14 Mai 2015

Wilhelm Meisters theatralische Sendung

14. Kapitel 
In der gärenden Zeit dieser natürlichen Kunstbemühungen, wollte das Schicksal daß die Liebe ihn mit noch festern Banden ans Theater knüpfte. Bisher waren seine kleine Geschichtgen wie Präludien zu einem großen Musik Stücke gewesen, wo man in manchfaltigen Harmonien aus einem Tone in den andern übergeht, ohne eine bestimmte Melodie vorzutragen, und ohne einen andern Zweck zu haben als das Ohr zu mehr Empfänglichkeit für das Folgende vorzubereiten, und den Zuhörer unvermerkt an die Pforte zu führen wo sich ihm die ganze Herrlichkeit auf einmal offenbaren soll. Den meisten Menschen geht's so in der Liebe, und wen das Schicksal lieb hat den leitet's so zu Glück und Unglück. [...]
Denn auf dem Theater, und in der großen Welt gewöhnt man sich, die Augen bedeutungsvoll auf Gegenstände zu richten, von denen man oft gar keine Notiz nimmt, und einer Frau besonders, die aus der Erfahrung hat, daß ihre Augen manichfaltig wirken, aufreizen, lebendig machen, wird's mechanisch mit den Leuten Katzenmäusges zu spielen ohne sie zu bemerken. [...]
Es geschieht gar selten, daß zwei junge, gleich unschuldige Seelen Hand in Hand den Weg der Liebe mit einander ausgehn, harmlos vor sich hinwallen, und in schlingenden Pfaden verloren, sich wider Vermuten an Orte geführt sehen, die sie sich weit entfernt glaubten. Denn wie die Natur fast durchaus Unerfahrenheit der Erfahrenheit untergeordnet hat, so ist's auch hier, ein Teil wird immer die Rolle des Freundes spielen, der, in einer Gegend schon bekannt, den Ankömmling in ihre Schönheiten einweihen will. Schweigend lenkt er ihn unmerklich hie oder dort hin, läßt ihm bei diesem und jenem Anblick sein Entzücken, ohne zu verraten was für Großes ihm bevorsteht, läßt ihn mühsam auf und absteigen, wo es nicht nötig wäre, um eine angenehme Aussicht von der Seite zu zeigen, wo sie eben die meiste Wirkung tut, und der andere, er merke die List oder nicht, dankt seinem Führer für die liebevolle Mühe. So bescheiden Wilhelm war, und ganz im Glauben an Marianens Tugend, stiegen seine Liebkosungen an ihr unmerklich mit jedem Tage, und sie, ohne ihn aus dem Besitze des zu setzen was er sich anmaßte, hielt ihn nur auf jeder Stufe eine Zeitlang auf, wo ihn seine Liebe und Ehrfurcht ohne das ein wenig ausruhen hießen. Ihre Verlegenheit, ihr ohnmächtiger Widerstand, den sie seinen Küssen entgegen setzte, ihr tiefes Nachdenken in das sie oft verfiel, setzte ihn in solche entzückte Leidenschaft, daß er mit allen Fasern seines Lebens an ihr hing. Marianen lernte das Glück der Liebe, das ihr fremd war, in seinen Armen erst kennen, und die Herzlichkeit mit der er sie an seinen Busen drückte, die Dankbarkeit der es oft an ihrer Hand gnügte, durchdrang sie, und täglich lebte sie freier auf. [...]Er war so überzeugt, daß dieser Verlust der einzige, der erste und letzte sei, den er in seinem Leben machen könne, daß er jeden Trost verabscheute, der ihm diese Leiden als endlich vorstellen wollte. Jede freudige sonst teilnehmende Ader haßt' er an sich, und nährte dagegen jene stillstehende, schleichende, in sich gekehrte Empfindung, die heimlich den Kern des Lebens aushöhlt. Leise fieberhafte Bewegungen, Nachhälle seiner Krankheit, schlichen in seinem innersten Bau, und wurden durch eine falsche Diät Leibes und der Seele unterhalten. Er floh die Menschen enthielt sich in seiner Stube, und konnte es nie warm genug darin haben. Der Caffée den er bisher noch gar nicht gekannt, schlich sich als Arznei bei ihm ein, denn wurde dieser Lieblingstrank erst einmal des Tages, darauf zweimal genommen, und bald unentbehrlich. Dieser leidige und allgemein verbreitete Gift des Körpers und des Beutels wirkte bei ihm auf das gefährlichste. Seine Vorstellung wurde mit schwarzen leicht beweglichen Bildern erfüllt, mit welchen seine Imagination ein rastloses Drama, das die Hölle des Dante zum würdigen Schauplatz erwählet hätte, aufzuführen sich gewöhnte. Die vorübergehende falsche Stimmung, die dieser verräterische Saft dem Geiste gibt, ist zu reizend, als daß man sie einmal empfunden entbehren mögte. Die Abspannung und Nüchternheit die darauf folget, zu öde, als daß man nicht den vorigen Zustand durch neuen Genuß wieder herauf holen sollte. [...]

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