußte, die Constitution und alle Neuerungen zu hassen und eine Stütze des Adels und Königthums zu werden."
(Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 3. Buch 1. Kapitel)

Schlaglichter auf eine Doppelhochzeit im 18. Jahrhundert


Hans Dummeier übergab vor der Menge und einem Gerichtshalter der Gräfin dem Schwiegersohn Claasing und seiner Tochter Anna seinen von der Gräfin Melusine relevirenden Meierhof – so war er in der vorher angefertigten Urkunde ausdrücklich benannt – sammt allem Zubehör, namentlich dem adelich freien Lande, welches seine Frau für ihre Dienste von der Gräfin erhalten hatte, sich eine Leibzucht für sich und seine Frau und eine Abfindung für den Sohn zweiter Ehe reservirend. Diese Leibzucht sollte nach einem Vertrage mit dem präsentirten Bräutigam der Tochter nicht aus dem Hofe selbst, sondern auf der Brinksitzerstelle des Claasing gegeben werden, und wurde dem Claasing vorbehalten, dem Sohne Dummeier's bei seiner demnächstigen Verheiratung entweder diese Brinksitzerstelle oder aber 2500 Thaler in Gold als Abfindung zu geben. Die Gutsherrschaft acceptirte den ihr präsentirten Bräutigam als meiertüchtig, genehmigte Altentheils- und Abfindungsverschreibung und händigte darauf dem neuen Hofwirthe und dessen Ehefrau eine zweite Urkunde aus, in welcher dieselben von seiten der gnädigen Gräfin wegen der Verdienste, so sich Anne Marie Dummeier um die gräfliche Familie erworben, als frei von allem gutsherrlichen Verbande, Gefällen und Diensten erklärt wurden. [...]
Nachdem der Prediger eine Pause gemacht und in ein weißes Batisttuch gehustet hatte, fuhr er in Gemäßheit der Lüneburgischen Kirchenordnung fort: »Geliebte in Christo, beide Braut und Bräutigam, damit ihr in euerm bestätigten Ehestande also leben möget, daß es Gott gefällig, euch und männiglich besser sein möge, so sollt ihr aus Gottes Wort vier Stücke hören, so Eheleuten zu wissen von nöthen sein. Zum ersten: Wer den Ehestand eingesetzt und verordnet habe, nämlich Gott selbst; denn also schreibt Moses in seinem ersten Buche, am zweiten Kapitel: Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, ich will ihm eine Gehülfin machen, die um ihn sei. Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen und er entschlief. Und nahm seiner Rippen eine und schloß die Stätte zu mit Fleisch. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin heißen darum, daß sie vom Manne genommen ist. Darum wird ein Mann seinen Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein Ein Fleisch. [...]
»Dieser da«, ruft Marthe, denn es ist unsere alte Bekannte aus der Zeit her, wo der Eisschlitten ausgebaut war – »ist vor Gott mein Mann; er hat mir die Ehe feierlichst gelobt, und ich trage sein Kind unter meinem Busen.« »Eine Wahnsinnige!« schreit die Gräfin. »Die Filler-Marthe!« »Die Filler-Marthe!« rufen eine Menge Weiber- und Kinderstimmen im Schiffe der Kirche. Die Hochzeitsgäste sind stumm und starr, nur weichen sie immer mehr aus der Nähe des Grafen Bräutigam. Claasing aber winkt einem Gestütsknechte, der unter den Leuten der Gräfin vor der Sakristeithür stand; dieser sprang auf Marthe zu und riß sie vom Grafen los. Die gräfliche Dienerschaft leistete ihm Hülfe gegen die wie unsinnig sich Geberdende, man zerrte dieselbe der Sakristei zu. Der Bürgermeister drängte sich heran. »Ins Loch mit der liederlichen Dirne!« sagte er, »schafft sie in das alte Schloßgefängniß.«
(Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 2. Buch, 6. Kapitel)

24 November 2012

Die kalenberger Nation und der letzte Reichskammergerichtsbote in Hannover


"Jetzt ging Berlepsch das Reichskammergericht an, und dieses, o Wunder über Wunder! dieses faßte schon am 20. Juni 1797, vier Wochen nach der ersten Eingabe, den Beschluß gegen Georg III. als Herzog von Kalenberg: »bis zu des kaiserlich königlichen Gerichts weiterer Verordnung mit allem Verfahren gegen von Berlepsch einzuhalten«, wie der mitbeklagten Ritterschaft des Fürstentums Kalenberg aufgegeben ward, mit der Wahl eines neuen Land- und Schatzraths nicht weiter vorzuschreiten. Wohl war das Documentum sub Aquila ausgefertigt, allein der Reichsadler hatte schon keine Kraft mehr bei den Fürsten und Corporationen, er war flügellahm. Die kalenbergische Ritterschaft wählte am 22. Juni, an demselben Tage, an dem ihr das Decret insinuirt war, den Hofrichter von Bremer auch zum Schatz- und Landrath. Derselbe wurde von der Regierung bestätigt und in das Schatzcollegium eingeführt. [...]
Inzwischen hatte der unermüdliche Berlepsch und sein noch unermüdlicherer Anwalt Häberlin am 30. Januar 1798 von dem kaiserlichen Reichskammergerichte sowol ein mandatum sine clausula gegen Georg III., als gegen die kalenbergische Landschaft erlangt, worin den Beklagten aufgegeben wurde, gegen Berlepsch nicht factisch und willkürlich, sondern justizmäßig im Wege Rechtens zu verfahren, ihn sofort in die bekleideten Aemter und den Genuß seines Diensteinkommens einzusetzen und innerhalb gesetzter Frist Anzeige zu thun, daß dem kaiserlichen Mandate geziemend nachgelebt sei.
Wenn man ein solches Urtheil gegen die Majestät und eine Ritter- und Landschaft, die schlechthin mit Du angeredet wurde, sah, so mußte man glauben, so ein Reichsgericht sei eine herrliche Sache. Das glaubte mindestens der kaiserliche Kammergerichtsbote Heinrich Hauenschild aus Wetzlar, als er sich am 13. Februar desselben Jahres mit dem Land- und Schatzrathe Berlepsch, der die Expedition des Mandats selbst betrieben hatte, in Wetzlar in dessen Kutschwagen setzte und nach zwei Tagen wohlbehalten in München anlangte, wo ihn der Herr Schatzrath verließ und er in der ordinären Post weiter fahren mußte. Heinrich Hauenschild war schon weit im großen Römischen Reiche herumgekommen, er hatte schon manchem Grafen und Fürsten, manchem Bürgermeister und Rath Mandate des Gerichts behändigt, auf keine Reise hatte er sich aber so sehr gefreut als auf diese Reise nach Hannover. Denn es waren jetzt mehr als sechsundzwanzig Jahre vergangen, seit seine einzige Schwester, die im Dienste des Kammergerichtsraths Buff gestanden, mit der ältesten Tochter Lotte, welche nach Hannover geheirathet, fortgezogen war, und er hatte sie seitdem nicht wiedergesehen. Er war damals noch ein Junge gewesen, eben confirmirt, der bei den Herren Assessoren allerlei Dienstleistungen verrichtet. Er erinnerte sich noch sehr wohl des jungen Frankfurters, für den er so unzählige Briefe an Lotte Buff bringen mußte, des seitdem so berühmt gewordenen Goethe, er hatte auch Jerusalem gekannt, der sich todtgeschossen, und viele andere Männer, die seitdem zu hohen Ehren und Stellen gekommen waren. So kannte er auch recht wohl den Ehemann Lottens, den jetzigen Hofrath und Vicearchivarius Johann Christian Kestner.
Als Hauenschild daher einen Brief Berlepsch's an dessen Sachführer und Notar Reischauer abgegeben hatte, eilte er in die große Aegidienstraße, wo im jetzigen Cruse'schen Hause Kestner und seine Lotte wohnten. Lotte hatte damals schon so viele Kinder, als diese Geschwister gehabt, ihr ältester Sohn war seit einem Jahre als Auditor bei dem Archiv angestellt, während ihr zehntes Kind (der in Rom verstorbene Legationsrath Kestner) mit den beiden Schwestern Charlotte und Klara noch in der Kinderstube spielte.
Lotte liebte ihre treue Magd Barbara Hauenschild, die ihr von Wetzlar gefolgt, die alle ihre Kinder gepflegt, gar sehr und nahm den Bruder wohl auf, als dieser am 19. Februar gegen Abend bei ihr einsprach. Demselben wurde ein gutes Essen bereitet, eine Flasche Wein vorgesetzt, und Lotte Kestner setzte sich selbst, während er aß, mit in die Küche und ließ sich von ihrer Vaterstadt und der Lahn erzählen. Ob der alte Dom noch stehe, ob die Buche noch vorhanden, unter der sie mit Goethe und ihrem Manne so oft gespeist, wer in den letzten Jahren in ihrer Straße geboren sei, das alles mußte Hauenschild erzählen. Lotte bedauerte nichts mehr, als daß ihr Hofrath auf ein paar Tage nach Celle gereist sei in Begleitung des Auditors.
Da wurde laut und heftig an die Thür gepocht, es erschienen drei Männer mit rothen Röcken und großen dreieckigen Hüten, wie sie schon nicht mehr Mode waren, die sich als Regierungsbote Tubbe, als Kanzleibote Sprenger und als Consistorialbote Ringe kundgaben und begehrten, den sogenannten Reichskammergerichtsboten Hauenschild, der sich hier aufhalten sollte, zu sprechen.
Die Frauenzimmer, Lotte wie Hauenschild's Schwester, waren natürlich sehr erschrocken, und begab sich nun folgende Haupt- und Staatsaction in der Küche. Der Regierungsbote zog ein großes Schreiben mit Siegel und der Unterschrift des Geheimraths von Kielmannsegge hervor, stemmte die eine Hand auf den großen Bambusstock und las den Befehl der Geheimräthe, der dahin lautete: »Dem allhier sich eingefundenen Kammergerichtsboten Hauenschild werde damit zur Nachachtung bedeutet, daß das von ihm überbrachte insinuandum in Sachen u. s. w., in welchen das kaiserliche und Reichskammergericht offenkundigermaßen incompetent sei, von Se. Majestät dem Könige nicht angenommen werden könne, dermalen ihm befohlen würde, sich aller heimlichen und öffentlichen Insinuation davon, als welche ein für allemal hierdurch cassirt und für ungültig und unstatthaft erklärt werde, bei unangenehmer Verfügung zu enthalten und sich sogleich aus Seiner Majestät hiesiger Residenz hinwegzubegeben.«
Unser kaiserlicher Reichskammergerichtsbote aber warf sich in die Brust, wies auf seinen kaiserlichen Adler vor derselben und meinte, er sei doch kein Spitzbube, als welcher er hier überfallen und behandelt würde, sondern ein kaiserlicher Bediensteter, und der Kaiser stehe über Reich und Königen. Und das meinte seine Schwester Barbara erst recht, und fuhr auf den Regierungsboten Tubbe, den sie niemals hätte beleidigen mögen, los, daß diesem für seine Augen bange wurde. Lotte Kestner suchte zu begütigen und meinte, morgen komme ihr Mann wieder, und der werde das schon ausmachen, für heute sei Hauenschild ihr Landsmann, ihr Gast, und man möge hier ihn nicht weiter belästigen. Tubbe aber war in seiner Würde als Regierungsbote angegriffen, er befahl dem Hauenschild, bei Strafe sofortiger Verhaftung insinuandum und sonstige Papiere vorzulegen. Und als die ängstlich gewordene Barbara das in Riemen geschnürte Actenpacket, das neben dem Hute und Rocke des Bruders lag, hervorholte, hing Tubbe dasselbe dem Reichskammergerichtsboten um, befahl seinen Begleitern, denselben unter den Arm zu nehmen, und so führte man den Mann, der die Befehle des Kaisers und Reichs ausführen sollte, aus dem Hause zum Aegidienthore heraus. Hauenschild protestirte fortwährend, und als man in die Vorstadt kam, bat er, ihn, da er ein alter Mann sei, der in der Nacht und bei dem schlechten Wetter nicht gehen könne, daselbst zu lassen. Allein man schleppte den Reichskammergerichtsboten bei Nacht und Nebel durch Koth und Dreck bis an die Grenze des Stifts Hildesheim, wo man ihm bei Gefängnißstrafe das Kurfürstenthum zu betreten verbot. Der Reichskammergerichtsbote brachte die Nacht im Fieber auf der Landwehrschenke zu, setzte am andern Morgen ein großes Promemoria auf, daß Se. kaiserliche Majestät und das hohe Kammergericht in seiner Person in Hannover beschimpft sei, und begab sich dann nach Hildesheim, wo er durch die kaiserlichen Notare Albrecht und des statt zweier Zeugen subrequirirten Notars Firnhaber das Originalmandat vom 29. Januar 1798 der königlichen Landesregierung wie auch der kalenbergischen Landschaft durch die Post insinuiren ließ.
Da Hauenschild grubenhagensche und göttingensche Landestheile noch berühren mußte, um nach der Heimat zurückzugelangen, vertauschte derselbe vorsichtigerweise seinen kaiserlichen Livreerock mit einem bürgerlichen Kleide, und da er nicht wagte, die ordentliche Post zu benutzen, und sich fürchtete, weil er dennoch heimlich insinuirt hatte, in Haft genommen zu werden, kam er nach großen Mühseligkeiten und Beschwerden im Hessischen, im Hause Berlepsch an, wo der Gerichtshalter Seutheim und Justitiar Rausch über seine Behandlung in Hannover ein gerichtliches Protokoll aufnahmen, das sich in der »Sammlung sehr wichtiger Actenstücke in der Berlepsch'schen Sache«, so 1798 in Frankfurt und Leipzig erschienen, Seite 7–17 abgedruckt findet. Das war der letzte kaiserliche Reichskammergerichtsbote, der das Land Hannover betrat." (Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, Buch 3, 9. Kapitel)

10 November 2012

Karrierechancen für einen Bürgerlichen im Kurfürstentum Hannover um 1800

Olga, die Tochter der Gräfin hat dem bürgerlichen Juristen Karl Haus ihre Liebe gestanden, aber auch gesagt, dass sie sich der von ihrer Mutter verordneten Grafen Schlottheim nicht widersetzen werde. Sie werde immer nur ihn lieben und mit dem Grafen nicht das Bett teilen.
Karl solle sich einen größeren Wirkungskreis suchen, wo er etwas zur Weltverbesserung beitragen könne. 
»Du, Karl«, hob Olga an, »mußt dir einen größern Wirkungskreis suchen, mache es zu deiner Lebensaufgabe, die Vorurtheile, Gesetze und Sitten, die uns trennen, zu bekämpfen, zeige dich als Mann, werde groß, nütze deinem Vaterlande, daß ich mich meiner Liebe zu dir freuen kann, daß ich stolz sein kann, wenn dein Name genannt wird. Ich bleibe dir treu, jener wird mir angetraut, aber nie mein Mann, nie mein Geliebter.« Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 2. Buch, 5. Kapitel
Als er allein ist, überlegt Karl:
Er sollte einen größern Wirkungskreis suchen; er sollte in die Räder der Weltgeschichte eingreifen.
Das war leichter gesagt als gethan; zwar glaubte man damals in Deutschland ziemlich allgemein, jeder, der etwas Großes wirken und schaffen wolle, müsse Jurist sein, und wer Jurist sei, der stehe ganz von selbst mit auf der Leiter, an der die Ehrgeizigen emporkletterten. Er war Jurist, er hatte viel gelernt, hatte sich mit Staats- und Völkerrecht, mit Geschichte und Statistik beschäftigt; er wußte viel mehr als seine Collegen in Heustedt, und war doch ein schlechter Advocat; das fühlte er selbst. Was nützte ihm sein Wissen, da es ihm am Können fehlte, da ihm die Fähigkeit mangelte, dieses Wissen aller Welt verständlich zu machen, in das Leben überzuführen, den Bedrängten und Rechtsuchenden Recht zu schaffen, den Reichen, den Bedrängern, den Geldmachern, dem zu Recht gewordenen Unrechte, den Schlauköpfen und Chicaneuren gegenüber! Um ein tüchtiger Advocat zu sein, mußte er alle kleinern Künste und Schleichwege, wodurch ein Scheinbild des Rechts aufgestellt wurde, dem guten und wahren Rechte gegenüber entlarven können, den Richter gleichsam moralisch zwingen können, das Recht zu finden und zu sprechen. Das konnte er aber nicht.
Was half es ihm, auf der untersten Sprosse der Leiter zu stehen, auf der man emporklimmen konnte? Die Leiter reichte nicht mehr bis oben hinauf, wie zur Zeit des ersten Kurfürsten, wo ein Grote die Geschicke des Landes in der Hand gehabt; sie war nicht eine, sie war eine dreifache. Die, auf deren Stufen er stand, reichte nur sehr mäßig in die Höhe, und oben angekommen, war für einen kühnen Springer wol die Möglichkeit vorhanden, auf die zweite Leiter, auf der das Staatsdienerthum bis zum Wirklich Geheimen Secretär oder Geheimen Justizrathe, höchstens bis zum Oberappellationsrathe emporstieg, zu gelangen, aber der Sprung war mit Lebensgefahr verbunden und es bedurfte immer einiger freundlichen Hände, den Kühnen dort zu empfangen und ihm Platz zu machen.
Die dritte Leiter, die zum Olymp selbst reichte, war von der zweiten aber so weit entfernt, daß auch Harras, der Springer, nicht gewagt haben würde, seine Geschicklichkeit zu versuchen; zudem fand sich unter den sich auf dieser Leiter hinaufbewegenden Geheim- und Kammerräthen, Gesandten, Generalen und Feldmarschällen keine einzige helfende Hand, sondern nur abwehrende. Wer diese Leiter besteigen wollte, mußte adelich geboren oder mindestens Bastard aus fürstlichem Blute sein.
Zum Staate konnte der heustedter Advocat in nähere Beziehung nicht treten, wenn von solch einem Dinge überhaupt geredet werden konnte, da die Staatseinheit der acht und mehr verschiedenen Fürstenthümer und Grafschaften lediglich in der Personeneinheit des Regenten, der zugleich der König des mächtigsten aller europäischen Reiche war, bestand. Das Dienerthum bildete eine eigene Art beinahe erblicher Genossenschaft, in die das Eindringen ohne die bedeutendste Connexion unmöglich war. Eine Volksvertretung gab es nicht; die Vertreter in den einzelnen Provinziallandschaften waren geborene Vertreter, mindestens war jede Vertretung an einen wenn auch noch so geringen adelichen Grundbesitz mit castrum (d. h. mit einem irgend bewohnbaren Gebäude) oder an das Amt eines Bürgermeisters gebunden. Und was konnte selbst der tüchtigste Ritter in einer solchen Provinziallandschaft wirken? Was der Bürgermeister einer kleinen Stadt oder eines Fleckens?
Karl konnte nur in Einer Art im Sinne Olga's wirken und schaffen: er mußte Schriftsteller werden oder Stellung an einer Universität suchen. Aber über welchen Gegenstand sollte er schreiben, damit er berühmt werde? War nicht alles, was er wußte, Stückwerk? Fanden sich nicht in jeder Branche Leute, die ihn weit überragten? Und während er ein Buch schrieb, wovon sollte er leben? Journalisten, im heutigen Sinne des Worts, die wie Pilze aus der Erde wuchern und über alles mitsprechen, ohne von dem Wenigsten nur wenig zu verstehen, gab es damals in Deutschland noch nicht, und die Anfänge eines solchen Journalistenthums, wie »Das graue Gespenst« und andere Schriften von Rebmann und Genossen, waren nicht sehr ermuthigend.
Heinrich Oppermann: Hunder Jahre, 2. Buch, 6. Kapitel

09 November 2012

Das Brautkleid


Die Frisur war fertig, Jean wurde entlassen, und nun begannen die geschäftigen Hände die Toilette. Man trug damals keine Crinolinen und Reifröcke, aber tiefausgeschnittene Kleider, indeß war die Büste selbst durch den dreieckigen Fichu und den Polisson verhüllt. Dies war der erste Gegenstand des Ankleidens. Die Brust war bis an den Hals in einen durchsichtigen Polisson von Milchflor, oben mit Blonde garnirt, gehüllt. Ueber diesen bauschte sich leicht ein Fichu von geblümtem Flor. Ein feines Unterkleid von Musselin festigte diese Verhüllung. Dann wurde der atlassene Rock angelegt, an dem eine mäßig lange Schnepptaille saß, die hinten zugeschnürt wurde. Doppelt goldene Stickerei, dazwischen ein Streifen handbreiter goldener Fransen schmückte Rock und Taille.
Der Kaftan selbst hatte Aehnlichkeit mit den damals modischen, aber häßlichen Herrenfracks, die bis auf die Fersen hinabreichten, nur daß er keinen so häßlich umgeschlagenen Kragen hatte. Vielmehr bedeckte ein kleiner, steifer Kragen, mit schmalen Goldfransen besetzt, nur von der Gegend an, wo hinter dem Ohre die Haarlocken herunterfielen, von einem Ohre zum andern, den Hals. Von diesem Kragen aus war der Kaftan vorn ganz ausgeschnitten, sodaß die ganze schöne, in Flor eingehüllte Büste Anna's frei hervortrat. Unter der Herzgrube trat der Kaftan beinahe zusammen, aber nicht ganz, er wurde vielmehr von zwei goldenen Oliven und Schlingen zusammengehalten. Von hier war derselbe wieder nach rückwärts tief ausgeschnitten bis zu einer langen Schleppe auf der Erde, die aber nicht mehr als höchstens zwei Ellen Breite einnahm.
Der Kopfputz bestand in einem türkischen Bunde von einem langen Stück englischen Flors mit goldenen Fransen garnirt, und geschmackvoll geschlungen und geknüpft. Ein passender Fächer, weiß, mit Gold gestickt, fehlte nicht. In der Mitte desselben befand sich ein reizendes Aquarellgemälde; eine schöne, hochgeschürzte Schäferin, die in verführerisch nachlässiger Stellung an einer Quelle eingeschlafen ist, wird von einem im Rosenbusche verborgenen Amor mit dem Pfeile bedroht, hinter dem Rosenbusch aber schaut ein steiffrisirter und gepuderter, aber schöner Männerkopf hervor.
Der Kaftan stand der schönen Blondine himmlisch, wie Lisette und Sophie hundertmal wiederholten; die Gräfin selbst war anderer Meinung, das Gold müßte zu dem schwarzen Haar Olga's weit besser passen, obwol der rosigweiße Teint der Wangen mit ihrer pfirsichrauhen Mattigkeit gegen den Glanz des Atlas lieblich hervortrat. Aber das rothbräunlich schimmernde Haar, das leicht sich kräuselnd in üppiger Fülle bis über die Taille hinabfiel, contrastirte zu wenig mit dem reichen Goldbesatze. Ueberhaupt bildete der Anzug keine Folie, sondern er verschwand eigentlich hinter dem lieblichen Gesichte, man konnte nur dieses ansehen und vergaß alle Pracht des Anzugs.
Welche andere Erscheinung mußte Olga in dieser Kleidung machen. Das blasse Gesicht mit den großen schwarzen Augenbrauen, mit der feingeschnittenen Nase und dem schmalen Munde, mit dem blauschwarz schimmernden Haar, so dachte die Gräfin.
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 2. Buch, 5. Kapitel

Briefe 1791/92 aus Hoya und Paris

Den 8. November.
Die Gräfin ist vorgestern angekommen, die schönen Abende sind vorbei, ich mag mich nicht mehr ins Schloß wagen, da verschiedene Hofcavaliere mitgekommen, unter denen ich mich unheimlich fühlen würde.
Gestern hat mich ein Tischgespräch aufgeregt, der Supernumerar-Amtsschreiber Motz wollte wissen, daß die Gräfin Wildhausen damit umgehe, ihre Tochter zu verheirathen, und mit wem? Denke Dir, mit jenem Wüstling, dem Grafen Schlottheim, dem ich in Göttingen die Anfangsgründe des Rechts in seinen dummen Hirnkasten einzuprägen mich abmühte, und den Bürger an jenem Abend, wo wir »Faust« zuerst lasen, die Treppe herabfallen ließ. Auch wollte der eine oder andere der Tischgenossen wissen, daß ein Obergestütmeister auf dem Gestüt Kirnberg sich um die Hand Anna's bewerbe, daß er von der Gräfin Melusine, deren Anbeter er früher gewesen sei, begünstigt werde, und sich seit längerer Zeit bei dem alten Hofwirthe in Eckernhausen einzuschmeicheln gewußt habe. Der arme Heinrich! Er sitzt in Grünfeld als Hauslehrer und schmiedet wahrscheinlich noch Sonette auf Anna's Locken, Augen, Hände, und sie?
Ich kann es nicht glauben, obgleich mir auch von meiner Hauswirthin bestätigt ist, daß Graf Schlottheim sich auf dem Schlosse befindet.
Den 10. November.
Es ist geschehend! – Gestern hat man auf dem Schlosse die Verlobung Olga's mit dem Grafen Schlottheim und Anna's mit Claasing gefeiert. Werde ich es überleben? Ich schicke diesen Brief an Deinen Vater.
Vale.
Dein Karl.

Paris, 14. März 1792.
Lieber. Du bist ein bleichsüchtiger Schwärmer, ein gänzlich unpraktischer Mensch, ein deutsches Mondscheingewächs! Du mußt aus Heustedt heraus! Komm hierher, wo die Seele zwei Drittel des Tags in den Füßen logiren muß, und Du wirst Deine sentimentalen Grillen los werden, wirst Hamlet und Werther abschütteln. Mensch, sei doch vernünftig. Entweder entführe die Comteß, oder verführe sie, oder resignire und heirathe ein bürgerliches Blut, erziehe gesittete Kinder und bleibe ein ruhiger Staatsbürger. Wenn Du acht Tage hier wärst, würdest Du einsehen, daß es nicht Zeit ist, mit »Puppen zu spielen und mit Lippen zu fechten« – und die Pariserinnen? Prächtige Geschöpfe, sage ich Dir, ich glaube, sie würden Dich Deine Comtesse vergessen lehren, Dich lehren, was jener Vers sagen will,. der uns einst zu übersetzen so schwer wurde:
Est bellum bellum bellis bellare puellis! [Es ist ein schöner Krieg, mit schönen Mädchen zu kriegen , Fontanefan]

Ich bin nicht in der rosigsten Laune. Der Onkel aus Birmingham war hier; er ist reich, hat keine Kinder, er ist die Ursache, daß ich hier bin, indem er mir die Mittel zu einer Ausbildungsreise und zum Aufenthalt in Paris, London und Edinburgh zu schenken versprach. Jetzt ist er nach Rouen abgereist, nachdem er mich drei Wochen lang mit seinen beinahe unerträglichen Launen und Eigenheiten gequält hat, mir von morgens früh, während wir noch beide im Bette lagen, bis spät abends Rathschläge ertheilte, wie ich zum reichen Manne werden könne; und als er nun abreiste, ließ mir der Geizhals siebenhundert Livres in Papier zurück, was nach jetzigem Curse etwa sechsundachtzig Thaler macht. Davon habe ich hundertfunfzig Livres für Staarmesser und sonstige chirurgische Instrumente ausgegeben, mir eine Wohnung gemiethet und mich in öffentlichen Blättern als Arzt für Augen- und Hautkrankheiten bekannt gemacht. Ja, ich will Geld verdienen, schon um von diesem Onkel unabhängig zu werden und dem Vater nicht mehr zur Last zu fallen.
Es ist traurig auf dieser Welt, daß alles, alles Interesse beinahe zuletzt auf Geldgewinn zusammenschrumpft! Kommt, kommt Pariser, laßt euch von dem deutschen Arzte den Staar stechen!
Uebrigens ist der Eindruck, den Paris mit einzelnen Ausnahmen auf mich gemacht hat, keineswegs ein großartiger und überwältigender gewesen, als ich erwartet hatte. Er war zum Theil sogar unangenehm; die Straßen sind eng, die Häuser hoch, man glaubt sich in einer Felsspalte. Die Leute sehen in den ersten zwei Stockwerken den Himmel nicht, es sei denn, daß sie rückwärts den Kopf zum Fenster hinausstecken und über sich sehen. Nur eine Gosse geht durch jede Straße, deren Pflaster bis zur Mitte abwärts hängt; ein dicker Koth bedeckt es, Pferde, Kutschen, Karren, Menschen und Esel arbeiten durch denselben, vergebens sucht man einen Fußweg zur Seite. Will man das Ansehen eines reinlichen Menschen behalten, so muß man unter allen nur denkbaren Windungen und Stellungen sich zwischen Savoyarden, Perrükenmachern, Mehlkrämern, Laternenweibern u. s. w. jeden Augenblick hinwegschieben!
Denke Dir den Contrast mit unserm reinlichen Göttingen! Will man inne werden, daß man im großen Mittelpunkte der cultivirten Erde und des Geschmacks sich befindet, so muß man in das Palais-Royal gehen. Hier ist alles zu kaufen, wonach das Herz sich sehnen kann, alle Bedürfnisse des ausschweifendsten Luxus können hier befriedigt werden; und die Menschen, die sich in diesen Räumen drängen und stoßen!? Menschen gibt es hier nicht mehr, es gibt nur Demokraten und Aristokraten, Anhänger der Constitution und Verächter derselben. Das Zanken und Streiten in allen Gesellschaften hört nicht auf, Widerspruch und Spaltung können nicht ausgebreiteter sein. So bleiben kann es nicht, was aber werden wird, läßt sich schwer im voraus bestimmen. – Ein reichgalonirter Bedienter, wie man ihn noch selten jetzt sieht, ruft mich zur Frau des schwedischen Gesandten Staël, der Tochter Necker's, ruft mich als Arzt. Soll ich ihr den Staar stechen? Vielleicht in Beziehung auf ihren Geliebten Narbonne und sein Verhältniß zu Mlle. Contant, die wieder mit dem von Narbonne geraubten Gelde kernhaftere Wüstlinge unterhält, als ihr Unterhalter ist?
Dein Justus. [Justus Erich Bollmann]

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 2. Buch, 3. Kapitel

Das Joujou und die Französische Revolution


Um nicht der Uebertreibung beschuldigt zu werden, theilen wir mit, was in einem Modejournal von 1791 aus Paris berichtet wird. »Wie sonst jeder feine Herr seine bilboquets sowol als sein vademecum in der Tasche führte, und jede Dame von gutem Ton ein solches im Arbeitsbeutel hatte, so ist jetzt das joujou de Normandie der unzertrennliche der vornehmen sowol als der gemeinen Welt. Der Prinz bis herunter auf den Handwerksburschen, die Dame vom ersten Range bis herunter auf das Bürgermädchen, der Greis wie der Knabe spielt sein joujou, so oft er Lust und Weile hat, in Gesellschaften, auf Promenaden, im einsamen Zimmer. Die Engländer bezeigen sogar eine besondere Fertigkeit, dasselbe im Reiten zu spielen, nach allen Seiten zu werfen und wieder zu fangen.«
Im März des folgenden Jahres klagte man aus Berlin: »Man habe über das joujou alles vergessen und vernachlässigt, man trage noch Kleider von alter Farbe und altem Schnitt, Cravatten wie vor einem Jahre, und der Hut werde von den Damen ohne Sorgfalt und Geschmack auf den Kopf geworfen, um nur schnell wieder zum joujou greifen zu können.«
In Heustedt hatte man erst im Mai 1792, als das Schloß von der Gnädigsten und ihrer Gesellschaft bevölkert wurde, das Joujou gesehen, allein außerhalb der Kreise des Schlosses war das Spielwerk noch nicht gedrungen, obgleich verschiedene Damen Bestellungen in Hannover und Bremen gemacht hatten. Frau Landräthin von Vogelsang und ihre beiden schönen Töchter, die achtzehnjährige Ida und die sechzehnjährige Adelheid, hätten wer weiß was dafür gegeben, wenn sie früher als die Baronin von Bardenfleth mit ihren Töchtern Mimona und Adele und Rosa in den Besitz eines solchen Joujous gekommen wären. Auch die Amtmännin und Amtsschreiberin, die Forstschreiberin und Bürgermeisterin hatten schon vergebliche Anstalten gemacht, so ein Ding, das sich von selbst in die Höhe bewegte, zu erhalten. [...]


Ein allgemeines Ah! empfing ihn. »Lassen wir das, nur neueste pariser Mode von meinem Leibschneider«, sagte er nachlässig. »Was aber ist in diesem Korbe?« Man rieth hin und her, vergebens. »Meine Herren, mir ist der große Wurf gelungen, mit meinem Anzuge von Hamburg ein Dutzend der neuesten Façons von Joujous zu erhalten. Mit gnädigster Erlaubniß des Herrn Landraths und Herrn Barons von Bardenfleth werde ich mir die Freiheit nehmen, dero Gemahlinnen ein Exemplar dieses allerliebsten Spielzeugs zu verehren; die übrigen stehen der Gesellschaft zu Gebote, der Preis ist an jedem Stück notirt, von 20 bis 48 Schilling.«
Die Gesellschaft, mit Ausnahme des Amtmannes und Karl Haus, fielen über den Korb her, als wären Goldschätze darin. . . . »Das Joujou«, fuhr Lübrecht mit Wichtigkeit fort, indem er seinen Hut aufsetzte, den Knittel in die linke Hand nahm, den Zeigefinger der rechten Hand in die Schlinge an der Litze eines Joujou steckte und dieses auf und abrollen ließ, was indeß noch einige Ungeübtheit zeigte, »ist eine Erfindung der Normandie, durch die Emigranten in Deutschland verbreitet, weshalb es auch den Namen Emigré führt. Wenn pariser Jakobiner damit spielen, geschieht es nie, ohne daß sie dabei ça ira, ça ira singen.«
»Bitte um Verzeihung«, unterbrach Karl, »das Joujou ist eine ostindische Erfindung, es wurde erfunden, der Tochter des Nabobs Seradscha Daula zu Murschidabad Belustigung zu gewähren; ein vornehmer Offizier brachte es nach England und schenkte es dem Prinzen von Wales, welcher sich, um seine schönen Hände zu zeigen, so sehr in das Spielzeug verliebte, daß er vom Morgen bis zum Abend damit spielte, wenn Mistreß Fitzherbert nicht etwa ein anderes Spiel vorzog. Als er zum ersten mal aus seiner Loge in dem neuerbauten Coventgardentheater sein Joujou in das Orchester hinabspielte, ward die Aufmerksamkeit aller von Hamlet ab und dem Prinzen zugewendet, dem man diese Unverschämtheit als Genialität anrechnete, und das Ding, mit dem er spielte, the Prince of Wale's toy nannte, von dem man am dritten Tage zehntausend Stück in London verkauft hatte. Ein Engländer zeigte mir in Göttingen eine Caricatur . . . ein junger Mann, den man leicht erkannte, lag trunken im Schose der Mistreß Fitzherbert und spielte mit dem Joujou.«
Inzwischen hatten die alten Herren mit ihren dünnen langen Zöpfen und die jüngern Herren mit ihren kurzen dicken Zöpfen sich sämmtlich bis auf Steinbart von ihren Plätzen erhoben und versuchten mehr oder weniger geschickt das Joujou zum Aufsteigen und Fallen zu bringen. Es war ein komischer Anblick. Aller politische Hader war vergessen. Karl selbst hatte von dem Hofmeister des Prinzen Ernst in Göttingen, der des Spiels bald überdrüßig geworden, ein sehr fein gearbeitetes Joujou, in welchem drei Federn künstlich in schwarzes Ebenholz eingelegt worden, zum Geschenk erhalten. Er zog dies jetzt aus seiner Tasche und zeigte sich als Meister in der Kunst, denn er konnte das Joujou nach oben in der Luft sich entrollen lassen, um es vor dem gänzlichen Abrollen nach unten zu drehen und wieder in die Höhe steigen zu lassen.

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 2. Buch, 4. Kapitel

02 November 2012

Gottfried August Bürger liest aus dem "Faust" (1790)

Bürger hat zum dritten Mal geheiratet: Elise Hahn. Offenbar ging es ihr aber mehr darum, eine Stellung in der Göttinger Gesellschaft zu gewinnen, als eine Partnerin Bürgers zu werden. 
Führende Persönlichkeiten des Kurfürstentums Hannover machen ihr erfolgreich den Hof. Bürger findet Rückhalt und Anerkennung nicht mehr zu Hause, sondern nur im Kreise der Göttinger Intellektuellen.
Bürger entschuldigte sich, daß er in Schlafrock und Pantoffeln komme, sein Hauswirth habe ihn aber mit Gewalt vom Studium Kant's fortgeführt. Bürger rauchte aus seiner langen Pfeife . . . »seinem Hausprügel«, wie er sie nannte; er wurde in das Sofa genöthigt, und bald kreisten die Punschgläser und vertrieben die finstern Wolken von Bürger's Stirn, die sich in der Regel dort schon lagerten. Man sang eins der damals beliebten, aus dem Kreise des göttinger Dichterbundes stammenden Punschlieder, man sprach über Kant und die Widerwärtigkeiten, die Bürger als Lehrer seiner Philosophie hier zu bestehen habe, stritt, ob Lessing's »Nathan« oder Schiller's »Don Carlos« oder Goethe's »Egmont« das berühmteste deutsche Drama werden würde, machte Muthmaßungen, wer das neue Talent wol sei, das ein Jahr früher seine Auswahl aus des Teufels Papieren in die Welt geschleudert, man kam auch des öftern auf die beiden Platten zurück, welche Riepenhausen zur Zeit in Kupfer stach, um an die Situation allerlei Späße zu knüpfen, denen Bürger nicht abhold war, die aber für unsere heutigen Leser zu derb sein möchten.
Bollmann braute schon an der zweiten Bowle, als ein kleiner, feingepuderter Herr in braunem Frack und eleganten Spitzenmanschetten, gleicher Chemisette und weißem Halstuch in die Stube trat.
»Willkommen, willkommen! Brüderchen!« schallte es von allen Seiten. Es war Heinrich Dietrich, der Jüngere, der Buchhändler.
»Das trifft sich ja, wie von Gott gegeben, wollte eben meinem Freund Bürger dort einen heute hier angekommenen Schatz bringen, und da treff' ich die ganze saubere Gesellschaft wie in Auerbach's Keller. Kinder! Kinder! wenn ihr wüßtet, was ich hier in der Hand trage! . . . Doch welcher sauersüße Duft weht mir dort aus euerer Suppenterrine entgegen? Welcher vernünftige Mensch kann solch Zeug saufen? Riepenkerl! ich will verdammt sein, wenn ich je wieder einen Stich von Euch in meine Almanachs nehme, dafern Ihr mir nicht sofort Papier und Feder und einen dienstbaren Geist schafft. Schüttet das Zeug da zum Fenster hinaus, wenn ich Euch rathen darf, oder schickt es den Burschen hinauf, die bei Frau Professorin oben lärmen, wie ich schon im Garten gehört, das ist ja höchstens Burschengesöff! Mein Schatz kommt nicht aus den Händen, bis dieses unreine Getränk vom Tisch ist.«
Riepenhausen war indeß mit einem Talgstumpf schon in sein Atelier gestürzt, um Tinte und Papier zu holen und um sein Factotum Puddelmeier, der in der Küche Wasser zur dritten Bowle kochte, herbeizurufen.
Bürger rief aber: »Brüderchen, Gevatter und Verleger, hochgeehrtester Gönner und Freund, woher auf einmal diese Verachtung gegen einen Trank, den die Götter selbst uns gegeben? Wie viele Abende und Nächte haben wir uns an diesem Göttertrank gelabt? Nektar und Ambrosia sind uns nichts dagegen gewesen.«
Heinrich Dietrich hatte indeß einige flüchtige Zeilen auf die Rückseite eines verunglückten Abdrucks der Platte I geschrieben und übergab sie Puddelmeier.
»Sklave, geh' sofort zu meiner Wohnung . . . die Gartenpforte steht dir offen, und laß dir von meinem Bedienten und Kellermeister das Getränk geben, das hier verzeichnet ist.«
Währenddeß hatte Bollmann die Gläser vollgeschenkt und brachte dem »Brüderchen«, dem Schutzgeist aller Theologen, die das Unglück hatten, vom Apfel Eva's genascht zu haben und die Quarre zu kriegen vor der Pfarre, »dem Vater aller Theologenkinder«, ein Hoch, in das die Gesellschaft einstimmte.
Die neue Bowle war leer, ehe der Famulus zurück war, und Riepenhausen ging, gefolgt von Heinrich, in die Küche, um eigenhändig die Punschgläser zu spülen, er besaß andere nicht und wußte, daß Brüderchen Dietrich edlern Stoff anfahren ließ, als bisher getrunken war.
Endlich kam Puddelmeier mit dem Bedienten, Kellermeister, Friseur und Inhaber sonstiger geheimen Functionen seines Herrn, mit Hahnmeier zurück, jener einen vollen Korb, dieser vier Flaschen Champagner unter dem Arme.
»Du bleibst hier und schenkst ein«, sagte Heinrich zu seinem Hahnmeier; »Puddelmeier kann sich in die Ecke bei dem Tabackskasten setzen und die Pfeifen stopfen, wer von euch beiden aber das Maul aufthut und ein Wort spricht, schmeckt meine Reitpeitsche«, und er schwenkte diese mit einem Pfiff durch die Stube, der keine Lust zum Ungehorsam zu erzeugen geeignet war.
Die Gläser waren indeß voll Burgunder geschenkt.
»Meine Brüder«, sagte Heinrich Dietrich, »diese Perle des Weins auf die größte Perle deutscher Dichtkunst, Bürger, du und ihr alle, die ihr euch Perlen nennt, seid Schofel und Quark gegen das!« Dabei zog er ein Buch aus der Tasche und reichte es Bürger: »Da lies und ihr andern schweigt.«
Bürger entfaltete das in Broschürenform, ohne Goldschnitt und den reizenden Einband der verschiedenen Dietrich'schen Almanachs, auf schlechtem Papier schlecht gedruckte, vom ersten Leser beim Aufschneiden zerfetzte Buch und las den Titel: »Faust. Ein Fragment.« Den Haupttitel: »Goethe's Werke«, hatte Dietrich herausgeschnitten.
»Brüderchen will einen schlechten Witz machen«, äußerte Bollmann, indem er sich von neuem einschenkte und auch seinen Nachbarn, die ausgetrunken hatten.
»Ruhig«, donnerte Dietrich.
Als nun Bürger mit seiner schönen Stimme den Monolog Faust's . . . (das Vorspiel auf dem Theater und der Prolog im Himmel existirten damals noch nicht) . . . zu lesen anfing, wurde es ruhig, so still und ruhig, daß man von oben das Toben der Gäste der Frau Professorin vernahm, das glücklicherweise dem Leser selbst entging. Und als nun Bürger den Dialog mit dem Geiste schloß mit den Worten:
Ich, Ebenbild der Gottheit?
Und nicht einmal dir!
winkte Brüderchen Dietrich seinem Hahnmeier, um die Gläser zu füllen, sie wurden geleert und wieder gefüllt. Und nun fing Bürger, der während des Trinkens die beiden folgenden Seiten flüchtig überblickt hatte, zu lesen an, mit Ton und Geberde, die vielleicht kein Mime, selbst nicht Ludwig, Emil und Karl Devrient oder wie die Herren Künstler unsers Jahrhunderts sonst heißen mögen, je erreicht hat.
Als er endete:
Der letzte Trunk sei nun mit ganzer Seele
Als festlich hoher Gruß dem Morgen zugebracht
und tief athmend nach dem Glase griff, war es, als ob die ganze Gesellschaft, Puddelmeier und Hahnmeier ausgenommen, die von dem Vorgelesenen kein Wort verstanden, sondern ihre Aufmerksamkeit ganz nach außen lenkten, aus einer geistigen Erstarrung erwachte.
Kaum war Bürger aber so weit gekommen, daß er las:
Welch tiefes Summen, welch ein heller Ton,
Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde!
als draußen tiefes Summen und heller Lachklang in einer so lauten Weise erscholl, daß der Vorleser sich unterbrach, Riepenhausen zur Thür eilte und Hahnmeier unter seinen Händen zu der geöffneten Thür verschwand, um bald darauf mit der Meldung hereinzutreten, daß die Bedienten und Mädchen der Herrschaften, welche bei der Frau Professorin zum Thee seien, sich versammelten, da es elf Uhr abends sei. Das Gelärm draußen wurde immer größer, namentlich als nun der eine oder andere Studiosus herabkam und bei den weiblichen Dienstboten Entschädigung suchte für das, was ihm die Herrin vielleicht verweigert hatte. Da das Staatszimmer an der Hausflur lag, wurde das Lesen freilich unmöglich und man hielt sich an das Getränk.
Endlich wurde es ruhiger. »Hast du keinen Pokal?« fragte Dietrich den ganz unruhig gewordenen und aus dem Häuschen gekommenen Riepenhausen. Dieser brachte einen alten mit der Kunstfertigkeit des Mittelalters in Glasmalerei, Schneide- und Schleifkunst gefertigten Pokal herbei. . . . »Hahn«, so war die gewöhnliche Anrede an das Factotum, » öffne eine Flasche Champagner . . . schenke den Pokal voll und bring' ihn der Frau Professorin hinauf mit einer Empfehlung von mir, und ihr Herr Gemahl wäre in guter Gesellschaft bei seinem Hauswirth, wünschte, daß sie seinetwegen nicht aufbliebe, sondern sich schlafen legte, um von ihm zu träumen. Hast du verstanden, Hahn? Aber Kerl, wenn du dich länger als eine Minute bei der Köchin Elisabeth aufhältst, holt dich der Teufel, so wahr ich Heinrich heiße.«
Nun wurde weiter gelesen. Bürger hatte seine Pfeife längst ausgehen lassen, er ließ das volle Glas vor sich stehen, was selten geschehen war, er hörte nicht auf das, was um ihn gesprochen wurde, er verschlang das Fragment, das er weiter vorlesen sollte.
So war abermals eine Stunde wol vergangen. Man hatte bei mehr als Einer Scene Pause gemacht, bei mehr als Einem Kraftwort des Mephistopheles das Glas geleert, man war in der Gartenscene, als Bürger offenbar zerstreuter las, dann plötzlich das Buch zur Seite warf, von seinem Platz aufsprang, durch den Kreis der Freunde eilte und zur Treppe, der dunkeln, hinaufsprang.
»Was ist das?« sagte Dietrich.
»Was wird es sein«, antwortete Bollmann, »als daß dein Champagner in Mephistopheles' Gestalt dort oben Spuk anrichtet.«
Indessen hörte man oben bald großen Lärm, laute Stimmen, dann Geräusch, welches ein Mensch zu machen pflegt, der eine Treppe hinuntergeworfen wird. Hahnmeier hatte durch den Augenwink seines Herrn die Erlaubniß bekommen, zu sehen, was draußen geschehe. Er kam mit der Nachricht in die Stube, daß Graf Schlottheim, der sich bei der Köchin Elisabeth wahrscheinlich verspätet, bei der plötzlichen Rückkehr des Herrn Professors sich habe still davonschleichen wollen und die Treppe hinabgestürzt sei. Derselbe sei aber bis auf die Frisur unverletzt.
Jeder dachte das Seine, das Fragment wurde nicht zu Ende gelesen, aber der Wein zu Ende getrunken. Elise wußte ihren Mann zu überzeugen, daß Schlottheim nicht ihrethalben, sondern Elisabeth's wegen zurückgeblieben sei, welche die Frechheit gehabt habe, während sie an ihre Freundin, die Frau von Münchhausen in Braunschweig, geschrieben, dem Grafen in ihrer, der Frau, Schlafkammer, ein Rendezvous zu geben. Bürger bat wegen seiner ungerechtfertigten Eifersucht um Verzeihung, die ihm gnädigst gewährt wurde.
Ja, so war es in der guten alten Zeit.

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 2. Buch, 1. Kapitel 

Göttingen zwischen 1787 und 1837

Wer in den zwanziger und dreißiger Jahren in Göttingen studirte, oder sich dort Studirens halber aufhielt, der ist auch im Hause des witzigsten aller Kroneninhaber, Friedrich Bettmann, gewesen, in der Goldenen Krone* an der Weenderstraße, in welcher Kaiser und Könige zu öftern malen seitdem ihr Nachtquartier aufgeschlagen haben. Wer dort aber jenerzeit ein- und ausging, der fand allda alltäglich ein altes, kleines, zusammengeschrumpftes Männchen, mit gelber Perrüke, die weniger als Haarschmuck, denn zur Erwärmung des Kopfes diente, abends in der hintern Stube vor der Mutterflasche mit gelbem Lack sitzen, sich und den Stammgästen daraus einschenkend und diese lebhaft unterhaltend. Als die Georgia Augusta ihr funfzigjähriges Jubiläum feierte, da war dieser alte Mann schon wohlbestallter Universitäts-Kupferstecher, und als 1837 Göttingen sein hundertjähriges Jubiläum feierte, da war Riepenhausen neben Brüderchen Heinrich Dietrich, dem Sohne des obenerwähnten Buchhändlers Heinrich Dietrich, dem Pastor Luther u. a. m. einer der wenigen, die noch vom Jahre 1787 erzählen konnten als Festgenossen und Universitätsmitglieder von damals. Riepenhausen, der Freund Lichtenberg's, Blumenbach's, Wrisberg's, der Hauswirth Bürger's in seiner schwersten Lebenszeit, der geniale Mann, der Hogarth's Meisterwerke mit seinem Griffel für Deutschland zugänglich, ja mit Lichtenberg's Erklärungen zum Nationaleigenthum gemacht hat, war zu der Zeit nach 1830 nichts mehr als ein alter schwacher Mann und Vater zweier berühmter Söhne, der Gebrüder Riepenhausen, Maler in Rom, während ein jüngerer Sohn bummelnd und nichtsthuend ihm das Mark des Lebens aus dem Beutel sog, und eine Tochter, Präsidentin eines 1822 gestifteten Ypsilanticlubs, nach dem Einen wahren Zukünftigen schmachtete. Riepenhausen war, sobald es dunkelte, Sommer und Winter der erste Gast in der Krone. Er wußte viel zu erzählen, der alte Herr, und er hat mir Dinge berichtet, von denen in unzähligen Büchern, die über Göttingen geschrieben sind, kein Wort steht, und hätte sich Otto Müller von ihm eine Stunde über Bürger erzählen lassen, er würde einen bessern Roman als den uns vorliegenden geschrieben und Novalis nicht mit dem Vetter des Fürsten von Hardenberg verwechselt haben.

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 2. Buch 1. Kapitel

*1951 wurden auf dem Gelände der Gastwirtschaft die Kreissparkasse, die Gastwirtschaft "Alte Krone" und ein Kino errichtet.

sieh auch:
Göttinger Hainbund
Wiki-Göttingen

Jugendliche Erfahrungen


Meier war kein Pedant, der von weiter nichts als von den Classikern wußte und wissen wollte; er, der in seiner Jugend ein begeisterter Anhänger Basedow's gewesen, schwärmte noch für eine Neugeburt der Menschheit durch Erziehung und Schule, er kannte jede neue Erscheinung der Literatur und interpretirte in der deutschen Stunde in Prima Lessing so gut wie Aeschylus und Sophokles. [...]
Ehe Karl zu seiner Mutter, Heinrich zu seinen Aeltern zurückkehrte, sollte ein großer Wunsch beider, der, eine größere Stadt zu sehen, Befriedigung finden. Eine solche Sehnsucht kennt unsere heutige Jugend nicht mehr, ein Knabe von vierzehn Jahren hat heutzutage in der Regel mehr von der Welt gesehen als damals ein Greis von achtzig Jahren.
(Heinrich Oppermann: Hundert Jahre,1. Buch 13. Kapitel)

Der Text ist um 1870 geschrieben.
In einer Weise mutet uns seltsam an, dass Lessing moderner als die Klassiker sein sollte, ist er doch ein Vorläufer der deutschen Klassik. (Damals dachte man bei Klassikern vornehmlich an antike Autoren.)
Und doch, wie vertraut ist uns die Erfahrung, dass Begeisterung für Literatur leichter geweckt werden kann, wenn sie an Zeitgenössischem ansetzt. (Lektüre von Schillers Tell in der 8. Klasse als "klassisches" Gegenbeispiel)

"ein Knabe von vierzehn Jahren hat heutzutage in der Regel mehr von der Welt gesehen"
Was haben 14-Jährige um 1870 schon gesehen?
Doch: wie viel Kenntnis unserer Welt haben Jugendliche von heute uns Älteren voraus? Wie selbstverständlich überspringen sie mit elektronischer Kommunikation die größten Entfernungen!