09 Dezember 2016

Der Schatten des Esels: Oberpriester Strobylus und Salabanda

Die Vorgeschichte

6. Kapitel 
Verhältnis des Latonentempels zum Tempel des Jason. Kontrast in den Charakteren des Oberpriesters Strobylus und des Erzpriesters Agathyrsus. Strobylus erklärt sich für die Gegenpartei des letztern, und wird von Salabanda unterstützt, welche eine wichtige Rolle in der Sache zu spielen anfängt. 

Der Dienst der Latona war (wie Strobylus den Euripides versichert hatte) so alt zu Abdera, als die Verpflanzung der Lycischen Kolonie; und die äußerste Einfalt der Bauart ihres kleinen Tempels konnte als eine hinlängliche Bekräftigung dieser Tradition angesehen werden. So unscheinbar dieser Latonentempel war, so gering waren auch die gestifteten Einkünfte seiner Priester. Wie aber die Not erfindsam ist, so hatten die Herren schon von langem her Mittel gefunden, zu einiger Entschädigung für die Kargheit ihres ordentlichen Einkommens, den Aberglauben der Abderiten in Kontribution zu setzen; und da auch dieses nicht zureichen wollte, hatten sie es endlich dahin gebracht, daß der Senat (weil er doch von keiner Besoldungszulage hören wollte) zu Unterhaltung des geheiligten Froschgrabens gewisse Einkünfte aussetzte, deren größten Teil die genügsamen und billig denkenden Frösche ihren Versorgern überließen. [...]
Aus so entgegen gesetzten Gemütsarten und aus so vielen Veranlassungen zu Neid und Eifersucht auf Seiten des Priesters Strobylus, entsprang notwendig bei beiden ein wechselseitiger Haß, der den Zwang, den ihnen ihr Stand und Platz auferlegte, mit Mühe ertrug, und nur darin verschieden war, daß Agathyrsus den Oberpriester zu sehr verachtete, um ihn sehr zu hassen, und dieser jenen zu sehr beneidete, um ihn so herzlich verachten zu können als er wohl gewünscht hätte. Zu diesem allen kam noch, daß Agathyrsus, kraft seiner Geburt und ganzen Lage, für die Aristokratie, Strobylus hingegen, ungeachtet seiner Verhältnisse zu einigen Ratsherren, ein erklärter Freund der Demokratie, und nächst dem Zunftmeister Pfriem derjenige war, der durch seinen persönlichen Charakter, seine Würde, seine schwärmerische Hitze, und eine gewisse populare Art von Beredsamkeit den meisten Einfluß auf den Pöbel hatte. Man sieht nun leicht voraus, daß die Sache mit dem Eselsschatten oder Schattenesel notwendig eine ernsthafte Wendung nehmen mußte, so bald ein paar Männer wie die beiden Hohenpriester von Abdera darein verwickelt wurden. [...]
Allein er war nun einmal in die Sache verwickelt; seine Ehre war dabei betroffen; er empfing täglich und stündlich Nachrichten, wie unziemlich der Zunftmeister und der Priester Strobylus mit ihrem Anhang wider ihn loszögen, wie sie drohten, wie übermütig sie die Sache durchzusetzen hofften, und dergleichen – und dies war mehr als es brauchte, um ihn dahin zu bringen, daß er seine ganze Macht anzuwenden beschloß, um Gegner, die er so sehr verachtete, zu Boden zu werfen, und für die Verwegenheit, sich gegen ihn aufgelehnt zu haben, zu züchtigen. Der Kabalen der Dame Salabanda ungeachtet (die nicht fein genug gesponnen waren, um ihm lange verborgen zu bleiben), war der größte Teil des Senats auf seiner Seite; und wenn gleich seine Gegner nichts unterließen, was das Volk gegen ihn erbittern konnte, so hatte er doch, zumal unter den Zünften der Gerber, Fleischer und Bäcker, einen Anhang von derben stämmichten Gesellen, die eben so hitzig vor der Stirne als nervig von Armen, und auf jeden Wink bereit waren, für ihn und seine Partei, je nachdem es nötig wäre, zu schreien oder zuzuschlagen. [...]
Man bemerkte indessen, daß bei weitem der größte Teil der Abderitinnen sich für den Erzpriester erklärte; und wo in einem Hause der Mann ein Schatten war, da konnte man sich darauf verlassen, die Frau war eine Eselin, und gemeiniglich eine so hitzige und unbändige Eselin, als man sich eine denken kann. Unter einer Menge teils heilloser teils lächerlicher Folgen dieses Parteigeistes, der in die Abderitinnen fuhr, war keine der geringsten, daß mancher Liebeshandel dadurch auf einmal abgebrochen wurde, weil der eigensinnige Seladon lieber seine Ansprüche als seine Partei aufgeben wollte; so wie hingegen auch mancher, der sich schon Jahre lang vergebens um die Gunst einer Schönen beworben und ihre Antipathie gegen ihn durch nichts, was gewöhnlich von einem unglücklichen Liebhaber versucht wird, hatte überwinden können, jetzt auf einmal keines andern Titels bedurfte um glücklich zu werden, als seine Dame zu überzeugen daß er – ein Esel sei. [...]
8. Kapitel 
Gute Ordnung in der Kanzlei von Abdera. Präjudizialfälle, die nichts ausmachen. Das Volk will das Rathaus stürmen, und wird von Agathyrsus besänftigt. Der Senat beschließt, die Sache dem großen Rat zu überlassen. 

Die Kanzlei der Stadt Abdera – weil es doch die Gelegenheit mit sich bringt, ihrer hier mit zwei Worten zu erwähnen – war überhaupt so gut eingerichtet und bedient, als man es von einer so weisen Republik erwarten wird. Indessen hatte sie doch mit vielen andern Kanzleien zwei Fehler gemein, über welche zu Abdera schon seit Jahrhunderten fast täglich Klage geführt wurde, ohne daß jemand auf den Einfall gekommen wäre: ob es nicht etwa möglich sein könnte, dem Übel auf eine oder andre Weise abzuhelfen? Das eine dieser Gebrechen war, daß die Urkunden und Akten in einigen sehr dumpfen und feuchten Gewölben verwahrt lagen, wo sie aus Mangel der Luft verschimmelten, vermoderten, von Schaben und Würmern gefressen, und nach und nach ganz unbrauchbar wurden; das andre, daß man, alles Suchens ungeachtet, nichts darin finden konnte. So oft dies begegnete, pflegte irgend ein patriotischer Ratsherr, meistens mit Beistimmung des ganzen Senats, die Anmerkung zu machen: «Es komme bloß daher, weil keine Ordnung in der Kanzlei gehalten werde.» In der Tat ließ sich schwerlich eine Hypothese erdenken, vermittelst welcher diese Erscheinung auf eine leichtere und begreiflichere Weise zu erklären gewesen wäre. Daher kam es nun, daß fast allemal, wenn bei Rat beschlossen wurde daß in der Kanzlei nachgesehen werden sollte, jedermann schon voraus wußte und meistens sicher darauf rechnete, daß sich nichts finden würde. Und eben daher kam es auch, daß die gewöhnliche Erklärung, die bei der nächsten Ratssitzung erfolgte, «es habe sich, alles Suchens ungeachtet, nichts in der Kanzlei gefunden», mit der kaltsinnigsten Gelassenheit, als eine Sache die man erwartet hatte und die sich von selbst verstand, aufgenommen wurde. [...]
Indessen hatte der Auflauf, der hierdurch verursacht wurde, eine Anzahl Esel herbei gerufen, die den Herren von ihrer Partei mit Knitteln, Feuerzangen, Hämmern, Fleischmessern, Mistgabeln, und dem ersten dem besten was ihnen in die Hände gefallen war, zu Hülfe kommen wollten: und wiewohl sie von den Schatten bei weitem übermehrt waren; so trieb sie doch ihre Herzhaftigkeit und die Verachtung, womit sie die ganze Partei der Schatten ansahen, die wörtlichen Beleidigungen mit so nachdrücklichen Hieben und Stößen zu erwidern, daß es blutige Köpfe absetzte, und das Handgemeng in wenig Augenblicken allgemein wurde. Bei so gestalten Sachen war nun freilich in der Ratsstube nichts andres zu tun, als einhellig zu beschließen: daß man, lediglich aus Liebe zum Frieden und um des gemeinen Besten willen, für diesmal citra praejudicium sich gefallen lassen könne, daß der Handel wegen des Eselsschattens vor den großen Rat gebracht, und der Entscheidung desselben überlassen würde.  [...]

(Wieland: Die Abderiten, 2. Teil 4. Buch 6.-8. Kapitel)

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