30 Dezember 2017

Paul Schlenther: Gerhart Hauptmann

Paul Schlenther: Gerhart Hauptmann, 1912

Es ist nicht ohne Interesse, Paul Schlenthers Darstellung der Jugend Gerhart Hauptmanns mit der zu vergleichen, die Hauptmann selbst 25 Jahre später vorlegte.

Robert Hauptmann:

Der Kurort, dem er 1865 mit Mühe, Kosten und persönlichen Opfern auch die Gasanstalt gründete, dessen Gemeinwohl er hob und förderte, wurde nicht bloß vom deutschen, sondern noch mehr vom polnischen höchsten Adel besucht. Ems, Reichenhall und andere Konkurrenzbäder lagen in jener Zeit des schwachen Eisenbahnverkehrs den östlichen Magnaten zu fern; [...]
Nicht weit von Salzbrunn, wo neben dem Gasthof zur Preußischen Krone die Töchter des Brunnenwarts Straehler aufblühten, liegt Gnadenfrei und Herrnhut. [...]
Der kostbarste Schatz des Hauses aber blieb ungehoben. Die heilkräftige Kronenquelle, die den spätern Besitzer des weitläufigen Grundstücks zum Millionär gemacht hat, für die jetzt durch ganz Europa die Reklame dringt, die Kronenquelle, die schon für Hauptmanns zum Quell des Wohlstandes hätte werden können, war damals eine Pferdetränke. Später läßt Gerhart seinen Fuhrmann Henschel zu Siebenhaar sagen: »Unsere Quelle ist die beste.« Das blieb damals noch unverwertet. [...]
Auch die Eltern auf ihrer kleinen Bahnstation, die damals noch den ominösen Namen Sorgau führte, mögen nicht ohne Zweifel in die Zukunft des Knaben geblickt haben, der so vorzeitig aus dem regelrechten Bildungs- und Erziehungsgange deutscher Jugend verschlagen wurde. [...]

Gerhart Hauptmann auf der Domäne:

Das sollte kein anderer sein als Georgs junger Vetter Gerhart Hauptmann, der nun in eine streng religiöse Geistesrichtung kam. In den Jahren der Entwicklung drückte diese Geistesrichtung dem lebhaften Knabengemüt, welches ohnehin zur transzendenten Spekulation neigte, einen so starken Stempel auf, daß Gerhart Hauptmann seither kaum was Größres gedichtet hat, ohne die Macht dieses Gepräges irgendwie und irgendwo spüren zu lassen. Vielleicht hat er in »Emanuel Quint«, wo er selbst als Kurt Simon und seine Tante Julie als die »temperamentvolle Christin« – Frau Oberamtmann Julie Scheibler – erscheint, über diese letzten Dinge sein Letztes gesagt. Überall ist zu fühlen, wie tief und auch wie ungestüm Glaubenssachen den Geist und das Herz des Jünglings aufgeregt haben. [...]
Wie in Herrnhut selbst, an das die Bauerntochter Helene aus »Vor Sonnenaufgang« so liebliche Erinnerungen bewahrt, lag auch in Lohnig und Lederose das Hauptgewicht des gottgefälligen Lebens auf der Gemütsseite. [...]
Das Schubertsche Haus war eine weltliche Domäne herrnhutischen Geistes. [...]
Als er nach Jahren wieder bei Tante Julie zum Besuch war, schrieb er ihr ins Stammbuch:
Ich kam vom Pflug der Erde
Zum Flug ins weite All –
Und vom Gebrüll der Herde
Zum Sang der Nachtigall.
Die Welt hat manche Straße,
Und jede gilt mir gleich;
Ob ich ins Erdreich fasse,
Ob ins Gedankenreich.
Es wiegt in gleicher Schwere
Auf Erden jedes Glied. –
Ihr gebt mir Eure Ähre,
Ich gebe Euch mein Lied.
[...]

II Zwischen zwei Künsten
Dann kam Gerhart Hauptmann nach Breslau zurück ...
 [...] auf die dortige königliche Kunstschule. Er trat am 6. Oktober 1880 in die Vorbereitungsklasse ein, ließ sich eine Künstlermähne wachsen und belegte beim Direktor der Anstalt, Baurat Lüdecke, ornamentales Zeichnen, bei Alwin Schultz Kunstgeschichte, beim Bildhauer Michaelis Modellieren. Gegen die Schulregeln dieses Vorbereitungsunterrichts lehnte sich der herangewachsene Jüngling innerlich bald auf. Ein Volk von Krämern schleift des Marmors Decken, Ein Volk von Bäckern bäckt den braunen Ton, Statt heil'ger Priester Lumpen nur und Gecken, Statt stiller Wahrheit Lug und Leid und Hohn. Schon am 26. Oktober zog er sich »wegen seines Benehmens« eine direktoriale Verwarnung zu. Mit dem Modellierlehrer, bei dem er am meisten zu tun hatte, kam es zum Bruch. Desto mehr Verständnis und Ermutigung fand er im Bildhaueratelier Robert Haertels, den er später in freundschaftlicher Beziehung zu »Michael Kramer« setzte. [...]
Haertel erteilte ihm Privatunterricht, als Gerhart Anfang 1881 zusammen mit einem Kameraden namens Urban elf Wochen lang von der Kunstschule ausgeschlossen war, weil sie laut Konferenzbeschluß vom 5. Januar »hinsichtlich ihres Betragens und ganzen Wesens, bei mangelhaftem Stundenbesuch, geringen Fortschritten und bösem Beispiel für die andern Schüler sich nicht mehr für die Anstalt eigneten.«
Auf Haertels Betreiben aber wurde der störrische Scholar bereits am 23. März wieder zu Gnaden angenommen, ohne daß der Vater von dem ganzen Zwischenfall erfuhr. Bei Haertel blieb Gerhart noch ein Jahr, bis er am 15. April 1882 die Anstalt »wegen Krankheit« für immer verließ. Die Lehrer hielten ihn für schwindsüchtig. Da auf der Kunstanstalt auch wissenschaftlicher Unterricht erteilt worden war, und der sogenannte Künstlerparagraph der Wehrordnung Akademikern ein Recht zum einjährigen Militärdienst gibt, so setzte es Haertel durch, daß sein Lieblingsschüler das Zeugnis für den Dienst als Einjährig-Freiwilliger erhielt.
Haertel hatte aber nicht bloß sein bildnerisches Schaffen gefördert und eine in rotem Wachs modellierte, durch die Wolken dahinjagende Gottheit anerkannt, sondern er ließ sich auch Gerharts Dichtungen vorlesen, die ebenso wie jenes Bildwerk der germanischen Sage entstammten. Vom Dänen Andersen war der junge Dichter zum Schweden Tegnér gelangt, aus dessen Frithjofsage er ein Drama »Ingeborg« schuf. Wie Wilhelm Jordan, den er unter starkem Eindruck las und wohl auch rezitieren hörte, wollt' er es »wagen zu wandeln verlassene Wege zur grauen Vorzeit unseres Volkes«. Er plante ein Hermannsepos in zwölf Gesängen, von denen anderthalb im Stile Jordans fertig wurden. [...]
Zechbruder Professor James Marshall, das Urbild des Collegen Crampton, hatten Beziehungen zum Weimarer Hof. [...]
In Jena lernte er auch den Segen junger brüderlicher Kameradschaft näher kennen. [...]
So oft Kunstfragen oder auch Fragen der Menschlichkeit aufgeworfen wurden, vermochte Gerhart seinen Standpunkt ebenso lustig wie hartnäckig, ebenso selbstbewußt wie beredt zu verteidigen. Von Inhalt und Gangart dieser Debatten bekommt einen Begriff, wer in einem der Breslauer Schlußkapitel des Quintromans den »blauäugigen, blonden verstandestüchtigen« Arzt Hülsebuch (Alfred Ploetz) diskutieren hört. [...]
Nun aber ging er im Mai 1885 nach Berlin. Hier fand er einen dramaturgischen Unterricht beim frühern Direktor des Straßburger Stadttheaters, Alexander Heßler, an den er sich noch erinnerte, als er die »Ratten« schrieb. Seiner Stimme, in die er beim intimen Vorlesen eigener Werke so viel Natur, so viel Seele, so viel Stimmung zu legen weiß, haftet ein Lispelton an, der seinem Lehrmeister für die bezweckte Ausbildung eines sogenannten schönen Organs hinderlich war. Auch litt der hoffnungsvolle Jünger ein bißchen an Stockschnupfen. Er nahm es mit der Wahl des neuen Berufes so genau, daß er sich das Innre seiner Nase ausbrennen ließ, um deutlicher und reinlicher sprechen zu können. Aber er war vor die rechte Schmiede der landläufigen Theaterspielerei geraten und gab seinen abenteuerlichen, nur einer Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse und nur der Vorstellung eines selbstgeschaffnen Ideals entsprungenen Plan, Schauspieler zu werden, bald wieder auf. Aber er war nun dort, wo sich alle strebende Jugend im Deutschen Reich zu ihren entscheidenden Taten sammelte. Er fand sich in der jungen Hauptstadt dieses Reiches; noch ein Jüngling, aber kein Junggeselle mehr. Ein halbes Jahr früher hatte Bruder Carl die Schwester Martha heimgeführt. Jetzt, im Mai 1885, führte Gerhart, erst zweiundzwanzigeinhalb Jahr alt, die Schwester Marie in das junge Heim, das ihm ihre Liebe bestellt hatte. [...]
Aber gerade in Zürich fing er wieder zu dichten an und las bei Avenarius Kapitel aus einem autobiographischen Romane vor, von dem nur jenes Fragment erschienen ist. Bald trennte er sich von den Zürichern und fuhr zur Herbstzeit bis nach Frankfurt am Main auf dem Rade, wo ihm in wechselnden Bildern Länder und Leute wieder nahe kamen. [...]
Nachdem Gerhart Hauptmann sein »Buntes Buch« hatte vernichten lassen, beschäftigte ihn jener autobiographische Roman, den er 1888 in Zürich begonnen hatte. Berlin und Umgegend hatten Hauptmanns Kenntnis der Welt bereichert. In Zürich sah er das menschliche Leben wissenschaftlich durchforscht. So mochte er sich gerüstet fühlen, objektiver das Ich zu verstehen. Doch auch dieses Werk kam nicht zustande. Vieles daraus ist aber in den späteren Werken verwertet worden. Dieser totgesagte Roman scheint die Urzelle gewesen zu sein, aus der nun des Dichters lebendige Poesie entstand. [...]
Dir nur gehorch ich, reiner Trieb der Seele!
Des sei mein Zeuge, Geist des Ideales,
Daß keine Rücksicht eitler Art mich bindet.
Ich kann nicht singen, wie die Philomele.
Ich bin ein Sänger jenes düstern Tales,
Wo alles Edle beim Ergreifen schwindet.
Du aber, Volk der ruhelosen Bürger,
Du armes Volk, zu dem ich selbst mich zähle,
Das sei mir ferne, daß ich deiner fluche!
Durch deine Reihen gehen tausend Würger,
Und daß ich dich, ein neuer Würger, quäle,
Verhüt es Gott, den ich noch immer suche!
Ich darf es dir mit meiner Hand verbriefen,
Daß, wenn ich zürne, zürn ich deinen Leiden,
Das Gute wollend, dir zum ew'gen Heile.
Ihr, die ihr weilt in Höhen und in Tiefen,
Ich bin ihr selbst, ihr dürft mich nicht beneiden!
Auf mich zuerst zielt jeder meiner Pfeile.

Und so schärfte er sein Auge für das Nahe und Nächste.
Schon 1887, bevor er Arno Holz kannte zeitigte der Aufenthalt in Erkner eine kleine novellistische Studie, die in ihrem Realismus nicht so »konsequent« ist, wie »Papa Hamlet« aber dichterisch als geschlossenes, rundes Werkchen höher steht. Es ist die zuerst in M. G. Conrads »Gesellschaft« abgedruckte Erzählung vom »Bahnwärter Thiel«. Ihr moderner Zug kündigt sich schon im Titel an. Unsre Zeit steht »im Zeichen des Verkehrs«. Bahnwärter Thiel dient jenem Verkehrsbetriebe, von dem Goethe und die Romantiker noch nichts wußten. [...]
Wie in den westlichen und nördlichen Vororten Berlins die sogenannten Millionenbauern, so gab es auch in nächster Nähe von Obersalzbrunn, in Weißstein und Hermsdorf Bauern, die plötzlich zu Reichtum dadurch gelangten, daß man unter ihren Äckern mächtige Kohlenlager entdeckte. Ein solcher Umschwung materieller Verhältnisse konnte im ungebildeten Stande nicht ohne Einwirkung auf Sitte und Sittlichkeit des überschnell und übermäßig reich gewordenen Volkes bleiben. Diese Jugendeindrücke sollten im autobiographischen Roman nachwirken. Nun wollten sie sich zu einem sozialen Drama gestalten. [...]
An Loth und Helene offenbart sich der Unterschied von Verliebtheit und Liebe. Loth ist bis über die Ohren in das reizende, sinnige Geschöpf an seiner Seite verliebt; ihn entzückt nicht bloß ihr Wesen, sondern auch die Erscheinung; aber das weicht, als ihm das holde Kind plötzlich im Schatten einer Familie erscheint, deren Eigentümlichkeiten gerade ihm das Widerwärtigste und Abscheulichste sein mußten. Er rührt an den Stengel einer schönen Blume, sie zu pflücken, zieht aber sofort die Hand weg, sobald er merkt, daß der Sumpf, aus dem sie wuchs, die Hand beschmutzt. Für Helene dagegen ist die Liebe zum Manne nicht bloß ein Sinnenreiz; sie ist ihr Rettung aus Not, Erlösung vom Übel, Freiheit, Licht, Luft. Für ihn ist diese liebliche Begegnung ein Erlebnis, für Helene ist sie das Leben. Es gehört zu den menschlichsten Irrtümern, nach dem Grade des eignen Empfindens den Grad des Empfindens anderer zu messen. Loth redet sichs ein, daß der Seufzer des Scheidens und Meidens bei Helenen nicht tiefer geht als bei ihm selbst. Wenn er am nächsten Morgen vom Doktor Schimmelpfennig, in dessen Haus er geflüchtet ist, erfahren wird, Helene habe sich den Hirschfänger durchs Herz gerannt, so wird sein Gewissen für sein Unrecht zu büßen haben. Auch ihn wird Faustens Reue überkommen: »Von keiner Menschenseele zu fassen, daß mehr als Ein Geschöpf in die Tiefe dieses Elends versank!« Loths Treubruch hat auf den Zuschauer um so überraschender und empörender gewirkt, als gerade dieser hübsche, freundlich blickende, blau- und strahläugige, blondbärtige germanische Mensch durch eine Liebesszene vom Dichter in das anmutigste Licht gestellt worden war. [...]
Jemand nannte dann die Szene mit einem Lieblingsworte Theodor Fontanes »dalbrig« und ahnte nicht, daß er diesem Liebesgestammel damit ein Anerkenntnis süßer Wahrheit machte. Andere warfen dem »konsequenten Naturalisten« Inkonsequenz vor und vermeinten, diese Szene sei viel zu poetisch, um naturalistisch sein zu können. Diesen Mißverständigen hat der Dichter einmal das Scherzwort erwidert: »Kann ich dafür, daß die Natur auch schön ist?« [...]
Als Bruder Carl das erste Exemplar der Buchausgabe mit dankbaren Widmungsworten ins Manöver nachgeschickt erhielt, telegraphierte er dem Dichter neckend-ernsthaft zurück: »Tausend Freuden über Deinen ersten Schritt in die Unsterblichkeit«. So fühlten die Nächsten. Nun aber kam ganz von außen her unerwartet eine Bestätigung dieser Freundeszuversicht. Und diese Bestätigung kam von einer Seite, die ehrwürdiger und ehrender, sachkundiger und zuverlässiger nicht sein konnte. Fontanes Brief hatte wohl die nächste praktische Folge, daß der Dichter Anfang September an den Vorsitzenden des Vereins »Freie Bühne,« Otto Brahm, ein Exemplar des Dramas sandte, begleitet von einem kurzen Schreiben, woraus den Empfänger, »trotz seinen wenigen Zeilen eine Persönlichkeit anzusprechen schien«. Zur selben Frühlingszeit wie dieses Drama war dieser Verein entstanden.
 [...]
Als Brahm das Stück las, hatte er Fontanes Empfehlung noch nicht erhalten. Er war bald entschieden, das Stück aufzuführen. Erst nachdem dieser Beschluß endgültig gefaßt war, erfuhr er zu seiner Freude, daß damit zugleich ein Wunsch seines alten Gönners und Freundes erfüllt werden sollte. In der Tat wäre die Freie Bühne ohne Daseinsrecht gewesen, wenn sie, nach den damals noch verbotenen »Gespenstern« Ibsens, nicht vor allen andern Stücken dieses verheißungsvolle Erstlingsdrama eines jungen unbekannten Deutschen dem Publikum und nicht am wenigsten dem Verfasser selbst vorgestellt hätte. [...]
An den Protesten der Gegner erwärmte und erhitzte sich der Beifall derer, die in diesem neuen Werk Jugend, Kraft, Mut und eine große dichterische Gabe begrüßten. Diese Freunde tobten schließlich ebenso wild wie die Gegenpartei. Und nach den Aktschlüssen auf der Bühne mußte der junge Dichter dem tollsten Hexensabbath standhalten. Damals sah auch Theodor Fontane seinen Protégé zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht, und er schrieb der Vossischen Zeitung über diesen persönlichen Eindruck: »Statt eines bärtigen, gebräunten, breitschulterigen Mannes mit Schlapphut und Jägerschem Klapprock erschien ein schlank aufgeschossener, junger, blonder Herr von untadeligstem Rockschnitt und untadeligsten Manieren, verbeugte sich mit einer graziösen Anspruchslosigkeit, der wohl auch die meisten seiner Gegner nicht widerstanden haben. Einige freilich werden aus dieser Erscheinung, indem sie sie für höllische Täuschung ausgeben, neue Waffen gegen ihn entnehmen und sich gern entsinnen, daß der verstorbene Geheime Medizinalrat Casper sein berühmtes Buch über seine Physikats- und gerichtsärztlichen Erfahrungen mit den Worten anfing: Meine Mörder sahen alle aus wie junge Mädchen.« Fontane hat den »Mörder« mit ungeschwächter Teilnahme, wenn auch nicht immer mit gleicher Zustimmung (für Hanneles Himmelfahrt empfand er zu berlinisch-rationalistisch) bis an die »Versunkene Glocke« begleitet, also bis er starb. Kurz vorher hatten wir mit Gerhart Hauptmann an des Alten Tische noch einmal feinstens gespeist, getrunken und geplaudert. Die erste Vorstellung der »Versunkenen Glocke« stand unmittelbar bevor. Da apostrophierte er seinen Gast in huldigender Parodie durch den Vortrag seines im Texte leicht geänderten Jakobitenliedes: Sie ließen Weib und Kind zurück Wohlan, so tun auch wir. Wir baun auf Gott und gutes Glück Und auf den Kavalier;       O Charlie ist mein Liebling,       Mein Liebling, mein Liebling,       O Charlie ist mein Liebling,       Der junge Kavalier. Wenn Hauptmann literarisch bewanderter gewesen wäre, so hätte er sich sagen müssen, daß, seitdem es ein Theater gibt, nur ganz wenige Dramatiker in einer so kriegerischen Situation die Feuertaufe empfangen haben. Dieses Toben der Menge konnte seiner Zukunft bloß zwei Wege weisen. Brüllte man ihm dort unten zum Sieg oder zum Untergang? Ein dritter Weg, die talmine Mittelstraße war nicht mehr zu gehen. Sieg oder Untergang! [...]
Ein Theaterroutinier, der auf Schlag und Gegenschlag sinnt, ist Gerhart Hauptmann nicht. Man schiebt das gewöhnlich auf Mangel an sogenannter Handlung. Auf diesen Vorwurf erwidert im Motto zum »Friedensfest« der Dichter selbst mit Worten Lessings aus dessen Abhandlung über die Fabel. So wenig die moderne Ästhetik mit Recht auf Definitionen ausgeht, so sehr sie sich gerade durch die Mißachtung der Definition auch von Lessing unterscheidet, so möchte ich doch gegenüber dem Vorwurf der Handlungslosigkeit, der auch noch späteren Werken Hauptmanns gemacht worden ist, an Lessings Definition der poetischen Handlung nicht ganz vorübergehen. Handlung nennt Lessing »eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen«. Zur Handlung genügt für Lessing nicht eine Veränderung, genügen nicht mehrere Veränderungen, die nur nebeneinander, sondern bloß solche Veränderungen, die aufeinander folgen. Wer von dieser Doktrin aus die beiden Familienkatastrophen Hauptmanns durchnimmt, wird finden, daß sie der Lessingischen Forderung entsprechen und im Sinne des großen Kritikers eine Handlung haben. Im »Friedensfest« das Erscheinen der Buchnerschen Familie, die unerwartete Rückkehr des Vaters, die Rückkehr des jüngeren Sohnes, die Abbitte dieses Sohnes und ihre seelische Einwirkung auf dessen physische Natur, die plötzlich aufwachende Sorge der Vaterliebe um das Leben dieses scheinbar gehaßten Kindes, das Heraufsteigen alter schlimmer Leidenschaften in allen, der durch die Aufregung darüber entstandene Schlaganfall und Tod des Vaters, der Eindruck, den dieser Tod auf die drei Kinder macht, alles das ist ein Ganzes, in welchem die Veränderungen nicht nur zeitlich und räumlich, sondern auch ursächlich aufeinanderfolgen. In den »Einsamen Menschen« fehlt es sogar an einer eigentlichen Vorgeschichte, wie sie im »Friedensfest« erst analytisch herausgewickelt wird. Das völlig unerwartete, zufällige Erscheinen des fremden Fräuleins wühlt alles auf, was verborgen lag und wandelt alles um, was gewesen ist. Die Dinge verändern sich stetig und unaufhaltsam. Eins folgt unmittelbar aus dem anderen. Wie weit ist beispielsweise der liebevolle, heitere Papa Vockerat des Taufschmauses vom streng strafenden Vater entfernt, dessen heiliger Eifer den Sohn vernichtet! Und doch zieht sich von einem zum andern innerhalb derselben Menschenseele eine Kette natürlicher Folgen. An der von Hauptmann herangezogenen Stelle fragt Lessing: »Gibt es aber doch wohl Kunstrichter, welche einen noch engeren, und zwar so materiellen Begriff mit dem Worte Handlung verbinden, daß sie nirgends Handlung sehen, als wo die Körper so tätig sind, daß sie eine gewisse Veränderung des Raumes erfordern? Sie finden in keinem Trauerspiele Handlung, als wo der Liebhaber zu Füßen fällt, die Prinzessin ohnmächtig wird, die Helden sich balgen; und in keiner Fabel, als wo der Fuchs springt, der Wolf zerreißet und der Frosch die Maus sich an das Bein bindet.  [...]

Die Weber 
Den Mahnruf des Schillerschen Attinghausen hat niemand bisher treuer befolgt als der Dichter der »Weber«. Aber wenn Attinghausen, der Politiker, mahnt: »Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an,« so hat sichs unser Dichter in sein eigenes Gefühl umgesetzt. Nicht im Vaterlande, sondern in der Heimat liegen für diesen Dichter die starken Wurzeln seiner Kraft, die ihn vermögen, den ganzen Weltraum zu umfassen. Gerhart Hauptmann hat an seiner schlesischen Erdscholle festgehalten. Er hat sich seit Jahren wieder in den Bergen der Heimat unter den Dorfbewohnern des Riesengebirges auf eigenem Grund und Boden häuslich niedergelassen. Zuerst in Mittelschreiberhau, wo sich die innigen Beziehungen von Hohenhaus noch fortsetzten, dann mit der zweiten Gemahlin, Margarete geb. Marschalk, und dem goldlockigen, pagenhaften Sohne Benvenuto auf seiner Villa Wiesenstein in Agnetendorf. So weit und so oft ihn der Wandertrieb auch in die Ferne zog, dort in den grünen Tälern ist sein Herd und sein Hof, sein Hort und sein Halt. Dort träumt er sich sein Festspielhaus. So wird er auch als Dichter von manchen Ausflügen in Raum und Zeit immer wieder heimkehren. Im Sonnenaufgangsdrama hat er seine Landsleute nicht glimpflich behandelt. Aber nie ist von einem Dichter der Naturlaut des Heimatvolks treuer erlauscht worden, als von ihm. [...]
Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts war sein Urgroßvater als armer Weber aus Böhmen über das Gebirge gekommen und hatte sich in Herischdorf bei Warmbrunn zur Handarbeit festgesetzt. Von den vier Söhnen dieses Alten war auch Gerharts Großvater, Karl Ehrenfried, bis er 1813 in den Krieg zog, Weber gewesen. Als dieser bereits im Wohlstande war, wußte er aus frühen armen Tagen dem eigenen Sohne Robert manches zu erzählen. Und Herr Robert Hauptmann hat dies alles seinen Knaben weitergemeldet. [...]
Wer heute durch die beiden Hauptdörfer wandert, merkt auf den ersten Blick nichts mehr vom Notstand eines bestimmten Gewerbes. Wie zwei meilenlange schmale Zeilen recken sich diese Dörfer, Langenbielau und Peterswaldau, von den Vorhügeln des Eulengebirges unabsehbar in die weite, wald- und bergumsäumte Ebene herunter, aus deren Mitte die schlanken weißen Türme des alten, malerischen Städtchens Reichenbach aufsteigen. Durch beide Riesendörfer fließt ein murmelnder, grünumbuschter Gebirgsbach, der von der Hohen Eule her die Weistritz sucht. Rechts und links von diesem freundlichen Bächlein ist je eine Häuserstraße angebaut, die streckenweise höchst vornehm und großstädtisch wirkt. Prächtige Villen der Fabrikanten und Fabrikdirektoren, mitten in alten, schönen Parkanlagen, davor stolze Blumenbosketts, erinnern an einen eleganten Badeort. Der Kontrast hierzu, die elende Weberhütte, fehlt heute schon fast ganz. Erst wenn man oberhalb Peterswaldau höher ins Gebirge hineinsteigt, und wenn sich hinter einem wildromantischen Waldgrunde der Blick auf die weit und breit über das Hügelland vereinzelten Strohdächer von Kaschbach öffnet, merkt man, daß in diesen verlassenen, öden Sitzen noch die Armut kauert. Hier könnte man wohl noch heute dem Vater Baumert begegnen, dessen ausgehungerter Magen kein gebratenes Hundefleisch mehr vertragen kann, oder seinen abgemagerten Töchtern oder den kleinen Barfüßchen seiner unehelichen Enkel. [...]

(Paul Schlenther: Gerhart Hauptmann, 1912)

29 Dezember 2017

Martin Walser und die Werkherrschaft

MARTIN WALSERS GESAMTAUSGABE: Der Wille zur Werkherrschaft VON HUBERT SPIEGEL, faz.net 26.12.17

Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit
Roland Reuß/Volker Rieble (Hrsg.): Autorschaft als Werkherrschaft in digitaler Zeit (PDF) Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2009

"Pope v Curll (1741) ist ein Gerichtsverfahren vor dem Court of Chancery aus dem Jahre 1741. Erstmals unterschied ein englisches Gericht darin zwischen dem gegenständlichen Sachobjekt und dem Inhalt eines literarischen Werkes mit daraus resultierender Werkherrschaft des Autors."
Seite „Pope v Curll“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 23. Oktober 2016, 13:29 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Pope_v_Curll&oldid=159004456 (Abgerufen: 29. Dezember 2017, 15:45 UTC)

Hugo Loetscher und der Immune

Laut Dürrenmatt "Lieber Immune..." (1990) sind beide in dem Kopf des jeweils anderen entstanden.
Nachzulesen in "In alle Richtungen gehen. Reden und Aufsätze über Hugo Loetscher" (2005)

Die Kranzflechterin. Roman. Arche, Zürich 1964.
Der Immune. Roman. Luchterhand, Darmstadt 1975
War meine Zeit meine Zeit. Diogenes, Zürich 2009

24 Dezember 2017

Hermann Löns: Kartoffelfeuer

Wenn Ende September Kartoffelfeuer
Mit weißem Schleier bedecken das Land,
Dann denk' ich an manches, was ich als teuer
In meiner Erinnerung halte gebannt.

Verflossene Zeiten, verflogene Tage,
In rosigen Wolken die ganze Welt,
Als noch nicht das Leben die häßliche Frage
»Beruf und Brot?« an uns hatte gestellt.

O Hannes mit knallroten Spitzbubenhaaren,
O Wolf mit dem pechschwarzen Lockenkopf,
Ich selber, ein Nichtsnutz von dreizehnhalb Jahren,
Mit Kletten und Disteln im flachsblonden Schopf.

Barfüßig, barköpfig, zerrissene Hosen,
Am Knie schimmert durch die bräunliche Haut –
O herrliche Zeit, wo mit sorgenlosen
Blauaugen ich keck in die Stunden geschaut.

Kein Wasser zu tief, zu hoch keine Höhe,
Kein Apfel zu sauer, kein Vogel zu flink –
In unserm frechfrohen Raubkönigreiche,
Da wurde geknechtet, was mit uns nicht ging.

Die Katzenjagd stand bei uns mächtig in Blüte,
Es mieden die Hunde sehr schnell unsre Näh,
Dem Flurschützen war'n wir ein Dorn im Gemüte,
Dem Obstbaumbesitzer ein fressendes Weh.

Im Buchwald, am Seerand, da war eine Ecke,
Von Weiden umwuchert, von Dornen geschützt,
Wir brieten in sicherem Räuberverstecke
Uns dort die Kartoffeln, die wir uns stibitzt.

Wir rauchten getrocknete Walnußbaumblätter
Aus Pfeifen, geschnitzelt aus Ellernholz,
Und fühlten uns selig, wie Helden und Götter,
Wir Fürsten der Wildnis, verwegen und stolz.

Wir hauten uns auch, daß die Haare so flogen
Und blaubeulig wurden Kopf und Gesicht,
Und wurde dafür dann auch Wichse bezogen
Zu Haus' vom Papa, das genierte uns nicht.

Jetzt gehn wir geputzt nach der neuesten Mode
Mit schneeweißem Kragen und blitzblankem Hut,
Wir kommen vor Höflichkeit fast noch zu Tode
Und tuen getreu, was ein jedermann tut.

Du wirbelnder Rauch der Kartoffelfeuer,
Erinnrer an alte, verflossene Zeit,
Wie ist mir dein herber Geruch doch so teuer,
Du bleibst mir als Jugenderinnrung geweiht.

Wie der vier Jahre ältere Gerhart Hauptmann hat Hermann Löns (*1866) noch den harten Bruch zwischen freier Kindheit und den engen Konventionen der Kaiserzeit erlebt. 
Intensiv stehen vor ihm die Bilder, immer wieder zeugen Wörter von Nähe zur Natur, dann finden sich Anflüge von Kästnerscher Zivilisationskritik. 
Doch das streng eingehaltene Reimschema, die nur zu oft allein dem Reimzwang geschuldete Wortwahl, das nirgendwo leicht umspielte Metrum, das durch den Reim von Hosen auf  sorglósen ein unnatürliche Leiern erzwingt, das nicht wie etwa bei Heine zur ironischen Distanzierung verwendet wird, schließlich die pompöse Bezeichnung des Kartoffelfeuers als Erinnrer zeugen davon, dass der Dichter - trotz seines für einen Anfänger erstaunlich reichen Sprachschatzes - noch nicht seine eigene Sprache gefunden hat.
Zum Vergleich kann man die Verse des neun Jahre später geborenen Rilke heranziehen, der - freilich als er schon über drei Jahre älter war als Löns bei der Abfassung dieses Gedichts - in seinem Kindheitsgedicht schon ganz souverän schreibt:

Und durch das alles gehn im kleinen Kleid, 
ganz anders als die andern gehn und gingen -: 
O wunderliche Zeit, o Zeitverbringen, 
o Einsamkeit. 
[...]
Und stundenlang am großen grauen Teiche 
mit einem kleinen Segelschiff zu knien; 
es zu vergessen, weil noch andre, gleiche 
und schönere Segel durch die Ringe ziehn, 
und denken müssen an das kleine bleiche 
Gesicht, das sinkend aus dem Teiche schien -: 
O Kindheit, o entgleitende Vergleiche. 
Wohin? Wohin? 

1919 schreibt Friedrich Castelle bei der Herausgabe von dessen Jugendgedichten in der Sammlung "Junglaub":
"Das älteste, wenigstens mir bis jetzt bekannt gewordene Gedicht des jungen Löns ist das in dieser Sammlung auf Seite 50 veröffentlichte »Segelfahrt«. Es ist in der Apffelstaedtschen Handschrift datiert: »Deutsch-Krone 1884«. Hier ist Löns ganz der romantisch überschwängliche Junge, den seine Mitschüler den »springenden Hirsch« nannten, der Naturschwärmer, der die Moor- und Seengebiete um Deutsch-Krone leidenschaftlich durchstreifte und der die Erinnerungen an diese abenteuerlich-fremdländische Jugend bis zu seinem Mannesalter nicht vergessen hat.
Wie stark er dieses Land geliebt hat, sagt uns ein leider hier nicht veröffentlichtes Gedicht, eines der ersten, das September 1886 in Münster entstanden ist: »Heimatklänge«. Drei Klänge aus der Jugend liebt er: das Rauschen der dunklen Föhrenwälder, das Wellenklatschen vom See und das Lied aus Volksmund. In drei breiten Strophen rollt er dann die dunklen Schönheiten der westpreußischen Jugendheimat auf und schließt mit den wehmütigen, ahnungsvollen Worten:
»Du Wellenklang vom grünen See,
Du Lied aus Volksmund wild und weh,
Du Rauschen von dem dunklen Föhr:
Wer weiß, ob ich dich nochmals hör'!«
An der Schwelle des freien Studentenlebens steht diese echte, große Dichtung. Die in ihr angeschlagenen Töne klingen weiter durch die ganze erste Schaffenszeit, durch die Jahre 1886 bis 1890, die Löns zunächst als Zoologe und Naturwissenschaftler in Münster, dann als Mediziner in Greifswald und wiederum in Münster verbringt."

"Echte, große Dichtung" möchte ich die Reime von Föhr und hör sowie von See auf wild und weh nicht nennen. (Da spricht m.E. zu sehr der Ideologe Castelle, der sich später ganz in die nationalsozialistische Ideologie einreihte.) Aber beeindruckend ist, wie deutlich die Naturliebe des späteren Journalisten Löns aus seiner Kindheit und Jugend hervorgeht und wie weit seine Zivilisationskritik noch nicht von der reaktionären Haltung seines "Wehrwolf"-Romans entfernt ist. 

Hermann Löns hatte eine vielseitigere Begabung, als das übliche Bild von ihm erkennen lässt. 
(Dazu: Hermann Löns: Die Hunde beheulen den Tod des Herzogs. Der andere Löns, herausgegeben von Michael Schulte Düsseldorf 1981 und Thomas Dupke: Mythos Löns: Heimat, Volk und Natur im Werk von Hermann Löns, 1993)
Freilich, auch dass Löns nie ganz vom Alkoholismus loskam, gehört zum Bild des anderen Hermann Löns.
"Echte, große Dichtung"  finden wir im Werk Georg Büchners, der mit 24 Jahren starb, in dem Alter, in dem Löns noch ganz auf dem Wege war.  Allerdings halten den Vergleich mit Büchner auch weit bedeutendere Dichter als Hermann Löns nicht aus. 

Zu Löns sieh auch:

23 Dezember 2017

Ist 45 das neue 35??

Gero von Randow: "Ab 60 wird es peinlich, sich adoleszent zu geben" ZEIT 47/2017 16.11.17

"[...] Also: Es lebe der Unterschied, auch der zwischen Jung und Alt!
Die Alten, die sich unangemessen jung geben, vertuschen im Übrigen die realen Machtverhältnisse. Macht ist etwas, das mit der Zeit aufgebaut wird, weshalb es wahrscheinlich ist, dass Alte mehr Macht haben als Junge. Die Jungen sehen, dass eine zahlenmäßig stärkere Fraktion von Alten in der Hierarchie weiter oben sitzt und dort nicht wegrotiert und überdies wie zum Hohn so tut, als sei sie selbst jung.
Apropos: Die Jungen, von denen hier die Rede ist, sind unter 35 Jahre alt. Protest, Protest! Heute ist man auch mit 45 jung, 45 ist das neue 35 undsoweiter undsofort – geschenkt.
Und gegönnt. Trotzdem ist 35 eine gute Trennmarke, denn wer 1982 geboren wurde, hat mit 19 Jahren den 11. September 2001 erlebt und in einer Zeit der Berufsorientierung die Weltwirtschaftskrise. Eine geeignete Trennmarke der Generationen auch deshalb, weil sich unter 35 die Altersgruppe der prekären Jobs befindet, zumindest gilt das für Teile der akademischen Jugend.
In Führungspositionen unterrepräsentiert, sind die Jungen überrepräsentiert in dem, was die Medien- und Werbewelt darstellt. Sie werden als langlebige Kunden umworben ("catch them young and keep them forever"). Das Jungsein wird glorifiziert, als sei es ein Lebensziel – was die Leute à la longue allerdings nur unglücklicher machen kann, je älter sie werden. [...]"

22 Dezember 2017

Uwe Johnson: Jahrestage ("Republikflucht")

"Der Junge, „den ihr aus Ostdeutschland holen wollt“ (18. Oktober und 14. Dezember 1967)
Im Oktober 1967 besorgt Gesine Cresspahl einen belgischen Pass für einen jungen Ostdeutschen. Ein Amerikaner wird ihn in Berlin ihrer Schulfreundin Anita Gantlik übergeben, die seit dem Mauerbau in Berlin als Fluchthelferin tätig ist. Der zwanzigjährige Enkel ihrer Nachbarn, jüdischer Emigranten aus Belgien, gibt seinen Pass her. Henri J. Faure „macht mit, aus Gründen, die er für politisch hält“, seine Großeltern denken, es geschehe „der Judenheit zuliebe“. "
mehr dazu in Birte Försters Blog DieWoche mit Frau Cresspahl

14 Dezember 2017

Hermann Löns: Mümmelmann

Hermann Löns ist bekannt als Dichter von Tier- und Jagdgeschichten, als Dichter von Heide- und Liebeslyrik. Weniger bekannt ist, dass er jahrzehntelang journalistisch tätig war, zum Chefredakteur aufstieg und sich für einen Naturpark Lüneburger Heide einsetzte.
Noch deutlich unbekannter sind seine sozialkritischen Texte und Balladen, doch dazu später.

Hier einige Auszüge au einem Tierbuch Mümmelmann.

Mümmelmann (1909) Ein Tierbuch.

Mümmelmann
Sie zogen aus, bis an die Zähne bewaffnet, an die dreitausend, an die dreihundert, an die dreißig, schrecklich anzusehen in ihrem Kriegsschmucke. Unten steckten sie in langen Stiefeln, oben in kühnen Hüten. Um ihre Unterleiber schlotterten oder strammten sich rauhe Jacken, deren Taschen reichlich mit Nikotinspargeln gespickt waren. An der Seite hing ein Ränzlein, strotzend von braunen, grünen, roten oder gelben Hülsen, enthaltend das scharfe Pulver, ferner eine Flasche, bergend das nicht minder scharfe Visierwasser, und diverse Pakete, worin die kurzgehackten sterblichen Überreste toter Schweine und Kühe waren. Vor dem Magen trugen sie Müffchen, um die Handgelenke gestrickte Stulpen, und auf dem Rücken Donnerrohre aller Konstruktionen und jeglichen Kalibers. Sie erfüllten das Bahnhofsvestibül mit lauten Stimmen, den Perron mit schallenden Tritten, drei Kupees mit Zigarrendampf und die Schaffner mit Grausen, denn jeder dritte zog ein erwachsenes Exemplar von canis familiaris hinter sich her und verlangte Platz dafür nächst sich. Während der Fahrt nickten die einen, die abends vorher allzulange beim geisteserfrischenden Männerskat und beim seelenerhebenden Bitterbier gesessen hatten, noch etwas nach, die edlen, etwas gedunsenen Züge auf die Mündungen der Flinten stützend; andere hatten des Teufels Gebetbuch in der Hand, schielten sich in die Karten und nahmen sich das mehr oder minder redlich erworbene Kleingeld ab. Die dritten sprachen Latein. [...]
Sie sprachen eine fremde Sprache, die kein vernünftiger Mensch verstand, redeten von Rammlern und Satzhasen, Schweiß und Wolle, Löffeln und Blumen, Läufen und Gescheide, Kesseln und Suchen, Stokeln und Strecke, meinten aber immer ganz was anderes. So fuhren sie dahin durch die weiße, morgendliche Winterlandschaft, auf die die aus dem Bett kriechende Sonne einen schwachen Rosenschimmer warf.
Dieser Rosenschimmer traf auch in der Feldmark von Knubbendorf die Nase eines alten Rammlers, der langsam und hochläufig über die Landstraße hinkte, Haanrich Mümmelmann genannt in seiner Sippe. Er machte einen Kegel, putzte sich ein Flöckchen Schnee aus dem Schnurrbart mit der rauhen Bürste seines Vorderlaufes, und überlegte, ob er noch nach der reichlich geästen Roggensaat etwas Rinde von jungen Apfelbäumen in den Gärten von Knubbendorf zu sich nehmen solle, oder ob es bekömmlicher sei, einige vorjährige Brommelbeerblätter zu genießen, denn er fühlte einen Druck im Magen. Da teilte ihm derjenige Teil seines Körpers, mit dem er auf einem plattgefahrenen goldgelben Apfel saß, der nicht von den Hesperiden, sondern von dem edlen Rosse stammte, mit, daß ein Wagen sich nähere. [...]
Er hoppelte bis an den Graben, setzte trotz seiner drei Läufe über die hohe Schneewehe und hoppelte den Patt entlang. Auf dem großen Schlehbusch saß der Neuntöter. Den fragte er, ob er nicht sähe, was da die Straße entlang komme, seine Augen hätten nachgelassen. Der Würger sagte ihm, daß es Jäger und Hunde wären, und flog nach der Dieme, denn da hatte er eine Maus gesehen. Mümmelmann kratzte sich bedenklich hinter den Löffeln und hoppelte weiter, bis an den großen Stein, der an der Sandkuhle lag. Dort klopfte er dreimal mit dem linken Hinterlauf. Er hatte nur den einen, den rechten fraßen nach der vorjährigen Treibjagd die Nebelkrähen. Auf sein Klopfen tauchten hinter einem dürren Kamillenbusch zwei sauber gekämmte Löffel auf. Sie gehörten Geesche Wittblaume. »'n Dag, Geesche«, knurrte Mümmelmann, »van Dage gifft dat Drievjagd. Eck weit blot noch nich, wenn sei in Holte drieven oder inn'e Feldmark. Seih deck vör!«  [...]
Noch eine Stunde lag Mümmelmann da und dachte, daß der Mensch doch das böseste Raubzeug sei, trotz Reinke Rotvoß und Griepto Heuhnerdeiw, dem Habicht, und daß es Zeit wäre, daß man dagegen etwas täte; da hörte er von weitem einen Ton, als klopfe da ein riesiger Rammler. Und der wiederholte sich immer wieder. Haanrich Mümmelmann machte sich hoch und äugte nach der Gegend hin, aber seine Lichter trugen so weit nicht. So rückte er wieder zusammen und wartete. [...]
Na, sein Testament hatte der Olle schon lange gemacht, er war nun fast zehn Jahre alt, und ewig kann man nicht leben. So philosophierte er. Auf einmal spielohrte er.
Er hörte den Mordschrei der Nebelkrähe. [...]
Nach einem Weilchen vernahm der Alte wieder ein Gepolter und sah die Krähen abstieben. Er richtete sich ein bißchen hoch und sah einen großmächtigen Köter einen kranken Hasen hetzen. Schwer krank, das sah der Alte, war der andere nicht, aber doch so, daß der flüchtige Hund ihn bald zu Stande hetzen würde. Das war ein guter Kerl, Natz Klewersitter vom Uhlenbrink. Dem mußte geholfen werden. »Natz«, knurrte Mümmelmann leise, »eck stah upp, sett di dahl!« Der kranke Waldhase nahm alle Kraft zusammen, fuhr in das warme Lager, und mit einem Hui, eine Schneewolke hinter sich werfend, fegte der alte Feldhase aus dem Pott, schlug ein halbes Dutzend Haken, daß der Hund ganz verbiestert wurde, sauste dann geradeaus, schlug wieder Haken, machte einen Kegel, nahm wieder das Feld hinter sich, bis dem Hunde die Zunge aus dem Halse hing und er die Jagd aufgab. Mümmelmann äugte ihm nach, lachte, hoppelte bis zum nächsten Brink und rodete sich wieder ein. Seine alten Knochen brauchten Ruhe. [...]
Aber zwischen dem langen Schnellschießer und dem kurzen Fuchtelmeier passierten eben Jochen Pielsteert und Fritze Pattlöper heil die Schützenlinie, und da richtete sich der alte Hase steif auf, hoppelte in gerader Linie voran, gerade auf die Lücke zwischen den beiden Schützen zu, ganz langsam, bis er fast in Schußnähe war, witschte dann nach links, schlug einen Haken nach rechts, einen nach links, einen nach rechts, sah noch eben, wie zwei Gewehrläufe in der Luft herumfuhren, wie Schwänze von Kühen, um die die Bremsen sind, und dann gab er her, was er in sich hatte, fuhr durch die Lücke, schlug sieben Haken, hörte einen Knall, einen Schrei, einen Fluch, nähte aus, bis er nichts mehr hörte, und dann machte er ein Männchen und äugte zurück. Das Jagdhorn erklang. Die Schüsse hörten auf. Die Jäger liefen nach einem Fleck, hoben etwas auf und gingen nach dem Dorfe. Und es war doch erst Mittag. Als sie alle weg waren, hoppelte Mümmelmann nach dem Kessel. [...]
Und als sie alle zusammen waren, da hielt Natz Klewersitter eine Rede und sagte allen, wie Haanrich Mümmelmann ihm das Leben gerettet hatte, und alle zweihundert klopften dem guten Kameraden Beifall und rieben ihre Nase an seiner. Und dann machte Jochen Pielsteert ein Männchen und erzählte, daß der Alte vom großen Stein sie alle gerettet habe. Er, Jochen, habe gesehen, daß Mümmelmann durch seine Taktik den einen Jäger so dötsch gemacht habe, daß er seinen Nachbar schwer angeflickt habe. [...]

Hasendämmerung 
Jans Mümmelmann, der alte Heidhase, lag in seinem Lager auf dem blanken Heidberg, ließ sich die Mittagssonne auf den billigen Balg scheinen und dachte nach über Leben und Tod. Sein Leben war Mühe und Angst gewesen. Aber dennoch fand er, daß sein Leben köstlich gewesen war. Auf grünen Feldern hatte sich seine Jugendzeit abgespielt; seine Jünglingsjahre hatte er im Walde verlebt; die Jahre seiner männlichen Reife verbrachte er in der Heide, nachdem ihm Feld und Wald Menschenhaß gelehrt hatten, und nur, wenn sein Herz sich nach Zärtlichkeiten sehnte, verließ er die Öde. Da lebte er, ein einsamer Weltweiser. Die Äsung war mager, aber es stand nicht, wie beim Klee im Felde und bei der üppigen Wiese im Walde, die Angst bleichwangig und schlotterbeinig immer neben ihm; in Ruhe und Frieden konnte er da leben, sorglos im feinen Flugsande des Heidhügels die rheumatischen Glieder baden und dem Gesange der Heidelerchen lauschen. Mümmelmann fand heute aber doch, daß er etwas Abwechslung in seine Nahrung bringen müsse. Keine Philosophie der Welt tröstet den Magen, und keine Weltweisheit befestigt die Appetitlosigkeit. Beim Dorfe gab es jetzt schon junge Roggensaat. Auch brauner Kohl war da, ferner Apfelbaumrinde, etwas ganz Feines, und der Klee war schon hoch genug, an den Gräben wuchs allerlei winterhartes Kraut; Mümmelmann lief das Wasser hinter den gelben Zähnen zusammen. [...]
Inzwischen war im Dorfe großes Leben. Dreißig Männer waren gekommen, bis an die Zähne bewaffnet, schrecklich anzusehen in ihrem Kriegsschmuck. Sie waren in den Krug gegangen, aßen und tranken, was es gab, machten sich mit Pfeifen und Zigarren und auch sonst blauen Dunst vor, prügelten ihre Hunde, die sich bissen, kniffen allen weiblichen Wesen unter fünfzig Jahren die Arme braun und blau, erzählten sich mehr oder minder starke, neuaufgewärmte alte Witze und zogen dann los, die reine Winterluft mit dem Rauch ihrer Zigarren und die Morgenstille mit dem Geknarre ihrer Stimmen erfüllend und sich freuend über den klaren, windstillen, schönen Tag, der so recht geeignet sei für den Hasenmassenmord. [...]
Ein Leiterwagen nahm die toten Hasen auf, und es ging zum zweiten Kessel. Und als der abgetrieben war, kam der dritte an die Reihe, und dann ging es zum Jagdhause vor dem Moore, wo der Wirt mit seinen Töchtern Bohnensuppe auffüllte und Glühwein einschenkte und Grog. Da gab es ein großes Erzählen hin und her, so daß Herr Markwart, der Häher, und Frau Eitel, die Elster, entsetzt abstoben und es weit und breit herumbrachten, daß die Jäger wieder einmal da wären und schon hundertundsiebzig Hasen ermordet hätten. [...]
»Schwerenot noch einmal«, knurrte Jans unter seinem bereiften Bart her, »noch ein Kessel? Die Sonne geht ja schon in ihr Lager. Und ich glaube, die Bande kommt auf uns zu.« Ein furchtbares Gebrüll erhob sich von allen Seiten, der Boden dröhnte, Schüsse knallten. Ludjen wollte weg, aber der Alte rief: »Bliw liggen, du Döskopp«; denn wenn er erregt wurde, sprach er Platt, was er sich sonst als unfein abgewöhnt hatte, und dann setzte er hinzu: »Man kann nicht wissen, was passiert. Ich habe so eine Ahnung, als ob ich die Sonne nicht mehr aufgehen sehen soll. Und nun höre zu: Falle ich und du bleibst gesund, so rückst du in die Heide, bis du an den Heidberg kommst, wo die großmächtigen Steine aufeinanderliegen. Da bist du das ganze Jahr sicher, da kommt niemand hin als die dämlichen Schafe und höchstens einmal Reinke Rotvoß, der alte Schleicher; der erzählt ganz gut, aber halte ihn dir drei Schritte vom Leibe. Einem Fuchs darf man erst trauen, wenn er kalt und steif ist.«
[...] ein zweiter Hund kam an und wollte ihn gerade fassen: »Da löppt noch een!« schrien die Treiber. Aber Jans war nicht umsonst bei seiner Mutter, der erfahrenen Gelke Mümmelmann, in die Lehre gegangen. Er schlug einen Haken über den anderen und hielt sich immer dicht vor dem Hunde, so daß kein Schütze zu schießen wagte. Auf einmal aber krachte ein Schuß, die Schrote schlugen pfeifend auf das Eis, der Hund jaulte auf, und wütende Stimmen erhoben sich. »Junger Mann, Sie haben meinen Hund totgeschossen!« brüllte ein dicker Herr. [...]
So ging es weiter, und keiner achtete auf Mümmelmann. Der machte, daß er fortkam, denn er haßte Zank und Streit. Ihm tat nur Ludjen leid, um den Jungen hatte er Bange. Es dämmerte schon, als er an den Heiderand kam, und gerade dachte er, er wollte sich um die Lappen nicht kümmern, da krachte es, und wie zwanzig Peitschenhiebe auf einmal fühlte er es in Rücken und Keulen. Das war der Jagdaufseher gewesen, der die Lappen aufrollen wollte. Jans fühlte, daß es mit ihm aus war. Aber er kam doch noch vom Fleck und tauchte in der Dämmerung unter. Ihm war sehr schwach zumute, obgleich er gar keine Schmerzen hatte; nur das Laufen wurde ihm schwer und das Atmen. Er kam noch bis zu dem alten Steingrab auf dem Heidberg, und da wühlte er sich in den weichen Sand, lag ganz still und äugte nach dem hellen Sternenbilde, das über dem fernen Walde stand und ganz wie ein riesenhafter Hase aussah. Als der Mond über den Wald kam, da hoppelte auch Ludjen Flinkfoot heran. Er hatte, so schwer es ihm bei seiner Angst auch wurde, seines Oheims Ratschläge befolgt und war gesund davongekommen. Der gute Junge war sehr betrübt, daß er ihn todkrank fand; er rückte dicht an ihn heran und wärmte den Fiebernden. Als es vom Dorfe Mitternacht schlug, da wurden Mümmelmanns Seher groß und starr; er sah die Zukunft vor sich: »Der Mensch ist auf die Erde gekommen«, sprach er, »um den Bären zu töten, den Luchs und den Wolf, den Fuchs und das Wiesel, den Adler und den Habicht, den Raben und die Krähe. Alle Hasen, die in der Üppigkeit der Felder und im Wohlleben der Krautgärten die Leiber pflegen, wird er auch vernichten. Nur die Heidhasen, die stillen und genugsamen, wird er übersehen, und schließlich wird Mensch gegen Menschen sich kehren, und sie werden sich alle ermorden. Dann wird Frieden auf Erden sein. [...]
Der Hase wird Herr der Erde sein, denn sein ist die höchste Fruchtbarkeit und das reinste Herz.«
Da rief der Kauz im Walde dreimal laut: »Komm mit, komm mit, komm mit zur Ruh, zur Ruh, zur Ruhuhuhu!«, und Mümmelmann flüsterte: »Ich komme«, und seine Seher brachen.

11 Dezember 2017

Wilhelm Raabe: Das Odfeld

Wilhelm Raabe: Das Odfeld

Raabe berichtet über die Schrecken de 7-jährigen Krieges; doch er versteht es, trotz durchaus realistischer Schilderung einzelner Vorgänge den Leser in so weitem Abstand von den handelnden und vom Geschehen betroffenen Personen fernzuhalten, dass er Grausamkeiten, Gefahren, Ängste und Verzweiflung gleichsam vom Lehnstuhl am Kamin zur Kenntnis nehmen kann, aber nicht ins Geschehen hineingezogen wird. 
Das beginnt schon damit, dass er in einer schier endlos langen Einleitung die Hauptperson, den Magister Buchius als einen der Unwichtigsten eines umfassenden historischen Vorgangs einführt.
Außerdem betont er fortwährend, dass seine Schüler und seine Kollegen ihn nicht ernst genommen haben, ohne nur an einer einzigen Situation den Leser mitfühlen zu lassen, weshalb er darunter so gelitten hat, dass er immer wieder aus der Schule in den Wald geflohen ist, um sich vor seiner Umwelt sicher zu fühlen. 
Weitere Techniken, dem Leser einen beruhigenden Abstand vom Geschehen kann man im Text in großer Zahl nachweisen.

Volltext

Ausschnitte:

1. Kapitel
Die Äbte von Amelungsborn
[...] Herrn Theodoro folgte auf dem jetzt ziemlich unbehaglichen Stuhl noch Dr. Statius Fabricius, der im Grunde als der letzte wirkliche Abt von Amelungsborn zu rechnen ist; denn nach ihm hatte das herzogliche Konsistorium zu Wolfenbüttel einen der Zeitenklemme angemessenen Gedanken. Es schlug zwei schwarze Brummer mit einer Klappe. »Wozu brauche ich noch einen Abt zu Amelungsborn, wenn ich schon einen Generalsuperintendenten zu Holzminden sitzen habe?« fragte es, – und: »Dich will ich belehnen mit Ring und mit Stabe, Dein Vorfahr besteige den Esel und trabe«, summte es noch vor Gottfried August Bürger, und Herr Hermannus Topp rückte als der erste Generalsuperintendent in Holzminden und Abt von Amelungsborn auf die Prälatenbank der Lande Braunschweig-Wolfenbüttel. [...]
Er war ein Mann der Ordnung, dieser Klosteramtmann von Amelungsborn; aber halte einmal einer Ordnung im Hause in Zeiten wie die eben vorhandenen! [...]

2. Kapitel
Magister Noah Buchius
[...] Für's erste haben wir es vor allen Dingen mit dem Magister Noah Buchius zu tun, den die Klosterschule bei ihrer Auswanderung allein zurückgelassen hatte auf dem Auerberge, wie man beim Auszug, halb des Spaßes wegen, einen alten, zerrissenen Rock am Nagel, einen alten, bodenlosen Korb im Winkel, ein altes, vermorschtes Faß im Keller zurückläßt, und das alles dem von seinen Nachfolgern schenkt, der es haben will oder es mit in den Kauf nehmen muß. Der Amtmann hatte den letzten Magister von Amelungsborn mit in den Kauf zu nehmen, nur auf allerhöchsten Spezialbefehl von Braunschweig aus, auf Gutachten herzoglichen Consistorii zu Wolfenbüttel. Wir aber heute, wir würden wohl nicht nach dem Herrn Amtmann in die Tage der Vergangenheit zurück gehorcht haben, wenn dem nicht so der Fall gewesen wäre. Wir haben dann und wann eine Vorliebe für das, was Abziehende als gänzlich unbrauchbar und im Handel der Erde nimmer mehr verwendbar hinter sich zurückzulassen pflegen. Wir nehmen manchmal das auch etwas ernster, was die Menschheit in ihrer Tagesaufregung nur für einen guten Spaß hält. O, wir können sehr ernsthaft sein bei Dingen, die den Leuten höchst komisch vorkommen. [...]
Wenn er ein Held war, so war er ein vollkommen passiver; und diese pflegen es dann und wann vor allen anderen Menschenkindern zu einem hohen Alter zu bringen, wenn auch nicht immer zu einem gesegneten.
Dreißig Jahre Schuldienst als der Sündenbock und Komikus der Schule! Der gute Mann mit dem ernsthaften Kinderherzen! Der von Mutterbrüsten an alte Mann mit der scheuen, glückseligen Seele der guten Kinder!
Wer in Kloster Amelungsborn hätte ihn missen mögen, da er einmal da war? Wer hätte nicht sein Behagen an ihm genommen? Wer hätte nicht seinen Ärger oder seinen Witz an ihm ausgelassen, und zwar ohne sich vorher nach seinen Stimmungen für beides ein wenig umzusehen? Im Lehrerkonvent wie im gesamten Cötus wußten sie, was sie an ihm hatten und wußten ihn danach zu schätzen. [...]

3. Kapitel
[...] Ein trüber Tag des Novembers Siebenzehnhunderteinundsechzig neigte sich seinem Ende zu, als sie auf der alten Köln-Berliner Landstraße zusammentrafen, der Klosteramtmann von Amelungsborn und sein Hausgenosse, der Magister Buchius, der Ex-Kollaborator am alten Ort der alten Klosterschule. [...]
Vom Südwesten her über den Solling stieg es schwarz herauf in den düstern Abendhimmel. Nicht ein finsteres Sturmgewölk, sondern ein Krähenschwarm, kreischend, flügelschlagend, ein unzählbares Heer des Gevögels, ein Zug, der nimmer ein Ende zu nehmen schien. Und vom Norden, über den Vogler und den Ith zog es in gleicher Weise heran in den Lüften, wie in Geschwader geordnet, ein Zug hinter dem anderen, denen vom Süden entgegen.
»Ich bitte Ihn, Herr,« rief der Amtmann. »Sie fliegen wohl ihrer Natur nach zu Haufen; aber hat Er je dergleichen Vergadderung des Gezüchts wahrgenommen?«
»Wahrlich nicht! O sehe der Herr doch, es ist, als würden sie von kriegserfahrenen Feldherren geführt. Sie halten an. Sie schwenken wie zur Schlachtordnung ein. Sie rüsten sich wie zur Bataille.«
»Bei uns! Herr, bei uns! Dort über dem Odfelde, über dem Quadhagen! So sehe Er doch, sehe Er doch, Magister! Soll man denn hier seinen leiblichen Augen trauen dürfen? Sie fahren wahrhaftig auf sich los, sie brechen aufeinander ein, dort dem Quadhagen zu und über dem Odfelde!« [...]
Der Magister hatte nicht den kleinsten Augenblick Zeit für seinen hochgewaltigen Haus- und Brotherrn übrig. Seine Aufmerksamkeit war ganz allein auf diese mirakulöse Schlacht der Raben, der Vögel Wodans, über Wodans Felde, über dem Odfelde, gerichtet. Mit erhobenen Armen und Stock focht er die Schlacht mit. In seinem gelehrten Gehirn drehte es sich im Tummel wie dort in den Lüften dem Mons Fugleri zu. Armin und Germanicus, Sachse und Franke, die Liga und der Schwed' sie lagen sich, in einen Knäuel verbissen, wiederum im Haar im Gau Tilithi, dem Ithgau, und der Magister Noah Buchius war von seiner Schule hinter sich gelassen worden, hatte so lange das Leben gehabt, um dieses Portentums mit eigenen Augen und bei vollen, klaren übrigen Sinnen teilhaftig zu werden, und die Anwendung daraus zu ziehen für den eben vorhandenen Tag und die gegenwärtigen schrecken- und sorgenvollen Zeitläufte.
Es wäre sicherlich aber auch für den nüchterneren und in den exakten, den empirischen Wissenschaften besser beschlagenen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts dieser Luftkampf nicht ohne Interesse gewesen und es hätte sich für ihn, wenn er den schreibenden Ständen angehörte, wohl verlohnt, einen Artikel darüber an die nächste Zeitung einzusenden und ornithologische Aufklärung in der Sache zu erbitten. Wir aber halten uns mit dem letzten gelehrten Erben der Cistercienser von Amelungsborn einzig an das Prodigium, das Wunderzeichen, und danken für alle fachwissenschaftliche Belehrung: wir lassen uns heute noch gern da an den Zeichen in der Welt genügen, wo besser Unterrichtete ganz genau das – Genauere wissen. [...]
Der Magister, immerfort aufwärts in das schaurige Luftkriegsspiel starrend – zuckte die Achseln. Zugleich aber griff er zu und hielt den Stockschlag auf, den der Klosteramtmann nach einem der aus der Schlacht herabgestürzten und verwundet vor seinen Stiefeln flatternden Kämpfer tun wollte. [...]

Wodurch schafft der Erzähler Abstand von seinem Gegenstand, dem 7-jährigen Krieg?

4. Kapitel
Die Unglückskrähe
 [...]  Der Magister hielt seinen Gehstock unterm Arm und den schwarzen, leise zappelnden und erschöpft sich wehrenden Streiter zwischen beiden Händen, behutsam und mit allem Mitleid gegen die Kreatur, betrachtend vor sich. Nun zog er sein Sacktuch und an den geschickten Griffen, mit welchen er den Vogel hineinband, erwies sich einleuchtend, daß er nicht nur aus seinen Büchern, sondern auch von seinen Scholaren etwas gelernt habe; daß er nicht umsonst an einer hohen Wald- und Wildnisschule zum Katheder hinan- und von demselben herabgestiegen war.
Der Amtmann sah seinem Beginnen anfangs verwundert stumm, sodann aber mit ängstlich-unwilliger Remonstranz zu und meinte zuletzt:
»Er wird mir doch das Untier nicht gar mit sich nach Hause schleppen wollen?«
»Ich möchte es wohl, mit des Herrn Amtmanns gütiger Permission. Sei es ad memoriam dieses seltsamen Abends sei es zur Genossenschaft in der Einsamkeit der Winterstube.« [...]

5. Kapitel
Sie blickten alle auch dem Magister nach, wie er seiner Tür zustapfte, die nicht in das Amts- und Wirtschaftsgebäude führte, sondern in den Flügel des Klosters, der einst hauptsächlich der berühmten Schule und ihren Lehrern Unterkunft gegeben hatte. Bemerkungen machten sie nicht hinter ihm drein, sie schüttelten höchstens die Köpfe. [...]

8. Kapitel
Monsieur Thedel von Münchhausen
[...] Monsieur Thedel von Münchhausen, der neuen Hohen Schule zu Holzminden erster – »noch zu Amelungsborn oft genug verwarneter« – Relegatus!... Ach, der Magister Buchius kannte ihn schon!... Daß er, Monsieur Thedel, der tolle Thedel, die Gegend zwischen der Weser und der Homburg auch bei Nacht kannte, das war diesmal wirklich sein Glück. Wäre es bei Tage gewesen, so hätte man es ihm wohl angesehen, daß ihm das Gezweig im Dickicht häufig genug den Hut vom Kopfe gestoßen habe, daß er nicht selten der ausgefahrenen Heerstraße aus dem Wege gegangen sei und einen Umweg durch die Wildnis nicht gescheut habe, um einem unnötigen oder gar niederträchtigen Aufenthalt auf seinem Marsche auszuweichen. Mehr denn einmal hatte ihn das Marodevolk von Auvergne, Pikardie oder hatten ihn welche von den Freiwilligen von Austrasien zum Führer brauchen wollen; doch auf die Gefahr hin, am nächsten Baum zu baumeln, war er den Zumutungen entgangen. Auf Stunden Weges wenigstens hatte er, wie er vermeinte, den Herrn Herzog von Broglio hinter sich gelassen und seine blauen, weißen und gelben Dragoner oft recht nahe auf den Fersen gehabt. Wie konnte der holzmindensche Schüler genau wissen, wo der große französische Oberfeldherr in diesen Tagen sich persönlich aufhielt? Hinter Lobach unter dem Eberstein hatte er aber seinetwegen jeden gebahnten Weg ganz aufgegeben und sich ganz im Walde verloren. Verloren? Das nun wohl nicht im wörtlichsten Sinne des Wortes. Dazu kannte er – leider Gottes – das Revier zu gut als der schlimmste nächtliche Wilderer der Sekunda und der Prima der frommen und hochgelahrten Klosterschule von Amelungsborn. Daß er dem Strick des Herrn Generals von Poyanne entging, war eigentlich gar kein Wunder, da ihn seinerzeit die Büchsenkugeln der Herzoglich Braunschweigischen Kammerförster der ganzen lustigen grünen Wildnis auch höchstens nur geschrammt hatten. [...]
Herr Thedel von Münchhausen ging lieber auch um Negenborn herum, eben wegen zu guter Bekanntschaft mit dem Förster dort, und schlug sich rechts durch den Wald, in welchem er von hier an jeden Baum, Stein, Stock, Stuken und Erdfall so genau kannte wie nur irgend Fuchs, Dachs, Hirsch, Reh und Wildschwein, sowie herzogliche grünröckige Beamtenschaft im Revier. So kam er ein wenig außer Atem und mit fressendem Hunger, aber bei sonst gesunden Gliedmaßen an auf dem südlichen Rande des Hooptals gegenüber dem Küchenbrink und Auerberge und saß, mitten in der Novembernacht den Schweiß von der Stirn mit dem Ärmel trocknend, einen Augenblick auf einem Stein und meinte: »Guck, er hat immer noch Licht!« Nach dem kurzen Augenblick des Verschnaufens nun hinunter zum Forstbach und auf der andern Seite des Tals wiederum in die Höhe, den steilen Abhang empor, zu dem Lichtschein aus der Zelle des Bruders Philemon und des Magisters Noah Buchius! Auch da ging am Gestein und im Gestrüpp ein Schlupfweg, den nicht alle Leute im Kloster so gut kannten wie der Junker Thedel von Münchhausen, welcher aber sicher doch schon seit manchem lieben Jahrhundert von Geschlecht zu Geschlecht durch die Leute von Amelungsborn hinter der Hand zu nützlicher Kenntnis weitergegeben worden war. »Der Schrecken, wenn ich ihn jetzt von hier aus auf sein: Qui vive? anschriee: France!« lachte der wilde, junge, nächtliche Wanderer, die flache Hand an die Mauern von Kloster Amelungsborn legend. »Aber wissen möchte ich wohl, wie spät es eigentlich am Tage ist. O Selinde, Selinde, du wirst nicht mehr Licht haben wie der Magister! Mein Herz, ach, wenn du wüßtest, wer jetzo hier um die Mauern schleicht!« Er schlich oder tastete in Wahrheit jetzt die Mauer des Klosters entlang. Wo andere um diese dunkle Stunde Hals und Beine gebrochen haben würden, ging er sicher wie – ein Nachtwandler. Jawohl, es war auch nicht das erstemal, daß er auch hier über dem Hooptal verbotene Wege gewandelt war. Der Baumast, der dort, wo die Gebäude zu Ende sind und die Hofmauer anfängt, an diese Mauer reicht, hängt seit der Tertia seiner nächtlichen Abenteuer voll. Er reitet auf diesem Ast, als der erste Hund von Amelungsborn seine Visite merkt und anschlägt. Und – bum – bum – bum, da ist auch die Turmuhr. Wie dem Magister Buchius zählt sie dem Junker Thedel von Münchhausen die elfte Stunde des Abends zu; aber dem Junker fehlt freilich die Muße, die feierlichen, langsamen Schläge gelassen nachzuzählen. »Verfluchte Köter!« murmelte er auf seinem Zweige zwischen den Zähnen. »Das ganze Nest machen sie mir rebellisch! Da hätte ich ebensogut morgen früh mit dem Herrn Marquis von Poyanne einrücken können! O Selinde, Mademoisell Selinde, mein Stern, meine Fackel, mein Herzbrand!« Und trotz allem Gekläff und Gebelfer in allen Tonarten der Hundekehle aus allen Gehöften der weiland Brüder Zisterzienser mit einem letzten Schwung vom Ast auf die Mauer! Erst rittlings da und dann mit beiden Beinen in den Klostergarten hinunter baumelnd:… [...]
Der Hund, der den Alarm gegeben hatte, stand innerhalb des umfriedeten Bezirks mit den Vorderpfoten hochaufgerichtet an der Mauer und blaffte immer wütender zu dem nächtlichen Eindringling empor.
»Kotz Blitz,« rief dieser. »Ich bin's, Erdmann! Pfü–it!« Und ein langgezogener Pfiff verwandelte das Gebell des treuen Wächters zuerst in ein erstauntes Schweigen, sodann in ein zärtlich Winseln und freudig Hin- und Herspringen. Schon stand der Schüler unten im Hof –
»Hund! Spitzbube, hab' ich dich!« schrie's ihm im Ohr, und ein schwerer Prügel wurde ihm um den Kopf geschwungen.
»Diesmal bin ich's noch einmal, Heinrich!« flüsterte der Junge lachend. »Hand vom Kamisol; und – wer ist außer dir noch wach zu Amelungsborn?«
»Herr Gott, unser Musjeh Thedel!« stammelte der Knecht Heinrich Schelze. »Der Herr Junker von Münchhausen. I du meine Güte – nu, nu, – also noch einmal so mitten in der Nacht? Ach je, ach herrje!«
»Kerl, so bring' doch zuerst die andern verdammten Bestien zur Ruhe. 's ist doch nicht das erstemal, daß wir uns so treffen hier an der Mauer? Diesmal aber habe ich nicht die Förster, sondern die Franschen auf den Hacken. Und der Herzog Ferdinand ist über die Weser, und ich bin auf dem Wege zum Herzog Ferdinand –.«
»Auch der!« murmelte der Knecht. [...]

Was erfahren wir über den Junker? Was hat er mit dem Krieg zu tun? Womit vergleicht er den Krieg?

9. Kapitel
[...] Thedel von Münchhausen zuckte greinend die Achseln: [...]
Ach ja, was ganz Besonderes ist nicht weiter vorgefallen, das Faß ist übergelaufen und damit basta. Sie haben mir in Zärtlichkeit geraten, nunmehro das Vaterland nicht länger warten zu lassen, sondern zum Kalbfell zu schwören, wie es mir in der Wiege gesungen worden sei, und zumal da der Herr Vormund in Wolfenbüttel ja selber dazu rate. Daß sie mir mit dem Herrn Vormund und Oheim rieten, doch meinen Herrn Vetter von Bodenwerder unter den hannöverschen Jägern, den hohen Alliierten und dem Herzog Ferdinand aufzusuchen, das traf wohl meine Meinung auch; aber – ohne meine Sehnsucht nach Ihm, Herr Magister, hätte ich sie doch noch einmal persuadiert, es noch einmal, zum allerletztenmal mit der lateinischen Stallfütterung bei mir armen Corydon zu probieren. Aber das Verlangen nach dem Herrn Magister –«
»Nach mir?« rief der gute alte Herr, die magern Hände zusammenschlagend. »O Theodorice, Theodorice, Er wird wohl noch auf Seinem Sterbebette Seinen Jokus treiben wollen! Ist denn dies eine Zeit zum Scherzen? So nehme Er jetzo doch für eine Viertelstunde Vernunft an und rede Er verständig, Monsieur. Er siehet doch meinen Kummer um Ihn, und – wir sind hier nicht mehr auf der Großen Schule zu Kloster Amelungsborn – sondern nur in der Kammer des alten, verbrauchten, unnützen Buchius, und – morgen früh ruft weder Ihn noch mich die Glocke zu den Lektionen, und Er hat an mir keine Materia mehr, sich zu präparieren zu einem neuen Spaß, mit dem Er die Herren Kommilitonen über den närrischen Magister Buchius zum Lachen bringen möchte!«
Dies kam nun in einer Weise zum Vorschein, die den jungen Menschen vollständig duckte. Es war keine Dumme-Jungen-Komödie in dem Ausdruck der Betroffenheit, der Reue, mit dem er sich auf die Hände des alten, vor Erregung zitternden Schulmeisters niederbeugte, sie ergriff und zwischen Verlegenheit und – ja, auch zwischen Tränen stotterte: »Der Herr Magister haben recht, Sie haben recht! Wir haben es alle, Konvent und Cötus, nicht um den Herrn Magister verdient, daß Sie einen einzigen freundlichen Gedanken für uns haben. Da; gleich und wie ein Lamm gutwillig lege ich mich da vor dem Herrn über den Stuhl – holen der Herr Magister Buchius Ihr spanisch Rohr und zahlen Sie mir nachträglich durch den Rest der Nacht, was ich an Ihnen pekziert und meritiert habe, und geben Sie's mir für das ganze Kloster, Abt, Amtmann, Rektor, Doktoren und Kollaboratoren mit. Haue Er sie nach Herzenslust in meiner Person. Lasse Er mich in dieser Nacht den wohlverdienten Sündenbock sein für Seine armen, elenden dreißig unbelohnten, übelbelohnten Jahre am Schuldienst zu Amelungsborn. Nachher brauche ich nur noch einen andern Abschied hier am Ort zu nehmen; dann werd ich ja auch wohl den Herrn Vetter auf dem Marsche durch den Ith irgendwo tot oder lebendig treffen, oder wenn den nicht, so doch ohnzweifelhaft den Herrn Herzog Ferdinand und – nachher werd ich's an die Franzosen weitergeben, was Er mir, liebster Herr Magister, in dieser Nacht an Restanten ausgezahlet hat. Da verlasse Er sich drauf! Vivat Ferdinandus dux! imperator! victor! Sie belieben zuzuhauen und mir den meritierten Lohn zu verabreichen.«
Der reuige Sünder hatte wahrhaftig sich den Stuhl vor dem Magister zurecht gerückt und holte wirklich und im vollen Ernst den Stock aus dem Winkel und bot ihn dem guten Herrn hin; aber dieser sprach, die gefalteten Hände vor sich hinstreckend und so mit ihnen abwehrend und mit einer durch Erregung und Rührung erstickten Stimme:
»Mein lieber Junker von Münchhausen!?« ...
»Sie belieben nicht? Der allerbeste Herr wollen alles mir boshaften Kujon und Halunken hingehen lassen? (ein Blick des Bösewichts streifte hier auch ganz unwillkürlich die Kuriositätensammlung des wackern Gelehrten), der Herr Magister will nicht an Thedel Münchhausen nachholen, was Er in dreißig Jahren an der ganzen hohen Schule von Amelungsborn, Cötus und Lehrerkonvent, hat verabsäumet? Dann – gebe Er mir Seine gute Hand und glaube mir, im ganzen römischen Reich, ja, im Universo lebet außer dem Herzog Ferdinand kein anderer außer Ihm, nach dem der wilde Münchhausen solch ein Desir und Verlangen gespürt hat in den letzten Zeiten!« [...]

10. Kapitel
»Woraus denn deutlich zu ersehen, wieviel diese barbarisch scheinenden Wörter bedeuten und wie geschickt sie besonders sind, alle sowohl allgemeine als besondere Schlußregeln zu übersehen und in jeder Figur sich alle richtigen Schlußarten einzuprägen. – Davon zeigt barbara die allgemein bejahenden, celarent die allgemein verneinenden, darii die besonders bejahenden und ferio die besonders verneinenden an usw.«
Also sagte dagegen, nämlich gegen die Lieder des siebenzehnten Jahrhunderts in Schweinsleder, die Deutliche und praktische Vernunftlehre für Schulen insgemein und also auch für die weiland hohe Kloster-, Wald- und Wildnis-Schule zu Amelungsborn. Aber wer gar nichts im Wachen und im Traum auf: Cacresen, bamalip, dimatis, fesapo, fresison hielt, das war des Herrn Klosteramtmanns Vetterstochter Mademoiselle Selinde Fegebanck. Sie war seinerzeit mit der Schule auch ohne die Logika der Scholastiker ganz gut ausgekommen und fertig geworden. Schlüsse wie:

Wer nicht gelehrt ist, ist kein Mensch,
Kein Bauer ist gelehrt, also
Ist kein Bauer ein Mensch,

mochten nach Paragraph Einundneunzig den Herren Primanern zum warnenden Muster diktiert werden, für Mamsell hatten sie nicht den geringsten Sinn. Die brauchte kein Muster, die wußte von ihrer Mutter her schon ganz genau, wo der Mensch anfängt und wo er aufhört. Sie hatte einfach gekreischt unter den Eichen im Sundern über die Konklusion:

Kein Mensch ist ein Engel,
Kein Vieh ist ein Engel, also
Kein Vieh ist ein Mensch.

»Musjeh von Münchhausen«, hatte sie gelacht, »wenn Er mich künftig wieder einmal einen Engel nennen will, bleibe Er mir nachher mit Seinem Buche und Seiner Gelehrsamkeit vom Leibe. Und dazu weiß ich auch gar nicht, was daraus werden sollte, wenn ich so dumm wäre wie Er. Aber ein guter Mensch ist Er, und ich sitze ganz gern mit Ihm hier im Grünen und bei der Hitze im Schatten im Hoop, und daß Er voll Lieder und Singsang steckt, wie der Buchenbaum voll Maikäfer, das gefällt mir auch schon; aber – Musjeh Thedel, wo wollte Er wohl mit mir hin? über die Eichbäume hinaus! ins Himmelblau und gar jetzo mitten im Kriege! und wie mein Onkel und Seine Herren Lehrer über Ihn denken, das weiß Er doch auch; und – Herr von Münchhausen, Er närrischer Eulenspiegel, zu früh soll doch niemand erfahren, wo Barthel Most holt. Das hat mir meine selige Mutter zu zehntausend Malen gesagt und hat noch auf ihrem Totenbett gesagt: Mädchen, daß du mir nicht dumme Dinge machst in Amelungsborn unter den Herren Scholaren und jungen Herren Magistern. – Da, küsse Er mir denn die Hand, wenn Er durchaus es nicht lassen kann!« ... [...]

Und auf den Lippen mit den Reimen:
»Ist es möglich, daß du weinest?
Ist es möglich, daß du meinest,
Daß ich dich verlassen kann?«
war sie guten Gewissens und gesund eingeschlafen, um im Traum ihr Dasein und Wesen in der Welt weiter zu spielen wie im Wachen. Kloster Amelungsborn, sein Amt und seine Schule, der Siebenjährige Krieg, die schwarzen Lateiner, die preußischen Husaren, die französischen Dragoner vertrugen sich in Mademoiselle Selindens harmloser, alberner Seele besser miteinander, als es die meisten Geschichtsschreiber für möglich halten. Und wenn die Leute auf der Letzteren Schrift doch bauen und trauen und ihr auch gern nachgehen haufenweise, so ist das recht gut aus mehrfachen Gründen.
Das gute Mädchen flog ebenfalls die ganze Nacht durch. Von der Rabenschlacht hatte sie natürlich auch vernommen und auch den Kämpfer aus derselben, den Magister Buchius mit nach Hause brachte, betrachtet. Von der Rabenschlacht hatte sie natürlich auch vernommen und auch den Kämpfer aus derselben, den Magister Buchius mit nach Hause brachte, betrachtet. Sie hatte wie die meisten andern ihrem Ekel über das Untier Worte verliehen, und nun rächte sich der Spuk, so gut er konnte, und ließ sie im Traum erleben, was der Justizamtmann Bürger zu Alten-Gleichen im Calenbergischen, zehn oder elf Jahre später, in die deutsche Literaturgeschichte als großer neuer Poet hineinsang nach dem Dorfmädchenliede:



Sie hatte wie die meisten andern ihrem Ekel über das Untier Worte verliehen, und nun rächte sich der Spuk, so gut er konnte, und ließ sie im Traum erleben, was der Justizamtmann Bürger zu Altengleichen im Calenbergischen, zehn oder elf Jahre später, in die deutsche Literaturgeschichte als großer neuer Poet hineinsang nach dem Dorfmädchenliede:
»Der Mond, der scheint so helle,
Die Toten reiten so schnelle:
Feines Liebchen, graut dir nicht?«
Und an den an der Gartenmauer den ewigen Schlaf schlafenden Königsdragoner Unterleutnant Seraphin hatte sie auch nicht ohne Gefährde beim Zubettesteigen gedacht. Sie hatte einen feinen Traum; und man hebt einen Zipfel von der Decke vor dem großen Mysterium der Welt, wenn man bedenkt und ganz genau in Betrachtung zieht, daß die Dummen und Armen im Geiste die allerwundervollsten und geistreichsten Träume haben können, ebenso geistreiche und sonderbare als wie die Klugen, die Weisen, sowohl am Tage wie bei Nacht. Mamsell Selinde wurde auch im November 1761 abgeholt von ihrem toten Dragoner wie Lenore von ihrem Wilhelm. Es stand aber ein weißes Roß an der Mauer des Gemüsegartens, und der Himmel war hellblau, die Sonne stand im Mittage, Wald, Feld und Wiesen waren grün, und es kam ein lustiges, frisches Windeswehen dazu her vom Hils, vom Ith, vom Vogler über die alte Ringmauer der Zisterziensermönche von Kloster Amelungsborn. Lustige Musik von nah und von fern klang der Jungfer ins Ohr. Als ob es sich von selbst so verstünde, war sie in ihrem allerbesten Sonntagsstaat mit Bändern und Reifrock und Stöckelschuhen, mit Puder und Handschuhen – eben noch in ihrer Kammer auf dem Bettrande und nun draußen im Garten, im blühenden Garten voll von Bienen und Buttervögeln. Über die Klosterringmauer sah der weiße Pferdekopf und winkte der junge lachende Reiterleutnant im weißen Rock und Silber der Dragons de Ferronays mit dem Federhut: Wir reiten, wir reiten, Mademoiselle! – Ich wollt Ihm aber doch noch ein Zweiglein Rosmarin an die Kokarde stecken, Monsieur, sagte die Jungfer, hat er es denn gar so eilig, Monsieur Seraphin?... Die wilde Rose, la fleur d'églantine, dort vom Busch, Mademoiselle! Wir reiten, wir reiten – Sattel und Steigbügel! – Unsere Zeit ist hin im deutschen Lande – westwärts, südwärts, durch Nebel und Schnee, durch Regen und Sturm über den Rhein in die Sonne, ins warme lustige Frankreich zurück! Es ist Platz im Sattel, Mademoiselle, ma belle, ma jolie fleur de romarin – wir reiten, Mademoiselle Selinde! [...]
Alles im Sonnenschein – der Garten, das alte Kloster – weiße Tauben in Schwärmen um die Dächer und den Kirchturm und – mit einem Male in den Lüften über der grünen Welt – im Sattel vor dem Reiter des Königs Ludwigs des Fünfzehnten, mitten im Tilithigau: La France! Vive la France! Mamsell Selinde verstand im Wachen kein Französisch, aber im Traume verstand sie es: »Frankreich, Frankreich!« rief und jauchzte es um sie her tausendstimmig. Zu Hunderten, zu Tausenden ritten sie – ritten sie westwärts der Weser zu – alle die törichten Kinder der belle France, die ihr Grab ostwärts des gelben Stromes, diesmal im lieben kleinen Kriege der Madame de Pompadour gefunden hatten. Auf Wodans Felde, über dem Odfelde, über dem Quadhagen, wo gestern die schwarzen Vögel gestritten hatten, sammelten sich die luftigen, lustigen Geschwader in Gold und Rot und Blau, in Silber und Weiß und Grün und Gelb: Champagne und Limousin, Dragoner von Ferronays und du Roy, Freiwillige von Austrasien, Grenadiers von Beaufremont, Grenadiers royaux, Carabiniers von Castella, Carabiniers von Provence. Wer zählt es im Wachen, was Mamsell Selinde nicht im Traume zählen konnte – alles das, was in den beiden letzten Jahren nur zwischen dem Harz und der Weser der Mutter Erde und dem Bauernspaden anheimgefallen war? Ja, hurre, hurre, hop hop hop, aber beim hellichten Tagesschein und ohne alles gespenstische Grauen! Mademoisell Selinde fand nicht das geringste Sonderbare dabei, daß sie den linken Arm um den hübschen jungen Dragoner vom Regiment Ferronays geschlungen hielt und mit der rechten Hand hoch aus den Lüften über dem Campus Odini des Magisters Buchius deuten konnte: da unten geht ja die Frau Tante übern Hof, und in der Milchkammer sollte ich eigentlich auch jetzo sein, Musjeh Seraphin! – [...]

11.Kapitel
 »Herr Magister!«
Das wurde wie in einen tiefen Brunnen hinuntergerufen, und es dauerte seine Weile, ehe Antwort heraufkam.
»Herr Magister Buchius!«
»Eh – eh – heu! Si fractus illabatur –«
»Jawohl – orbis! wenn der Erdball einfällt, den Weisen weckt's nicht! Eben schlagen sie das Hoftor ein, und der alte Impavidus nimmt's bloß für den Weltuntergang und schnarcht weiter, weil ihn die Ruinierung nichts angeht. Einen famosen Schlaf mit gutem Gewissen muß der alte Herr bei dem Lärm haben! Aber auf muß er. Herr Magister! Herr Magister Buchius – die Schulglocke!«
Beim letzten Wort saß der alte Schulmeister aufrecht auf seinem Bett, mit beiden Händen hastig um sich herumgreifend wie nach seinen nötigsten Kleidungsstücken, seinen Büchern, seinem nur zu harmlosen Bakel. Dem jungen grinsenden Bösewicht zitterte in seiner Lust an dem Witz der Stunde die Lampe, mit der er dem erschreckten Kollaborator ins Gesicht leuchtete, in der Hand.
»Ecce! ehem! hem! papae! um Gottes willen, wie spät –«
»Beruhige sich der Herr Magister nur. Zu spät ist's noch nicht. Wir haben das ganze Pläsier noch vor uns. Der Tag bricht eben erst an, und es ist nicht der Herr Rektor von Amelungsborn, der an der Tür trommelt, sondern es sind nur die lieben Herren Franzosen, die wieder das Tor einschlagen und nochmal Quartier verlangen. Der Herr Prior und Rektor liegen hoffentlich zu Holzminden im Frieden und in den Federn und lassen höchstens im Traum den Herrn Magister grüßen.«
Diese ausführlicheren Benachrichtigungen waren wirklich nicht nötig. Zu halbem Bewußtsein gelangt, merkte es der alte Herr schon, daß es nicht sein früherer Scholarch sei, der ihm auf den Hacken sitze, sondern daß nur der Krieg der Krone Preußen mit der ganzen Welt augenblicklich noch fortdauere und Kanada immer noch in Deutschland erobert werde. Die Trommeln der ziehenden Truppen, das Krachen des eingeschlagenen Klostertores, das Gebrüll und Hallo auf den Höfen, auf den Treppen und in den Korridoren sprachen laut und deutlich genug für sich selber. Nur die Anwesenheit, die Gegenwärtigkeit des Junkers von Münchhausen war dem aus tiefstem Schlaf Erweckten für einige Momente noch unbegreifbar.
»Die Franzosen! Ei, ei. Aber – nae ego – Er, Monsieur Thedel? Ja, aber ist Er – wie kommt Er?... Ja so!«
Mit den letzten zwei Worten war Magister Buchius wieder vollkommen bei sich und mit allen vom Himmel gespendeten Seelenkräften beim laufenden Tage: »So hat Er recht gehabt, Musjeh Thedel; und uns möge Gott noch einmal gnädig sein, wie er uns schon so oft geholfen hat.« [...]

12. Kapitel
[...] Magister Buchius nahm seinen Hut vom Haken und drückte ihn fest auf die Perücke. Er nahm seinen Stock aus dem Winkel. Wie ein richtiger alter Römer beim Einbruch der Gallier wollte er auf alles gerüstet und gefaßt sein. Es war auch nur ein Unterschied in der Zeitenfolge und im Kostüm, wie er so dasaß an seinem Tische auf seinem Stuhl in seinem Museo, Wohn- und Studiergemach – aufrecht, das hispanische Rohr fest aufgestellt auf den Boden zwischen den Knieen, den Hut auf dem Haupte. Wenn Kloster Amelungsborn heute im Abgrunde des Zornes des Höchsten versank, den Magister Buchius fand und empfing der Abyssus in voller Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit vor dem Herrn; aber auch außer durch den Trost auf die Barmherzigkeit desselbigen Herrn für alles aufs wackerste gewappnet durch die tagtägliche, erfreuliche Beschäftigung mit dem Altertum! Dem klassischen nämlich. Fast mit einem süßen Grauen wartete er darauf, daß ihn der Neugallier an der Nase in Ermangelung eines Bartes zupfe. Er hatte sein volltönend Wort dafür in Bereitschaft; aber – er hatte zu warten. Während der Lärm drunten fortdauerte und drüben von Augenblick zu Augenblick ärger wurde, ließ sich in seinem abgelegenen Winkel keine Seele blicken. Er wartete auf den barbarischen Feind ebenso vergeblich wie auf seine Morgensuppe. Es blieb ihm wahrhaftig nichts anderes übrig, als wie in ruhigeren Zeiten so auch heute zuerst »in das Wetter« zu sehen. Er tat's, indem er sich mit einem Seufzer von seinem Stuhl erhob. Sein Stubengenoß hüpfte ihm dicht auf den Fersen nach und hob sich wie von demselben Gedanken getrieben und sprang neben ihm in die Fensterbank, gleich einem, der auch wohl in dieser Hinsicht sein Urteil abzugeben habe. Es war nunmehr ein wenig heller geworden, wenngleich noch lange nicht Tag. Der Regen hatte aufgehört, aber ein dichter Nebel füllte nicht bloß das Hooptal, sondern bedeckte die Welt um Amelungsborn überhaupt, als habe das alte Kloster seine weiland Mönchskappe nochmals ob dem Greuel der Welt bis über die Ohren hinuntergezogen. [...]
Es kracht dort tüchtig in den Bergen, sowohl Gewitterdonner wie Kanonendonner. Für die Mord- und Raubbande auf dem Klosteramtshofe war das Gekrach vom Ith wie ein neuer Stein; aber diesmal wie ein Stein in einen Spatzenhaufen. »L'ennemi! l'ennemi! Der Feind, der Feind! Les Prussiens, les Prussiens! Les Anglais! les Anglais! Le duc Ferdinand!« Die wüste Menschenwelle, die sich eben gegen das Haus gewälzt hatte und über den Magister Buchius und den Herrn Amtmann, ohne sich um ihre Knochen zu kümmern, weggegangen war, schlug jetzt zurück. Im panischen Schrecken stürzte alles Kriegsdiebsgesindel, mit sich schleppend, was es in der Morgendämmerung und Hast gegriffen hatte, aus allen Türen und wälzte sich, wiederum über die beiden zu Boden liegenden Herren weg, gegen das Hof- und Klostertor. Binnen fünf Minuten war Amelungsborn rein von ihm bis auf den vom Faustschlag Thedels von Münchhausen immer noch besinnungslos auf dem Stroh liegenden Korporal oder Sergeanten Ribaudin. Also so frei von Einquartierung, als das an einem Tage wie dieser und an einer so nahe beim Schlachtfelde gelegenen Wohnstätte nur irgend der Fall sein konnte! [...]


13. Kapitel
Trotz aller Bedrängnis vorhin hatte Magister Buchius sein hispanisch Rohr nicht fahren lassen. [...]
Von irgendwelchem Unrecht, so ihm im Leben geschah, kam ihm die genauere Empfindung erst nach genauerer Überlegung. Ja, wochenlang, mondenlang hatte er sich in solchen Fällen über die Frage abzuquälen und abzuängsten: ob das Unrecht nicht auf seiner Seite liege und er also den Lohn dafür in Geduld hinnehmen müsse. Dieses tat dem Faktum, daß er ein tapferer Mann, ein seiner gelehrten römischen und griechischen Ahnen gar würdiger Mann war, nicht den mindesten Abbruch. Er bleibt deshalb doch diesmal unser Held – unser Heros, und wir kennen unter unseren lebenden Bekannten nicht viele, mit denen wir lieber betäubt, verwirrt, unfähig zu begreifen, uns zu fassen im Kreise taumelten und – wieder fest auf die Füße gelangten. Wir greifen mit ihm nach dem Hut, den ihm wie im äußersten Bedürfnis, nichts von ihm in seinem Hof- und Hausbezirk bei sich zu behalten, der Klosteramtmann von Amelungsborn vermittelst seines bestiefelten Fußes in der wirklichen Unzurechnungsfähigkeit aus der Tür auf die Landstraße nachschickt; und wir drücken ihn uns mit ihm auf die zerzauste Perücke und – suchen uns mit dem Magister zu fassen. [...]


14. Kapitel
[...] Faß Er zu, Thedel. Dei providentia mundus administratur, sagt Marcus Tullius: wer weiß, wozu Er gestern nacht nach Amelungsborn gesendet worden ist, lieber Münchhausen. Hat Er den Invaliden fest? Hoch mit ihm und – sursum corda, hat der Herr uns bis hieher in seinem Nebel geführt, so wird er uns auch im Lichte seines Morgens nicht verlassen. Siehst du, es ging, Wieschen. Da hast du deinen Schatz sicher im Arm. Der Herr Amtmann werden uns auch diesen Notgebrauch seines wackern Gauls verzeihen. Nehme Er den Hans am Zügel, und, Mademoisell, Sie nehmen gütigst meinen Arm. Das nennet man in Wahrheit vasa colligere, lieber von Münchhausen, und itzo dieses im bittern Ernst ein agmen compositum. Nun denn, signa canunt! Wir können leider keine Speculatores voraufschicken. Gradaus! vorwärts! Vivat der Herr Herzog Ferdinand! Grad seinem Kanon zu, hin unter des Löwen schützende, großmütige Tatzen. Ihr Berge fallet über uns und decket uns, daß die Heere über uns wegtreten und wir ihren Fußtritt über uns hören, so wir uns bergen im Schoße der Erden!« »Wer sein Testamente noch in procinctu machen will, der tue es«, lachte der tolle Thedel, und Magister Buchius meinte verwundert: »Siehe, siehe, Er hat doch dann und wann in denen Lektionen besser acht gegeben, als man hat glauben dürfen.« Sie machten nämlich dann und wann vor dem Angriff ihr Testament, die alten Römer: in procinctu, auf dem Sprunge. Mit einem Seufzer dachte der Magister an sein wunderlich Hab und Gut in der Zelle des Mönchs Philemon und mit einem Schulterzusammenziehen an die, so sich in gegenwärtiger Stunde wohl schon selber zu Erben seiner Reichtümer eingesetzt haben mochten.

15. Kapitel
Vom achten September siebenzehnhunderteinundsechzig war die Verordnung des Marschalls Duc de Broglio datiert, durch welche »allen Behörden, Beamten, Untertanen der von den Truppen Sr. Allerchristlichsten Majestät in Besitz genommenen Hannöverschen und Braunschweigischen Lande befohlen wurde, in ihren bisherigen Aufenthaltsorten zu verbleiben und sich vor allen Dingen nicht mit ihren Pferden und Vieh in die Wälder und auf die Berge und auch nicht – unter die Erde zu flüchten«. Der Strick stand drauf, wie schon gesagt worden ist, und das Edikt war am fünften November des genannten Jahres mehr denn je in Kraft zwischen der Weser und der Hube bei Einbeck. Magister Buchius, der letzte Kollaborator von Kloster Amelungsborn, hatte aber dessenohngeachtet die feste Absicht, ihm zu trotzen, alle Consequentien auf sich zu nehmen und sich so tief als möglich bei den Unterirdischen zu verkriechen. Er hatte mit seinen Begleitern wohl ebenso guten, triftigen Grund dazu wie jeder arme Bauer mit Weib und Kind und der letzten magern Kuh. [...]


16. Kapitel
Magister Buchius überhörte diese Frage und den laut hinausgejauchzten Weidmannsruf wie alles andere, was eben geschwatzt worden war. Er stand auf sein spanisch Rohr gelehnt und sah auf die Schlacht hin und hinunter, wie er am gestrigen Abend zu ihr emporgeschaut hatte. Nun wimmelte das Odfeld von streifenden Reitertrupps beider kämpfender Heere, und die Pferdehufe stampften die Leichname der schwarzen geflügelten Sieger und überwundenen von gestern in Sumpf und Moor und den Heideboden. Den Ith entlang scholl die Trommel und der Dudelsack ununterbrochen in das Kleingewehrfeuer hinein, und über den Quadhagen und den Eschershausener Stadtberg hinaus hörte man wohl, daß General Conway und Mylord Granby den Herrn von Poyanne scharf in der Schere hielten, um dem Herrn Generalleutnant von Hardenberg so lange als möglich Zeit zu lassen, auch an ihn heranzukommen und möglicherweise das Beste zum Tage zu tun. Man vermochte es nicht mehr zu unterscheiden, was als Nebeldampf noch an den Bergen hing und aus den Tälern aufstieg, oder was Dampf der Schlacht war. Aber auf ruhige Zuschauer war nicht gerechnet, und langes Besinnen galt nicht für Leute, die unbemerkt durchschlüpfen und ihren Leib – einerlei wo, ob über der Erde, ob unter der Erde, in Sicherheit während der Bataille zu bringen wünschten. Wer wußte jetzt einen Unterschlupf? Sie taten die Frage und – »Ich!« sagte Magister Buchius, und er hatte noch niemals in seinem an die Seite gedrückten, scheuen, schweigsamen, überschrieenen, überlächelten, überlachten Dasein den Accentus so kraftvoll auf das persönlichste aller Fürwörter gelegt wie jetzt. [...]

Der Magister führt seine Gefährten in eine Höhle, die er sich in den Zeiten, als sich Schüler und Lehrer über ihn lustig gemacht hatten, als geheimen Rückzugsort eingerichtet hat.


18. Kapitel
[...] »Der alte Buchius!... er ist ein Held, ein Heros – ein Heros! Und die Große Schule zu Kloster Amelungsborn war der richtige Eselstall. Vivat der alte Buchius, der Magister Buchius! Aber wundern soll's mich, was für ein Nest er sich verstohlen und heimlich, selbst hinter meinem Rücken, hier in der Wildnis ausgebaut hat. Sehe ein Mensche – nur mutig, Courage, Mamsell, Allerschönste – es geht ja ganz hübsch in die Tiefe – o ihr unsterblichen Götter, na, dies ist denn wirklich ganz riesig, ganz famos und das Kuriöseste, was mir heute passieren konnte.« [...]
»'s ist wie lebendig begraben! Lange halte ich das nicht aus«, wimmerte Mamsell. »Ich auch nicht«, rief Thedel Münchhausen, und dann erlosch das Licht in der Laterne, und Magister Buchius ergriff das Wort. Er – er – er versuchte es wenigstens, die Angst der gejagten Menschenkreatur im Finstern zu beschwichtigen; er, der so oft in seinem kümmerlichen Dasein, im dunkeln Winkel verkrochen, vor dem lustigen Leben der Welt den Vogel Strauß hatte agieren müssen. »Liebe Freunde, liebe Kinder«, sagte er und riet er, »einen Augenblick, nur eine kurze Weile die Augen zumachen! Nachher scheinen die Sterne wieder in den Brunnen, oder, ich sage es besser, wir sehen noch ferner das angenehme Licht auch dieses schlimmen Tages.« Wie die Kinder taten sie, was ihnen geraten wurde, und saßen eine geraume Weile still, auf die Schlacht draußen horchend, auf diesen Donner, der nur wie ein ununterbrochenes leises Murren durch die Felsenspalten zu ihnen in die Tiefe hinabdrang. Als sie wiederum aufblickten, merkten sie, daß der schwache Schimmer des Tageslichtes, welcher durch dieselben Steinritzen in ihren Zufluchtsort einsickerte, genügte, sie »lebendig im Grabe« bei Besinnung zu erhalten. Nach fünf weiteren Minuten seufzte Thedel wahrhaft kläglich vor sich hin: »Und das hat Er, Er, Er herausgefunden?!... Er! Und wir haben gemeint, der Wald und der Berg vier Stunden um Amelungsborn sei nur für uns in die Welt hingestellt worden! Jetzt steckt Er uns alle in die Tasche, und der Bauerochse Schelze kann ihm nur verstohlen auf der Fährte folgen. Es ist eine Blamage für die ganze Schule, und es war die allerhöchste Zeit, daß sie aus der lichtgrünen Waldgloria nach Holzminden zu den Schustern, Schneidern und Leinewebern verlegt wurde.« Laut rief er – im rand- und bandlos hervorbrechenden Enthusiasmo schrie er: »Vivat der Herr Magister Buchius! Der Herzog Ferdinand und die Canaillen, der Poyanne und der Chabot, müssen sich am Ith treffen, daß der letzte vom richtigen Amelungsborner Cötus nun, da es zu spät ist, seinen besten, liebsten, tapfersten, klügsten Herrn Magister ganz kennenlerne.« [...]

19. Kapitel
Sie saßen ja wohl nunmehr in verhältnismäßiger Sicherheit. Wie lange aber der Jüngste unter ihnen, der wahrlich nicht hierum in vergangener Nacht von Holzminden herübergelaufen war, es in solcher Sicherheit aushält, das werden wir wohl auch erfahren. Zuerst gefiel es ihm in diesem dunkeln Loch nur allzu gut, wenn auch aus einem Grunde, den Magister Buchius wenig oder gar nicht billigen konnte. Er, Junker Thedel von Münchhausen, hatte es wahrlich auch so weit im Virgilius gebracht auf der Großen Schule zu Amelungsborn, daß er grinsend in dem saubern unterirdischen Cachot das Wort des in solchen Sachen ganz erfahrenen Vaters Zeus, nein, seiner tugendsamen Gattin, der auf Sitte, Zucht und Anstand sehr haltenden Frau Juno, zitieren konnte: »Weil die geschäftigen Rotten die Tal umstellen mit Fanggarn, Schütt ich hinab und errege mit haltendem Donner den Himmel Dann zur selbigen Kluft gehn Dido und der Gebieter Trojas ein.«... »Jeses, man kriegt so schon keine Luft vor Angst und in der Pechrabenschwärze – dichter braucht Er mir nicht auf den Leib zu rücken, Thedel. So lasse Er doch das Drängeln, Herr von Münchhausen!« klang es plötzlich aus einem Winkel der Spelunca, weinerlich, verdrießlich, abwehrend. »Münchhausen!« erscholl es von der andern Seite her, vermahnend, abmahnend; »aber lieber Münchhausen, wenn Er da drüben keinen Platz findet, so krieche Er hier herüber zu mir her und belästige Er nicht Mademoisell unnotwendigerweise. Hier ist des Raumes zur Genüge für Ihn und mich.« »Mademoisell Selinde, o mein Licht im Dunkel«, flüsterte es drüben, während Magister Buchius vergeblich auf Antwort und Folgsamkeit wartete. »Mein Wiesenstern, mein Rosenstrauch, mein Schönheitsspiegel, je tiefer der Abgrund, desto höher meine Seligkeit; je finsterer die Hölle, desto heller meine Sonne; je kälter der Keller, desto heißer meine Amour!...« »Er ist ein ganz dummer Kerl, Herr von Münchhausen, und wenn mir nicht alle Glieder vor Nässe, Frost und Ängsten beberten, so sollte Er schon – jetzt aber lasse Er ab – ist das ein Ort und eine Stunde für dumme Flattusen und Dummejungens-Kindereien? So höre Er doch auf Seinen alten verrückten Schulmeister, Thedel!« flüsterte es zurück. [...]
Verhältnismäßig sicher ist es zwar in der Höhle, aber dunkel, feucht und ausgesprochen ungemütlich. Da Thedel von Münchhausen aufgrund des Widerstandes der von ihm geliebten Mamsell Fegebank das Dunkel nicht für seine Zwecke nutzen kann, sondern sogar erheblich im Gesicht gekratzt wird, und weil es draußen ruhiger geworden ist, wagen sich die ersten, aus der Höhle zu gehen. Dort fallen sie aber alle in die Hände der alliierten Soldaten, die unter Herzog Ferdinand kämpfen. Als sie in die Nähe des Herzogs kommen, wird dieser aufgrund der Hilferufe von Wieschen auf sie aufmerksam. Thedel von Münchhausen bietet sich als ortskundiger Führer der Vorhut an, und der Herzog befiehlt seinen Soldaten, die Übrigen so weit in Richtung des Klosters zu bringen, dass sie nicht mehr in die Hände von Marodeuren fallen können. Sie verstecken sich im Dickicht und warten ab, bis sich der Schlachtenlärm verzogen hat. Als sie herauskommen, finden sie auf dem Odfeld unter den Leichen von Freund und Feind Thedel von Münchhausen.

23. Kapitel
Er, der Junker Thedel von Münchhausen, lag mit einem letzten im Tode erstarrten lustigen Lachen auf dem Knabengesicht unter dem schweren engländischen Reiterpferd. Man sah es ihm an, daß er noch sein fröhlich Teil an der Franzosenjagd genommen hatte und weggenommen war von der Erde im vollsten Triumphe, die Elliots gut geführt und sie nach bestem Wissen und Kräften und zur Zufriedenheit Seiner Durchlaucht des Herzogs Ferdinand heute noch einmal an den Feind gebracht zu haben. Aber der Magister Buchius kniete wortlos unter den Leichnamen von Menschen und Vieh auf dem Odfelde und hielt das Haupt seines bösesten und besten Schülers, seines liebsten, liebsten Schülers in den Armen; und mit einem Male fing er an, bitterlich zu weinen, als ob alles, was er an Kummer und Verdruß in seinem langen Leben und am heutigen kurzen Tage still hintergeschluckt hatte, in einem Strom sich Bahn breche aus seiner tiefsten Seele heraus. [...]
»Herr, Herre, lieber Herre, Schlimmeres hätte auch mir heute nicht passieren können, ausgenommen wenn ich nicht mein Mädchen bei Leben, gesunden Gliedern und bei Ehren hätte behalten können. So reden der Herr Magister doch nur ein Wort! Ach Gott, so ein junger Herr und Menschensohn! Was ist es uns für ein Trost, daß es ihm doch noch besser zuteil geworden ist als tausend andern heute? Guck, da richtet sich wieder einer im Röhricht auf und jammert nach uns herüber auf engelländisch, ohne daß wir ihm nach Hause helfen können.« »Nach Hause!« murmelte Magister Buchius. »Ja, nach Hause!« rief Knecht Heinrich, seine Pudelmütze zwischen den harten Fäusten zerknüllend. »Ein schönes Nach-Hause für alles, was heute hier um den Ith herum gern nach Hause möchte aus Frankreich, England, Bückeburg und dem Hessischen, Braunschweig und allem, was sonst so zu uns ortsangeborenem deutschen Volke gehört. Herr Magister, lieber Herr Magister, da haben der Herr Junker doch wieder ihren Willen gekriegt. Die wollten immerdar nur von Hause weg – von Schulen und von Hause weg – und sie haben einen sanften Tod gehabt, liebster bester Herr Magister, und brauchen sich nicht mehr zu sorgen wie wir andern, was ihnen zu Hause für den Abend aufgehoben ist, liebster, bester Herr Magister. Ach, lasse Er mich Ihm wieder aufhelfen, lieber Herre!« »Ach Gott ja, es hilft ja nun weiter nichts! lasse Er uns doch nur Ihm wieder aufhelfen, liebster Herr Magister«, schluchzte auch das Wieschen. Magister Buchius ließ das Haupt Thedels von Münchhausen sanft aus seinem Schoße in das triefende Gras und Kraut des Odfeldes niedersinken: »Du bist freilich jetzt zu Hause, mein wilder, guter Sohn, und brauchst nicht mehr auf der Welt Schulbänke auf und ab zu rücken. Dir ist es wahrlich einerlei, ob die Katheder von Kloster Amelungsborn noch stehen oder ob sie übereinandergestürzt worden sind.« [...]

Im Kloster finden sie den Klosteramtmann und seine Leute schwer getroffen durch die Plünderung und die Misshandlungen völlig apathisch vor. Obwohl Amtmann Magister Buchius zuvor aus dem Kloster gewiesen hatte, ist er jetzt zufrieden, dass der wieder zurückgekommen ist. Der Magister findet seine Zelle verschlossen vor, die Marodeure sind nicht eingedrungen. Freilich, trotzdem ist vieles zerstört. Das Unheil hat der Rabe verursacht, als er bei seiner vergeblichen Nahrungssuche immer aufgeregter wurde.

25. Kapitel
[...] »Krah!« rief der Vogel, als wolle er bemerken, daß er noch immer da sei. Und er flatterte auf und ungeduldig in der Zelle des Bruders Philemon im Kreise umher und schlug noch einen letzten germanischen Aschenkrug dem Gastfreund vom Brette. Man merkte es ihm wahrlich nicht mehr an, daß er gestern seinerseits eine Wunde aus der Schlacht über dem Odfelde davongetragen habe. »Du? Du? Du?« murmelte der Magister Buchius. »Du willst hinaus? Du willst helfen von der Weser bis zum Hils? Du willst mir, mir helfen auf dem Odfelde?« Er hielt den Fensterriegel, wie um ihn gegen Gott, Teufel und Welt festzuhalten, und das Fenster zu. Und er reichte in seinem Grauen mit seiner Kraft doch nicht aus. Der wilde, schwarze Bote und Streiter Wodans wurde immer ungebärdiger, wurde wie toll in seinem Willen. Er flog gegen den Kopf des Magisters, er stieß mit seinem Kopf gegen die kleinen runden Scheiben, daß sie in ihren Bleieinfassungen erklirrten. Vergebens wehrte sich der alte Schulmeister der weiland Großen Schule von Amelungsborn mit vorgehaltenem linken Arm und Ellenbogen: das Tier setzte seinen Willen durch. »Fahre zu!« ächzte der Greis, das Fenster öffnend und seinem dunkeln Gast den Ausgang aus seiner Zelle freigebend. »Ich weiß nicht, von wannen du gekommen bist, ich weiß nicht, wohin du gehst; aber gehe denn – in Gottes Namen – auch nach dem Odfelde. Im Namen Gottes, des Herrn Himmels und der Erden, fliege zu, fliege hin und her und richte ferner aus, wozu du mit uns andern in die Angst der Welt hineingerufen worden bist.«