21 Februar 2015

Rudolf Pörtner: Mein Elternhaus

Rudolf Pörtner: Mein Elternhaus
42 Berichte über Elternhäuser vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg liefern ein erstaunlich vielgestaltiges Bild:

Bittere Armut im Arbeiterhaushalt von Loki Schmidt, geb. Glaser (*1919), die aber durch vielseitige Fähigkeiten, Charakterstärke und hohes Bildungsinteresse der Eltern und einen guten Familienzusammenhalt sowie durch eine gute Schule einen fruchtbaren Bildungshintergrund schufen.
"Die Sommerferien verbrachte die ganze Familie in der Heide. Dort hatten meine Großeltern sich vor der Stadt am Nordrand der Lüneburger Heide (heute gehört es zum Stadtgebiet Hamburg) ein Grundstück gekauft (zwei Pfennig pro Quadratmeter). Die Heidetrockentäler mit kleinen Moorlöchern waren unser Spielplatz." (S.228)
Natürlich hatte der Vater dort ein kleines Holzhaus mit vier Schlafgelegenheiten gebaut, zwei Tanten wohnten nebenan in einem entsprechenden Holzhäuschen. Und der Geburtstag der Großmutter wurde am 28.7. von den 25 Mitgliedern der Familie mit einem selbstgemachten Theaterstück oder Singspiel gefeiert.

Bürgerliche Atmosphäre bei Egon Bahr (*1922), der als Grundschüler beim Zuhören und Zusehen beim väterlichen Stenographieunterricht für Erwachsene spielerisch lernte, was ihn dann von der Sekundarschule bis ins Alter selbstverständlich begleitete.
Er erhielt 50 Pfennig Taschengeld in der Woche und als Sänger des Torgauer Kirchenchores in der Oberstufe 27,50 Reichsmark "Chorgeld" (unklar, auf welchen Zeitraum bezogen). "Wir verreisten zweimal im Jahr", zu Verwandten in Schlesien oder Ostpreußen. (S.241)

Iring Fetscher (*1922) erlebte im bürgerlichen Dresden 1933 die Vertreibung seines Vaters von der Universität und seine Einstufung als "wehrunwürdig", was ihn nicht hinderte, seinerseits an eine Offizierslaufbahn zu denken. Als Arzt hat sein Vater an maßgeblicher Stelle mit der Versorgung der Bombenopfer zu tun, bemüht sich aber in vielen riefen, die Verbindung seines Sohnes zur Familie zu halten. Anfang April wurde der Vater "von einer SS-Streife erschossen, als er - zusammen mit anderen Nazigegnern - auf dem Weg zum sowjetischen Kommandanten war, um ihm die Zusammenarbeit der Antifaschisten anzubieten und so der Stadt Leiden zu ersparen." (S.253)

Der erste Bericht, der der Schauspielerin Ida Ehre, setzt kräftig ein: Nach dem Tod ihres Mannes mit nur 38 Jahren steht die Ungarin Bertha Ehre ohne Versorgung da. Sie entschließt sich aber, sich und ihre sechs Kinder mit Näharbeiten durchzubringen. Das gelingt ihr, auch wenn sie dafür u.a. ihren Ehering ins Pfandhaus tragen muss. So - hält Ida Ehre fest - ist sie nicht in einem Elternhaus aufgewachsen, sondern in ihrem Mutterhaus.
Ida kommt über eine Schauspielerin in höchst prominente Kreise (Grafen, Minister und andere Berühmtheiten) und erhält schließlich ein Stipendium für eine Ausbildung an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien.
Zu ihrem Standardsatz bei der Ausbildungssuche "Bezahlen kann ich aber nicht." tritt in der Nazizeit der Satz "Ich lebe in einer privilegierten Mischehe." (S.19)
Ihr Mutterhaus verliert Ida, als sie ihre Mutter in der Nazizeit nicht mehr zu sich einladen kann. Aus innerem Drang fährt sie 1938 nach Wien, erfährt, dass ihre Mutter in einem Gestapogefängnis auf ihre Deportation wartet. Ida kann sie noch bei ihrem Abtransport sehen ("Auf Wiedersehen, meine geliebten Kinder").

Der letzte schriftliche Gruß der Mutter enthält den Satz:
"Mein geliebtes Kind - die Welt kann nur miteinander leben, wenn das Wort Liebe groß geschrieben ist - Liebe und Toleranz - nicht hassen - nur lieben."
(Zweite Lektüre nach 1999) 

sieh auch: 
"Meine Heimat ist mein Elternhaus", Interview mit der Armenierin Sesede Terziyan, 6.3.15

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