09 Dezember 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 37.- 41. Kapitel und Nachwort)

Siebenunddreißigstes Kapitel
Im Sommer fiel ein dunkler Schatten weniger auf mich als auf Mary. Hohenhaus war inzwischen verkauft worden, Frida Thienemann und Olga hinunter nach Kötzschenbroda gezogen. Da kam die Nachricht, Frida sei erkrankt, die Krankheit sei ernst, hieß es nach einigen Wochen, und schließlich trat Mary die Reise zu einer hoffnungslos dem Tode geweihten Schwester an. Ich war egoistisch genug, sie nicht zu begleiten.   Dagegen kam mir mit wunderlicher Plötzlichkeit die Idee, die Abwesenheit meiner jungen Frau zu einem Ausflug zu benutzen. Und plötzlich stand Schlesien, meine alte Heimat, die ich mit allem, was sie barg, nahezu vergessen hatte, wie ein Wunder vor mir auf: das Wunder daran war meine Jugend, meine Vergangenheit. Das zweite Wunder: man konnte dorthin, also in seine Jugend, seine Vergangenheit, zurückreisen. Gedacht, getan: ich holte Schmidt aus der Wohnung seines Bruders, des Postsekretärs, in Berlin. Gern genug war er bereit, die Reise mitzumachen, und bald danach fuhren wir in heiterster Stimmung vom Görlitzer Bahnhof ab. In Hirschberg stiegen wir aus dem Zug. Wir gingen bis Bad Warmbrunn zu Fuß. Dort im Preußischen Hof nahmen wir unseren ersten Halt. [...]
Nach Erkner zurückgekehrt, empfing ich die Nachricht vom Tode Frida Thienemanns. Vier oder fünf Tage später war meine junge Frau wieder daheim, der Schmerz hatte eine neue berückende Schönheit über sie ausgegossen. Wenn ich Schmidt vor der Ehe gewarnt habe, so galt diese Warnung nur für ihn. Mich selber hat sie gerettet, ja glücklich gemacht. [...]
Der Winter wurde uns wohl zu lang. Darum siedelten wir, ich glaube im Januar 87, mit Kind und Kegel nach Hamburg über, das heißt, wir luden uns bei den Eltern ein. Die Wohnung war eng. Ich schlief auf dem Sofa in der Wohnstube. Romanideen wühlten und spukten in meinem Kopf. Daß ich zu einer ernsthaften Arbeit gekommen bin, glaube ich nicht. Es fehlte zunächst ein Arbeitsraum, ich konnte mich in dem kleinen Quartier nicht absondern. Außerdem war mein Gesundheitszustand während dieses Hamburger Winters jämmerlich. [...]
Nach einiger Zeit brach bei Ivo, dem Säugling, infolge der damals schlechten Milchverhältnisse der Hansestadt Brechdurchfall aus, was unseren Zustand noch trostloser machte. Der gelbe Hamburger Nebel drang in die Zimmer und legte sich einem auf die Lungen. Vergeblich wehrte sich das Gemüt gegen tagelange, bedrückende Finsternis. [...]
Wenn ich einerseits Hypochonder war, medizinische Handbücher wälzte, mir die schwersten Krankheiten andichtete, war ich bei meinen nächtlichen Omnibusfahrten in Kälte und Nässe wiederum gegen mich selbst ganz rücksichtslos. Ein solches Verhalten war widerspruchsvoll. Da aber mein künstlerischer Trieb in mir gleichsam das Leben selber war, so mußte er mich schließlich immer wieder, allen Hindernissen durch Krankheitsbeschwerden und Hypochondrien zum Trotz, fort- und emporreißen.   Auf meinen morgendlichen Fahrten nahm ich zuweilen meinen sechs- oder siebenjährigen Neffen Peter mit. [...]
Die Sinne sind reger in der Nacht. Wer wüßte nicht, daß das Wasser lauter rauscht, der eigene Atem, das eigene Herz stärker hörbar wird oder wieviel Licht und phantastisch gestaltende Helle man aus einer kleinen Kerze saugen kann. Der Tag nimmt dem Leben das Wunderbare. [...]
Kinder haben den genialen Zug, sie sehen wesentlich künstlerisch. So sehen heißt, nichts als bekannt voraussetzen. Mein kleiner Neffe vermochte das besser als ich und brauchte dazu nicht wie ich eine Verstandesoperation, weshalb ich mich seiner wie eines Zauberspiegels bediente. Seine Bemerkungen warfen überallhin schnelle Strahlungen eigenen Lichts, das vieles mit seltsamer Kraft erschloß. Dafür fand er dann auch überraschend treffende Ausdrücke. So zu sehen, das heißt, zu beleuchten und die sprachliche Prägung des Erkannten zu finden, war – naiverweise bei ihm, bei mir bewußt – unsere gemeinsame Leidenschaft. [...]
Ob ich mit dem Leben davongekommen wäre, weiß ich nicht, der kleine Ivo sicherlich nicht, wenn der Arzt uns nicht Knall und Fall aus Hamburg verwiesen und nach Erkner geschickt hätte. Wir flüchteten also nach Erkner zurück. Wirklich, wie durch ein Wunder behielt der Säugling in Erkner die erste Flasche Milch, die ihm gereicht wurde. Ja, er war von Stund an gesund. In Erkner nahm ich mein altes Leben mit Wanderungen und Beobachtungen aller Art wieder auf. Ich machte mich mit den kleinen Leuten bekannt, Förstern, Fischern, Kätnerfamilien und Bahnwärtern, betrachtete eine Waschfrau, ein Spitalmütterchen eingehend und mit der gleichen Liebe, als wenn sie eine Trägerin von Szepter und Krone gewesen wäre. Ich unterhielt mich mit den Arbeitern einer nahen chemischen Fabrik über ihre Leiden, Freuden und Hoffnungen und fand hier, in nächster Nähe Berlins, besonders auf den einsamen Dörfern, ein Menschenwesen, das sich seit einem halben Jahrtausend und länger unverändert erhalten hatte. Daß es ein geeinigtes Deutschland gab, wußten sie nicht. Davon, daß ein Königreich Sachsen, ein Königreich Bayern, ein Königreich Württemberg bestand, hatten sie nie gehört. Es gab einen Kaiser in Berlin: viele wußten noch nichts davon. [...]
Man hörte im Winter das Krachen im Eise der Seen weit über Land und das sogenannte Seegebrüll, das Tönen des Wassers unter dem Eise, »wie Tubaruf nach verlorener Schlacht. Es klang wie dumpfer Titanenzorn, wie Rolandsruf aus geborstenem Horn«. Und die Seen verlangten alljährlich Opfer. Da schilderte ich in einer kleinen Novelle, wie der Segelmacher Kielblock mit seiner Frau und seinem Kinde in einer Mondnacht einbrach und unterging. [...]
Während mein zweiter Sohn geboren wurde, schrieb ich an einer Novelle »Bahnwärter Thiel«, die ich im späteren Frühjahr beendete. [...]
Damit war ich als Schriftsteller in die Welt getreten. Die arme Mary hatte unseren zweiten Sohn, wie den ersten, ohne alle ärztliche Hilfe am 22. April 1887 zur Welt gebracht. Nur die Norne aus dem Waldinnern hatte sich wieder eingefunden. Die Mutter, stumm, schweigend, ohne Laut, war ein Vorbild an Tapferkeit. [...]
Ich entdeckte im Walde ein Nest von alten Kleidern. Sie mußten von Strolchen stammen, die sich hier umgezogen hatten. Törichterweise und in der Vermutung, dies könnte die Spur eines damals gesuchten Einbrechers sein, machte ich dem Herrn Amtsvorsteher persönlich Anzeige. Wie er das aufnahm, die Geringschätzung, die er meinem Bericht entgegenbrachte, die hochmütige Ablehnung, die er mir zuteil werden ließ, fand in einer Komödie, »Der Biberpelz«, die ich später schrieb, ihren Niederschlag. [...]


Achtunddreißigstes Kapitel
Ich will nun summarisch zusammenfassen, was über die Zeit in Erkner, insonderheit jene vor einer gewissen epochemachenden Reise nach Zürich, etwa nachzuholen ist. Es kommt dazu noch ein Hamburger Aufenthalt und einer in Putbus auf der Insel Rügen. [...]
Der Anfall in Kötzschenbroda schien in der Tat eine Krise in meinem Krankheitszustand gewesen zu sein. Es ist von da ab aufwärtsgegangen. Wie ich damals glaubte, infolge einer gewissen Bewegungskur. Damals war die Epoche des Hochrades. Aber es wurden schon niedere Räder und ein Dreirad auf den Markt gebracht. Ein solches Dreirad hab' ich erworben. Ich benutzte es täglich und verlängerte damit meinen Aktionsradius. Dabei fühlte ich mich von Woche zu Woche heiterer, stärker und widerstandsfähiger. Auch in mein literarisches Wirken kam Ruhe und Stetigkeit. [...]
Die Einzigkeit meines Wesens war es, auf der ich bestand und die ich gegen alles mit verzweifeltem Mut verteidigte. [...]
Jahre hindurch wußte ich nichts anderes, als daß mein vereinzeltes, absonderliches Streben mich hoffnungslos vereinsame. Der Gedanke, es könne andere geben, die ein ähnliches Schicksal zu tragen hätten, kam mir nicht. Mit einem Male aber tauchten solche Naturen an allen Ecken und Enden in Deutschland auf. Sie begrüßten einander durch Zurufe, Leuten ähnlich, die auf Verabredung einen Marsch zu einem bestimmten Treffpunkt unternommen haben und nun angekommen sind. [...]
Eines Tages – das Haus war voll, es wurde gegessen und billiger Mosel getrunken – kam die Nachricht, daß der ehemalige Vormund der Schwestern Thienemann, ein Naumburger Thienemann, ihre Depots veruntreut habe. Das hieß so viel als: wir waren von Stund an mittellos, waren arm. Ich kann nicht sagen, daß ich durch diese Hiobspost außer Fassung geraten bin. Ich glaube, meine Frau ebensowenig. Ich fühlte eben allbereits unter den Flügeln den frischen, den tragenden Wind. Aber ich glaube, der nächste Tag brachte die Nachricht vom Hinscheiden der Augsburger Großmama, deren Nachlaß, wir wußten es, das Verlorene reichlich ersetzte. [...]

Neununddreißigstes Kapitel
Wir wurden von meinem Bruder und meiner Schwägerin Martha nach Zürich zu kommen eingeladen. Wir sollten samt den zwei Söhnchen, die wir mitbrachten, Gäste ihres Hauses sein. Die Freie Straße – nomen est omen! –, wo die Geschwister wohnten, liegt am Zürichberg und ist umgeben von Wiesen und Wäldern. Natürlich war das Wiedersehen mit Carl, Martha und meinen Freunden Ploetz und Simon das glücklichste. Simon, der ebenfalls an die Universität Zürich übergesiedelt war, steckte, durch Alfred Ploetz angeregt, bereits wie dieser tief im medizinischen Studium. [...]
Mein Bruder Georg aus Hamburg schrieb: Wir haben hier einen Explosionsmotor konstruiert. Sobald er einwandfrei gebrauchsfähig ist, brauchen wir keine Pferde mehr vor dem Wagen. Wir haben den lenkbaren Luftballon, wir haben blitzschnelle kleine Boote, ruderlos. Ja, wir werden wahrscheinlich ohne Ballon fliegen. Es schien Wahnsinn, aber wir glaubten daran. Es schien Wahnsinn, aber wir glaubten daran.
Beinahe täglich brachten Ploetz und Simon Nachrichten in die Freie Straße über den märchenhaften Fortschritt teils der Chirurgie, teils der Bakteriologie. Bald werde man von den Geißeln der Menschen, den Seuchen, nur noch vom Hörensagen wissen. Diphtheritis, Blattern, Cholera, Lues würden binnen kurzem ausgestorben sein, ebenso die Tuberkulose, die verbreitetste aller Krankheiten. Man sei dem Erreger des Übels auf der Spur, weshalb ihre Schreckenstage gezählt seien.

Vierzigstes Kapitel
Es ist selbstverständlich, daß ein Verfolgen des eignen Lebensganges durch fünfundzwanzig Jahre, wie hier, Stückwerk bleiben muß. Seine sprachliche Darstellung um so mehr. Die stärksten unserer Erinnerungen werden aneinandergereiht, darunter jedoch liegt das eigentliche Wachstum unsichtbar, liegt das Unbewußte. Die Reihung selbst geschieht sozusagen auf dem Faden der Zeit. Könnten die darauf gereihten Gegenstände nach Art von Perlen, Steinen und allen Arten von Früchten sichtbar gemacht werden, so würde die Kette sehr ungleich sein und einen harmonischen Anblick nicht abgeben.
Dies ist auch auf meinen Rückblick zutreffend. [...]
Georg Büchners Werke, über die ich im Verein »Durch!« einen Vortrag gehalten habe, hatten mir gewaltigen Eindruck gemacht. Das unvergleichliche Denkmal, das er nach nur dreiundzwanzig Lebensjahren hinterlassen hat, die Novelle »Lenz«, das Wozzeck-Fragment hatten für mich die Bedeutung von großen Entdeckungen. Bei dem Kultus, den ich in Hamburg sowohl wie in Erkner mit Büchner trieb, kam in meine Reise nach Zürich etwas von der sakralen Vergeistigung einer Pilgerfahrt. Hier hatte Büchner gewirkt, und hier war er begraben. [...]
Georg Büchners Geist lebte nun mit uns, in uns, unter uns. Und wer ihn kennt, diesen wie glühende Lava aus chthonischen Tiefen emporgeschleuderten Dichtergeist, der darf sich vorstellen, daß er, bei allem Abstand seiner Einmaligkeit, ein Verwandter von uns gewesen ist. Er ward zum Heros unseres Heroons erhoben.
Vererbungsfragen sind schon damals in der Medizin und darüber hinaus viel diskutiert worden. Unter Forels und Ploetzens Führung auch in unserem Kreis. Die Degeneration im Bilde der Familien wurde, meines Erachtens zu Unrecht, meist auf den übertriebenen Genuß von Alkohol zurückgeführt. Aber der Kampf ums Dasein hat doch wohl andere Schädigungen in unendlicher Menge aufzuweisen, die den Kämpfer und also auch seine Nachkommen schwächen. Der Idealismus Ploetzens überschlug sich eines Tags, und er teilte uns mit, daß er sich nach halbjähriger freier Abstinenz persönlich Forel gegenüber verpflichtet habe, alkoholische Getränke für immer zu meiden. Ich vermute, daß er dies Gelübde, das uns mit Bestürzung erfüllte, bis heut nicht gebrochen hat. Gelübde dieser Art abzulegen, wäre mir ebenso vorgekommen, als ob ich mich für das ganze Leben an eine Kette gelegt hätte. [...]
Jede Art von Gefangenschaft hätte ich immer als gegen die Ehre meines freien Willens gerichtet empfunden. [...]
Der Reformator Zwingli ist es gewesen, der über die letzten Lebenstage des Märtyrers Ulrich von Hutten seine helfende Hand gehalten hat. Er hat ihn zum Abt von Pfäffers gesandt, um die dortigen heißen Quellen gegen sein gallisches Leiden zu gebrauchen. Aber heftiger Regen, heißt es, habe sie kalt gemacht, und sie brachten ihm keine Linderung. Der Mittellose kehrte, ausgestattet vom Abt, nach Zürich zurück, um sich bald darauf in die Hut eines Arztes und Pfarrers namens Hans Schneg, der die Ufenau einsam bewohnte, zu geben, wohin ihm der Tod auf dem Fuße nachfolgte. Hier also auf diesem weltvergessenen Fleck grüner Erde, der sich kaum über das Wasser erhob – wir betraten ihn mit Erschütterung –, hat ein unsterblicher Kämpfergeist sein zeitliches Ende gefunden. Wir hörten das nie mehr verstummende Echo seines Wortes »Ich hab's gewagt!« über Wasser und Erde. [...]
Zwar sahen wir Hutten, selbst Lutheraner, als solchen an, aber als einen, der wie wir das Lutherium, wie wir sagten, objektiviert hatte. [...]
Mochte sein wie unser Herz mit den deutschen Pulsen des Reformators gemeinsam schlagen – römische Dogmen durch deutsche Dogmen ersetzen wollten wir nicht! Wir sahen in ihm den Kämpfer für eine reine, unabhängige deutsche Geistigkeit: also für freie Forschung, freies Denken und freie Kunst. [...]
Theologengezänk mochten wir ebensowenig wie er. Freilich ahnte ich damals nichts von der gnadenlosen Wut sogenannter philosophischer Kämpfe. [...]
Eines Frühlingsmorgens von unsäglicher Lichtfülle, Jugend und Heiterkeit bestieg ich mein Dreirad, das mich gesund gemacht hatte, um auf dem linken Ufer bis Rapperswyl und zum Ende des Zürichsees vorzudringen. Es wurde von allen, die ich gemacht habe, wohl die lustigste Fahrt:. Ich trat die Pedale, ich sang, ich jauchzte. [...]

Einundvierzigstes Kapitel
Der Grundzug unseres damaligen Wesens und Lebens war Gläubigkeit. So glaubten wir an den unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit. Wir glaubten an den Sieg der Naturwissenschaft und damit an die letzte Entschleierung der Natur. Der Sieg der Wahrheit, so glaubten wir, würde die Wahn- und Truggebilde auch auf den Gebieten religiöser Verblendung zunichte machen. Binnen kurzem, war unser Glaube, würde die Selbstzerfleischung der Menschheit durch Krieg nur noch ein überwundenes Kapitel der Geschichte sein. [...]
Dieser Optimismus war schlechthin Wirklichkeit. Man mag sich durch den scheinbar verzweifelten Pessimismus der »Modernen Dichter-Charaktere« nicht täuschen lassen. Aber nicht nur wir, die ganze Epoche Ende der achtziger Jahre des vorigen Säkulums atmete Gläubigkeit. [...]
Wo vom Glauben die Rede war, darf nicht vergessen werden, daß wir vor allem an uns selbst glaubten. Machte Carl davon eine Ausnahme? Ploetz, Simon und die anderen glaubten an sich. An die sieghafte medizinische Wissenschaft, die sie sieghaft handhaben würden. Ich glaubte an mich und den Sieg meiner Kunst, obgleich ich keinerlei Trümpfe vorerst in der Hand hatte. Zwar ich schrieb an einem Roman, in dem ich wahrhaftig und bekenntnishaft, ähnlich wie Rousseau, auftreten wollte, auch auf sexuellem Gebiet. Die Krisen der Pubertät und der Jugend in diesem Betracht wollten mich gleichsam zum Ankläger, wenn nicht zum Retter aufrufen. Wir diskutierten zuweilen darüber. Ein Niederschlag jener Zeit und jenes Bereichs ist »Frühlings Erwachen« von Wedekind. Er übertrifft mich an rücksichtsloser Wahrhaftigkeit. [...]
Man wird sich erinnern, wie man mich bedrängt hatte mit der Prophezeiung eines rettungslosen Epigonentums. Hatte doch der famose Gervinus gesagt, das Kapitel der Poesie in Deutschland sei durch Goethe ganz und gar abgeschlossen. Diesen Irrwahn der meinen Weg wie eine Mauer versperren wollte, hinwegzuräumen, mühte mein Geist sich Tag und Nacht. Ich sah wohl das Epigonentum, sah alle die unfruchtbaren Nachahmer und grübelte nach über die Ursachen ihrer Unfruchtbarkeit. War ich nicht auch auf dem besten Wege dazu? [...]
Wie steht es mit dir nun? fragte ich mich.
Auch du bist ins Himmelblaue entrückt und hast höchstens einige kurze Luftwurzeln. Ob sie die Erde jemals erreichen und gar in sie eindringen können, weißt du nicht.
Jetzt aber hatte ich plötzlich die Kühnheit, nach allem Profanen, Humus- und Düngerartigen um mich zu greifen, das ich bisher nicht gesehen, weil ich es nicht für würdig erachtet hatte, in Bereiche der Dichtkunst einzugehen. Und abermals wie im Blitz erkannte ich meine weite und tiefe Lebensverwurzelung und daß es ebendieselbe sei, aus der mein Dichten sich nähren könne.
Auch fielen mir zur rechten Zeit die niederländischen Bilder in den Sälen der Krone ein.
So und nicht anders verlief der innere Zauber, der mich zu einem gesunden, verwurzelten Baum machte.
Und als ich »Die Macht der Finsternis« von Leo Tolstoi gelesen hatte, erkannte ich den Mann, der im Bodenständigen dort begonnen, womit ich nach langsam gewonnener Meisterschaft im Alter aufhören wollte.
Und wie man eine Statue, die auf dem Kopfe steht, auf die Füße stellt, so war es mir klar, daß ich mit der Scholle und ihren Produkten sogleich mein Werk beginnen müsse, statt im Alter es so zu vollenden.
Was ging das Geschwätz vom Naturalismus mich an? Aus Erde ist ja der Mensch gemacht, und es gibt keine Dichtung, ebensowenig wie eine Blüte und Frucht, sie sauge denn ihre Kraft aus der Erde!
Dieser Gedanke stand kaum gefestigt in mir, als ich aus einem Borger, ja Bettler ein recht wohlsituierter Gutsbesitzer geworden war. Ein immer wachsendes inneres, bisher unsichtbares Kapital gewann Sichtbarkeit. Meine Knabenzeit, die mir so gut wie entschwunden war, tauchte wieder auf, und in der Erinnerung an sie machte ich fast von Minute zu Minute neue Entdeckungen. Das ganze Ober-, Mittel- und Nieder-Salzbrunn entfaltete sich, durch die Salzbach getrennt in die Große und Kleine Seite. Der Gasthof zur Krone tauchte auf, das benachbarte Haus Elisenhof, die Brunnenhalle mit ihren Brunnenschöpfern. Die Schwestern der Mutter und der Großvater, somit der ganze Dachrödenshof. Die Schweizerei und ihre Pächterin und Schafferin, die der Fürst hineingesetzt hatte, ob verheiratet oder ledig, weiß ich nicht. Eine der eindrucksvollsten unter den Brunnenschöpfergestalten war ihr stattlicher, blondbärtiger Sohn, von dem man sagte, daß er zur Hälfte blaues Blut habe. Das herrliche Fürstensteiner Schloß tauchte auf mit seinen Bewohnern und seiner unvergleichlichen Lage. Aber vor allen Dingen die Dorfstraße, die Weberhütten und Bergmannsquartiere, diese das Ärmlichste vom Ärmlichen. [...]
Die drängende Armut der Hintertreppe und mit alledem der Volksdialekt, der mir, wie ich mit Freuden erkannte, tief im Blute saß. Ich merkte nun, wo ich, schon eh ich die Sexta der Zwingerschule betrat, meine wahrhafte Lehrzeit vollendet hatte. Hätte ich nicht beinahe gehandelt wie der Bauer, der das moorige Laub aus dem Korbe schüttelte, das Rübezahl hineingetan hat, und, nach Hause gekommen, nur noch einige Blättchen fand, aber sie waren von purem Golde? Vor dieser Torheit bin ich bewahrt worden. Der alte, neuentdeckte Reichtum hat ausgehalten ein Leben lang und ist bis heute längst nicht verbraucht worden. [...]
Die reichen Kohlenbauern von Weißstein drängten sich ein, meine Landwirtszeit fing an, sich zu melden, es regten sich die Gestalten der Kunstschule. Es regte sich meine Verlobungsepoche, es regte sich Rom. Und ich bin fünfundsiebzig Jahre geworden, um, wie bereits angedeutet, zu erkennen: auch nur das erste Vierteljahrhundert meines Lebens im Sinne der Kunst auszuwerten, war mir eine Unmöglichkeit.
Die reichen Kohlenbauern von Weißstein drängten sich ein, meine Landwirtszeit fing an, sich zu melden, es regten sich die Gestalten der Kunstschule. Es regte sich meine Verlobungsepoche, es regte sich Rom. Und ich bin fünfundsiebzig Jahre geworden, um, wie bereits angedeutet, zu erkennen: auch nur das erste Vierteljahrhundert meines Lebens im Sinne der Kunst auszuwerten, war mir eine Unmöglichkeit.
Ich habe ein Stück »Die Weber« geschrieben. In Zürich regte sich bereits sein embryonales Leben zugleich mit dem eines Bauerndramas, dem ich den Titel »Der Säemann« zu geben gedachte.
In und um Zürich blühte damals noch, und zwar seit dreihundert Jahren, die Seidenweberei. An den Stühlen saßen Handweber. An dem Hüttchen eines von ihnen ging ich mehrmals die Woche vorbei, wenn ich die Psychiatrische Klinik in der Irrenanstalt Burghölzli besuchte. Das Wuchten des Webstuhles hörte man durch die Wand dringen. Und eines sonnigen Morgens, erinnere ich mich, überfiel mich bei diesem Geräusch der Gedanke: du bist berufen, »Die Weber« zu schreiben! Der Gedanke führte sofort zum Entschluß.
Die schlesischen Weber von Langenbielau, die Ärmsten der Armen, und ihr Aufstand in den vierziger Jahren waren damals noch unvergessen in der Welt.
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
wir weben hinein den dreifachen Fluch,
wir weben, wir weben!

Meine Auffassung der Geschehnisse wich nun zwar von der des Liedes ab. Aber es gehörte immerhin Mut dazu, dieser in Preußen übel vermerkten Erinnerung, statt sie völlig auszulöschen, in einer Gestaltung neue Gegenwart, ja möglicherweise Dauer zu geben. Aber das soziale Drama, wenn auch zunächst nur ein leeres Schema, lag als Postulat in der Luft.
Es real ins Leben zu rufen war damals eine Preisaufgabe, die gelöst zu haben so viel hieß wie der Initiator einer neuen Epoche sein. Bei diesem der alten Zeit konträren Beginnen – wir standen nach Karl Bleibtreu mitten in einer Revolution der Literatur – waren Zivilcourage und Bekennermut eine Selbstverständlichkeit. So konnten denn auch die glücklichste Ehe, in der ich lebte, die Rücksicht auf meine alten Eltern und meine Kinder keinerlei Hemmungen meiner Berufung, mit der verwachsen ich fiel oder stand, bei mir einschalten.
Ich konnte »Die Weber«, ich konnte das Bauerndrama schreiben, denn wie gesagt, ich beherrschte den Volksdialekt. Ich würde ihn also, war mein Beschluß, in die Literatur einführen. Dabei dachte ich nicht an sogenannte Heimatkunst oder Dichtung, die den Dialekt als Kuriosum benützt und meistens von oben herab humoristisch auswertet, sondern dieser Volkston war mir die natur- und kunstgegebene, dem Hochdeutsch ebenbürtige Ausdrucksform, durch die das große Drama, die Tragödie ebenso wie durch Verse Goethes oder Schillers Gestalt gewinnen konnte. Ich wollte dem Dialekt seine Würde zurückgeben. Man mag entscheiden, ob es geschehen ist.
Friedrich Nietzsche rückt entschieden vom Mitleid ab, während Schopenhauer Mitleid für Liebe, Liebe für Mitleid hält. Diese Art Mitleid wird mir später »Die Weber« diktiert haben. Aber ebensosehr der Zwangsgedanke sozialer Gerechtigkeit.
Wie entsteht ein Gedanke dieser Art? Und wie entsteht er zugleich in aber und abermals Hunderttausenden? Vielleicht hat sich innerhalb einer Volksgemeinschaft durch die unkontrollierte millionenfache und aber millionenfache Seelenverletzung der schwächeren Volksteile ein gemeinsames heimliches Trauma gebildet, das auch bis in den stärkeren Volksteil hinein fühlbar wird. Dieses schmerzhafte Fühlen war allgemein. Auch wir wären ohne dies Fühlen nicht als Dichter zugleich gewissermaßen Bekenner geworden. [...]
Bei einer Pfingsttour ist mir die ganze unaussprechliche Schönheit und Größe alpiner Natur aufgegangen. Zunächst das Wunder der Gotthardbahn, die uns bis nach Göschenen, dem Eingang des Gotthardtunnels, trug. Der Eindruck Luzerns mit seinem Pilatusberg und des betäubend grünen Vierwaldstätter Sees auf meine jugendlich empfänglichen Sinne machte mich glauben, nicht mehr auf der Erde, sondern auf einem anderen, paradiesnahen Planeten zu sein. Man war in Schönheit und Farbe ertrunken, man ging nicht, man schwebte vielmehr im Licht. [...]


Nachwort

Gegen Mitte des Sommers sind wir, Mary und ich, wieder in Erkner eingezogen. Es ist nur wenig nachzuholen, bevor ich die Notizen über mein erstes Vierteljahrhundert abschließen kann. [...]

Dem Geschick sei Dank, daß meine Arbeit auch durch die am 8. Juli 1889 erfolgte Geburt meines dritten Sohnes nicht gestört wurde. Wieder kam die Weise Frau, die Norne, aus der Tiefe des Kiefernwalds, und wieder bin ich selbst durch die Not zum hauptsächlichsten Geburtshelfer ernannt worden.
Ein gelegentlicher Verkehr mit Arno Holz und Johannes Schlaf wurde aufgenommen, aber es tauchten nun viele andere Gestalten auf, darunter Bruno Wille und Wilhelm Bölsche, die in regem Verkehr mit Damen aus allen Kreisen standen und sie gelegentlich von Berlin aus zu uns aufs Land mit herausbrachten. Auch die Gebrüder Hart waren da. Es wurden gemeinsam Sommernächte durchwacht, es wurde gelebt, geliebt und getrunken, Pläne wurden geschmiedet und diskutiert, und eines Tages konnte ich am Waldrand dieser gleichstrebenden Jugend mein Drama vorlesen, durch Arno Holz »Vor Sonnenaufgang« genannt. Es wurde damit in der Tat eine eigenartige, kräftige deutsche Literaturepoche eingeleitet.
Mich aber warf es schließlich in die breite und weite Öffentlichkeit, wo ich nun auf einer ganz anderen Ebene, wenn es mir beschieden wäre, die Erinnerungen an weiteres Kämpfen und weiteres Ringen im zweiten Vierteljahrhundert fortsetzen müßte.

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)



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