08 Juli 2015

In der Leihbibliothek

Die Karl Achtermannsche Leihbibliothek gehört nicht zu den ersten der Stadt. In einer verhältnismäßig engen und wenig belebten Nebenstraße belegen, macht sie nicht den geringsten Anspruch auf äußerliche Eleganz, polierte Ladentische und Bücherbretter, Plüschsessel und Büsten berühmter Unterhaltungsschriftsteller vom alten Homer bis zum jüngsten – dem jüngsten – nun ja, lassen auch wir den Platz offen und allen noch mitstrebenden Kollegen die Gelegenheit, sich in Gips oder Biskuit an die Wand hinzuimaginieren!
»Einen recht schönen Sokrates hatte ich da oben; aber geschrieben hat der Mann ja eigentlich gar nichts, und als er vor anderthalb Jahren nächtlicherweile mit Nagel und Konsole herunterkam, habe ich es noch für ein Glück halten müssen, daß er das Attentat nicht bei Tage verübte und mir auf den Kopf fiel. Die augenblicklich beliebten Autoren von beiden Geschlechtern halte ich mir immer der Bequemlichkeit wegen handgerecht; und jetzt, bitte, kommen Sie einmal selbst hier hinter den Ladentisch und sehen Sie selber, in was für einer literarhistorischen Gefahr ich geschwebt habe. Er hing gerade drüber«, sagte mir der alte Achtermann; ich aber hatte ihm sogar noch dankbar dafür zu sein, daß er hinzufügte:
»Sie stehen dort auf der andern Seite, und darüber ist auch noch ein recht hübscher Platz, wenn es sich einmal wieder so macht, daß ich etwas für die Verschönerung des Lokals tun kann.« –
Leihbibliothek
von
Karl Achtermann
stand in halb verwischten Buchstaben über der Glastür, die auf die Straße hinausführte, und lud seit fast einem Menschenalter die Vorbeiwandelnden ein, billigst ihre laufenden geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Und – gottlob! – ein ziemlich anständiger Teil der Bevölkerung folgte der Einladung sogar »im Abonnement« – da war's noch billiger, abgesehen davon, daß der alte Achtermann dabei denn doch auch genauer wußte, wie er dran war. Ganz umsonst können es die Musen leider immer noch nicht tun; aber das muß man ihnen lassen, Rücksichten nehmen sie, und so billig wie die deutsche Nation ist noch keine andere auf Gottes Erdboden zu dem Rufe eines Kulturvolkes gekommen! So weit unsere Einsicht in die Sachlage reicht, ist Arthur Schopenhauer der allereinzige auf germanischem Geistesgebiete gewesen, dessen Freunde und gute Bekannte es nicht möglich machen konnten, seine Werke leihweise von ihm, und wenn auch nur »auf acht Tage«, zu erhalten. Zwei ganze Auflagen der »Welt als Wille und Vorstellung« hat der alte Bösewicht und »Egoist« dem Volke der Denker unter der Nase lieber zu Makulatur machen lassen! Reinewegs empörend bleibt es unter allen Umständen, und ein schwacher Trost kann für das deutsche Gemüt nur darin liegen, daß sich dieser Mensch auf seine holländische Abstammung stets viel zugute tat. –
Das Geschäftslokal der Firma K. Achtermann bestand aus zwei Räumen. Der vordere, größere wurde durch die schon erwähnte Glastür und das Fenster zur Rechten derselben wenigstens in einer nicht unangenehmen Dämmerung erhalten. Der zweite, kleinere war vollständig dunkel, enthielt aber den kleinen Kanonenofen, der das Lokal heizte, und neben dem Ofen ein kurzes, zersessenes Sofa, sowie einen niedrigen Schrank zur Aufbewahrung von allerhand Haushaltungsgerätschaften. Mit schöner Wissenschaft waren natürlich beide Räumlichkeiten vollgepfropft, die hintere dunkle freilich mehr mit der veralteten, der abgängigen. Nimmer aber hatte ein öffentlicher Bibliothekar mehr einem sich ausgesponnen habenden melancholischen Spinnrich geglichen als Achtermann an dem heutigen Tage auf seinem Sofa, neben seinem Ofen, unter der abgängigen Literatur der letzten dreißig Jahre!
Da saß er, kopfschüttelnd, vornübergebeugt, die Schultern aufwärts gezogen, die Hände zwischen den mageren Knieen zusammengelegt, die Zeitung des Tages unter die linke Achsel gekniffen.
»Vor Paris nichts Neues!... 
(Wilhelm Raabe: Deutscher Adel, 1. Kapitel)

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