28 Oktober 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.6-8) Schule, Kurbetrieb, die zwei Welten

Sechstes Kapitel 
Den Zwang und Kerker der Schule konnte man freilich nicht ausschalten. Im Winter war der Schulweg bis auf Prügeleien und Schneeballschlachten ohne Belang. Im Sommer wurde er dadurch gewürzt, daß wir am geöffneten Kurtheater vorbei mußten. Es war ein Holzbau, äußerlich eine verwitterte Bretterbaracke, die mein Großvater, wie auch Brunnen- und Elisenhalle, Annaturm und anderes, durch seinen Freund und Maler-Architekten Josef Friedrich Raabe, der zu Goethe in engen Beziehungen stand, hatte errichten lassen. Wenn wir zur Schule gingen, waren meist Proben, und vor den Eingängen standen die Schauspieler. Was im Theater selbst vorgehen mochte, blieb uns Kindern lange ein Mysterium; um so wilder wucherten die Gerüchte. Einst wurde mir ein Jüngling gezeigt, der heute sein Benefiz hatte. Was sollte das sein: Benefiz? Etwas Furchtbares sicherlich. Ohne es zu ahnen, kamen wir der altgriechischen Ritualbühne und den Gepflogenheiten des römischen Kolosseums in unsren Gedanken sehr nahe, denn uns war der Jüngling todgeweiht. Es hieß, er müsse am Abend zum Schluß des Stückes sich selber erstechen, oder er werde hingerichtet. Diese Sache erschien mir selbstverständlich. Von einem flüchtigen Gruseln abgesehen, nahm ich sie hin, als ob man gesagt hätte, morgen werden uns in der Schule Bibelsprüche abgehört. [...] 
Am Schluß der Stunde sang man: »Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen!« Wir setzten stillschweigend hinzu: dafür, daß die Schule zu Ende ist. Nie jauchzte ein tiefer gefühlter Dank zum Himmel. Mit dem letzten Ton brausten wir auf die Straße. [...] 
Eines Tages auf dem Nachhausewege wurde mir Carls Betragen überaus wunderlich. Aus der Schule getreten, suchte er sogleich einen Ruheplatz, dann einen zweiten. Der Posthof, ein Kastanienhain, war mit hängenden Ketten zwischen niedrigen Granitpfeilern eingefaßt: Carl suchte auf einer der Ketten Ruhe. Dann kam die Straße mit mehreren Prellsteinen: er schleppte sich von Prellstein zu Prellstein fort. So sind wir allmählich nach Hause gelangt. Eine halbe Stunde später erfuhr ich, daß meinen Bruder eine schwere Krankheit befallen habe. Die Mutter weinte und stellte sich den denkbar schlimmsten Ausgang vor. Der Vater war ernst: man müsse sich auf alles gefaßt machen, nur Gott könne wissen, ob wir Carl behalten würden oder nicht. Aber dennoch: er hoffe zu Gott. Ich erlebte nun eine Reihe sorgenvoller Tage und auch Nächte mit, da ich zuweilen von meiner Schwester Johanna, als gelte es, von meinem Bruder Abschied zu nehmen, geweckt wurde oder auch von den Geräuschen erwachte, die, da eigentlich niemand im Hause schlief, die ganze Nacht nicht aufhörten. Mein Vater zog außer meinem Onkel, Doktor Straehler, noch einen älteren Arzt, Doktor Richter, ein ortsbekanntes Original, hinzu. Wenn mein Bruder die Krankheit – es handelte sich um eine Lungenentzündung – dann überstand, so retteten ihn, wie mein Vater wenigstens annahm, seine Ratschläge. Tagelang verbrachte Carl im Zustand der Bewußtlosigkeit. Barbier Krause, ein zweiter Krause, zugleich Heilgehilfe, wie es damals üblich war, der seine Stube in einem kleinen Anbau schrägüber von der Schenkstube hatte, setzte Schröpfköpfe und operierte mit Blutegeln. Die Krankenstube betrat ich nicht. Meine Schwester und meine Mutter müssen mich von dem, was dort geschah, unterrichtet haben. Der Kranke, von schrecklichen Phantasien geplagt, sah Reihen von Leichnamen, die unter dem Gasthof zur Krone bestattet waren. Als der brave Barbier ihm Schröpfköpfe setzte, rang er seine Hände zum Himmel, und indem er sich beklagte, in was für Hände er gefallen sei, gab er sich selbst die tragikomische Antwort: in Bierhände. Es kam die Krisis und damit der große und befreiende Augenblick, als plötzlich das Fieber gesunken war und Doktor Richter erklären konnte, die Gefahr sei nach Menschenermessen vorüber. Es ist natürlich, daß meine Mutter mich unter Freudentränen in die Arme schloß. Aber auch mein Vater, von dem ich bis dahin ebensowenig glaubte, daß er lachen wie daß er weinen könne, nahm seine Brille ab und tupfte sich mit dem Tuche die Augen. Als man den Kranken, der mit seltsamer Klarheit seinen eigenen Zustand verfolgt hatte, von dem glücklichen Umschwung verständigte, ergriff ihn eine glückselige Erschütterung. Wir mußten alle zu ihm hineinkommen: »Vater, Vater, ich bin gerettet! Gerhart, denk doch, ich bin gerettet! Mutter, Mutter, ich bin gerettet! Hannchen, hörst du, ich bin gerettet!« wiederholte er, uns die Hände, so gut es gehen wollte, entgegenstreckend, in einem fort. Es hieß so viel: ich darf wieder bei euch bleiben.
Bei diesem Anlaß, der mich wohl zum erstenmal in ein andres als mein eignes Schicksal verwickelte, wurde mir deutlich, welche Fülle verborgener Liebe unter dem so gleichmäßig nüchternen Wesen eines Vaters, einer Mutter beschlossen liegen kann. Von diesen unsichtbaren Kräften und Verbundenheiten hatte ich bis dahin nichts gewußt. Fast befremdeten sie mich, als sie zutage traten, da sie scheinbar über mich hinweggingen, meinem Bruder und nicht mir galten. Und so wurde mir nicht ohne eine gelinde Bestürzung klar, daß mein Bruder nicht nur mein Bruder, sondern der Sohn meiner Eltern war und wie groß der Anteil werden konnte, den ich ihm von ihrer Liebe abtreten mußte. [...]


Siebentes Kapitel 
Mein Großvater, wurde gesagt, war Bade- oder Brunneninspektor. Er war also gleichsam ein souveräner Herr des Kurbetriebes mit allen seinen vorhandenen Anstalten: voran dem Brunnen, seiner Bedienung, seinem Ausschank und seinem Versand, der Pflege der Elisenhalle und der Vermietung ihrer Verkaufsläden, dem Kursaal, seiner Verpachtung und seinem Betrieb, den gärtnerischen Anlagen der Promenaden und der Pflege des Parks, der Kurkapelle und dem Theater. Wo er nicht ganz befahl, war dennoch sein Einfluß maßgebend. Ich glaube, er besaß auf dem fürstlich-plessischen Kurgebiet sogar Polizeigewalt. [...]

Achtes Kapitel 
Die Jahre bis zur Vollendung des zehnten sind Schöpfungsjahre in jedem Sinn, und sie enthalten Schöpfungstage. Das Kind ist in dieser Spanne Zeit sein eigener geistiger Schöpfer und Weltschöpfer. So war denn auch ich der Demiurg meiner selbst und der Welt. Aber wie gesagt, sieben Tage genügten mir nicht, denn ich hatte deren bis zum Beginn des siebenten Jahres bereits zweitausendeinhundertneunzig nötig gehabt. Die Sonne ging auf, und ein neuer Schöpfungstag meiner selbst und der Welt begann. Vielfach ging ich darin wie ein Künstler vor, der sich durch provisorische Formgebung dem vollendeten Ganzen annähert.   Die immer wiederkehrende Mahnung meines Vaters sowie meiner Mutter lautete: »Gerhart, träumere nicht!« oder: »Träume nicht!« Es betraf dies natürlich die Zeiten des Ausruhens, wenn mein Bewegungsdrang in der freien Luft nicht mehr weiterzutreiben war. In der Tat, ich versann mich bei jeder Gelegenheit, so daß man die Frage immer wieder mit Recht an mich richten konnte: »Komm zu dir! Wo bist du denn?!« Ich versann mich etwa, wenn ich vor der Zeit meines ersten Schulgangs, das Kinn in die Hände gestützt, am Fenster lag und auf den fernen Hochwald starrte, den heiligen Berg, hinter dem die Welt zu Ende war und von dessen Spitze aus man in den Himmel stieg. Dieser Berg und seine Bestimmung waren mir immer wieder anziehend. Wenn nicht ich selbst, so ist mein Geist von dort aus unzähligemal in den selbstgeschaffenen Himmel gestiegen und hat sich mit der Rätselfrage der Weltbegrenzung abgemüht. Dabei erwog ich die menschliche und meine eigene Einsamkeit, die ich schon sehr früh erkannt habe. Die unbegreifliche Größe des Schicksals erfüllte mich, solange ich ihr nachhing, mit einer schauervollen Beklommenheit. Ich fragte mich: Wie rettet man sich aus der eigenen Verlassenheit? Halte dich an Vater und Mutter! – Vater und Mutter teilen dieselbe Verlassenheit und Verlorenheit! – Wende dich an Bruder und Schwester, die Tausende und Tausende deiner Mitmenschen! Und nun gab ich die Antwort mir selber mit einem Bilde aus meiner bildgenährten Traumes- und Vorstellungswelt: die Gesamtheit der Menschen sah ich als Schiffbrüchige auf einer Eisscholle ausgesetzt, die von einer Sintflut umgeben war. Kinder in den frühesten Bewußtseinsjahren nach der Geburt fühlen vielleicht stärker als Erwachsene das Rätsel, in das sie versetzt worden sind, und bringen vielleicht von dort, wo sie kurze Zeit vorher noch gewesen sind, Ahnungen mit. [...]
Ich hatte die Masern. Ich war glücklich darüber, denn ich brauchte ja nicht zur Schule zu gehen. [...]
Es wurde bereits gesagt, daß ich sowohl in der bürgerlichen Welt wie in der des damals so genannten niederen Volkes zu Hause war. In dieser Beziehung glich ich entfernt dem Euphorion, da ich mich immer wieder von der einen zur anderen hinab- und von jener zu dieser emporbewegte. In gewissem Sinne ging dies Auf und Ab immer höher hinauf, immer tiefer hinunter: etwa von der Réunion im kleinen Blauen Saal, wo sich die Elite der Badegesellschaft, Adel, Schönheit, Reichtum, Jugend, zusammenfand, irgendein namhafter Pianist sich hören ließ, von Beethoven, Liszt, Chopin und andern großen Künstlern gesprochen und dabei Champagner, Mandelmilch, Sorbet und anderes getrunken wurde, bis zu einer gewissen Treppe Unterm Saal, wo arme Frauen, Töpfe im Arm, stundenlang anstanden bis zur Küchentür und auf Abfälle warteten. Und was die Breite meiner Euphorionbewegung betrifft und die Antäuspunkte ihrer Absprünge, so lagen diese bald in der vorderen, bald in der hinteren Welt, die durch den Hauptbau des Gasthofs getrennt wurden und von denen die eine die der glücklich Genießenden, die andere die der Arbeit, der Sorge, des Verzichtes, der Verzweiflung war. Ohne die Sonnenseite des Daseins vor der Fassade des Hauses scheel anzusehen, rechnete ich mich doch durchaus zur andern Partei, die gewissermaßen im Schatten lebte. Wieder und wieder stürzte ich mich ins Licht, doch nie, ohne bald in den Schatten zurückzukehren.   Meine Träumereien, wachend wie schlafend, tags wie nachts, mochten vom Niederschlag meiner Erfahrungen gespeist werden, aber sie gingen weit darüber hinaus. Jägerszenen, Kämpfe mit Bären, Gegenwärtigsein bei sterbenden und gestorbenen Menschen, meine Eltern als Geister wiederkehrend, Fliegen ohne Flügel, wie ich oft im Traume tat, das konnte mit keiner meiner Erfahrungen irgend etwas zu tun haben.
(Gerhart HauptmannDas Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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