26 November 2016

Die Theaterdichter von Abdera

Es blieb also kein ander Mittel, als die Abderitischen Dichter auf Unkosten des Geschmacks gemeiner Stadt aufzumuntern; d.i. alle Waren, die sie gratis liefern würden, für gut zu nehmen – nach dem alten Sprichworte: Geschenktem Gaul sieh nicht ins Maul; oder, wie es die Abderiten gaben: Wo man umsonst ißt, wird immer gut gekocht. [...]
«Man sieht doch recht augenscheinlich, (sagten sie) was es auf sich hat, wenn die Künste an einem Orte aufgemuntert werden. Noch vor zwanzig Jahren hatten wir kaum zwei oder drei Poeten, von denen, außer etwa an Geburtstagen oder Hochzeiten, kein Mensch Notiz nahm. Jetzt, seit den zehn bis zwölf Jahren daß wir ein eignes Theater haben, können wir schon über sechshundert Stücke, groß und klein in einander gerechnet, aufweisen, die alle auf Abderitischem Grund und Boden gewachsen sind.» [...]
Damals, als ihnen der kleine Verdruß mit dem Arzt Hippokrates zustieß, waren unter einer ziemlichen Anzahl von Theaterdichtern, welche Handwerk davon machten, (die Freiwilligen nicht gerechnet) vornehmlich zwei im Besitz der höchsten Gunst des Abderitischen Publikums. Der eine machte Tragödien und eine Art Stücke, die man jetzt komische Opern nennt; der andere, namens Thlaps, fabrizierte eine Art von Mitteldingen, wobei einem weder wohl noch weh geschah, wovon er der erste Erfinder war, und die deswegen nach seinem Namen Thlapsödien genannt wurden. Der erste war eben der Hyperbolus, dessen schon zu Anfang dieser eben so wahrhaften als wahrscheinlichen Geschichte als des berühmtesten unter den Abderitischen Dichtern gedacht worden ist. Er hatte sich zwar auch in den übrigen Gattungen hervorgetan; die außerordentliche Parteilichkeit seiner Landsleute für ihn hatte ihm in allen den Preis zuerkannt: und eben dieser Vorzug erwarb ihm den hochtrabenden Zunamen Hyperbolus; denn von Haus aus hieß er Hegesias. Der Grund, warum dieser Mensch ein so besondres Glück bei den Abderiten machte, war der natürlichste von der Welt – nämlich eben der, weswegen er und seine Werke an jedem andern Orte der Welt als in Abdera ausgepfiffen worden wären. Er war unter allen ihren Dichtern derjenige, in welchem der eigentliche Geist von Abdera, mit allen seinen Idiotismen und Abweichungen von den schönern Formen, Proportionen und Lineamenten der Menschheit, am leibhaftesten wohnte; derjenige, mit dem alle übrigen am meisten sympathisierten; der immer alles gerade so machte wie sie es auch gemacht haben würden, ihnen immer das Wort aus dem Munde nahm, immer das eigentliche Pünktchen traf wo sie gekitzelt sein wollten; mit Einem Worte, der Dichter nach ihrem Sinn und Herzen: und das nicht etwa kraft eines außerordentlichen Scharfsinns, oder als ob er sich ein besondres Studium daraus gemacht hätte, sondern lediglich, weil er unter allen seinen Brüdern im Marsyas am meisten – Abderit war. Bei ihm durfte man sich darauf verlassen, daß der Gesichtspunkt, woraus er eine Sache ansah, immer der schiefste war woraus sie gesehen werden konnte; daß er zwischen zwei Dingen allemal die Ähnlichkeit gerade da fand, wo ihr wesentlichster Unterschied lag; daß er je und allezeit feierlich aussehen würde wo ein vernünftiger Mensch lacht, und lachen würde wo es nur einem Abderiten einfallen kann zu lachen, usw. Ein Mann, der des Abderitischen Genius so voll war, konnte natürlicher Weise in Abdera alles sein was er wollte. [...]
Ungeachtet ihn die Abderiten wegen des Bombasts seiner Schreibart ihren Äschylus zu nennen pflegten, so wußte er sich selbst doch nicht wenig mit seiner Originalität. «Man weise mir», sprach er, «einen Charakter, einen Gedanken, ein Gefühl, einen Ausdruck, in allen meinen Werken, den ich aus einem andern genommen hätte!» – «Oder aus der Natur», setzte Demokrit hinzu. – «O! (rief Hyperbolus) was das betrifft, das kann ich Ihnen zugeben, ohne daß ich viel dabei verliere. Natur! Natur! Die Herren klappern immer mit ihrer Natur, und wissen am Ende nicht was sie wollen. Die gemeine Natur – und die meinen Sie doch – gehört in die Komödie, ins Possenspiel, in die Thlapsödie, wenn Sie wollen! Aber die Tragödie muß über die Natur gehen, oder ich gebe nicht eine hohle Nuß darum.» Von den seinigen galt dies im vollesten Maß. So wie seine Personen hatte nie ein Mensch ausgesehen, nie ein Mensch gefühlt, gedacht, gesprochen noch gehandelt. Aber das wollten die Abderiten eben – und daher kam es auch, daß sie unter allen auswärtigen Dichtern am wenigsten aus dem Sophokles machten. [...]
Wie aber die menschliche Unbeständigkeit sich an allem, was in seiner Neuheit noch so angenehm ist, gar bald ersättiget, so fingen auch die Abderiten bereits an es überdrüssig zu werden, daß sie immer und alle Tage gar schön finden sollten, was ihnen in der Tat schon lange gar wenig Vergnügen machte: als der junge Thlaps auf den Einfall kam, Stücke aufs Theater zu bringen, die weder Komödie noch Tragödie noch Posse, sondern eine Art von lebendigen Abderitischen Familiengemälden wären; wo weder Helden noch Narren, sondern gute ehrliche hausgebackne Abderiten auftreten, ihren täglichen Stadt- Markt- Haus- und Familiengeschäften nachgehen, und vor einem löblichen Spektatorium gerade so handeln und sprechen sollten, als ob sie auf der Bühne zu Hause wären, und es sonst keine Leute in der Welt gäbe als sie. Man sieht, daß dies ungefähr die nämliche Gattung war, wodurch sich Menander in der Folge so viel Ruhm erwarb. Der Unterschied bestand bloß darin: daß er Athener, und jener Abderiten auf die Bühne brachte, und daß er Menander, und jener Thlaps war. Allein da dieser Unterschied den Abderiten nichts verschlug, oder vielmehr gerade zu Thlapsens Vorteil gereichte: so wurde sein erstes Stück in dieser Gattung mit einem Entzücken aufgenommen, wovon man noch kein Beispiel gesehen hatte. Die ehrlichen Abderiten sahen sich selbst zum ersten Mal auf der Schaubühne in puris Naturalibus, ohne Stelzen, ohne Löwenhäute, ohne Keule, Zepter und Diadem, in ihren gewöhnlichen Hauskleidern, ihre gewöhnliche Sprache redend, nach ihrer angebornen eigentümlichen Abderitischen Art und Weise leiben und leben, essen und trinken, freien und sich freien lassen, usw. und das war eben was ihnen so viel Vergnügen machte. Es ging ihnen wie einem jungen Mädchen, das sich zum ersten Mal in einem Spiegel sieht; sie konntens gar nicht genug bekommen."
(Wieland: Die Abderiten)

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