12 Oktober 2016

Cervantes: Zigeuner über sich selbst

"Für uns sind die Unbilden der Witterung Erfrischungen, der Schnee dient uns zur Erquickung, der Regen zum Bade, der Donner als Musik, der Blitz als Fackel. Für uns ist die harte Erde ein weiches Federbett, die schwielige Haut unsres Leibes dient uns als undurchdringlicher Harnisch; für unsre Gewandtheit sind weder Gitter ein Hindernis, noch halten uns Gräben zurück, noch können Mauern uns bannen. Unsern Mut fesseln weder Stricke, noch schüchtern ihn Fußblöcke ein, noch ersticken ihn Daumenschrauben, noch bändigt ihn der Pranger. Zwischen Ja und Nein machen wir, wenn unser Vorteil es heischt, keinen Unterschied. Stets setzen wir eine größere Ehre darein, Märtyrer als Bekenner zu sein. Für uns wachsen die Lasttiere auf den Feldern auf, und für uns schneidet man in den Städten die Taschen zurecht. Kein Adler noch irgendein anderer Raubvogel stürzt schneller auf seine Beute, als wir uns auf die Gelegenheit stürzen, aus der wir Nutzen zu ziehen gedenken. Kurz wir sind in manchen Dingen geschickt, die uns ein glückliches Ende sichern, denn im Gefängnis singen, am Pranger schweigen wir, bei Tag arbeiten und bei Nacht stehlen wir, oder besser, wir warnen die Leute, daß keiner sein Eigentum unordentlich hinwerfe, wo er gerade gehe und stehe. Uns plagt keine Angst, unsre Ehre einzubüßen, noch raubt uns die Sucht, sie zu mehren, den Schlaf. Wir brauchen uns keine Gönner zu gewinnen noch früh aufzustehen, um Bittschriften zu überreichen; wir brauchen keinen großen Herren das Geleit zu geben, noch um Gunstbezeigungen zu betteln. Diese Hütten und tragbaren Zelte sehen wir an als goldne Dächer und prächtige Paläste; statt der Gemälde und niederländischen Landschaften betrachten wir die Reize der Natur in diesen hohen Klippen und beschneiten Kuppen, diesen weit gedehnten Wiesen und dichten Gesträuchen, die sich unserm Blick bei jedem Schritte bieten. [...] kurz wir sind Leute, die durch ihre Kunst auf ihr Glück hin leben, ohne uns um das alte Sprichwort zu kümmern: Kirche, Meer oder Königshaus [2]. Wir haben, was wir wollen, weil wir mit dem zufrieden sind, was wir haben."
(Cervantes: La gitanilla - Kurzwiedergabe des Inhalts)



„Für den Moment ein guter Kompromiss“ faz.net 12.10.16
"Die vor der Weißfrauenkirche campenden Roma sollen in die B-Ebene der Hauptwache umziehen. Ein erprobtes Verfahren oder eine bloße Verlagerung des Problems?"

Ist Cervantes Darstellung der Zigeuner so viel kritischer als die der heutigen deutschen Medien über rumänische Roma? Mit Sicherheit kritisiert er sie schärfer, als die Roma heute kritisiert werden, doch lässt er sie auch für sich sprechen.
Und da ist noch die Darstellung der Nenngroßmutter der Heldin und die Tatsache, dass keine schweren Vergehen der Zigeuner dargestellt werden, wohl aber, dass der Held Andres erst in dem Augenblick einen Menschen tötet, als in ihm der Adlige gegen den Zigeuner siegt.

Cervantes berichtet:

"Damit hob er [der Soldat] ohne weiteres die Hand und gab Andres einen solchen Backenstreich, daß er aus seiner Betäubung erwachte und sich plötzlich entsann, daß er nicht der Herren-Andres war, sondern Don Juan und ein Kavalier. Mit unglaublicher Schnelligkeit und noch größerer Wut stürzte er sich auf den Soldaten, riß ihm den eignen Degen aus der Scheide und stieß ihn ihm in den Leib, so daß er tot zu Boden fiel."

Freilich, keinesfalls zeichnet Cervantes ein einseitig positives Bild der Zigeuner. Aber es gibt auch Passagen, wo die Adligen nicht besser wegkommen als sie.

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