16 Mai 2015

O Gott, wenn nur auch Luft zum Atmen da wäre

Ich konnte diese dunkeln Scheiben putzen lassen, ich konnte mit dem Krückstock des Oheims dem Raben Jakob den Schädel einschlagen; ich konnte – ja, was konnte ich nicht alles, wenn ich nur gewagt hätte, irgend etwas auf andere Weise, als mit der größten Scheu und Vorsicht zu berühren! Da war das Gemach, in welchem mein Vater das Licht der Welt erblickte, da war der dunkle Alkoven, in welchem ich als kleiner, boshafter Schlingel oft genug eingesperrt gesessen und geheult hatte; da waren die leeren Ställe, die weiten, öden Scheuern, in welchen wir unsere tollen Spiele getrieben hatten – – wer kann gegen solche Erinnerungen etwas unternehmen ohne die tiefste Pietät?! [...]
Allen gewährte ich den erhebenden Anblick einer tadellosen Krawatte, und so weiter. Gelangen doch, teuerster Freund, bei solchen Gelegenheiten die fünf praedicabilia der scholastischen Logik vollständig wieder zu ihrem Recht, wie folgt: genus – der schwarze Frack, species – die weiße Halsbinde, differentia – die weiße Weste, proprium – die weißen Handschuh, accidens – das Geschöpf Gottes, welches in den vorigen steckt, und dessen Beschaffenheit ziemlich gleichgültig ist, wenn nur die vier ersten Punkte gehörig im Stande sind. [...]
Was steckt alles in diesem Hause! Einem Antiquitätensammler würde das Herz dreimal schneller klopfen aus Entzücken darüber. Da sind ausgestopfte Tiere in Glaskästen auf den riesigen mit Schnitzwerk ausgelegten Rokokoschränken, in deren schwer zu öffnenden Schiebladen und geheimen Fächern es wimmelt von vergessenen Seltsamkeiten aller Art. Habe ich doch ein Kästchen mit einer in Baumwolle gewickelten Münze gefunden, welche jeden Numismatiker aus freudigem Schreck in eine Ohnmacht hätte fallen machen können. Ein echter Pescennius Niger! Em Pescennius Niger mit dem Bild des Imperators auf der Vorderseite und der Inschrift: ΑΝΔΡΙΝΟΠ. ΚΑΙΣΑΡΑΙΩΝ ΜΗΤΡΟ auf der Rückseite! Da sind Ölgemälde, Pastellbilder – Landschaften, Blumenstücke, Porträts überall; in den Gängen und Gemächern bis hinauf in die höchsten Dachkammern. Da ist vor allem das Bibliothek- und Studierzimmer mit seinen gelehrten Schätzen und den vielen Manuskripten in der Handschrift des Oheims Albrecht. O Gott, wenn nur auch Luft zum Atmen da wäre. Spinngewebe, Dunst und Moder, Staub- und Fliegenschmutz überall! In den Fensterbänken Hunderte von toten Fliegen; Wurmstaub unter jedem Stuhl, jedem Tisch; Schimmelbildungen auf jedem der Feuchtigkeit ausgesetzten Fleck! Bei meinem Leben, es überläuft mich oft ein Gefühl, als nehme die Verwesung auch von mir bereits Besitz; unwillkürlich fahre ich dann über das Gesicht, um mich zu überzeugen, daß ich nicht grün ausschlage, unwillkürlich reiße ich das nächste Fenster auf, um frische Luft zu schnappen. Was beginne ich, um die Gespenster, welche in allen Winkeln zu lauern scheinen, zu verjagen?
(Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode, Kapitel 9)
Solche Klage und solche Beschaulichkeit in der Beschreibung!

Keine Kommentare: