Botho und Lene haben - um ihre Gemeinsamkeit ungestört zu genießen - auf ihren Ausflug zu Hankels Ablage* Frau Dörr nicht mitgenommen und sind nach ihrem Spaziergang zum Gasthaus zurückgekommen. Lene ist, während Botho noch mit dem Wirt spricht, schon auf das Zimmer gegangen:
"Dicht neben der Eingangstür, über einem Rokokotisch, auf dem rote Gläser und eine Wasserkaraffe standen, hing noch eine buntfarbige, mit einer dreisprachigen Unterschrift versehene Lithographie: »Si jeunesse savait« – ein Bild, das sie sich entsann in der Dörrschen Wohnung gesehen zu haben. Dörr liebte dergleichen. Als sie's hier wiedersah, fuhr sie verstimmt zusammen. Ihre feine Sinnlichkeit fühlte sich von dem Lüsternen in dem Bilde wie von einer Verzerrung ihres eigenen Gefühls beleidigt, und so ging sie denn, den Eindruck wieder loszuwerden, bis an das Giebelfenster und öffnete beide Flügel, um die Nachtluft einzulassen. Ach, wie sie das erquickte! Dabei setzte sie sich auf das Fensterbrett, das nur zwei Handbreit über der Diele war, schlang ihren linken Arm um das Kreuzholz und horchte nach der nicht allzu entfernten Veranda hinüber. Aber sie vernahm nichts. Eine tiefe Stille herrschte, nur in der alten Ulme ging ein Wehen und Rauschen, und alles, was eben noch von Verstimmung in ihrer Seele geruht haben mochte, das schwand jetzt hin, als sie den Blick immer eindringlicher und immer entzückter auf das vor ihr ausgebreitete Bild richtete. Das Wasser flutete leise, der Wald und die Wiese lagen im abendlichen Dämmer, und der Mond, der eben wieder seinen ersten Sichelstreifen zeigte, warf einen Lichtschein über den Strom und ließ das Zittern seiner kleinen Wellen erkennen.
»Wie schön«, sagte Lene hochaufatmend. »Und ich bin doch glücklich«, setzte sie hinzu.
Sie mochte sich nicht trennen von dem Bilde. Zuletzt aber erhob sie sich, schob einen Stuhl vor den Spiegel und begann ihr schönes Haar zu lösen und wieder einzuflechten. Als sie noch damit beschäftigt war, kam Botho.
»Lene, noch auf! Ich dachte, daß ich dich mit einem Kusse wecken müßte.«
»Dazu kommst du zu früh, so spät du kommst.«
Und sie stand auf und ging ihm entgegen. »Mein einziger Botho. Wie lange du bleibst...«
»Und das Fieber? Und der Anfall?«
»Ist vorüber, und ich bin wieder munter, seit einer halben Stunde schon. Und ebensolange hab ich dich erwartet.« Und sie zog ihn mit sich fort an das noch offenstehende Fenster: »Sieh nur. Ein armes Menschenherz, soll ihm keine Sehnsucht kommen bei solchem Anblick?«
Und sie schmiegte sich an ihn und blickte, während sie die Augen schloß, mit einem Ausdruck höchsten Glückes zu ihm auf.
13. Kapitel
Beide waren früh auf, und die Sonne kämpfte noch mit dem Morgennebel, als sie schon die Stiege herabkamen, um unten ihr Frühstück zu nehmen. Ein leiser Wind ging, eine Frühbrise, die die Schiffer nicht gern ungenutzt lassen, und so glitt denn auch, als unser junges Paar eben ins Freie trat, eine ganze Flottille von Spreekähnen an ihnen vorüber.
Lene war noch in ihrem Morgenanzuge. Sie nahm Bothos Arm und schlenderte mit ihm am Ufer entlang an einer Stelle hin, die hoch in Schilf und Binsen stand. Er sah sie zärtlich an. »Lene, du siehst ja aus, wie ich dich noch gar nicht gesehen habe. Ja, wie sag ich nur? Ich finde kein anderes Wort, du siehst so glücklich aus.«
Und so war es. Ja, sie war glücklich, ganz glücklich und sah die Welt in einem rosigen Lichte. Sie hatte den besten, den liebsten Mann am Arm und genoß eine kostbare Stunde. War das nicht genug? Und wenn diese Stunde die letzte war, nun, so war sie die letzte. War es nicht schon ein Vorzug, einen solchen Tag durchleben zu können? Und wenn auch nur einmal, ein einzig Mal.
So schwanden ihr alle Betrachtungen von Leid und Sorge, die sonst wohl, ihr selbst zum Trotz, ihre Seele bedrückten, und alles, was sie fühlte, war Stolz, Freude, Dank. Aber sie sagte nichts, sie war abergläubisch und wollte das Glück nicht bereden, und nur an einem leisen Zittern ihres Arms gewahrte Botho, wie das Wort »Ich glaube, du bist glücklich, Lene« ihr das innerste Herz getroffen hatte.
Der Wirt kam und erkundigte sich artig, wenn auch mit einem Anfluge von Verlegenheit, nach ihrer Nachtruhe.
»Vorzüglich«, sagte Botho. »Der Melissentee, den Ihre liebe Frau verordnet, hat wahre Wunder getan, und die Mondsichel, die uns gerade ins Fenster schien, und die Nachtigallen, die leise schlugen, so leise, daß man sie nur eben noch hören konnte, ja wer wollte da nicht schlafen wie im Paradiese? Hoffentlich wird sich kein Spreedampfer mit 240 Gästen für heute nachmittag angemeldet haben. Das wäre dann freilich die Vertreibung aus dem Paradiese. Sie lächeln und denken ›Wer weiß?‹, und vielleicht hab ich mit meinen Worten den Teufel schon an die Wand gemalt. Aber noch ist er nicht da, noch seh ich keinen Schlot und keine Rauchfahne, noch ist die Spree rein, und wenn auch ganz Berlin schon unterwegs wäre, das Frühstück wenigstens können wir noch in Ruhe nehmen.
[...] als sie nach einer Weile wieder zurück waren, wurde das Frühstück eben aufgetragen, mehr ein englisches als ein deutsches: Kaffee und Tee, samt Eiern und Fleisch und in einem silbernen Ständer sogar Schnittchen von geröstetem Weißbrot.
»Ah, schau, Lene. Hier müssen wir öfter unser Frühstück nehmen. Was meinst du? Himmlisch. Und sieh nur da drüben auf der Werft, da kalfatern sie schon wieder, und geht ordentlich im Takt. Wahrhaftig, solch Arbeits-Taktschlag ist doch eigentlich die schönste Musik.«
Lene nickte, war aber nur halb dabei, denn ihr Interesse galt auch heute wieder dem Wassersteg, freilich nicht den angekettelten Booten, die gestern ihre Passion geweckt hatten, wohl aber einer hübschen Magd, die mitten auf dem Brettergange neben ihrem Küchen- und Kupfergeschirr kniete. Mit einer herzlichen Arbeitslust, die sich in jeder Bewegung ihrer Arme ausdrückte, scheuerte sie die Kannen, Kessel und Kasserollen, und immer wenn sie fertig war, ließ sie das plätschernde Wasser das blankgescheuerte Stück umspülen. Dann hob sie's in die Höh, ließ es einen Augenblick in der Sonne blitzen und tat es in einen nebenstehenden Korb.
Lene war wie benommen von dem Bild. »Sieh nur«, und sie wies auf die hübsche Person, die sich, so schien es, in ihrer Arbeit gar nicht genugtun konnte.
»Weißt du, Botho, das ist kein Zufall, daß sie da kniet, sie kniet da für mich, und ich fühle deutlich, daß es mir ein Zeichen ist und eine Fügung.«
»Aber was ist dir nur, Lene? Du veränderst dich ja, du bist ja mit einem Male ganz blaß geworden.«
»O nichts.«
»Nichts? Und hast doch einen Flimmer im Auge, wie wenn dir das Weinen näher wäre als das Lachen. Du wirst doch schon Kupfergeschirr gesehen haben und auch eine Köchin, die's blank scheuert. Es ist ja fast, als ob du das Mädchen beneidetest, daß sie da kniet und arbeitet wie für drei.«
Das Erscheinen des Wirts unterbrach hier das Gespräch, und Lene gewann ihre ruhige Haltung und bald auch ihren Frohmut wieder."
Der Text ist voll von Unausgesprochenem.* Was ist ihr eigenes Gefühl, das beleidigt wird? Warum ist sie "doch" glücklich? Welche Sehnsucht hat ihr "armes Menschenherz"? Wie kann Lene, während sie die Augen schließt, mit einem Ausdruck höchsten Glücks aufblicken? Weshalb ist Lene glücklich? Weshalb fühlt sie sich ins "innerste Herz getroffen"? Weshalb sollte diese Stunde die letzte sein? Weshalb spricht Botho von "Vertreibung aus dem Paradies"? Worauf ist das eine Vorausdeutung?
Freilich kann man sich ohne allzu große Mühe Antworten darauf geben. Weshalb aber wird so viel angedeutet, ohne es auszusprechen?
Fontane will etwas deutlich machen, ohne es aussprechen zu müssen. Das ist das Programm des poetischen Realismus.
Im folgenden Kapitel sagt Lene etwas, was dem widerspricht, was der Schluss des 12. und der Anfang des 13. Kapitels so beredt sagen und was dort nicht ausgesprochen wird:
»Du fühlst selbst, daß ich recht habe; dein gutes Herz sträubt sich nur, es zuzugestehen, und will es nicht wahrhaben. Aber ich weiß es: gestern, als wir über die Wiese gingen und plauderten und ich dir den Strauß pflückte, das war unser letztes Glück und unsere letzte schöne Stunde.«
Dennoch waren viele Leser im 19. Jahrhundert imstande, sich Fontanes Plädoyer für Lene zu entziehen, das er am Schluss des Romans in die Worte fasst:
"Gideon ist besser als Botho."*
* Auf dies Unausgespochene bezieht sich Günter Grass in seinem Roman "Ein weites Feld" im 19. Kapitel (S.393 meiner Ausgabe). Er spricht da freilich von
Aussparungen und
Lücken.
* Diesen Satz lässt Grass seinen Helden Fonty zusammen mit seiner Enkelin Madeleine (im 21. Kapitel "Beim Rudern geplaudert" S.430 in meiner Ausgabe) mal "lustig", "verzweifelt" und "höhnisch" rufen, und ausdrücklich spricht er dort von ihrem "weittragenden Doppelsinn".
* Wer sich über andere Schauplätze von "Irrungen Wirrungen" als Hankels Ablage informieren will, findet eine Reihe davon in dieser Karte eingezeichnet.