22 Februar 2014

Arnheim im Gespräch mit Diotima

»Törichte Menschen bilden sich ein, Geld zu besitzen sei Genuß! Es ist in Wahrheit eine unheimliche Verantwortung. Ich will nicht von den zahllosen Existenzen sprechen, die von mir abhängen, so daß ich für sie fast das Schicksal vertrete; lassen Sie mich bloß davon sprechen, daß mein Großvater mit einem Müllabfuhrgeschäft in einer rheinischen Mittelstadt begonnen hat.« Bei diesen Worten fühlte Diotima wirklich einen plötzlichen Schauer, der ihr wie wirtschaftlicher Imperialismus vorkam; es war das aber eine Verwechslung, denn sie entbehrte nicht ganz der Vorurteile ihres Gesellschaftskreises, und da sie bei Müllabfuhrgeschäft in der Sprechweise ihrer Heimat an den Mistbauer gedacht hatte, machte sie das mutige Bekenntnis ihres Freundes erröten. »In diesem Veredlungsverkehr für Abfälle« fuhr der Bekenner fort »hat mein Großvater den Grund zum Einfluß der Arnheims gelegt. Aber noch mein Vater erscheint als Selfmademan, wenn man bedenkt, daß er in vierzig Jahren diese Firma zum Welthaus ausgeweitet hat. Er hat nicht mehr als zwei Klassen einer Handelsschule durchgemacht, aber durchschaut mit einem Blick die verwickeltsten Weltverhältnisse und weiß alles, was er zu wissen braucht, früher als es andere Leute wissen. Ich habe Nationalökonomie und alle erdenklichen Wissenschaften studiert, aber ihm sind sie ganz unbekannt, und man kann in keiner Weise erklären, wie er das macht, aber es mißlingt ihm nie das geringste. Das ist das Geheimnis des kraftvollen, einfachen, großen und gesunden Lebens!« Arnheims Stimme, wie er von seinem Vater sprach, hatte einen ungewöhnlichen, ehrfürchtigen Ton angenommen, als hätte ihre dozierende Ruhe irgendwo einen kleinen Sprung. [...]
Es gibt auch für Geschäfte trotz allen Wohlergehens eine geheimnisvolle Grenze des Wachstums wie für alles Organische. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum über Elefantengröße heute kein Tier mehr hinauswächst? Sie finden das gleiche Geheimnis in der Geschichte der Kunst und in den sonderbaren Beziehungen des Lebens von Völkern, Kulturen und Zeiten.« Diotima bereute jetzt, daß sie vor dem Veredelungsverkehr für Abfälle zurückgeschaudert war, und fühlte sich verwirrt. »Von solchen Geheimnissen ist das Leben voll. Es gibt etwas, wogegen aller Verstand ohnmächtig ist. Mein Vater ist damit im Bunde. Aber ein Mensch wie Ihr Vetter,« sagte Arnheim »ein Aktivist, der immer den Kopf voll davon hat, wie die Dinge anders und besser zu machen wären, hat kein Empfinden dafür.« [...]
Er hatte einem wunderlichen Bedürfnis nachgegeben, das Diotima seit längerer Zeit in ihm erregte, sich ihr bis ins letzte Unbekannte ungeschützt anzuvertrauen. Nun schloß er sich wieder ein, nahm ein Buch vom Tisch, las seinen Titel, ohne ihn zu entziffern, legte es ungeduldig zurück und sagte mit seiner gewöhnlichen Stimme, die auf Diotima in diesem Augenblick so erschütternd wirkte wie die Bewegung eines Menschen, der seine Kleider an sich nimmt, woran sie erkannte, daß er nackt gewesen war: »Ich bin weit abgekommen. Was ich Ihnen über den General zu sagen habe, ist, daß Sie nichts Besseres tun können, als so bald wie möglich Ihren Plan zu verwirklichen und durch den Einfluß humanen Geistes und seiner anerkannten Vertreter unsere Aktion zu heben. Aber Sie brauchen auch den General nicht grundsätzlich abzulehnen. Er ist vielleicht persönlich guten Willens, und Sie kennen ja meinen Grundsatz, daß man der Gelegenheit, Geist in eine Sphäre bloßer Macht zu tragen, niemals aus dem Wege gehen soll.« Diotima ergriff seine Hand und faßte diese Unterredung in den Abschied zusammen: »Ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit!« Arnheim ließ die milde Hand einen Augenblick lang unentschlossen in der seinen ruhn und starrte nachdenklich darauf, als hätte er etwas zu sagen vergessen.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 65

18 Februar 2014

Fontane und Namen: Ebenezer Rubehn

[...]
»Ja, lieber Freund«, nahm sie nach einer kurzen Pause wieder das Wort, »ich mußte das zwischen uns klar machen. Und da wir einmal beim Klarmachen sind, so muß auch noch ein andres heraus, auch etwas Persönliches und Diffiziles. Ich muß Ihnen nämlich endlich einen Namen geben. Denn Sie haben eigentlich keinen Namen, oder wenigstens keinen, der zu brauchen wäre.«
»Ich dächte doch...«, sagte Rubehn mit einem leisen Anfluge von Verlegenheit und Mißstimmung.
»Ich dächte doch«, wiederholte Melanie und lachte. »Daß doch auch die Klugen und Klügsten auf diesen Punkt hin immer empfindlich sind! Aber ich bitte Sie, sich aller Empfindlichkeiten entschlagen zu wollen. Sie sollen selbst entscheiden. Beantworten Sie mir auf Pflicht und Gewissen die Frage: ob Ebenezer ein Name ist? Ich meine ein Name fürs Haus, fürs Geplauder, für die Causerie, die doch nun mal unser Bestes ist! Ebenezer! Oh, Sie dürfen nicht so bös aussehen. Ebenezer ist ein Name für einen Hohenpriester oder für einen, der's werden will, und ich seh' ihn ordentlich, wie er das Opfermesser schwingt. Und sehen Sie, davor schaudert mir. Ebenezer ist au fond nicht besser als Aaron. Und es ist auch nichts daraus zu machen. Aus Ezechiel hab' ich mir einen Ezel glücklich kondensiert. Aber Ebenezer!«
Anastasia weidete sich an Rubehns Verlegenheit und sagte dann: »Ich wüßte schon eine Hilfe.«
»Oh, die weiß ich auch. Und ich könnte sogar alles in einen allgemeinen und fast nach Grammatik klingenden Satz bringen. Und dieser Satz würde sein: Um- und Rückformung des abstrusen Familiennamens Rubehn in den alten, mir immer lieb gewesenen Vornamen Ruben.«
»Und das wollt' ich auch sagen«, eiferte Anastasia.
»Aber ich hab' es gesagt.«
Und in diesem Prioritätsstreite scherzte sich Melanie mehr und mehr in den Ton alter Unbefangenheit hinein und fuhr endlich, gegen Rubehn gewendet, fort: »Und wissen Sie, lieber Freund, daß mir diese Namensgebung wirklich etwas bedeutet? Ruben, um es zu wiederholen, war mir von jeher der sympathischste von den Zwölfen. Er hatte das Hochherzige, das sich immer bei dem Ältesten findet, einfach weil er der Älteste ist. Denken Sie nach, ob ich nicht recht habe. Die natürliche Herrscherstellung des Erstgeborenen sichert ihn vor Mesquinerie und Intrigue.«
»Jeder Erstgeborene wird Ihnen für diese Verherrlichung dankbar sein müssen, und jeder Ruben erst recht. Und doch gesteh' ich Ihnen offen, ich hätt' unter den Zwölfen eine andere Wahl getroffen.«
»Aber gewiß keine bessere. Und ich hoff', es Ihnen beweisen zu können. Über die sechs Halblegitimen ist weiter kein Wort zu verlieren; Sie nicken, sind also einverstanden. Und so nehmen wir denn, als erstes Betrachtungsobjekt, die Nestküken der Familie, die Muttersöhnchen. Es wird so viel von ihnen gemacht, aber Sie werden mir zustimmen, daß die spätere ägyptische Exzellenz nicht so ganz ohne Not in die Zisterne gesteckt worden ist. Er war einfach ein enfant terrible. Und nun gar der Jüngste! Verwöhnt und verzogen. Ich habe selbst ein Jüngstes und weiß etwas davon zu sagen... Und so bleiben uns denn wirklich nur die vier alten Grognards von der Lea her. Wohl, sie haben alle vier ihre Meriten. Aber doch ist ein Unterschied. In dem Levi spukt schon der Levit, und in dem Juda das Königtum – ein Stückchen Illoyalität, das Sie mir als freier Schweizerin zugute halten müssen. Und so sehen wir uns denn vor den Rest gestellt, vor die beiden letzten, die natürlich die beiden ersten sind. Eh bien, ich will nicht mäkeln und feilschen und will dem Simeon lassen, was ihm zukommt. Er war ein Charakter, und als solcher wollt' er dem Jungen ans Leben. Charaktere sind nie für halbe Maßregeln. Aber da trat Ruben dazwischen, meinRuben, und rettete den Jungen, weil er des alten Vaters gedachte. Denn er war gefühlvoll und mitleidig und hochherzig. Und was Schwäche war, darüber sag' ich nichts. Er hatte die Fehler seiner Tugenden, wie wir alle. Das war es und weiter nichts. Und deshalb Ruben und immer wieder Ruben. Und kein Appell und kein Refus. Anastasia, brich einen Tauf- und Krönungszweig ab, da von der Esche drüben. Wir können sie dann die Ruben-Esche nennen.« [...]
Fontane: L'Adultera, 11. Kapitel

Für mich als Leser klingt natürlich viel aus Thomas Manns Josephsroman an, aber auch dass Fontane wie Thomas Mann mit Namen spielt.
Dabei gibt es freilich auch einige Unterschiede ...

Dabei hat die Szene im Roman natürlich eine Funktion, die mit dem Spiel mit Namen gar nichts zu tun hat, nämlich die Vorbereitung des Kapitels Unter Palmen, das mit folgenden Worten schließt: "Aber das glaub' ich sagen zu dürfen: von diesem Tag an datiert sich eine neue Ära des Hauses van der Straaten."

15 Februar 2014

General Stumm von Bordwehr besucht Diotima

General Stumm von Bordwehr hatte Diotima seine Aufwartung gemacht. Das war jener Offizier, den das Kriegsministerium in die große gründende Sitzung entsandt hatte, wo er eine Rede hielt, die auf alle Eindruck machte, ohne aber hindern zu können, daß bei der Aufstellung der Ausschüsse für das große Friedenswerk, die nach dem Muster der Ministerien geschah, das Ministerium des Krieges aus naheliegenden Gründen übergangen wurde. – Er war ein nicht sehr stattlicher General mit einem kleinen Bauch und einer kleinen Lippenbürste an der Stelle des Schnurrbarts. Sein Gesicht war rund und hatte etwas von Familienkreis bei Abwesenheit jedes Vermögens über das in der Heiratsvorschrift für Truppenoffiziere geforderte hinaus. Er sagte zu Diotima, dem Soldaten sei im Beratungszimmer eine bescheidene Rolle angemessen. Es verstehe sich überdies aus politischen Rücksichten von selbst, daß das Kriegsministerium bei der Bildung der Ausschüsse nicht berücksichtigt werden konnte. Dennoch wage er zu behaupten, die geplante Aktion solle nach außen wirken, was aber nach außen wirke, sei die Macht eines Volks. Er wiederholte, daß der berühmte Philosoph Treitschke gesagt habe, Staat sei die Macht, sich im Völkerkampf zu erhalten. Die Kraft, die man im Frieden entfalte, halte den Krieg fern oder kürze seine Grausamkeit zumindest ab. Er sprach noch eine Viertelstunde lang, bediente sich einiger klassischer Zitate, an die er sich, wie er hinzufügte, noch aus der Gymnasialzeit mit Vorliebe erinnerte, und behauptete, daß diese Jahre des humanistischen Studiums die schönsten seines Lebens gewesen seien; suchte Diotima fühlen zu lassen, daß er sie bewundere und von der Art, wie sie die große Sitzung geleitet habe, entzückt gewesen sei; wollte nur noch einmal wiederholen, daß recht verstanden ein Ausbau der Wehrmacht, die hinter der anderer Großstaaten weit zurückstehe, die ausdrucksvollste Bekundung friedlicher Gesinnung bedeuten könnte, und erklärte im übrigen, vertrauensvoll zu erwarten, daß eine breite, volkstümliche Teilnahme an den Fragen des Heeres von selbst kommen werde. 
Dieser liebenswürdige General versetzte Diotima in tödlichen Schreck. Es gab damals in Kakanien Familien, wo Offiziere verkehrten, weil ihre Töchter Offiziere heirateten, und Familien, deren Töchter Offiziere nicht heirateten, entweder weil kein Geld für die Heiratskaution vorhanden war oder aus Grundsatz, so daß dort auch keine Offiziere verkehrten; Diotimas Familie hatte aus beiden Gründen zu der zweiten Sorte gehört, und die Folge war, daß die gewissenhaft schöne Frau eine Vorstellung vom Militär mit ins Leben nahm, ungefähr so wie die Vorstellung eines mit bunten Lappen behängten Todes. [...]
Sie setzte ihre Worte sorgfältig, wie mit schwarzgelben Bindfäden geheftet, und verbrannte sanfte Räucherwerkworte der hohen Bürokratie auf ihren Lippen.
Aber als der General sich verabschiedet hatte, brach das Innere der hohen Frau ohnmächtig zusammen. Wenn sie eines so niederen Gefühls wie Hasses fähig gewesen wäre, würde sie diesen rundlichen kleinen Mann mit den schwänzelnden Augen und den Goldknöpfen am Bauch gehaßt haben, aber da ihr das unmöglich blieb, empfand sie eine dumpfe Beleidigung und konnte sich nicht sagen, warum. Sie öffnete trotz der Winterkälte die Fenster und rauschte mehrmals im Zimmer auf und ab. Als sie die Fenster wieder schloß, hatte sie Tränen in den Augen. Sie war sehr erstaunt. Das geschah nun schon zum zweitenmal, daß sie grundlos weinte.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 64

10 Februar 2014

Rai-jin

"Raiden, auch Rai-jin, der Donnergott, genießt in Japan große Verehrung; er ist aber sehr gefürchtet, wenn er in Begleitung von Futen, dem Sturmgeist, auftritt; denn dann tobt und heult er in den Bergen und in den Schluchten; dann kracht es in den Wäldern und die Sonne versteckt sich vor dem wütenden Heer der Sturm- und Donnergeister. Allen voran stürmt hoch oben in den Lüften, umgeben von schwarzen Wolken, Futen heran, ein behaartes grausiges Ungeheuer mit krallenbewehrten Händen und Füßen. Zwei große lange Hauer ragen aus seinem Maule, eine glatte Nase, stumpfe, kurze Ohren und tückisch blitzende Augen vervollständigen die schreckenerregende Gestalt dieses Unholds. Diesem folgt, ihm an Gestalt und Aussehen gleich, Raiden, der fünf Trommeln mit sich führt, auf die er mit einer großen Keule schlägt; zwischendurch wirft er die feurige Donnerkatze, die überall, wo sie hinfällt, Unheil anrichtet. Mit ihren glühenden Krallen zerschmettert sie Berge und zündet Bäume und Häuser an, sengt Menschen und Vieh zu Tode oder zeichnet sie für Lebenszeit. Futen trägt quer über den Schultern einen Sack, der vier Öffnungen hat und in dem die Winde stecken. Hält er den Sack geschlossen, dann herrscht Windstille auf Erden; aber die Schiffer auf dem Meere bitten ihn doch den Sack ein klein wenig zu öffnen, auf daß sie gute Fahrt haben. Macht Futen eine Öffnung ganz auf, dann bricht ein Gewittersturm heraus; wehe, dreimal wehe aber, wenn er den Sack an zwei Stellen öffnet, denn dann kommt ein Wirbelsturm daher, der alles in seinen Bereich Kommende vernichtet. Einen solchen Sturm nennt man in Japan »Tai-fu« – großer Wind – Orkan. – Und nun will ich einmal von diesen beiden Unholden ein Stücklein erzählen, aus dem man ersehen kann, daß sie nicht immer so böswillige Gesellen sind, als sie scheinen. [...]
Da fuhr plötzlich ein blendender Blitzstrahl zwischen ihnen zur Erde und blendete ihnen die Augen, während ein furchtbarer Donnerschlag ertönte, sodaß beide betäubt niedersanken. Als sie aus ihrer Betäubung erwachten, [...]
" (Alberti: Japanische Märchen, Kapitel 23)

04 Februar 2014

Doctorow: Makers - Anregung von gemeinsamer Lektüre

Ein Plan für gemeinsame Lektüre: hier
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Onlinetext: hier

Noah, Gilgamesch, Vineta

Wie ein Gemisch von Gilgamesch-, Noah- und Vinetasage klingt die Erzählung von Maorigashima.

Dabei ist sie vermutlich aufgrund von frühen Tsunami-Erfahrungen ganz eigenständig in Japan entstanden.
Die Erzählung beginnt, wie folgt:
Maorigashima war einst eine blühende Insel, deren Bewohner glücklich und zufrieden leben konnten, da alles, was man zum Leben braucht, die Insel hervorbrachte. Auch gab es dort einen vorzüglichen Ton, aus dem die Leute prachtvolle Töpfe und Schalen bereiteten, die hochbezahlt wurden. Aus diesem Grunde herrschte auf der Insel Wohlstand und Reichtum, arme Leute gab es dort überhaupt nicht.
Die Insel lag im Süden von Japan, nahe bei dem heutigen Formosa, ihr Herrscher war Pairuno, ein gottesfürchtiger und gerechter Fürst, der mit großer Betrübnis sah, wie der Reichtum und das Wohlleben die Sitten seiner Untertanen verdarb, wie diese immer mehr sich der Völlerei und dem Nichtstun ergaben und die Lehren der Götter verachteten.
Alle Mahnungen und das gute Beispiel eines gottgefälligen, redlichen Lebens des Herrschers vermochten nicht, die Bewohner von Maorigashima wieder auf den Pfad eines ehrsamen Lebenswandels zurückzubringen; im Gegenteil, die Laster nahmen überhand, selbst die Beamten, die sich bisher noch immer in Schranken gehalten hatten, ergaben sich schließlich dem lasterhaften Leben und vernachlässigten ihre Pflichten. Als Pairuno sah, daß alle seine guten Lehren nichts helfen wollten und daß ihm die Macht fehlte, gewaltsam eine Besserung der Zustände herbeizuführen, weil ja die Beamten selbst ein zügelloses Leben führten und nicht mehr gehorchten, wandte er sich an die Götter und bat diese um Hilfe und Rettung.
Eines Tages war er wieder im Tempel in inbrünstigem Gebete versunken, da hörte er eine Stimme, die ihm zuraunte:
»Das Maß der Sünden Maorigashima's ist voll und die Götter haben beschlossen, die Insel mit allen Bewohnern zu vernichten. Du allein bist ausersehen am Leben zu bleiben, um der Nachwelt den Untergang der Insel zu verkünden, auf daß andre sich daran ein Beispiel nehmen. Halte darum ein Schiff bereit, um, wenn die Stunde naht, dich dem Strafgerichte zu entziehen, das die Götter über Maorigashima und seine Bewohner verhängt haben. Weil du gerecht bist und die Götter ehrst, sollst du die Stunde des Gerichts wissen. Wenn das Antlitz der Tempelwächter, die als Bildsäulen am Eingang des Tempels stehen, rot sein werden, dann schiffe dich ein und säume nicht; solange die Antlitze ihre weiße Farbe behalten, hat es keine Gefahr!«
Pairuno dankte den Göttern für die Offenbarung und bat diese seinen Untertanen bekannt geben zu dürfen, auf daß sich bekehren könne, wer es wolle. Die Götter bewilligten die Bitte und gaben Pairuno die Zusicherung, daß ein Jeder, der sich freiwillig mit ihm einschiffe, verschont und gerettet sein werde. Hocherfreut ging der Herrscher in seinen Palast zurück. Er ließ alle Beamten rufen und verkündete ihnen, was ihm die Götter offenbart hatten; auch gab er Befehl, dies dem ganzen Volke bekannt zu geben.
Aber die Beamten und das Volk verlachten die Warnung und spotteten über ihren Fürsten, ja einer der Beamten schlich sich eines Nachts heimlich zum Tempel und beschmierte die Gesichter der Bildsäulen mit rotem Ton.
Als Pairuno dies am Morgen sah, glaubte er die Stunde des Strafgerichts gekommen und schiffte sich schnell mit den Seinen ein. Er forderte das Volk auf sich zu retten und bat zu ihm aufs Schiff zu kommen. Doch alle verlachten ihn und der Spötter, der in der Nacht die Gesichter der Bildsäulen beschmiert hatte, gestand seine Tat hohnlachend ein, indem er erklärte, daß nicht die Götter, sondern er die Rotfärbung vorgenommen habe.

01 Februar 2014

Japanische Erzählungen

In der Übersetzung von Karl Albrecht Heise liegen bei Gutenberg japanische Erzählungen vor, von denen ich hier einige vorstellen möchte.
Vor vielen, vielen Jahren lebte einmal ein Holzfäller. Der ging stets in den Wald, um Bäume zu fällen. Als er einmal wieder im Walde war, hörte er plötzlich ein dumpfes Brüllen, das von einem wilden Tiere zu kommen schien. Voller Angst kletterte er auf einen Baum und versteckte sich dort. Da das Brüllen andauerte, aber nicht näher kam, so packte ihn die Neugierde zu sehen, woher es komme.
Er kletterte also wieder von dem Baum und schlich sich zu der Gegend hin, aus der das Brüllen erscholl. So kam er immer näher und sah endlich eine Raubtierfalle, in der sich ein Tiger gefangen hatte, der sich vergeblich bemühte wieder frei zu kommen und ein wütendes Brüllen ausstieß.
Als dieser den Holzfäller bemerkte, rief er ihm zu: »Was gaffst du mich an? Mache mich lieber frei und ich zeige dir einen Platz, wo viele Reichtümer verborgen sind!«
»Daß ich dumm wäre!« entgegnete der Mann. »Bist du frei, so frißt du mich auf!«
»Wenn du mich befreist, tue ich dir sicherlich nichts!« versicherte der Tiger und gab so viele schöne gute Worte, daß der Holzfäller sich bereden ließ und den Tiger befreite.
Kaum war dieser frei, so dehnte und streckte er sich, dann sah er seinen Befreier eine Weile an und sagte:
Diesen Anfang kennen wir ähnlich von gefangenen Geistern aus dem orientalischen Raum, aber auch - wenn es um kleine Tiere geht - aus Märchen, wo dem Guten durch Hilfe solcher kleinen Tiere die Bewältigung von Aufgaben gelingt, die Menschen nicht bewältigen könnten. Doch dass hier ein Tiger befreit wird, weckt den Verdacht auf einen anderen Ausgang. Man findet ihn hier.

Doch wo ist wohl die Entsprechung zu dieser Erzählung zu finden, wo eine Krabbe, ein Affe, eine Wespe, ein Ei und ein Reismörser zusammenkommen.
In uralten Zeiten, als die Tiere noch wie die Menschen lebten, Häuser bauten und Felder bestellten, lebte einmal in einem kleinen, sauberen Häuschen eine Krabbe, dicht an einem Berge und zwar an dessen Schattenseite, weil es dort nicht zu heiß wird, sondern immer hübsch kühl und feucht bleibt, wie es die Krabben lieben. Diese Krabbe war eine fleißige und tüchtige Hausfrau, die sich mit ihrer Hände Arbeit mühselig aber redlich durchs Leben schlug, dabei ihr Häuschen stets in Ordnung hielt und so von früh bis spät beschäftigt war. Eines Tages nun hatte es sich ein Pilger im Schatten nahe bei ihrem Hause bequem gemacht und sein Mittagsmahl gehalten. Als er wieder weiter wanderte, ließ er einige kleine Reste gekochten Reises liegen und die Krabbe hatte nichts eiliger zu tun, als diese Reste in ihr Häuschen zu schaffen.