Gorée
Die Tür ohne Wiederkehr
"Die Insel der Seligen ist unterkellert. Man weiß es, doch
sieht man es nicht, wenn man mit einem kleinen Boot im
Hafen von Dakar ablegt und auf diesen bloß drei Kilometer entfernten Festungsfelsen zufährt, die schreckliche
Idylle, die zuerst bloß »Ber« hieß, später »IIa de Palma«.
Die britischen Besatzer tauften sie »Cape Coast Castle«,
und erst die Franzosen nannten sie schließlich Goree,
den »guten Hafen« oder auch »Goree, die Glückliche«,
aber das war schon zu der Zeit, als die Schiffe mit den aneinandergeketteten Sklaven über den Atlantik kamen
und sich kaum jemand glücklich schätzte, Goree zu erreichen. [...]"Weitgehend ist dies Kapitel ein Bericht über die Geschichte und die Folgen des Sklavenhandels. Doch dann wird die Darstellung persönlicher:
Allein auf der Veranda des Hotels sitzend, mit Blick auf die Straße, kann ich Grundformen des hiesigen Lebens beobachten: Die Menschen hier organisieren sich in Mikrostrukturen, persönlichen. Sie konsumieren nicht zentralisiert, sondern gehen von Laden zu Laden, sie glauben nicht zentralisiert, sondern gehen aus der Kirche zum Wahrsager zum Totem-Händler. Sie schaffen sich vertikale Systeme: die Bauern beschäftigen Bauern, die Kindermädchen haben selbst Kindermädchen ...
Die Abordnung der die Blinden führenden Jungen erscheint vor der Veranda. Es folgen die Fußballspieler aus dem Hurenviertel. Die Streichholzverkäufer lassen fragen: »Haben Sie nicht immer nach uns Ausschau gehalten? Da sind wir! Ein cadeau, bitte, ein cadeau!«
Der Hotelier scheucht sie alle mit dem Staubwedel weg. »Pardon, Monsieur«, und dann sagt er wirklich: »Es sind eben die Nachfahren von Sklaven.«
Das möge so sein, sage ich. Doch nirgends habe mich die Erinnerung an die Sklaverei so leibhaftig erfasst und erschüttert wie in Goree, im Zentrum des afrikanischen Menschenhandels. Und es stimmte ja: Wir waren ganz still geworden im Sklavenhaus zwischen anderen, die da standen, überwältigt von dem Unrecht, dem Martyrium, der schrecklichen Reise ...
Der Hotelier lächelt ironisch, wird aber gleich darauf nüchtern wie ein Akademiker:
»Ecoutez, ich will Sie nicht enttäuschen, und was Sie empfunden haben, haben Sie empfunden. Auch können wir es nicht ändern, aber amerikanische und französische Forscher haben die These aufgestellt, dass Goree im Sklavenhandel gar keine gewichtige Rolle gespielt hat.«
»Man spricht von Millionen verschiffter Sklaven, vom >Dachau Schwarzafrikas<!«
»Hier wurden diese Forscher auch öffentlich als >Holo caust-Leugner< bezeichnet, aber in der Tat waren ihre Thesen recht gut fundiert. Zwischen 1700 und 1850 wurden nur etwas mehr als 427 000 Sklaven über Goree verschifft.«
»Was heißt das?« »Das heißt, wir reden von nicht einmal fünf Prozent! Goree hatte also anders als Saint-Louis, wenn ich mal so sagen darf, eine relativ geringe Bedeutung als >Angebotsregion<.«
Ich hätte sagen können, dass dies eine obszöne Statistik sei, hätte die gängigen Stereotype aus dem Stehsatz ziehen können: dass Zahlen nichts über Menschen, ihre Erfahrung, ihre Leiden aussagen, ich hätte auseinander gerissene Familien und Verschleppungen ins Feld führen, hätte das Wort »Individualschicksale« unterbringen, hätte fragen können, was es ihm denn bedeute, die Hauptstadt der Sklavenverschleppung zu bewohnen. Ich hätte mich selbst fragen können, warum ich in Goree den Spuren des Gedenkens gefolgt war und in Saint-Louis, wo es keine Inszenierung gab, nicht. Ich hätte überlegen können, ob die Idylle des Weltkulturerbes mein Gedenken verkitschte, während die glanzlose Präsenz afrikanischen Elends in Saint-Louis mich zum Gedenken eben gar nicht erst einlud.
Aber ich nickte ihm bloß zum Abschied zu, belehrt und blamiert, erhob mich aus dem Bambussessel und schlenderte zurück ins Innere des Hotels, im Vorbeigehen angezogen von einer kleinen gerahmten Fotografie auf der geblümten Tapete. Zuerst erkannte ich Philippe Noiret, dann Stephane Audran, dann die anderen. Dies war mein Dejà-vu: An diesem Ort hatte Bertrand Tavernier 1980 seinen Film »Der Saustall« gedreht. Auch das noch. Die erste Haltestelle der Erinnerung ist nicht die Geschichte, sondern das Kino. Ich stand noch vor dem Foto, da trat Greta in die Halle und rief:
»Du glaubst nicht, was ich geträumt habe! Also -«
(Roger Willemsen: Die Enden der Welt - Gorée, S.308- 334)
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