31 Oktober 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.18-20) Tod des Großvaters, Streit der Eltern, Krieg, Theater


Achtzehntes Kapitel
[...] Etwas unter einem leinenen Bettuch Verborgenes hatte für mich eine schauerliche Anziehungskraft. Man deckte es ab, und ich sah eine mir zunächst unverständliche Masse, die langsam durch einen Fuß, durch eine gelbe runzlige Hand, durch etwas Haupthaar und Ohr als menschliche Form zu erkennen war. Es waren die irdischen Reste meines Großvaters. Man hatte den Toten mit großen Blöcken Eises umlegt. Ich war nicht gerührt. Hätte meine Empfindung Ausdruck gefunden, vielleicht würde es durch ein befremdetes Kopfschütteln geschehen sein. Ich war wirklich ganz ein befremdetes Kopfschütteln. Die tote Masse, die da lag, zwischen Eisstücken – konnte sie mein Großvater sein und gewesen sein? Das war er gewesen, er, dessen stolze Gleichgültigkeit mich verletzt, dessen ganze Erscheinung mir aber doch Ehrfurcht erweckt hatte? Also das war unser aller Los! Man hatte wohl Grund, sich das gegenwärtig zu halten.   Die Stunden darauf vereinigten äußerste Aktivität im Spiel und verschwiegene Meditationen, wie denn vielleicht überhaupt Träumerei und Aktivität vielfach verbunden sind. Es gab einen rötlich gestrichenen hohen Karren mit zwei Rädern in unserm Hof. Ich bespannte ihn mit etwa acht Jungens zu vier und vier und stand, eine Peitsche schwingend, darauf. Ein Wirrsal von Zuckerschnüren ersetzte die Zügel. So rasten wir polternd über die Dorfstraße, rasten in den Posthof hinein, wo die Roßkastanien mit dem Gold ihrer Blätter den Boden verdeckt hatten und braune Früchte in Menge herumlagen. Dort beluden wir, von Sonnenschein und Herbstfrische belebt, unsern Karren mit Laub, um ich weiß nicht was damit auszurichten. Und nun rasten wir wieder dorthin, wo wir herkamen. Äußerlich war es für mich ein herrlicher Rausch. Im Innern jedoch hatte sich eine ungesuchte Erkenntnis wie ein Pfeil eingebohrt, ein Zustand, der sich nicht ändern konnte. Den Pfeil zu entfernen, die Wunde zu heilen, gab es keine Möglichkeit. Eigentlich zum erstenmal hatte ich den Gedanken des unabwendbaren Todes mit mir selbst in Verbindung gebracht. Du entrinnst, stelle dich, wie du willst, so sprach eine Stimme in mir, dem Ende deines hochmögenden Großvaters nicht: er reichte einer Zarin den Mundbecher, aber das rettete ihn keineswegs vor dem Schicksal, das eben das allgemeine ist. Schiebe es noch so lange hinaus, suche es noch so sehr zu vergessen, lenke dich tausendfältig in die Fülle und den Reichtum des Lebens ab: eines Tages wird es auch dir unabwendbare Gegenwart. Du kannst es keinem andern zuschieben, du mußt dabeisein, du ganz persönlich. Und wenn du auch hundert Jahre alt würdest, geht es am Ende nicht ohne dich. Du wirst atmen, leben und leben wollen wie jetzt, dann wird es heißen: leg weg, was du in Händen hast, ein Stück Brot, eine Handvoll Zuckerschnüre, oder was es auch immer sei, es ist aus, du mußt fort – mußt sterben. Und das Sterben wie das Leben wirst du hinnehmen müssen als Gegenwart. An meinem letzten Geburtstag, den ich vor wenigen Tagen gefeiert hatte, standen acht brennende Jahreslichter um den obligaten Streuselkuchen herum. Alles in diesen Blättern Erzählte lag hinter mir, ja unendlich viel mehr, was einigermaßen erschöpfend mitzuteilen Menschenkraft übersteigen würde. Durch fünf von diesen acht Jahren war ich gleichsam mit fliegendem Haar hindurchgestürmt, hatte gelacht, geweint, gerast, gelitten, gekämpft, und was noch sonst. Aber über alles siegte der innere, fließende Strom von Lebenslust. Unbequemes und Unangenehmes wurde mit einer Bewegung ähnlich der eines Fohlens, wenn es, die Mähne um sich werfend, eigensinnig davongaloppiert, abgeschüttelt.
Nun aber, seit Großvaters Tode, gelang dies mitunter so ganz nicht mehr. [...]
Mich mit den Angelegenheiten der Erwachsenen ernstlich zu beschäftigen, bestand bisher keine Notwendigkeit. Es war selbstverständlich, daß meine Eltern, menschliche Götter, in jeder Beziehung für mich sorgten. Zweifel an der gesicherten Macht und Kraft, aus der sie es taten und tun mußten, bestanden nicht. Auf dem Wege von Lohnig nach Striegau, in der Landkutsche, ging mir zum erstenmal meine Verbundenheit mit einer großen Volksgemeinschaft auf, von deren Wohl und Wehe mein eigenes nicht zu trennen war. Und mehr als das: nämlich so weit verbreitet, so zahlreich, so stark und wehrhaft diese Volksgemeinschaft war, sie war verletzlich, sie konnte in Frage gestellt, ja zerstört werden. Die gewohnheitsmäßigen, fortlaufenden Knabensorgen störten mich nicht, sie gehörten zu meiner Persönlichkeit. Nun aber wurde ich in die allgemeine Sorge um Volk und Vaterland hineingezogen, und etwas mir bisher ganz Fernes und Fremdes belastete mich. Diese befremdlichen Düsternisse im Raume meines Gemüts wurden bald vom Fanfarengeschmetter der Siege aufgelöst. Feuerwerke, Raketen, Leuchtkugeln, Sonnen stiegen immerwährend, sogar am hellichten Tage, empor, als gälte es, der natürlichen Sonne am Himmel den Rang abzulaufen. Jetzt aber, nach dem Tode des Großvaters, erwies sich ein anderer Boden, dessen unantastbare Festigkeit ich als selbstverständlich vorausgesetzt hatte, als nicht ganz so fest und nicht ganz so tragfähig. Und ich sah mich abermals gezwungen, fremde Angelegenheiten, solche erwachsener Menschen, meiner eigenen Eltern sogar, in gewissem Betracht zu den meinen zu machen. Vom Begräbnis des Großvaters weiß ich nichts, verständigermaßen wurde ich ganz und gar davon ferngehalten. Auch weinte sich meine Mutter nicht vor uns Kindern aus. Dann kam die Eröffnung des Testaments, von der wir erfuhren und über die wir Geschwister uns allerlei spannende Dinge zutuschelten. Wir fühlten bald, daß zugleich zwischen Vater und Mutter eine Spannung eingetreten war, die sich bei meinem Vater als Zurückhaltung, ja als Kälte äußerte. Er verabscheute Heuchelei. Die Trauer aber um den alten, steifen, unversöhnlichen Schwiegervater kann bei ihm nicht sehr tief gewesen sein.   Der Eröffnung des Testaments beizuwohnen, hatte mein Vater, wie ich im Nebenzimmer hören konnte, erregt und beinahe mit Verachtung abgelehnt, worauf meine Mutter weinend allerlei, was ich nicht verstehen konnte, antwortete. Es fielen Ausdrücke wie Leichenfledderei, die der Krieg populär gemacht hatte. Er treibe sie nicht, so sagte mein Vater, er entwürdige sich nicht durch Leichenfledderei. Kurz, meine Mutter mußte allein gehen, da sie doch ihre Interessen nicht unvertreten lassen konnte. Ich verhielt mich mäuschenstill in der Vier, als die Mutter am späten Nachmittag aus dem Dachrödenshof zurückkehrte und in der Drei auf den Vater traf. Sie hatte ihm, wie sie uns später einmal erzählte, eine Schürze voll Gold im Werte von tausend Talern nicht ohne einige Freude und einigen Stolz mitgebracht. Ich hörte zunächst, wie mein Vater äußerst erregt die Worte »Behaltet euch euren Mammon!« der Mutter entgegenschleuderte, und dann das Fallen, Klingen und Rollen von Geld.
Ich weiß nicht, was meine Mutter, verwundet und verletzt, wie sie sein mußte, geantwortet hat, sie muß aber auch bei ihm eine wunde Stelle berührt haben. Vielleicht schob sie ihm unter, daß ihm die Summe zu gering wäre.
Jedenfalls brach die Entrüstung meines Vaters ungehemmt und in einer nie gehörten Weise aus, die mich zittern machte. Man fühlte, wie sich jahrzehntelang verletzter Stolz aufbäumte und in Machtlosigkeit der Empörung überschlug. Eine unüberbrückbare Kluft zwischen meiner Mutter und meinem Vater tat sich auf, von deren Vorhandensein in meine glückliche Daseinsform kaum der Schatten einer Vermutung gefallen war. Das Ganze war in einer langen Reihe von Punkten eine Anklage gegen die Familie meiner Mutter. Hauptsächlich warf er ihr Hochmut, Dünkel in jeder Form, Herzenskälte und was nicht noch alles vor. Am Ende des sich furchtbar steigernden Wortwechsels brach meine Mutter wieder in Tränen aus. Weinend warf sie dem Vater vor, er habe ihr vor der Hochzeit fest versprochen, den Gasthof zur Krone binnen höchstens zwei Jahren zu verkaufen. Er habe dieses Versprechen nicht eingelöst und sie diesem Moloch geopfert. Sie hasse das Haus, sie verfluche das Haus. Sie habe ihren Abscheu vor dem ganzen Gasthauswesen klar und deutlich ohne jeden Rückhalt ihm immer und lange vor der Ehe zum Ausdruck gebracht. Sie habe es sich aber lange nicht schlimm genug gedacht, es sei alles noch sehr viel schlimmer gekommen. Es habe ihre Liebe zerstört, ihre Ehe zerstört. Das wolle heißen: ihr Glück zerstört. »Oder«, fuhr sie dann immer weinend fort, »willst du behaupten, daß ein Familienleben in diesem Marterkasten möglich ist? Im Sommer stecke ich die Nase nicht aus der Küche heraus; sehe ich dich oder höre ich dich, ist es höchstens, wenn du mich oder jemand anders runterkanzelst. Du machst im Büro oder Salon den vornehmen Mann, und ich, angezogen wie eine Schlumpe, schäle in der Küche Kartoffeln oder pelle Schoten aus. Und wenn ich auf Ordnung halten will und die Leute, voran der Chef, mich angrobsen, gibst du nicht mir, sondern ihnen recht. Du speisest im Saal, Gerhart und Carl kriegen ihre Teller voll Essen in der Büfettstube. Ich sehe den ganzen Sommer keinen gedeckten Tisch« – meine Schwester Johanna war damals in einem Pensionat, mein Bruder Georg in Bunzlau auf der Realschule – »und im Winter ist es wie eben jetzt. Man hat sich den Sommer hindurch nicht einen Augenblick Ruhe gegönnt, bei dreißig Grad Hitze unter dem Glasdach der Küche halb tot geschunden, damit man im Winter schlaflose Nächte in Sorgen und Ängsten hat. Du sitzt mit Gustav im Büro, ihr schreibt, ihr rechnet, ihr rechnet und schreibt, und wenn ihr noch so sehr rechnet und schreibt, ihr rechnet und schreibt die Schulden, die uns drücken, nicht weg und könnt die fälligen Zinsen nicht aufbringen. Dann nimmst du verstimmt mit mir und den Kindern dein bißchen Abendbrot und gehst mit Gustav in die Schenkstube. Du brauchst Zerstreuung, wie du sagst, ich bleibe allein in dem großen, zugigen, kalten Haus und mag sehen, wie ich mich mit meinen Gedanken, meinen Sorgen, meinen berechtigten Zukunftsängsten abfinde. Wenn du mich wenigstens einweihtest, aber du schweigst, du sagst mir nichts. Ich will deine Sorgen mit dir tragen, das Leben würde für mich viel leichter sein.« [...]

Neunzehntes Kapitel
»Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall!« sangen wir auf der Straße. Und überhaupt schwelgten wir Jungens in nationaler Begeisterung. Einen Spielkameraden hatten wir schon zu Anfang des Krieges rücksichtslos als Franzosen verfolgt, weil er mit einer Stürmermütze erschienen war, die an die Kopfbedeckung der Rothosen erinnerte. Wir kannten ihn und die Eltern des Jungen genau, wußten, daß es ein ebensoguter Deutscher war wie wir andern. Wir stießen ihn trotzdem einstimmig aus und verfolgten ihn, wo er auftauchte. [...]
Die Bismarckverehrung meines Vaters selbst war rückhaltlos, hatte er doch seine eigenen, vielfach zurückgestellten und verborgen gehaltenen Ideale von 1848 verwirklicht. Es lag aber auch ein Sieg des Gasthofs zur Preußischen Krone über den Dachrödenshof darin, der, inbegriffen den Oberamtmann Gustav Schubert auf Lohnig, die neue Zeit nicht von Herzen begrüßen konnte. Hie Bismarck, Deutsches Reich und deutscher Reichstag obendrein, dort Enge, Partikularismus, Konservativismus, kurz Dachrödenshof. In Bismarcks Größe und Erfolg lag meines Vaters Erfolg, Sieg und Rechtfertigung. [...]
Für Deutschland hatte die Kaiserkrönung in Versailles den Wert eines Schöpfungsakts. Es kam über unser Volk ein Bewußtsein von sich selbst. Es hatte sich selbst sich selber bewiesen, denn es hatte eine Reihe großer Männer, mit Bismarck an der Spitze, hervorgebracht, auf denen die Augen der Welt mit Staunen und Grauen, vor allem jedoch mit Bewunderung ruhten. Der Stolz auf sie, auf ihre Siege, die Siege des Volkes, teilte sich jedem, auch mir kleinem Jungen, mit, und ich stand nicht an, meinem Blute einen Anteil, ein Mitverdienst an solchen Erfolgen zuzuschreiben. Es hatte das durchaus nichts mit dem Zupfen der Scharpie zu tun, eines Verbandstoffes für die Verwundeten, das ich unter der Aufsicht meiner Mutter in Gemeinschaft der sonstigen Hausgenossen geübt hatte. Jedermann ahnte die nun kommende, ungeheure deutsche Aufschwungzeit, wenn er auch das Gnadengeschenk des kommenden, mehr als vierzigjährigen Friedens nicht voraussehen konnte. [...]

Zwanzigstes Kapitel 
In der Festlichkeit dieses Frühjahrs und Frühsommers geschah alles Wiederbegegnen auf neue Art. So das im Stall mit einem feurigen Rotschimmel, den mein Vater bei Beginn des Krieges hatte hergeben müssen. Er war aus dem Todesritt der Brigade Bredow, Ulanen und Kürassiere, bei Vionville/ Mars-la-Tour lebend hervorgegangen und wieder in unsern Stall gelangt. Er war für mich nun kein bloßes Pferd, sondern höchstens das eines Gottes oder eines Sankt Georgs, von heldischem Heroismus umwittert. Und besonders die Bilder im Großen Saal gewannen durch die allgemeine Festlichkeit an Festlichkeit. »Er blickt hinauf in Himmelsaun, wo Heldenväter niederschaun.« Die liebliche Raffaelische Madonna Sixtina gehörte ja dorthin. Und in dem andern Bilde, der großen Kreuzabnahme von Rembrandt van Rijn, stellte sich mir irgend etwas von göttlich-menschlichem Opfertode des Krieges dar, dem ich minutenlang nachhängen konnte. Eines Tages war dann die Kurkapelle aufgezogen und weckte mich zum ersten Male wieder um sieben Uhr früh mit ihrem Choral. Der Krause-Omnibus holte Menschen von der Bahnstation und schüttete sie im Hofe der Krone aus. Andere, nämlich die reicheren Leute, benützten Droschken und Lohnwagen. Nicht so sehr die von Osten kommenden als die von Nordosten, Norden, Nordwesten und Westen her eintreffenden Gäste waren erfüllt von dem neuen Geist, womöglich stärker erfüllt als wir. Meine Mutter war und blieb Dachrödenshof. Nicht, daß sie irgendwie meinen oder irgendeinen Enthusiasmus gestört hätte, sie sah und hörte nur lächelnd zu. Sie stand noch immer, wenig berührt, in der alten Zeit und sah in der neuen etwas, das einen gesicherten, stillen Verlauf des Lebens durch einen dramatischen ersetzte, dessen Ende nicht abzusehen war. [...]
Meine Mutter konnte nicht um Geld bitten, was überhaupt immer eine peinliche Sache ist. Sie erzog sich lieber zu einer fast sträflichen Anspruchslosigkeit. Nach der Erbschaft jedoch wurde ihr von meinem Vater der Erlös aus dem Verkauf des ausgekochten Suppenfleisches zugebilligt. In Würfel geschnitten, wurde es von meiner Mutter an arme Leute für ein Geringes weggegeben. Das solchermaßen verdiente Taschengeld meiner Mutter eröffnete ihr und mir wieder und wieder das Kurtheater. Ob sie im Todesjahr ihres Vaters hineingegangen ist, weiß ich nicht, ich möchte es aber für möglich halten, da sie Äußerlichkeiten, also zur Schau getragener Trauer, abhold war, und außerdem trieb sie, wenn sie ins Theater ging, einen ihrer Mutter geltenden Erinnerungskult: sie war eine geborene Stentzel, diese Mutter, in Breslau gebürtig und von Kind an auferzogen im Hause eines Fräuleins von Stutterheim. Vieles wurde von ihr erzählt und ihrer Theaterleidenschaft, besonders in einer Zeit, wo das Theater in Breslau florierte und alle Welt aus der Provinz tagelange Wagenfahrten nicht scheute, um einer Vorstellung beizuwohnen. Meine Großmutter Straehler muß eine freie, lebenslustige und keineswegs frömmelnde Persönlichkeit gewesen sein. Ein kluger, weltlicher, reger Geist mag bei ihr überwogen haben. »Die schöne Galathea«, im Sperrsitz neben meiner Mutter genossen, machte einen großen Eindruck auf mich: ein phantastisches Bildwerk, ein Weib, in das sich sein Meister verliebt, das lebendig wird und das er verzweifelt wieder zerschlägt, weil es ihn durch Untreue unglücklich macht. Vielleicht geht meine spätere Liebe zur Plastik in etwas auf dieses Werk von Suppé zurück. [...]

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