31 Mai 2021

Jean Paul: Selberlebensbeschreibung (3)

 An Jean Pauls Autobiographie ist schon der Titel ganz neu und originell, nämlich eine Wortschöpfung Jean Pauls: Selberlebensbeschreibung.

Hier der Anfang:

Erste Vorlesung

Wonsiedel – Geburt – Großvater
 

Geneigteste Freunde und Freundinnen!

Es war im Jahr 1763, wo der Hubertsburger Friede zur Welt kam und gegenwärtiger Professor der Geschichte von sich; [...] am 21ten März; – und zwar in der frühesten frischesten Tagzeit, nämlich am Morgen um 1½ Uhr; was aber alles krönt, war, daß der Anfang seines Lebens zugleich der des damaligen Lenzes war.

Den letzten Einfall, daß ich und der Frühling zugleich angefangen, hab' ich in Gesprächen wohl schon hundert Male vorgebracht; aber ich brenn' ihn hier absichtlich wie einen Ehrenkanonenschuß zum 101ten Male ab, [...]

Die Auslassungen sind hier bezeichnet, um die Neugier zu wecken, was für Einschübe (hier findet man sie) seinem ohnehin schon nicht wortkargen Text noch hinzufügt. 

[...] Aber jetzo mag der Held und Gegenstand dieser historischen Vorlesungen unbesehen in der Wiege und an der Mutterbrust so lange liegen und schlafen – da doch dem langen Morgenschlaf des Lebens nichts für allgemein-welthistorisches Interesse abzuhören ist – so lange, sag' ich, bis ich von denen gesprochen, wenn auch nicht viel und genug, nach welchen mein Herz sich und die Feder hindrängt, von meinen Vorverwandten, von Vater, Mutter und Großeltern.

Mein Vater war der Sohn des Rektors Johann Richter in Nettstadt am Kulm. Man weiß nichts von diesem als daß er im höchsten Grade arm und fromm war. [...]

Mein Vater, in Neustadt 1727 den 16ten Dezember geboren [...] Darauf bezog er das Gymnasium poeticum in Regensburg, um nicht nur in einer größern Stadt zu hungern, sondern auch darin statt des Laubes die eigentliche Blüte seines Wesens zu treiben. Und diese war die Tonkunst. [...] Klavier und Generalbaß erhoben ihn zwei Jahrzehende später zu einem geliebten Kirchenkomponisten des Fürstentums Baireuth. [...] Darauf studierte er statt der Tonkunst in Jena und Erlangen Theologie, vielleicht bloß um in Baireuth, wo sein Sohn alle diese Nachrichten sammelt, als Hauslehrer eine Zeit lange, d. h. bis in sein 32tes Jahr, sich abzuplagen. Denn schon 1760 rang er dem Staate den Posten eines Organisten und Tertius in Wonsiedel ab; und machte sonach unter dem Baireuther Markgrafen mehr und früheres Glück als jener Kandidat in Hannover, wovon ich gelesen, welcher 70 Jahre alt wurde und doch keine andere Stelle in der Kirche bekam als eine darneben im Kirchhofe. [...] 

In meinen historischen Vorlesungen wird zwar das Hungern immer stärker vorkommen – bei dem Helden steigts sehr – und wohl so oft als das Schmausen in Thümmels Reisen und das Teetrinken in Richardsons Clarisse; aber ich kann doch nicht umhin, zur Armut zu sagen: sei willkommen, sobald du nur nicht in gar zu späten Jahren kommst. Reichtum lastet mehr das Talent als Armut und unter Goldbergen und Thronen liegt vielleicht mancher geistige Riese erdrückt begraben. Wenn in die Flammen der Jugend und vollends der heißen Kräfte zugleich noch das Öl des Reichtums gegossen wird: so wird wenig mehr als Asche vom Phönix übrig bleiben; und nur ein Goethe hatte die Kraft, sogar an der Sonne des Glücks seine Phönixflügel nicht kürzer zu versengen. Der arme historische Professor hier möchte um vieles Geld nicht in der Jugend viel Geld gehabt haben. Das Schicksal macht es mit Dichtern wie wir mit Vögeln und verhängt dem Sänger so lange den Bauer finster, bis er endlich die vorgespielten Töne behalten, die er singen soll. [...]

Nur einen einzigen Fehlentschluß meines Vaters könnte man vielleicht auf die Rechnung der Dürftigkeit setzen, daß er nämlich anstatt sein ganzes musikalisches Herz der Tonmuse zu geloben, wie ein Mönch sich dem Predigtamte hingab und daß er sein Ton-Genie in eine Dorfkirche begraben ließ. [...]

Ich bin zu meiner Freude imstande, aus meinem zwölf-, wenigstens vierzehnmonatlichen Alter eine bleiche kleine Erinnerung, gleichsam das erste geistige Schneeglöckchen aus dem dunkeln Erdboden der Kindheit noch aufzuheben. Ich erinnere mich nämlich noch, daß ein armer Schüler mich sehr liebgehabt und ich ihn und daß er mich immer auf den Armen – was angenehmer ist als oft später auf den Händen – getragen und daß er mir in einer großen schwarzen Stube der Alumnen Milch zu essen gegeben. Sein fernes nachdunkelndes Bild und sein Lieben schwebte mir über spätere Jahre herein; leider weiß ich seinen Namen längst nicht mehr; aber da es doch möglich wäre, daß er noch lebte hoch in den Sechzigern und als vielseitiger Gelehrter diese Vorlesungen in Druck vorbekäme und sich dann eines kleinen Professors erinnerte, den er getragen und geküßt – – ach Gott, wenn dies wäre und er schriebe oder der ältere Mann zum alten käme! – Dieses Morgensternchen frühester Erinnerung stand in den Knabenjahren noch ziemlich hell in seinem niedrigen Himmel, erblaßte aber immer mehr, je höher das Taglicht des Lebens stieg; – und eigentlich erinnere ich mich nur dies klar, daß ich mich früher von allem heller erinnert. –

Da mein Vater schon im Jahre 1765 als Pfarrer nach Joditz berufen worden: so kann ich mein Wonsiedler Kindheitreliquiarium desto reiner von den ersten frühen Joditzer Reliquien und Erinnerungen abscheiden. [...]

(Jean Paul: Selberlebensbeschreibung 1. Vorlesung)


Als ich vor neun Jahren das erste Mal Jean Pauls Autobiographie vorgestellt habe, habe ich weit weniger von seinem Text geboten und nicht die Auslassungen, sondern meine Fundstücke hervorgehoben. Wem dieser Text zu ausführlich erscheint, der wechsle jetzt zum früheren.

29 Mai 2021

Goethe: Des Epimenides Erwachen

 Des Epimenides Erwachen

"Erster Auftritt

DIE MUSE zwei Genien, der eine an einem Thyrsus Leier, Masken, geschriebene Rolle trophäenartig tragend, der andere einen Sternenkreis um sich her.

In tiefe Sklaverei lag ich gebunden,

Und mir gefiel der Starrheit Eigensinn;

Ein jedes Licht der Freiheit war verschwunden,

Die Fesseln selbst, sie schienen mir Gewinn:

Da nahte sich, in holden Frühlingsstunden,

Ein Glanzbild; gleich entzückt – so wie ich bin –

Seh' ich es weit und breiter sich entfalten,

Und rings umher ist keine Spur des Alten.
[366]

Die Fesseln fallen ab von Händ' und Füßen,

Wie Schuppen fällt's herab vom starren Blick,

Und eine Träne, von den liebesüßen,

Zum ersten Mal sie kehrt ins Aug' zurück;

Sie fließt – ihr nach die Götterschwestern fließen,

Das Herz empfindet längst entwohntes Glück,

Und mir erscheint, was mich bisher gemieden,

Ganz ohne Kampf, der reine Seelenfrieden.


Und mir entgegnet, was mich sonst entzückte:

Der Leier Klang, der Töne süßes Licht

Und, was mich schnell der Wirklichkeit entrückte,

Bald ernst, bald frohgemut, ein Kunstgesicht;

Und das den Pergamenten Aufgedrückte,

Ein unergründlich schweres Leichtgewicht;

Der Sterne Kreis erhebt den Blick nach oben,

Und alle wollen nur das Eine loben.


Und Glück und Unglück tragen so sich besser,

Die eine Schale sinkt, die andre steigt,

Das Unglück mindert sich, das Glück wird größer,

So auf den Schultern trägt man beide leicht!

Da leere das Geschick die beiden Fässer,

Der Segen trifft, wenn Fluch uns nie erreicht;

Wir sind für stets dem guten Geist zuteile,

Der böse selbst, er wirkt zu unserm Heile.


So ging es mir! Mög' es euch so ergehen,

Daß aller Haß sich augenblicks entfernte

Und, wo wir noch ein dunkles Wölkchen sehen.

Sich alsobald der Himmel übersternte,

Es tausendfach erglänzte von den Höhen

Und alle Welt von uns die Eintracht lernte;

Und so genießt das höchste Glück hienieden:

Nach hartem äußern Kampf den innern Frieden.


Die Muse bewegt sich, als wenn sie abgehen wollte; die Kinder ziehen voran und sind schon in der Kulisse, sie aber ist noch auf dem Theater, wenn Epimenides erscheint; dann spricht sie folgende Stanze, geht ab, und jener kommt die Stufen herab.
[367]

MUSE.

Und diesen lass' ich euch an meiner Stelle,

Der, früher schon geheimnisvoll belehrt,

Als Mann der Weisheit unversiegter Quelle

Und ihrem Schaun sich treulich zugekehrt,

Nun freigesinnt, beinah zur Götterhelle

Die wunderbarsten Bilder euch erklärt;

Doch laßt vorher die wildesten Gestalten

In eigensinn'ger Kraft zerstörend walten.


Ab."

Hölderlin: Der Tod des Empedokles

Erster Akt

1.

Panthea. Delia.

"Panthea. Dies ist sein Garten! Dort im geheimen Dunkel, wo die Quelle springt, dort stand er jüngst, als ich vorüberging – du hast ihn nie gesehn?

Delia. O Panthea! Bin ich doch erst seit gestern mit dem Vater in Sizilien. Doch ehemals, da ich noch ein Kind war, sah ich ihn auf einem Kämpferwagen bei den Spielen in Olympia. Sie sprachen damals viel von ihm, und immer ist sein Name mir geblieben.

Panthea. Du mußt ihn jetzt sehn, jetzt! Man sagt, die Pflanzen merkten auf ihn, wo er wandre, und die Wasser der Erde strebten herauf, da wo sein Stab den Boden berühre, und wenn er bei den Gewittern in den Himmel blicke, teile die Wolke sich, und hervor schimmre der heitre Tag. – Das all mag wahr sein! Doch was sagt's? Du mußt ihn selbst sehen! einen Augenblick! und dann hinweg! ich meid' ihn selbst, ein furchtbar, allverwandelnd Wesen ist er.

Delia. Wie lebt er denn mit anderen? Ich begreife nichts von diesem Manne. Sage, hat er, wie wir, auch seine leeren Tage, wo man sich alt und unbedeutend dünkt? Und gibt es auch ein menschlich Leid für ihn?

Panthea. Ach! da ich ihn zum letzten Male dort
Im Schatten seiner Bäume sah, da hatt' er wohl
Sein eigen tiefes Leid – der Göttliche.
Mit wunderbarem Sehnen, traurigforschend,
Wie wenn er viel verloren, blickt' er bald
Zur Erd' hinab, bald durch die Dämmerung
Des Hains hinauf, als wär' ins ferne Blau
Das Leben ihm entflogen, und die Demut
Des königlichen Angesichts ergriff
Mein ringend Herz: – auch du mußt untergehn,
Du schöner Stern – und lange währet's nicht mehr!
Das ahnte mir.

Delia. Hast Du mit ihm auch schon gesprochen, Panthea?

Panthea. Oh, daß du daran mich erinnerst! Es ist nicht lange, daß ich todeskrank daniederlag. Schon dämmerte der Tag vor mir, und um die Sonne wankte, wie ein seellos Schattenbild, die Welt. Da rief mein Vater, wenn er schon ein arger Feind des hohen Mannes ist, am hoffnungslosen Tage den Vertrauten der Natur; und als der Herrliche den Heiltrank mir gereicht, da schmolz in zauberischer Versöhnung mir mein kämpfend Leben ineinander und wie zurückgekehrt in süße, sinnenfreie Kindheit schlief ich wachend viele Tage fort und kaum bedurft' ich eines Atemzugs. Wie nun in frischer Luft mein Wesen sich zum ersten Male wieder der lang entbehrten Welt entfaltete, mein Auge sich in jugendlicher Neugier dem Tag erschloß, da stand Empedokles! o wie göttlich und wie gegenwärtig mir! Am Lächeln seiner Augen blühte mir das Leben wieder auf! Ach, wie ein Morgenwölkchen floß mein Herz dem hohen süßen Licht entgegen, und ich war der zarte Widerschein von ihm.

Delia. O Panthea!

Panthea. Der Ton aus seiner Brust! in jeder Silbe klangen alle Melodien! und der Geist in seinem Wort! – Zu seinen Füßen möcht' ich sizen, stundenlang, als seine Schülerin, sein Kind, in seinen Äther schaun und auf zu ihm frohlocken, bis in seinen Himmelshöhen sich mein Sinn verlöre droben.

Delia. Was würd' er sagen, Liebe, wenn er's wüßte!

Panthea. Er weiß es nicht, der Unbedürft'ge wandelt
In seiner eignen Welt; in leiser Götterruhe geht
Er unter seinen Blumen, und es scheun
Die Lüfte sich, den Glücklichen zu stören;
Ihm schweigt die Welt, und aus sich selber wächst
In steigendem Vergnügen die Begeisterung
Ihm auf, bis aus der Nacht des schöpfrischen
Entzückens wie ein Funke der Gedanke springt,
Und heiter sich die Geister künft'ger Taten
In seine Seele drängten, und die Welt,
Der Menschen gärend Leben und die stillere
Natur um ihn erscheint – hier fühlt er, wie ein Gott,
In seinen Elementen sich, und seine Lust
Ist himmlischer Gesang. Und dann tritt er
Heraus ins Volk an Tagen, wo die Menge
Sich überbraust, und eines Mächtigern
Der unentschlossene Tumult bedarf
Da herrscht er dann, der herrliche Pilot,
Und hilft hinaus; und wenn sie dann erst recht
Ihn sehn, des immer fremden Mannes sich
Gewöhnen möchten, ehe sie's gewahren,
Ist er hinweg – ihn zieht in ihre Schatten
Die stille Pflanzenwelt, wo er sich schöner findet,
Und ihr geheimnisvolles Leben, das vor ihm
In seinen Kräften allen gegenwärtig ist.

Delia. O Sprecherin! wie weißt du denn das alles?

Panthea. Ich sinn ihm nach – wieviel ist über ihn
Mir noch zu sinnen? ach! und hab' ich ihn
Gefaßt, was ist's? Er selbst zu sein, das ist
Das Leben, und wir andern sind der Traum davon.
Sen Freund Pausanias hat auch von ihm
Schon manches mir erzählt – der Jüngling sieht
Ihn Tag vor Tag, und Jovis Adler ist
Nicht stolzer denn Pausanias, ich glaub' es!

Delia. Ich kann nicht tadeln, Liebe, was du sagst,
Doch trauert meine Seele wunderbar
Darüber, und ich möchte sein wie du,
Und möcht' es wieder nicht. Seid ihr denn all
Auf dieser Insel so? Wir haben auch
An großen Männern unsre Lust, und einer
Ist jetzt die Sonne der Athenerinnen,
Sophokles! dem von allen Sterblichen
Zuerst der Jungfrau herrlichste Natur
Erschien und sich zu reinem Angedenken
In seine Seele gab –
Und jede wünscht sich, ein Gedanke
Des Herrlichen zu sein und möchte gern
Die immerschöne Jugend, eh' sie welkt,
Hinüber in des Dichters Seele retten
Und frägt und sinnet, welche von den Jungfrauen
Der Stadt die zärtlichernste Heroide sei,
Die seiner Seele vorgeschwebt, die er
Antigone genannt; und helle wird's
Um unsere Stirne, wenn der Götterfreund
Am heitern Festtag ins Theater tritt,
Doch kummerlos ist unser Wohlgefallen,
Und nie verliert das liebe Herz sich so
In schmerzlich fortgerißner Huldigung. –
Du opferst dich – ich glaub' es wohl, er ist
Zu übergroß, um ruhig dich zu lassen,
Den Unbegrenzten liebst Du unbegrenzt,
Was hilft es ihm? Dir selbst, dir ahndete
Sein Untergang, du gutes Kind, und du
Sollst untergehn mit ihm?

Panthea. O mache mich
Nicht stolz, und fürchte, wie für ihn, für mich nicht!
Ich bin nicht er, und wenn er untergeht,
So kann sein Untergang der meinige
Nicht sein, denn groß ist auch der Tod der Großen. –
Und will der Waffenträger mit dem Helden
Durch eine Schicksalsflamme gehn, so muß
Der eine wie der andere dazu
Berufen sein; – was diesem Manne widerfährt
Das glaube mir, das widerfährt nur ihm,
Und hätt' er gegen alle Götter sich
Versündiget und ihren Zorn auf sich
Geladen, und ich wollte sündigen,
Wie er, um gleiches Los mit ihm zu leiden,
So wär's, wie wenn ein Fremder in den Streit
Der Liebenden sich mischt. – "Was willst du?" sprächen
Die Götter mir, "du Törin, kannst uns nicht
Beleidigen wie er –"

Delia. Du bist vielleicht
Ihm gleicher, als du denkst, wie fändest du sonst
An ihm ein Wohlgefallen.

Panthea. Liebes Herz!
Ich weiß es selber nicht, warum ich ihm
Gehöre; sähst du ihn! – Ich dacht', er käme
Vielleicht heraus, um diese Stunde geht
Der Ewigjugendliche gern im Haine,
Wenn einen Augenblick der frische Tag
Ihm gleicht; du hättest dann im Weggehn ihn
Gesehn; es war ein Wunsch! nicht wahr? ich sollte
Der Wünsche mich entwöhnen, denn es scheint,
Als liebten unser ungeduldiges Gebet die Götter nicht; sie haben recht!
Ich will auch nimmer – aber hoffen muß
Ich doch, ihr guten Götter, und ich weiß
Nicht anderes denn ihn – ich wollte gern,
Ich bäte, gleich den übrigen, von euch
Nur Sonnenlicht und Regen, könnt' ich nur!
O ewiges Geheimnis! was wir sind
Und suchen, können wir nicht finden, was
Wir finden, sind wir nicht. – Wieviel ist wohl
Die Stunde? –

Delia. Dort kommt dein Vater,
Ich weiß nicht, bleiben oder gehen wir?

Panthea. Wie sagtest du? Mein Vater? Komm! hinweg!

2.

Chor der Agrigentiner in der Ferne

Kritias. Hermokrates

Kritias. Hörst du das trunkne Volk?

Hermokrates. Sie suchen ihn.

Kritias. Der Geist des Manns
Ist mächtig unter ihnen.

Hermokrates. Ich weiß, wie dürres Gras
Entzünden sich die Menschen.

Kritias. Das einer so die Menge bewegt, mir ist's
Als wie wenn Jovis Blitz den Wald
Ergreift und furchtbarer.

Hermokrates. Darum binden wir den Menschen auch
Das Band ums Auge, daß sie nicht
Zu kräftig sich am Lichte nähren.
Nicht gegenwärtig werden
Darf Göttliches vor ihnen,
Es darf ihr Herz
Lebendiges nicht finden.
Kennst du die Alten nicht,
Die Lieblinge des Himmels man nennt!
Sie nährten die Brust
An Kräften der Welt,
Und den Hellaufblickenden war
Unsterbliches nahe,
Drum beugten die Stolzen
Das Haupt auch nicht,
Und vor den Gewaltigen konnt'
Ein anderes nicht bestehn,
Es ward verwandelt vor ihnen.

Kritias. Und er?

Hermokrates. Das hat zu mächtig ihn
Gemacht, daß er vertraut
Mit Göttern worden ist.
Es tönt sein Wort dem Volk,
Als käm' es vom Olymp;
Sie danken's ihm,
Daß er vom Himmel raubt'
Die Lebensflamm' und sie
Verrät den Sterblichen.

Kritias. Sie wissen nichts denn ihn,
Er soll ihr Gott,
Er soll ihr König sein.
Sie sagen, es hab' Apoll
Die Stadt gebaut den Trojern,
Doch besser sei, es helf'
Ein hoher Mann durchs Leben.
Noch sprechen sie viel Unverständiges
Von ihm und achten kein Gesetz
Und keine Not und keine Sitte.
Ein Irrgestirn ist unser Volk
Geworden, und ich fürcht',
Es deute dieses Zeichen
Zukünft'ges noch, das er
Im stillen Sinne brütet.

Hermokrates. Sei ruhig, Kritias!
Er wird nicht.

Kritias. Bist du denn nicht mächtiger?

Hermokrates. Der sie versteht,
Ist stärker denn die Starken,
Und wohlbekannt ist dieser Seltne mir.
Zu glücklich wuchs er auf;
Ihm ist von Anbeginn
Der eigne Sinn verwöhnt, daß ihn
Geringes irrt! er wird es büßen,
Daß er zu sehr geliebt die Sterblichen.

Kritias. Mir ahndet selbst,
Es wird mit ihm nicht lange dauern,
Doch ist es lang genug,
So er est fällt, wenn's ihm gelungen ist.

Hermokrates. Und schon ist er gefallen.

Kritias. Was sagst du?

Hermokrates. Siehst du denn nicht? es haben
Den hohen Geist die Geistesarmen
Geirrt, die Blinden den Verführer.
Die Seele warf er vor das Volk, verriet
Der Götter Gunst gutmütig den Gemeinen,
Doch rächend äffte leeren Widerhalls
Genug denn auch aus toter Brust den Toren.
Und eine Zeit ertrug er's, grämte sich
Geduldig, wußte nicht,
Wo es gebrach; indessen wuchs
Die Trunkenheit dem Volke; schaudernd
Vernahmen sie's, wenn ihm vom eignen Wort
Der Busen bebt', und sprachen:
So hören wir nicht die Götter!
Und Namen, so ich die nicht nenne, gaben
Die Knechte dann dem stolzen Trauernden.
Und endlich nimmt der Durstige das Gift,
Der Arme, der mit seinem Sinne nicht
Zu bleiben weiß und ähnliches nicht findet,
Er tröstet mit der rasenden
Anbetung sich, verblindet, wird wie sie,
Die seelenlosen Abergläubigen;
Die Kraft ist ihm entwichen,
Er geht in einer Nacht, und weiß sich nicht
Herauszuhelfen, und wir helfen ihm.

Kritias. Des bist du so gewiß?

Hermokrates. Ich kenn' ihn.

Kritias. Ein übermütiges Gerede fällt
Mir bei, das er gemacht, da er zuletzt
Auf der Agore war. Ich weiß es nicht,
Was ihm das Volk zuvor gesagt; ich kam
Nur eben, stand von fern. "Ihr ehret mich,"
Antwortet' er, "und tuet recht daran;
Denn stumm ist die Natur,
Es leben Sonn' und Luft und Erd' und ihre Kinder
Fremd umeinander,
Die Einsamen, als gehörten sie sich nicht.
Wohl wandeln immerkräftig
Im Göttergeiste die freien
Unsterblichen Mächte der Welt
Rings um der andern
Vergänglich Leben,
Doch wilde Pflanzen
Auf wilden Grund
Sind in den Schoß der Götter
Die Sterblichen alle gesäet,
Die Kärglichgenährten, und tot
Erschiene der Boden, wenn einer nicht
Des wartete, lebenerweckend –
Und mein ist das Feld. Mir tauschen
Die Kraft und Seele zu einem
Die Sterblichen und die Götter.
Und wärmer umfangen die ewigen Mächte
Das strebende Herz, und kräft'ger gedeihn
Vom Geiste der Freien die fühlenden Menschen,
Und wach ist's! denn ich
Geselle das Fremde,
Das Unbekannte nennet mein Wort,
Und die Liebe der Lebenden trag'
Ich auf und nieder; was einem gebricht,
Ich bring' es vom andern, und binde
Beseelend und wandle
Verjüngend die zögernde Welt
Und gleiche keinem und allen",
So sprach der Übermütige.

Hermokrates. Das ist noch wenig. Ärgers schläft in ihm.
Ich kenn' ihn, kenne sie, die überglücklichen,
Verwöhnten Söhne des Himmels
Die anders nicht, denn ihre Seele, fühlen.
Stört einmal sie der Augenblick heraus –
Und leicht zerstörbar sind die Zärtlichen –
Dann stillet nichts sie wieder, brennend
Treibt eine Wunde sie, unheilbar gärt
Die Brust. Auch er! so still er scheint,
So glüht im doch, seit ihm das Volk mißfällt,
Im Busen die tyrannische Begierde.
Er oder wir! Und Schaden ist es nicht,
So wir ihn opfern. Untergehen muß
Er doch!

Kritias. O reiz' ihn nicht! und laß
Sie sich ersticken, die verschloß'ne Flamme.
Laß ihn, gib ihm nicht Anstoß, findet den
Zu frecher Tat der Übermüt'ge nicht,
Und kann er nur im Worte sündigen,
So stirbt er als ein Tor und schadet uns
Nicht viel. Das macht ihn furchtbar,
Ein kräft'ger Gegner; glaub' es mir, dann erst,
Dann fühlt er seine Macht.

Hermokrates. Du fürchtest ihn und alles, armer Mann!

Kritias. Die Reue nur mag ich mir gerne sparen –
Mag gerne schonen, was zu schonen ist.
Die Nemesis zu ehren, lehrte mich
Mein Leben und mein Sinn; das braucht
Der Priester nicht, der alles weiß,
Der Heil'ge, der sich alles heiliget.

Hermokrates. Begreife mich, Unmündiger! eh' du
Mich lästerst. Fallen muß der Mann; ich sag'
Es dir, und glaube mir, wär' er zu schonen,
Ich würd' es mehr wie du. Denn näher bin
Ich ihm, wie du. Doch lerne das:
Verderblicher, denn Schwert und Feuer ist
Der Menschengeist, der götterähnliche,
Wenn er nicht schweigen kann und sein Geheimnis
Unaufgedeckt bewahren. Bleibt er still
In seiner Tiefe ruhn und gibt, was not ist,
Wohltätig ist er dann; ein fressend Feuer,
Wenn er aus seiner Fessel bricht.
Hinweg mit ihm, der seine Seele bloß
Und ihre Götter gibt, verwegen
Aussprechen will Unauszusprechendes,
Und sein gefährlich Gut, als wär' es Wasser,
Verschüttet und vergeudet; schlimmer ist's
Wie Mord, und du, du redst für diesen?
Beschwätzen möchtest du Notwendiges?
Sein Schicksal ist's. Er hat es sich
Gemacht, und leben soll,
Wie er, und vergehn, wie er, in Weh
Und Torheit jeder, der wie er
Das Göttliche verrät und allverkehrend
Verborgenherrschendes
In Menschenhände liefert!
Er muß hinab!

Kritias. So teuer büßen muß er's, der sein Bestes
Aus voller Seele Sterblichen vertraut?

Hermokrates. Er mag es, doch es bleibt die Nemesis
Nicht aus, mag große Worte sagen, mag
Entwürdigen das keusch verschwiegne Leben,
Aus Tageslicht das Gold der Tiefe ziehn,
Er mag es brauchen, was zum Brauche nicht
Den Sterblichen gegeben ist, ihn wird's
Zuerst zugrunde richten,
Hat's ihm den Sinn nicht schon verwirrt? Ist
Bei seinem Volke denn die volle Seele,
Die zärtliche, nicht schon genug verwildert?
Wie ist er nun ein Eigenmächtiger
Geworden, dieser Allmitteilende!
Der güg'ge Mann, wie ist er so verwandelt
Zum Frechen, der wie seiner Hände Spiel
Die Götter und die Menschen achtet!

Kritias. Du redest schrecklich, Priester, und es dünkt
Dein dunkel Wort mir wahr. Es sei!
Du hast zum Werke mich, nur weiß ich nicht,
Wo er zu fassen ist; es sei der Mann
So groß er will, zu richten ist nicht schwer;
Doch mächtig sein des Übermächtigen,
Der, wie ein Zauberer, die Menge leitet,
Es dünkt ein andres mir, Hermokrates.

Hermokrates. Gebrechlich ist sein Zauber, Kind, und leichter
Denn nötig ist, hat er es uns bereitet,
Es wandte zur gelegnen Stunde sich
Sein Unmut um, der still empörte Sinn
Befeindet nun sich selber, hätt' er auch
Die Macht, er achtet's nicht, er trauert nur
Und siehet seinen Fall, er sucht
Rückkehrend das verlorne Leben,
Den Gott, den er aus sich hinweggeschwätzt.
Versammle mir das Volk, ich klag' ihn an,
Ruf' über ihn den Fluch, erschrecken sollen sie
Vor ihrem Abgott, sollen ihn
Hinaus verstoßen in die Wildnis,
Und nimmer wiederkehrend soll er dort
Mir's büßen, daß er mehr, wie sich gebührt,
Den Sterblichen verkündiget.

Kritias. Doch wes beschuldigest du ihn?

Hermokrates. Die Worte, so du mir genannt,
Sie sind genug.

Kritias. Mit dieser schwachen Klage
Willst du das Volk ihm von der Seele ziehen?

Hermokrates. Zu rechter Zeit hat jede Klage Kraft,
Und nicht gering ist diese.

Kritias. Und klagtest du des Mords ihn an vor ihnen,
Es rührte nichts die Abergläubigen.

Hermokrates. Dies eben ist's, die offenbare Tat
Vergeben sie, die Abergläubigen,
Unsichtbar muß es sein, ins Auge muß es
Sie treffen, das bewegt die Blöden.

Kritias. Es hängt ihr Herz an ihm, das bändigest,
Das lenkst du nicht so leicht; sie lieben ihn.

Hermokrates. Sie lieben ihn? jawohl, solang er blüht'
Und glänzt' – – – – – – naschen sie;
Was sollen sie mit ihm, nun er
Verdüstert ist, verödet? Da ist nichts,
Was nützen könnt' und ihre lange Zeit
Verkürzen, abgeerntet ist das Feld,
Verlassen liegt's, und nach Gefallen gehn
Der Sturm und unsre Pfade drüber hin!

Kritias. Empör' ihn nur! empör' ihn! siehe zu!

Hermokrates. Ich hoff', er ist geduldig.

Kritias. So wird sie der Geduldige gewinnen!

Hermokrates. Nichts weniger!

Kritias. Du achtest nichts, du wirst dich
Und mich und ihn und alles noch verderben.

Hermokrates. Das Träumen und das Schäumen
Der Sterblichen, ich acht' es wahrlich nicht!
Sie möchten Götter sein und huldigen
Wie Göttern sich, und eine Weile dauert's!
Sorgst du, es möchte sie der Leidende
Gewinnen, der Geduldige?
Empören wird er gegen sich die Toren,
An seinem Leide werden sie den teuern
Betrug erkennen, werden unbarmherzig
Ihm's danken, daß der Angebetete
Doch auch ein Schwacher ist, und ihm
Geschiehet recht, warum bemengt er sich
Mit ihnen.

Kritias. Ich wollt' ich wär' aus dieser Sache, Priester!

Hermokrates. Vertraue mir und scheue nicht, was not ist.

Kritias. Dort kömmt er. Suche nur dich selbst,
Du irrer Geist, indes verlierst du alles.

Hermokrates. Laß ihn! hinweg!

3.

Empedokles

In meine Stille kamst du leisewandelnd
Fandst drinnen in der Halle Dunkel mich aus,
Du Freundlicher, du kamst nicht unverhofft,
Und fernher wirkend über der Erde vernahm
Ich wohl dein Wiederkehren, schöner Tag!
Und meine Vertrauten, euch, ihr schnellgeschäft'gen
Kräfte der Höh'! und nahe seid auch ihr
Mir wieder, seid wie sonst, ihr Glücklichen,
Ihr irrelosen Bäume meines Hains!
Ihr ruhetet und wuchst und täglich tränkte
Des Himmels Quelle die bescheidenen
Mit Licht; und Lebensfunken sätest du
Befruchtend auf die blühenden aus, du Äther!
O innige Natur! ich habe dich
Vor Augen, kennest du den Freund noch,
Den Hochgeliebten, kennest du mich nimmer?
Den Priester, der lebendigen Gesang
Wie frohvergoßnes Opferblut dir brachte.

O bei den heiligen Bäumen,
Wo Wasser aus den Adern der Erde
Sich sammeln und am heißen Tage
Die Dürstenden erfrischen,
Auch mir, ihr Quellen des Lebens, strömtet
Aus Tiefen der Welt ihr einst
Zusammen, und es kamen
Die Dürstenden zu mir; – wie ist's denn nun
Verträumt? bin ich ganz allein?
Und ist es Nacht hier außen auch am Tage?
Der höher, denn ein sterblich Auge, sah,
Der Blindgeschlagne tastet nun umher –
Wo seid ihr, meine Götter?
Weh! laßt ihr nun
Wie einen Bettler mich?
Und diese Brust, die liebend euch geahndet,
Was stoßt ihr sie hinab
Und schloßt sie mir in schmählich enge Bande
Die freigeborne? Und leben soll
Er nun so fort, der Langverwöhnte,
Der selig oft mit allen Lebenden
Ihr Leben, – ach! in heilig schöner Zeit
Sich wie das Herz gefühlt von einer Welt
Und ihren Götterkräften, –
Verdammt in seiner Seele soll er so
Dahingehn, ausgestoßen, freundlos, er
Der Götterfreund, an seinem Nichts
Und seiner Nacht sich weiden immerdar,
Unduldbares duldend, gleich den Schwächlingen, die
Ans Tagewerk im scheuen Tartarus
Geschmiedet sind? Was, daherab bin ich
Gekommen? Um nichts? ha! Eines,
Eins mußtet ihr mir lassen! Tor bist Du
Derselbe doch und träumst, als wärest du
Ein Schwacher. Einmal noch! noch einmal
Soll mir's lebendig werden und ich will's!
Fluch oder Segen! Täusche nur die Kraft,
Demütiger, dir nimmer aus dem Busen!
Weit will ich's um mich machen, tagen soll's
Von eigner Flamme mir, du sollst
Zufrieden werden, armer Geist,
Gefangener, frei, groß und reich
In eigner Welt dich fühlen – –
Weh! einsam! einsam! einsam!
Und nimmer find' ich
Euch, meine Götter
Und nimmer kehr' ich
Zu deinem Leben, Natur!
Dein Geächteter! weh! Hab' ich doch auch
Dein nicht geachtet, dein
Mich überhoben, hast du nicht
Umfangend mit den warmen Fittichen,
Du Zärtliche, mich vom Schlafe gerettet?
Den Törichten schmeichelnd zu deinem Nektar
Gelockt, damit er trank und wuchs
Und blüht' und mächtig geworden und trunken
Deiner ungestraft höhnt? O Geist,
Geist, der mich groß gemacht, du hast
Dir einen Helden, hast, alter Saturn,
Dir einen neuen Jupiter
Gezogen, einen schwächern nur und frechern.
Denn schmähen kann die böse Zunge dich nur.
Es ist vorbei! Verbirg dir's nicht! du hast
Es selbst verschuldet, armer Tantalus,
Das Heiligtum hast du geschändet, hast
Mit frechem Stolz den schönen Bund entzweit.
Elender! als die Genien der Welt
Voll Liebe sich in dir vergaßen, dachtest du
An dich, und wähntest, karger Tor, an dich
Die Gütigen verkauft, daß sie dir,
Die Himmlischen, wie blöde Knechte dienten.
Ist nirgends ein Rächer, und muß ich denn allein
Den Hohn und Fluch in meine Seele sagen?
Muß einsam sein? auch so? Und es reißt
Die delphische Krone mir kein Besserer,
Denn ich, vom Haupt und nimmt die Locken hinweg,
Wie es dem kahlen Seher gebührt, – o Götter! [...]"

(Hölderlin: Der Tod des Empedokles, 1. Akt 1-3)

Text: https://www.projekt-gutenberg.org/hoelderl/empedok/empedok1.html


Als Hölderlin in jugendlichem Alter seiner Mutter das Gedicht An die Parzen mit den Zeilen

"einmal /Lebt ich wie Götter und mehr bedarfs nicht" schrieb, ängstigte er seine Mutter. Sie kannte ihn wohl zu gut, um Beschwichtigungen zu glauben. Sein Empedokles und sein Gedicht Dichtermut mit den Zeilen "Freudig starb er und noch klagen die Einsamen,/  Seine Haine, den Fall ihres Geliebtesten" nehmen den Gedanken wieder auf, aber verbunden mit dem Gefühl, seiner anspruchsvollen Sendung aufgrund seines Schicksals nicht gerecht geworden zu sein. 

Dass das Drama Fragment blieb, mag man als Zeichen dafür deuten, dass er, der "die Tragödie als höchste der literarischen Gattungen betrachtete" (Wikipedia) seinen Versuch, sein Leiden an der Welt dichterisch gültig zu verarbeiten, - zumindest bei diesem Versuch - als gescheitert ansah. 

Lewis Wallace: Ben Hur - Judah erlebt die Kreuzigung

 "[...] Die erste und die zweite Stunde nach der Kreuzigung vergingen für den Nazarener unter der gleichen Verhöhnung und Schmähung. Nur einmal während dieser Zeit öffnete er seinen Mund. Einige Frauen erschienen und knieten am Fuße seines Kreuzes nieder. Unter ihnen erblickte er seine Mutter und den Lieblingsjünger.

»Weib,« sprach er, seine Stimme erhebend, – »sieh deinen Sohn!« Und zum Jünger: »Sieh deine Mutter!«

Die dritte Stunde kam und noch immer wogte die Menge um den Hügel, von einer geheimen Kraft auf demselben festgehalten. Nicht wenig mochte dazu die ungewöhnliche Nacht zur Mittagszeit beigetragen haben. Die Leute waren ruhiger als in der vorigen Stunde. Man konnte auch bemerken, daß sie jetzt, wenn sie zum Nazarener kamen, schweigend seinem Kreuze sich nahten, schweigend hinaufblickten und ebenso lautlos sich entfernten. Diese Änderung erstreckte sich selbst auf die Soldaten, die erst kurz zuvor über die Kleider des Gekreuzigten das Los geworfen hatten. Sie standen mit ihren Anführern etwas abseits, mehr auf den einen Gekreuzigten achtend als aus das Gedränge der Kommenden und Gehenden. Sobald er nur schwer atmete oder im Übermaß des Schmerzes das Haupt bewegte, wurde schon ihre Aufmerksamkeit rege. Am auffallendsten jedoch war das geänderte Benehmen des Hohenpriesters und seiner Begleiter. Sie erschraken über die zunehmende Verfinsterung und besprachen sich darüber. »Es ist Vollmond,« sagten sie, und der Wahrheit gemäß, »eine Sonnenfinsternis kann dies also nicht sein.« Da niemand die sie alle aufregende Frage beantworten, niemand die gerade zu dieser Zeit eingetretene Finsternis erklären konnte, brachten sie dieselbe in ihren innersten Gedanken mit dem Nazarener in Verbindung und konnten sich einer gewissen Angst nicht erwehren, welche durch die lange Dauer der Erscheinung nur noch gesteigert wurde. Der Mann mochte wirklich der Messias gewesen sein und dann – – Doch sie wollten warten und sehen!

Als die dritte Stunde etwa halb verflossen war, kamen einige aus der rohesten Klasse, – verworfene Menschen aus den Grabhöhlen der Umgebung Jerusalems – und blieben vor dem mittleren Kreuze stehn.

»Hier ist er, der neue König der Juden,« riefen sie unter Hohnlachen.

Da sie keine Antwort erhielten, traten sie näher heran.

»Bist du der König der Juden oder Gottes Sohn, so steige herab,« sagten sie laut.

Jetzt unterbrach einer der Schächer sein Stöhnen und rief dem Nazarener zu: »Ja, wenn du Christus bist, so hilf dir selbst und uns!«

Das Volk lachte und erhob ein Beifallsgeschrei. Als es dann wieder schwieg, um auf eine Antwort zu warten, hörte man den anderen Schacher zum ersten sagen: »Fürchtest auch du Gott nicht, da du doch dieselbe Strafe erleidest? Wir zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdient haben. Dieser aber hat nichts Böses getan.«

Die Umstehenden waren erstaunt. In der Stille, die eintrat, sprach der zweite Schächer wieder, doch diesmal zum Nazarener: »Herr,« sagte er, »gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!«

Da antwortete der Nazarener, und zwar mit lauter Stimme und im Tone der Zuversicht: »Wahrlich, sag' ich dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein!«

Simonides, dessen Inneres bisher von den widerstreitendsten Gedanken erfüllt gewesen, war es bei diesen Worten, als dringe ein helles Licht in seine Seele. Dann faltete er die Hände und sprach: »Genug, Herr, genug! Die Finsternis ist gewichen; ich sehe mit anderem Auge – gerade wie Balthasar, ich sehe mit den Augen vollkommenen Glaubens.« Der treue Diener hatte endlich den gebührenden Lohn gefunden. Sein gebrochener Körper mochte nie wieder hergestellt werden, die Erinnerung an seine Leiden oder der Gedanke an die durch sie verbitterten Jahre mochte ihn nicht mehr verlassen. Doch ein neues Leben ward ihm plötzlich geoffenbart und er hatte die Gewißheit, daß es seiner warte – ein neues Leben sogleich nach dem irdischen – und sein Name war Paradies. Tiefer Friede senkte sich in sein Herz.

Weiter oben aber, dort vor dem Kreuze, herrschte Überraschung und Bestürzung. Dafür, daß sich der Nazarener im ganzen Lande für den Messias ausgegeben, hatten sie ihn ans Kreuz gebracht, und siehe, am Kreuze hatte er nicht nur bestimmter als je seine Würde wieder behauptet, sondern sogar einem Missetäter die Freuden seines Paradieses verheißen! Sie zitterten ob ihrer Tat. Selbst der Hohepriester geriet bei all seinem Stolze in Furcht. Woher hatte der Mann seine Zuversicht, wenn nicht von der Wahrheit? Und was konnte wohl die Wahrheit anders sein als Gott? Ein unbedeutender Umstand hätte jetzt genügt, sie alle in die Flucht zu jagen. Der Atem des Nazareners wurde schwerer, sein Seufzen ein mühsames Ächzen. Nur drei Stunden am Kreuze und schon in den letzten Zügen!

Da erscholl durch die Dunkelheit weithin über den Köpfen derer, die um den Sterbenden auf dem Hügel standen, der klagende Ruf äußerster Trostlosigkeit: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Der Ruf erschreckte alle, die ihn hörten. Einen erschütterte er bis ins Innerste.

Die Soldaten hatten ein Gefäß mit Wein und Wasser mitgebracht und in der Nähe Ben Hurs niedergestellt. Mit einem Schwamme, den man in die Flüssigkeit tauchte und am Ende eines Stabes befestigte, konnte man jedem Gekreuzigten die Zunge befeuchten, so oft man wollte. Ben Hur gedachte des Trunkes, der ihm am Brunnen zu Nazareth gereicht worden war. Einer plötzlichen Eingebung folgend, nahm er den Schwamm, tauchte ihn in das Gefäß und ging damit zum Kreuze.

»Laß das!« schrien zornig die Leute, an denen er vorüberkam, »laß das!«

Ohne auf sie zu achten, eilte er vorwärts und hielt den Schwamm an die Lippen des Nazareners.

Zu spät, zu spät!

Jetzt sah Ben Hur sein Antlitz deutlich. Obwohl zerschlagen und mit Blut und Staub bedeckt, leuchtete es doch in plötzlicher Verklärung auf. Die Augen öffneten sich weit und richteten sich auf einen, der, ihnen allein sichtbar, in dem fernen Himmel wohnt. Befriedigung und Erleichterung, ja Triumph lag in dem Ausrufe, den der Gekreuzigte hören ließ:

»Es ist vollbracht!«

Das Licht seiner Augen erlosch, langsam sank das gekrönte Haupt auf die sich mühsam hebende Brust. Ben Hur glaubte den Kampf vorüber, doch das schwindende Leben sammelte nochmals seine Kräfte, und deutlich vernahmen er und die ihn Umgebenden die letzten Worte, die wie zu einem in der Nähe Stehenden gesprochen wurden: »Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.«

Ein Beben ging durch den gepeinigten Körper; ein letzter schwerer Seufzer, – und die Sendung und das irdische Leben des Nazareners waren in einem zu Ende.

Ben Hur kehrte zu seinen Freunden zurück und sagte einfach: »Es ist vorüber, er ist tot!«

In unglaublich kurzer Zeit hatte sich die Nachricht unter der Menge verbreitet. Niemand wiederholte sie laut; nur ein Murmeln ging vom Hügel nach allen Richtungen, ein Murmeln, das kaum mehr war als ein Flüstern: »Er ist tot, er ist tot!« Das Volk hatte seinen Willen, doch schreckensbleich blickten alle einander an. Sein Blut war über sie gekommen! Und während sie stumm und starr einander anblickten, begann die Erde zu erbeben. Jeder hielt sich an seinen Nachbar, um sich zu stützen. Mit einem Male verschwand die Finsternis und die Sonne kam zum Vorschein, wie mit einem Blicke sahen alle nach den Kreuzen auf dem Hügel, die unter der Erschütterung wankten. Sie sahen alle drei, doch das mittlere zog alle Blicke auf sich. Es wollte allein gesehen werden; denn es schien sich nach aufwärts zu verlängern und seine Bürde höher und höher bis in den blauen Himmel zu erheben. Und jeder einzelne unter ihnen, der den Nazarener verspottet, jeder, der ihn geschlagen, jeder, der in den Ruf: »Kreuzige ihn!« eingestimmt, jeder fühlte, daß jene Drohung des Himmels ihm allein aus der Menge besonders gelte und daß er, um derselben zu entgehen, so rasch als möglich forteilen müsse. Sie begannen zu laufen, sie flohen zu Pferde und auf Kamelen, in Wagen wie zu Fuß. Aber da verfolgte sie das Erdbeben, als sei es wegen ihres Verbrechens ergrimmt und habe es auf sich genommen, den unschuldigen und von allen verlassenen Toten zu rächen. Es schleuderte sie hin und her, warf sie zu Boden und erschreckte sie mehr noch durch das furchtbare Getöse der unter ihnen berstenden und krachenden Felsen. Sie schlugen an die Brust und schrien vor Furcht. Sein Blut war über sie gekommen! Die Einheimischen und die Fremden, Priester und Laien, Bettler, Sadduzäer und Pharisäer, alle wurden im Fliehen erfaßt und stürzten unterschiedslos über- und untereinander. Riefen sie den Herrn an, so antwortete ihnen an seiner Statt die erzürnte Erde und verfuhr mit ihnen allen in gleicher Weise. Sie erkannte den Hohenpriester nicht für besser als seine schuldbeladenen Mitbrüder. Sie erfaßte auch ihn, warf ihn zu Boden und beschmutzte den Saum seines Gewandes, füllte die goldenen Glöckchen mit Sand und seinen Mund mit Staub. Er und sein Volk waren wenigstens in dem einen gleich – das Blut des Nazareners war über sie alle gekommen!

Als die Sonne wieder auf die Kreuzigungsstätte herableuchtete, waren die Mutter des Nazareners, der Jünger, die frommen Frauen aus Galiläa, der Hauptmann und seine Soldaten und Ben Hur und seine Gesellschaft die einzigen, die auf dem Hügel geblieben waren. Diese hatten nicht Zeit, die Flucht der Menge zu beachten. Sie fühlten sich zu laut und eindringlich gemahnt, an sich selbst zu denken.

»Setze dich hierher,« sprach Ben Hur zu Esther, ihr zu den Füßen ihres Vaters einen Platz bereitend. »Jetzt bedecke deine Augen und blicke nicht auf, sondern vertraue auf Gott und den Geist jenes Gerechten, der so schmählich getötet wurde.«

»Nennen wir ihn hinfort vielmehr Christus, den Erlöser,« sprach Simonides ehrfurchtsvoll.

»Sei es so!« sagte Ben Hur.

Eine Welle des Erdbebens erschütterte jetzt den Hügel. Das Geschrei der Schächer auf den wankenden Kreuzen war schrecklich anzuhören. Obschon infolge der Erschütterung des Bodens taumelnd, hatte Ben Hur noch Zeit, einen Blick auf Balthasar zu werfen, er sah ihn regungslos auf der Erde liegen. Er eilte hin und rief ihn – keine Antwort. Der gute Mann war tot! Da erinnerte sich Ben Hur, einen Schrei gehört zu haben, gleichsam als Antwort auf die letzten Worte des Nazareners, und jetzt war und blieb er überzeugt, daß der Geist des Ägypters den seines Meisters hinüber in das Reich des Paradieses begleitet habe.

Die Diener Balthasars hatten ihren Herrn treulos verlassen; als aber alles vorüber war, trugen die beiden Galiläer den Greis in seiner Sänfte in die Stadt zurück.

Ben Hur wollte nicht einen Diener damit betrauen, Iras vom Tode ihres Vaters zu benachrichtigen. Er ging selbst, sie aufzusuchen und an die Leiche zu führen. Er stellte sich ihren Schmerz vor, sie würde jetzt allein in der Welt stehn, unter solchen Umständen mußte er ihr verzeihen und sie bemitleiden. Aber vergebens schüttelte er die Vorhänge an ihrer Tür. Wohl klingelten die kleinen Glöckchen an ihrer Tür, aber sie gab keine Antwort. Endlich trat er ins Zimmer, aber sie war nicht da, und auch die Diener konnten nur sagen, daß sie sie den ganzen Tag über noch nicht gesehen hatten.

Als das Begräbnis vorüber war und die Trauer um den Toten sich gemildert hatte, führte Ben Hur – es war der neunte Tag nach der wunderbaren Heilung, und die Vorschrift des Gesetzes war erfüllt – seine Mutter und Tirzah nach Hause. Von jenem Tage an wurden in diesem Hause die heiligsten Namen, die eine menschliche Junge aussprechen kann, stets in tiefster Ehrfurcht miteinander genannt – Gott der Vater und Christus der Sohn."

(Lewis Wallace: Ben Hur, 35. Kapitel)


Nachdem ich wieder in das Buch hineingesehen habe, stelle ich fest, dass meine Erinnerung an dies Buch und an Quo Vadis sich miteinander verschmolzen haben. Das könnte über die Verfilmung gelaufen sein. Offenbar hat der Film über Quo Vadis (1951) meine Erinnerung an beide Bücher überdeckt.

Die Bücher selbst haben mir im Unterschied zu Felix Dahns Roman Ein Kampf um Rom, den ich weit früher gelesen hatte, nicht viel bedeutet. Ob ich die Verfilmung dieses Romans gesehen habe, kann ich mich nicht besinnen. Den Film zu Quo Vadis habe ich 1959 gesehen, den zu Ben Hur 1961. Der letzte Historienschinken meiner Jugend war offenbar Spartacus 1962.

Lewis Wallace: Ben Hur - Anklage gegen Rassismus

"[...]  »Es gibt kein Gesetz, das einem Volke einen Vorrang vor anderen zugesteht. Hat ein Volk sich zur Macht erhoben und seine Aufgabe vollbracht, so geht es zu Grunde, um einem andern Platz zu machen, das seine Macht erbt und neue Namen auf die alten Denkmäler schreibt. Das ist die Weltgeschichte. Ich will nicht behaupten, daß es im Fortschritt der Nationen keinen Unterschied gibt, kein Volk gleicht vollkommen dem andern. Das größte Volk ist aber jenes, das Gott am nächsten steht. Dein Freund – oder dein ehemaliger Freund – hat, wenn ich dich recht verstehe, behauptet, wir hätten keine Dichter, Künstler und Krieger, damit wollte er, glaube ich, sagen, wir hätten überhaupt keine großen Männer. Fehlt es uns nun wirklich an großen Männern? Ein großer Mann, mein Kind, ist derjenige, dessen Leben den Beweis liefert, daß er von Gott, wenn nicht ausdrücklich berufen, so doch in seinem Wirken geleitet wurde. Ein Perser ward das Werkzeug Gottes zur Bestrafung unserer Väter, da sie von ihm abfielen, er führte sie in die Gefangenschaft. Ein anderer Perser wurde auserwählt, ihre Kinder in das heilige Land zurückzuführen. Größer als beide indes war Alexander, durch den der Herr die Verwüstung Judäas und die Zerstörung des Tempels rächte. Der besondere Vorzug dieser Männer bestand darin, daß sie von Gott zur Vollstreckung seines Willens ausersehen wurden; daß sie Heiden waren, kann ihren Ruhm nicht schmälern.

Allgemein herrscht die Ansicht, daß der Krieg die edelste Beschäftigung des Mannes sei, daß der höchste Ruhm nur auf dem Schlachtfelde errungen werden könne. Wenn auch die Welt diese Ansicht angenommen hat, laß dich durch sie nicht täuschen. Der Mensch muß etwas Höheres über sich anerkennen und verehren; das ist ein Gesetz, das so lange gelten wird, als es Dinge gibt, die seinem Verstande unfaßbar sind. Das Gebet des Barbaren ist ein Aufschrei der Furcht vor einer überlegenen Kraft, der einzigen göttlichen Eigenschaft, die er klar erkennt. Wir aber waren die ersten, die über diesen rohen, barbarischen Glauben hinausgingen. An die Stelle der rohen Kraft setzten unsere Väter Gott, der Erguß der Furcht wich in unserem Kult dem Hosiannagesang und den Psalmen. Die Herrschaft der Römer ist weiter nichts als ein Rückfall in die alte Barbarei. Die Römer setzen den Krieg über alles, und nirgends außer im Kriegswesen hat Rom Selbständiges geschaffen. Seine Spiele und Schaustellungen sind griechische Einrichtungen, denen nur die Grausamkeit der Römer einen blutigen Charakter gegeben hat. Roms Religion – wenn man von einer solchen überhaupt sprechen kann – setzt sich aus Gebräuchen und Lehren aller anderen Nationen zusammen. Seine höchst verehrten Götter – Mars und selbst Jupiter nicht ausgenommen – entstammen dem griechischen Olymp. Der Römer ist gegen die Vorzüge anderer Völker blind, seine Selbstsucht verhüllt sein Auge wie mit einem dichten Schleier, der ebenso undurchdringlich ist wie sein Brustpanzer. O die ruchlosen Räuber! Unter ihrem Tritte erdröhnt die Erde wie eine mit Dreschflegeln bearbeitete Tenne. Unter anderen Völkern – ach, daß ich es dir sagen muß, mein Sohn! – sind auch wir gefallen. [...]"

(Lewis Wallace: Ben Hur, 7. Kapitel )