05 Mai 2021

Gottfried Keller: Martin Salander Kapitel 16 bis 21

 Da ich mich im letzten Blogeintrag etwas kritisch über das letzte Drittel des Romans geäußert habe, möchte ich das jetzt doch etwas relativieren, da ich dafür die Zeit gewonnen habe.

Jetzt gebe ich sowohl den Kritikern wie Fontane recht. Es ist Keller und insofern lebendig, bildkräftig und sein ganz eigener Stil. Und doch ist die Charakterzeichnung insbesondere bei Arnold nicht differenziert genug, er erscheint zu einseitig positiv. Und andererseits fällt das, was als Martin Salanders neuer Zug vorgestellt wird, sein eigener Sinn für Frauenschönheit, aus dem Rahmen der Zeitkritik heraus und ist andererseits nicht vertieft genug, um das Verhältnis zwischen den Eheleuten als ergänzendes Thema interessant zu machen.

Doch jetzt zum Text:

Eines Sonntags taucht Frau Weidelich im Haus Salander auf, um zu erfahren, was die eventuell darüber wissen, weshalb sich das Verhältnis der Weidelich-Söhne zu ihren Eltern so verändert hat:

"Nach nochmaligem kurzen Besinnen fand Marie Salander es an der Zeit, ihr ohne weiteren Rückhalt auf die Spur zu helfen. »Sehen Sie, Frau Schwäherin,« sagte sie mit ruhigem Ernste, soweit die innere Erregtheit es zuließ, »es ist sicher nicht alles, wie es sein sollte, da haben Sie recht! Ich will Ihnen jetzt nur erzählen, daß wir vor nicht langer Zeit etwas Ähnliches an unseren Töchtern erlebten, wie Sie nun an Ihren Söhnen. Sie ließen sich gar nicht mehr bei uns sehen, wie wenn sie das Elternhaus geflissentlich fliehen würden, und als das uns endlich auffiel und wir uns deshalb die Köpfe zerbrachen, vernahmen wir von dritter oder vierter Hand, daß die Kinder auch unter sich jeden Verkehr verloren hätten und sich scheuten, zusammenzutreffen. Da haben wir uns auch auf den Weg gemacht, mein Mann und ich, aber wir sind gleich zu den Töchtern gegangen und haben sie zur Rede gestellt.« »Und nu? Was war's?« »Wir fanden beide allerdings zu Haus und in einer großen Traurigkeit, jede von ihnen hatte Heimweh nach den Eltern und nach der Schwester und getraute sich doch nicht, die zu sehen, die sie gern gesehen hätte. Wir brachten sie dann am gleichen Tage wieder zusammen, wie mit uns, und halfen ihnen über die Wunderlichkeit hinweg, so gut es ging.« 

»Aber was ist's denn gewesen? Ging es meine Söhne an?« fragte die ungeduldige Wäscherin. »Da Sie es wissen wollen, so muß ich es Ihnen sagen; es dient vielleicht zum notdürftigen Ausgleich der Irrungen oder Mißverständnisse und zur allgemeinen Erkenntnis seiner selbst. Meine Töchter haben ihre Heirat bereut und sich deshalb voreinander geschämt, weil sie den vermeintlichen Irrtum gemeinschaftlich mit langer Beharrlichkeit begangen, und vor uns, weil wir die Heirat nicht gern gesehen haben!« »So?« sagte die arme Frau Weidelich mit gedehntem Laute, höchst betroffen und bleich geworden; denn trotz ihrer anzüglichen Reden von vorhin traf sie die Eröffnung so unerwartet, wie ein Blitz aus blauem Himmel. Sie fühlte das schöne Lebensgebäude schwanken, das sie mit so viel Sorge und Kunst ihren Söhnen aufgerichtet. Der erste Gedanke war das große Erbgut, das viele Geld, und der zweite, daß nicht einmal Kinder da seien. Als sie sich vom Schrecken etwas erholt, fragte sie mehr kleinlaut als trotzig, was denn die Frauen groß Ursache hätten, die Heirat zu bereuen und mit so umständlichen Manieren. 

Ohne weiteres Besinnen erwiderte Frau Marie: »Ja, das ist eben das Verwunderliche, das sich mit der Zeit verlieren kann, weil es ertragen werden muß; sie sagen von den jungen Herren, es sei nichts mit ihnen, sie haben keine Seelen!« 

Mit rotem Kopfe, den sie so stark schüttelte, daß der Hut darauf mit allen Blumen und Bändern zitterte, der müden Beine vergessend, sprang die Frau Weidelich aus ihrem Sessel auf und rief tödlich beleidigt: »Keine Seelen? Meine zwei Buben, die ich unter dem Herzen getragen? Das ist eine niederträchtige Verleumdung! Rund und nett hab' ich sie zur Welt gebracht, wie zwei Forellen, von den Köpfchen bis zu den Füßchen kein Mängelchen, und jedem hab' ich sein Seelchen mitgegeben von meiner eigenen unsterblichen Seele, soviel Platz finden kann in einem so kleinen Tümpelchen Blut, und es ist mit den Buben nachgehends gewachsen, wie sie selbst! Wo sollt' es denn hingekommen sein? Würden sie Landschreiber geworden sein? Keine Seelen! Die verfluchten Gänse! Die dürfen mir nicht so kommen! Oh!«

Sie war so zornig, daß sie nicht weitersprechen konnte und sich niedersetzen mußte. [...]

Dann kommt Herr Weidelich hinzu und berichtet, dass sein Sohn Isidor gefangen gesetzt wurde, weil Belege für erhebliche Betrügereien vorliegen.

Inzwischen hatte Amalie Weidelich mit ihrem Hute zu schaffen, der sich wegen der Erregungen der Frau verschoben und nicht mehr recht sitzen wollte. Sie suchte ihn vor einem Spiegel zurechtzurücken und festzumachen, und Marie Salander kam ihr zu Hilfe. Plötzlich aber riß sie ihn vom Kopfe und erklärte, sie wolle ihn nicht mehr aufsetzen, sondern ohne Hut heimgehen. So begab sich das Paar auf den Weg. Kaum waren sie auf der Straße, so fühlte sich die Frau so schwach, daß der Vater Jakob sie am Arme führen mußte; in der linken Hand trug er den schönen bunten Hut wie einen Henkelkorb am Bande. Sein eigener abgetragener, schweißbefleckter Hut vollendete den wunderlichen Aufzug des Paares, welches trübselig dahinschwankte durch den unsicheren Gang der Frau, die sonst von manchem Glase Wein, das sie getrunken, niemals geschwankt hatte. Man blickte ihnen nach, Vorübergehende standen sogar still, und jemand sagte vernehmlich zum andern: Die zwei Leutlein haben ja wacker gefrühstückt! Sie hörten es mit den scharfen Ohren der jungen Schande, sahen aber weder rechts noch links. Auf einer geräumigen Brücke kamen sie noch schwieriger voran; eine Menge Kirchenleute kreuzte sie von beiden Seiten her, und fast alle blickten auf den Hut, der an Jakob Weidelichs linker Hand hing, und sodann auf den etwas zerzausten Kopf der Frau. »Gib mir den Hut, Jakob!« sagte sie, »es schickt sich nicht für dich, daß du ihn trägst!« Er ließ es sich gefallen und gab ihr das stattliche Modenstück, und da sie in diesem Augenblicke gegen das Brückengeländer gedrängt wurden, warf die Frau den Hut in den Fluß, ohne ihm nachzusehen. »Was machst denn? Bist du närrisch?« murmelte der Mann. »Nur vorwärts! Steh nicht still!« sagte sie, »ich habe genug von der Herrlichkeit!« So gingen sie weiter und bekamen Raum genug. Denn die nächsten des Brückenvolkes, welche den Wurf bemerkt hatten, liefen eiligst auf die andere Seite hinüber und bogen sich über das dortige Geländer, um den Hut unterhalb der Brücke hervorschwimmen zu sehen, und als die übrigen dies Gelaufe wahrnahmen, pflanzte sich die Bewegung fort, und die ganze Brücke entlang sprang alles wie besessen nach jener Seite und guckte ins Wasser. Auf den ziehenden Wellenspiegeln fuhr auch der arme Hut schon den Fluß abwärts, wie ein mit Seide bewimpeltes und mit Blumen bekränztes Schiffchen oder ein schwimmendes Gärtchen. Aber in kurzer Frist stießen auch schon in einem Rettungskahne zwei Burschen vom Lande und ruderten dem lustigen Fahrzeug eilig nach, um es entweder für sich zu erbeuten oder wenigstens ein gutes Trinkgeld zu verdienen, während die beiden Ufer entlang sich immer neue Zuschauer einstellten. Indessen gewannen die bekümmerten Eltern der Zwillinge unerkannt das Freie und klommen zum alten Zeisig empor. »Daß du den Hut nicht mehr aufsetzen magst,« begann Weidelich, als sie einen Augenblick verschnauften, »finde ich auf eine Art begreiflich; aber du hättest ihn ja verkaufen können. Ich fürchte, die Zeit ist nah, wo wir auf jeden Franken achten müssen!«

»Es ist jetzt geschehen,« seufzte Amalie, »ich hab' kaum gewußt, was ich machte! Übrigens ist noch manches da, was ich verkaufen kann, die Röcke, die Uhr und die Kette, das schickt sich alles nicht mehr, weil es die Blicke der Leute auf mich zieht, und dann werde ich auch die Brosche nie mehr vorstecken, mit den zwei Bübchen drauf – nein, die Brosche kann ich nicht verkaufen, wenn sie jetzt auch nicht mehr recht tun können und uns verloren sind – ach, es war doch eine glückliche Zeit! Nein, ich will das Bildchen behalten und auch das Gold daran lassen, solang wir noch eine Brotrinde haben!«

Sie sagte das in Tränen, von Schluchzen unterbrochen. Jakob mahnte sie erschreckt und kummervoll, sich zu fassen.

»Wie kannst du auf einmal so reden und beide Söhne in einen Tiegel werfen? Auch wenn der, der jetzt gefangen ist, nicht zu retten wäre, so haben wir ja noch den Julian, der wird doch, will's Gott, nicht so zum Vorschein kommen!« [...]

(Gottfried Keller: Martin Salander Kapitel 16)

"Da kam spät noch Herr Möni Wighart auf eine Tasse Tee mit dem guten Rum, welchen Salander zu beziehen wußte. Dieser ging in letzter Zeit nicht unter die Leute und sah es gern, daß der teilnehmende und doch stets anspruchslose Kumpan zuweilen ein Stündchen vorsprach. Frau Marie hatte ihm die Untat längst verziehen, die er einst an ihr begangen, als er bei der ersten Rückkehr aus Brasilien ihren sehnlich erwarteten Martin sozusagen vor der Haustür in ein Wirtshaus verlockte. Sie holte ihm sogleich einen Aschenbecher herbei. 

Herr Wighart rief heuchlerisch: »Hoho! Man sollte mich für einen Schnapsbruder halten; nun, 's mag für einmal hingehen!« als ihm Martin Salander ans dem Rumfläschchen die Tasse bis zum Rande vollgoß. »Warum ich so spät noch komme, ist etwas Lustiges, das ich erzählen muß! Es wird Euch ein klein wenig Spaß machen! Der verflossene Meister Notar Julian (Verzeihung, Frau Netti!) kommt noch täglich als ein trefflicher Humorist zum Vorschein!« »Ein Humorist?« seufzte Netti. »Ach, du lieber Gott!« 

»Hört nur! Ich komme aus den Vier Winden, wo einige Herren sitzen, die den ganzen Tag mit den Angelegenheiten des Bewußten zu tun hatten. Noch kurz vor der Abreise hinterlegte er bei der allgemeinen Not- und Hilfsbank einen schönen, neuen, vorstandsfreien Pfandbrief von zehntausend Franken und erhielt darauf sechstausend. Als Schuldner erscheint in dem Instrument ein reicher, filziger alter Bauer hinter Lindenberg, genannt Ägidi, als Pfand dessen Hof und Land, und als Gläubiger der Bruder des Schuldners, ein anderer alter Filz, der sogenannte Schleifer in Nasenbach und bekannter Wucherer. Diese beiden Brüder führen seit Jahrzehnten eine Erbstreitigkeit um die andere, und wenn sie fertig sind, fangen sie von vorn an. Sie leben wie Hund und Katz' gegeneinander und betrachten sich gegenseitig als den Fluch ihres Daseins, ohne alle Not, da jeder für sich genug hätte. Gut, die alten Männer waren heute nebst manchen anderen einberufen. Man zeigte ihnen, als die Reihe an sie kam, die schöne Hypothek und fragte, ob sie in Ordnung sei? Zuerst nahm sie der angebliche Schuldner in die Hand, weil er eher mit dem Aufsetzen der Brille fertig war; im übrigen sind beide übelhörig und verstanden zunächst kein gesprochenes Wort. Kaum hatte der Hofbesitzer herausstudiert, daß er dem feindlichen Bruder zehntausend Franken schuldig sein sollte, geriet er in eine fürchterliche Aufregung und zerriß den Brief von oben bis unten so von Zorn zitternd, daß die zwei Stücke zwei Sägen ähnlich wurden. Der Schleifer aber, der nicht anders glaubte, als daß der Bruder eine ihm nützliche und zustehende Urkunde vernichte, fiel über ihn her, und augenblicklich verkrallten sich ihre Hände in den beidseitigen Halsbinden, und die Greise hämmerten sich mit den kurzen, kraftlosen Faustschlägen auf die Köpfe. Mit Mühe brachte man sie auseinander und schrie ihnen, als sie atemlos dastanden, den Sachverhalt in die Ohren. Allein, sobald sie vernahmen, daß irgend jemand auf das Schriftstück, das notdürftig zusammengefügt auf dem Tische lag, sechstausend Franken ausbezahlt erhalten habe, gerieten sie, ohne sich um etwas anderes zu kümmern, wieder aneinander, zerklaubten sich aber diesmal in kürzester Frist Kinn und Backen und zerrissen sich die Naslöcher. Abermals wurden sie unter großem Gelächter, das endlich den amtlichen Ernst überwand, gebändigt. Den eingebildeten Gläubiger packten zwei Männer an den Schultern, drückten ihm das Gesicht gegen den Brief und fragten ihn bei Ja und Nein, ob er diese zehntausend Franken dem Notar von Lindenberg für den Ägidibauer, der hier neben ihm stehe, selbst oder durch einen anderen übergeben und diesen nämlichen Brief dagegen empfangen und jemals besessen habe?

Nach ängstlichem Besinnen, während dessen ihm das Blut auf die unglückliche Hypothek tropfte, krächzte er schließlich: »Nein, davon weiß ich nichts! Man soll mich gehen lassen!«

»Aber ich will wissen, wer die Sechstausend auf meinem Hof gekriegt hat!« schrie der andere, dem der Zusammenhang noch immer nicht klar schien. Sie wurden jedoch ohne weiteren Bescheid vor die Tür geführt, wo die übrigen Zeugen harrten. Man gab ihnen ihre Hüte und Stecken und schickte sie fort. Kaum auf die Gasse gelangt, benutzte ihre verfluchte Leidenschaft die langentbehrte Gelegenheit und hetzte die betörten Filze aufs neue aneinander. Ohne zu wissen wohin, und ohne sich lassen zu können, so fesselte sie der Haß, liefen sie auf beiden Seiten der Straße fort unter greulichem Schimpfen und Drohen; es war bei Gott ein widerwärtiges Beispiel, wohin der elende Geiz und Neid sogar ein paar betagter Brüder treiben kann. Ich kam gerade dazu und lief mit dem Publikum den Rasenden nach, bis sie unversehens aneinander gerieten und mit den langen Weißdornstöcken dareinhieben, ohne sich zu treffen. Es kam dann ein Stadtpolizist und führte die armen Teufel auf die Wache. Nachher ging ich auf Vier Winden, wo ich das andere vernahm, wie ich es erzählt.

Ist das nicht ein verzwickter Streich von dem Notarius, ein köstlicher Einfall sogar, den geldstollen Brüdergreisen aus einem Pfandbriefe die Haare zu verstricken als Gläubiger und Schuldner? Viel Haare waren es freilich nicht mehr, und die spärlichen Streifen, die noch herumhingen, haben sie sich vollends ausgerauft!«

»Das ist kein lustiger Einfall gewesen,« sagte Netti; »ich erinnere mich jetzt, daß er schon früher einmal klagte, wie er bei den reichen Geizhälsen Geld für Klienten gesucht habe und von beiden grob abgewiesen worden sei. Nun hat er sie eben doch noch benutzt, ohne sie zu fragen!« [...]"

(Gottfried Keller: Martin Salander Kapitel 17)

Da geschah es an einem Winternachmittage, als er einen Marsch ins freie Feld tun wollte, daß er dem Fräulein Myrrha Glawicz begegnete, welches in der Vorstadt einen verlorenen Weg zu suchen schien und, in Samt, Pelz und Schleier gehüllt, vorsichtig und scheu die feinen Füße in den Schnee setzte gleich einem verirrten ziervollen Vogel aus wärmeren Zonen. Erst als sie schon ganz in der Nähe war, erkannte er die Gestalt, die er mit den Augen wohlgefällig verfolgt hatte, und sah, wie sie tief errötete und ihn mit den großen Augen flehentlich ansah, als ob sie um Mitleid bäte, da er sie freudig erschreckt begrüßte. Erfahrend, wohin sie wolle, führte er sie eine Strecke auf den richtigen Weg, den sie zu gehen hatte, und versuchte mit ihr zu sprechen, abermals ohne einen ordentlichen Gang der Wechselreden zu finden. Denn er war bald ebenso verwirrt wie die Dame selber, die sich, vor einem Hause stehen bleibend, plötzlich mit süßem Danke und neuem Erröten losmachte und hineinging. Seinen Weg stundenlang fortsetzend, bis die rötliche Dämmerung die beschneiten Fluren allmählich verhüllte, beschloß er, seiner Gattin anzukündigen, daß er die Wohlwendschen Frauen ins Haus einzuführen wünsche, und ihr dabei offen zu bekennen, wie er des Anblickes der unschuldigen Schönheit Myrrhas bedürfe und daran von den Krankheiten der Zeit zu gesunden und wieder zu erstarken hoffe, und wie das alles keine Bedenken und Gefahren in sich bergen solle. Kurz, er dachte sich eine lange Rede aus, seine Torheit als Weisheit darzustellen; und selbst die guten Töchter erschienen ihm nicht mehr als Hindernisse, sondern im Gegenteil als jugendliche Mittlerinnen in dem Verjüngungshandel, da sie ja erst recht den wonniglichen Verkehr ermöglichten. Trotzdem schlug ihm das Herz etwas ängstlich, als er sich seinem Hause näherte; [...]

Als Martin nach Hause kommt, stellt er fest, dass sein Sohn Arnold aus Brasilien zurückgekehrt ist:

"[...] »Apropos Wohlwend, sagte Arnold Salander, »da bring' ich Neuigkeiten mit! Ich habe die Akten, betreffend deinen Handel mit der verpufften Bank in Rio, nicht vergebens mitgenommen. Erst ein Vierteljahr vor der Abreise bekam ich durch einen guten Bekannten von dir Wind, daß ein alter ausgeräucherter Kerl von jener Gesellschaft, von der Not getrieben, herangeschlichen sei und krank im Spitale liege. Er sei entdeckt worden; verschiedene Leute, die einst Schaden erlitten, ließen ihn gerichtlich verhören, und der geschwächte Patron, der nichts mehr zu verlieren habe, krame aus, was er wisse. Natürlich gab ich deine Akten, versehen mit einem zweckdienlichen Auszug und Bericht, auch ein und verlangte die Einvernahme. Siehe da, er bekannte, hinter dem Rücken des schönen Direktoriums mit Schadenmüller-Wohlwend noch einen besondern geheimen Betrugskonto geführt zu haben, zu dessen Gunsten sie einander bei guter Verlegenheit allerlei Hasen in die Küche gejagt; so habe er auch den Wohlwend von deiner Erzählung und der dafür erhaltenen kolossalen Tratte in Kenntnis gesetzt und ihm bedeutet, was er zu tun nicht unterlassen solle. Allein sie hätten, von den Ereignissen überrascht, den sauberen Konto nie liquidieren können, und so habe Wohlwend für sich behalten, was er erwischt, das heißt, was hier in Münsterburg nicht ausbezahlt worden sei. Das Protokoll in gutem Portugiesisch, gehörig beglaubigt, habe ich bei mir. Der Mensch ist dann gestorben; was dort weiter geschehen, weiß ich nicht.« Martin hörte staunend zu und sagte zuletzt nur: »Also doch!« Aber statt sich lange bei der altvermuteten und neubestätigten Sache aufzuhalten, mußte er in verschwiegenen Gedanken nur das gütige Geschick preisen, das im letzten Augenblicke ihn davor bewahrte, in das ihm gestellte Netz zu fallen, seine treue Frau zu kränken und vor dem Sohne als ein törichter alter Mensch dazustehen. Mit dem letzten Seufzer, den er in dieser Sache tat, gelobte er sich Besserung, und schritt darauf an der Spitze der Seinigen in das Speisezimmer, wo Frau Marie und ihre Töchter zu Ehren des Heimgekehrten den Tisch bereitet hatten und die Magdalena mit wahrem Hochmut den schönsten Braten auftrug, den sie seit langem gewendet und begossen. [...]

Noch geraume Zeit saß die wiedervereinigte Familie beisammen und ganz so glücklich, wie an jenem Abend, da Martin gekommen war, die hungernden Kinder samt der Mutter zu speisen. Mit leichtem Mute und wirklich verjüngt ging er zu Bett. Nach einiger Zeit, da Marie wahrnahm, daß er nicht schlief, sondern zufrieden etwas spintisierte, rief sie: »Du, Martin! Gelt, der Arnold freut dich doch, denn du hast zum ersten Male deinen Gutenachtseufzer vergessen, mit dem du mich seit länger als einem halben Jahre betrübt hast!« »Du bist nur halb auf der Spur!« gab Martin bedächtig stockend zur Antwort; dann entschloß er sich jedoch, der treuen Frau seine Abirrung zu bekennen, damit kein dunkler Punkt zwischen ihnen sei. Er erzählte ihr also die ganze Geschichte mit der Myrrha Glawicz, die eingebildeten Liebesleiden bei harmlosen Absichten und höheren ethischen Beweggründen, samt der Rede, die er sich für Frau Marie ausgedacht, bis zu dem Augenblick, wo der bloße Anblick des Sohnes das Luftschloß zertrümmerte. »Nun, was sagst du dazu?« fragte der vergebungsbedürftige Mann hinüber, da die Frau schwieg. Erst nachdem sie sich eine Weile unruhig auf ihrem Lager gedreht, lachte sie plötzlich hellauf und schwieg dann wieder. Dann lachte sie nochmals und sagte: »Ich lache nur aus Freuden darüber, daß diese letzte Gefahr, die uns bedroht, sich so glimpflich verzogen hat! Dank' du dem Himmel, Mann! daß dein Sohn so zu rechter Zeit, auf die Minute, gekommen ist! Es wäre ja nicht um mich zu tun gewesen, aber um dich und ihn, und die Töchter! Wie wären wir vor denen dagestanden! Aber weißt du, Martin, weil du von der einfachen, unerwarteten Gegenwart unseres Sohnes geheilt wurdest, so soll dir die Verrücktheit vergeben und vergessen sein, die du mir hast antun wollen! Es ist ein gutes Zeichen, ein goldenes, das ich mir im Gemüt aufbewahren will, solang ich noch lebe! Und jetzt, schlaf wohl, Mann, deine Geschichte hat doch etwas Einschläferliches an sich!« So ging Martin Salanders später Liebesfrühling, der die Verjüngung seiner politischen Tatkraft herbeiführen sollte, in Gnaden und ohne weitere Gewitter vorüber."

(Gottfried Keller: Martin Salander Kapitel 19)

Und er schien doch jünger geworden, als er, den Sohn zur Seite, am nächsten Morgen den Weg nach seinem Kontor beschritt. Leicht trugen ihn die Füße; die Hüften aber wiegten sich leise, fast unmerklich, hin und her, wie einstmals, wenn ein frischer Lebensmut, ein guter Gedanke ihn durchströmten.

Im Geschäftshause angekommen, unterhielten sie sich zuerst mit den Angestellten, die Arnold freundschaftlich grüßte, und besprachen im allgemeinen dies und jenes, was der Tag brachte oder in letzter Zeit ausgeführt worden. Dann begaben sich Vater und Sohn in Martins besonderes Zimmer, um in ausführlicher Unterredung Stand und Zukunft des Hauses gründlicher zu erörtern, als es in Briefen geschehen konnte. Neues trat hierbei nicht viel zutage, wenn es nicht etwa die Schlußfrage war, ob nicht die Geschäfte, die Unternehmungen bei so befriedigendem Gange auszudehnen und ein gewisser Aufschwung zu wagen sei?

Es war Martin, der die Frage aufgeworfen und den Sohn aufmerksam und mit vollem Vertrauen ansah.

Arnold bedachte sich oder hielt vielmehr mit der Antwort zurück, welche er nicht zu suchen brauchte. Er spielte indessen mit dem Muster einer neuen Goldwage, die man auf des Vaters Tisch gestellt hatte.

»Es hängt von dir ab, lieber Vater!« sagte er endlich, »ich arbeite gern mit unter deiner Leitung!«

»Nein, von dir hängt es ab!« erwiderte Martin, »du bist der Sohn und Erbe, dessen die Zukunft ist!«

»Der Nachdruck der Frage liegt in den Worte ›wagen‹, das du gebraucht hast; ob eine Ausdehnung zu wagen sei!« fuhr Arnold fort, »wir stehen hart an der Grenze, wo dies ganz richtig gesagt ist, das heißt, wo man, um Mehreres zu tun, ein Teil des Gewonnenen, vielleicht schließlich alles aufs Spiel setzen muß. Für meine Person, muß ich gestehen, habe ich drüben, jenseits des Wassers, in stillen Augenblicken mehr als einmal nachgedacht, wieweit wir eigentlich gedeihen wollen in unserm Erwerb? Wollen wir in der Tat kleine Nabobs werden, die entweder ihr Leben ändern oder den weit über ihre Bedürfnisse reichenden Mammon ängstlich vergraben müssen und in beiden Fällen vor sich selbst lächerlich sind? Zudem bist du ja Politiker und Volksmann, ich bin meines Zeichens Geschichtsfreund und Jurist; es steht also uns beiden besser an, wenn wir in schlicht bürgerlichen Verhältnissen und Gewohnheiten bleiben, wie du es bis jetzt so musterhaft getan hast. Vergib, das ist mein Gefühl! Ich empfinde auch einiges Heimweh nach meinen Büchern und müßte bei allfällig rapidem Anwachsen des Geschäfts mehr Zeit mit dem Kurszettel in der Hand und auf der Börse zubringen, als mir lieb wäre!«

»Du sprichst nur Gedanken aus, die ich selbst schon gehegt! Was mich aber auf die Frage gebracht hat, ist die Zukunft unseres Landes. Ich fürchte, die Zeit ist nicht mehr fern, in welcher die Gesetzgebung die Hand kräftiger auf das Vermögen legen wird; da dürfte es, dacht' ich, gut sein, wenn man tüchtiger einzuschießen hat, ohne gerade zu verarmen.«

Arnold lachte.

»Das wäre,« sagte er, »nicht mein Standpunkt, ich möchte nicht Geldmacher für zukünftige Dinge sein, die ich nicht billigen kann. Ich werde vielmehr die Willkür bestreiten, solang ich es vermag; siegt sie, wohl und gut, so füge ich mich gelassen; dann ist es mir aber auch gleichgültig, ob sie uns zwei oder zehn Millionen nehmen.«

»Ei, wer spricht denn gleich so von nehmen,« rief der Vater leicht gereizt, »es geht alles mit rechten Dingen zu! Glaub' aber nur, die Postulate der Notwendigkeit werden so dicht regnen, daß wir noch froh sind, gute Schuhe zu haben!«

»So laß regnen, es wird auch wieder aufhören! Erinnere dich, Vater, an den Anfang unseres Jahrhunderts, als nach der durchgerungenen Helvetik das Vaterland auf den Kopf gestellt war und in der Knechtschaft des ersten Konsuls von Frankreich seufzte. Damals berichteten die Pfarrer, daß in ihren Gemeinden viele Leute lebensmüd seien und sich nach dem Tode sehnten! Jetzt nach achtzig Jahren sitzen wir, geringe Leute vom Lande, frei wie Lerchen in der Luft, wenn auch nicht frei von Leidenschaft vielleicht: wir sitzen hier in einem der Häuser der untergegangenen Aristokratie und pflegen Rats, ob wir noch reicher werden wollen oder nicht! Ich fürchte mich aber weder mit dem vielen Gelde, noch ohne dasselbe!«

Der alte Salander blickte den jungen mit glänzenden Augen an und ergriff dessen Hand.

»So laß uns,« sprach er gerührt, mit leiserer Stimme, wie ein Verschwörer, »laß uns zu dieser Stunde geloben, daß wir das Land und Volk nie verlassen wollen, es mag beschließen, was es will!« [...]

Kaum waren auch diese Dinge abgetan und die Männer im Begriff, jeder an eine Beschäftigung zu gehen, so klopfte es und der unglückliche Wohlwend trat herein, die schöne Myrrha am Arme führend. »Verzeih, alter Freund,« rief er, »daß wir dich so unvorgesehen überfallen! Da mache ich mit meiner Schwägerin einen Gang durch die Stadt und vernehme plötzlich, daß der Herr Sohn heimgekehrt sei. Und wie wir hier an das Haus kommen, sag' ich, wir wollen einen Sprung hinauf tun, du kannst immer mitkommen, und den Herrn in frischer Tat begrüßen! Seien Sie auch uns bestens willkommen, Herr Arnold, so heißen Sie doch?« Vater und Sohn waren wie vom Blitz getroffen. Keiner ergriff die dargebotene Hand, aber keiner wußte ein Wort zu sagen, noch weniger brachten sie es über sich, den Mann in Gegenwart des so rührend schönen Frauenzimmers schroff abzuweisen. Endlich ermannte sich Martin Salander, indem er den alten Freund sachte beiseite zog und leise zu ihm sagte: »Sie entschuldigen, Herr Wohlwend, daß wir Sie jetzt nicht sprechen können! Wir sind, wie Sie leicht begreifen, dringend beschäftigt!« »Sie?« murmelte Wohlwend stutzend, und trat sogleich weiter zur Seite, »was soll das heißen?« »O nicht eben viel!« versetzte Martin verlegen und doch sonderbar gereizt, daß der böse Geist die gefährliche Person vor die Augen des Sohnes brachte. »Die Verhältnisse ändern sich zuweilen; ein geeigneter Aufschluß wird sich wohl finden lassen; für heute, wie gesagt, müssen wir Entschuldigung verlangen, wir sind wirklich sehr beschäftigt!« Er hätte kein härteres Wort über die Lippen gebracht, weil Myrrha, nach welcher er einmal hinschielte, ein inniges Mitleid von neuem erweckte. In seiner Verlegenheit schritt er neben Wohlwend an der Wand auf und nieder, während er seine abgebrochenen Worte sprach, und Wohlwend schritt beharrlich neben ihm her, schweigend, böse Blicke schießend, auch nach den jungen Leuten spähend und den Aufbruch nicht wagend, weil er nicht wußte, wie der sich gestalten würde. Indessen war Myrrha verlassen im Zimmer gestanden, ratlos blickend und zuletzt zitternd, als Arnold sie überrascht betrachtete. Nun bat er sie gefälligst, sich zu setzen, und nahm selbst einen Stuhl. »Sie sind aus Ungarn, mein Fräulein?« fragte er sie mit unwillkürlicher Teilnahme, um etwas zu sagen. Wiederum zitternd schaute sie ihn an und erwiderte mit erwachendem Vertrauen: »Ja wahrlich aus Ungarn, Königreich. Aber Schwager Volvend-Glavicz hat nicht wahr gesagt, nicht jetzt auf der Straßen, schon gestern abend hat gewußt, daß gnädiges Herr angekommen sind! Aber entschuldigen Sie, er hat nur vergessen!« »Und wie lange leben Sie schon hier?« »Glaub' ich, zwei Jahr', oder eines, bitt' ich um Vergebung, ich weiß es nicht sicher!« »Und wie gefällt es Ihnen denn in der Schweiz?« fuhr er etwas verblüfft fort und sah sie genauer an. Das empfand sie wohl. Sie flüsterte mit fallenden Tränen: »Mir gefällt es nirgendwo! bin ich nur schön, aber nicht ganz gescheit, sagte mein Vater seliger, und Herr Volvend-Glavicz sagt, bin ich auf den Kopf gefallen, aber Heiraten macht gesund! Versteh' ich nicht, aber auch glaub' ich nicht, bis ich das sehe!«

Das alles sagte sie trotz der Bedrängnis mit trauten Worten, von Jugend zu Jugend, wie wenn sie da vor die rechte Schmiede gekommen wäre in einer verworrenen und höchst bedenklichen Angelegenheit. Immer mehr erstaunt sah Arnold das zierliche Geschöpf forschend an und entdeckte erst jetzt, wie ein irres Licht durch den feuchten Schleier der Tränen flackerte.

In diesem Augenblicke blinzelte Wohlwend herüber, der noch immer in der Unbehaglichkeit neben dem alten Salander herlief, und sah die scheinbar schnelle Vertrautheit der jungen Leutchen. Offenbar hielt er die ausgeworfene Angel für festsitzend, mochte aber für geraten halten, die Schnur für einmal abzureißen, um die Angel für einen günstigeren Zeitpunkt wirken zu lassen. Plötzlich ließ er den Vater Salander stehen, trat mit zwei Schritten hinter Myrrhas Stuhl und legte die Hand auf ihre Achsel.

»Nun dürfen wir die Herren aber wirklich nicht länger stören,« rief er, »komm, Schwägerin Myrrha, wir wollen uns empfehlen!«

Zugleich nahm er sie, die sich erschrocken erhob, an den Arm und verschwand, laute Abschiedsworte in das Zimmer zurückrufend und eine stattliche Pelzmütze schwingend, mit dem schönen Scheingebilde ebenso rasch durch die Tür, wie er gekommen war.

Vater und Sohn standen und schauten sich an.

Arnold tat endlich einen starken Atemzug, gleich einem, der sich von jähem Schreck erholt.

»Wie schad' um das schöne Frauenzimmer!« sagte er.

»Wieso schade?« fragte der Alte entgegen, der schon zu fürchten begann, der Sohn möchte sich bereits verliebt haben.

»Nun,« meinte Arnold hinwieder, »weil der arme Tropf ja blödsinnig ist, wo nicht gar verrückt!«

»Blödsinnig?«

»Aber weiß man denn das nicht? Hast du nie mit ihr gesprochen?«

»Mehrmals! Allerdings wollte nie ein ordentliches Gespräch zustandekommen!«

»Jedenfalls ist das Mädchen in hohem Grade einfältig, was wohl aufs gleiche herauskommt! Hör nur, mit was die Ärmste mich unterhalten hat.«

Arnold erzählte den Inhalt ihrer wenigen Reden und schilderte ihr Benehmen, den Ausdruck ihres Gesichtes.

Der Vater wurde feuerrot bis unter die angesilberten Locken über der Stirne, ratlos, was er dazu sagen solle. Es war ein allzu bitterer Nachklang, der ihn auf dem Nachhauseweg, den sie angetreten, wiederholt den Kopf schütteln ließ. Arnold nahm diese innere Erregung nicht wahr. Der Sohn hatte das kleine Ereignis auch schon vergessen, als es ihm bei Tisch unversehens einfiel und er davon zu reden begann. Nachdem er den Hergang geschildert, hob er hervor, wie gut sich natürliche Anmut mit Blödsinnigkeit zu vertragen scheine. Es sei aber ein unheimliches Schauspiel, und er würde sich doch dafür bedanken. [...]"

(Gottfried Keller: Martin Salander Kapitel 20)

"Das neue Leben der wieder vollzähligen Familie floß nun klar und ruhig weiter, bis die Flut sich etwas kräuselte, durch Martins pflichteifrigen Geist bewegt. Es dauerte nicht lange, so wollte er nicht mehr zusehen, wie Arnold außer dem Geschäfte nur seinen Studien und dem gesellschaftlichen Verkehr mit einigen Jugendgenossen lebte; er drang in ihn, sich doch allgemach den öffentlichen Dingen zuzuwenden, wozu er ja die beste Gelegenheit habe, wenn er mit dem Vater die politischen Vereine, Wahlversammlungen und zuweilen auch einen der zahlreichen Vorträge zur Erklärung eines Gesetzes oder anderer Volksbeschlüsse und obschwebenden allgemeinen Fragen besuche. Da werde er bald lernen, die erworbenen Kenntnisse anzuwenden, die Urteilskraft geltend zu machen und ein Mitwirkender zu werden. Und das sei notwendig, denn ohne erweckte Jünglinge und junge Männer fehle es den weisesten Alten am halben Leben. Allein Arnold lehnte des Vaters Andringen bescheiden, aber beharrlich ab. Er habe sich vorgenommen, so erklärte er, sich auf die Erfüllung aller Bürgerpflichten zu beschränken, wozu, nebenbei gesagt, auch gehöre, niemals an einer Wahl teilzunehmen, wenn man weder den Vorgeschlagenen noch die Vorschlagenden kenne. Das sogenannte Mitwirken wolle er an sich kommen lassen, wenn es einst sein müsse, bis dahin aber das faktische Geschehen beobachten und die Früchte desselben betrachten; an ihnen werde er auch die Personen erkennen, die sie hervorbringen, besser als aus ihren Reden, und die Parteien hinwieder an diesen Personen, sowie an den Zeitungsartikeln, die sie schreiben. Die hergebrachten Einflüsse möge er nicht auf sich wirken lassen und gehe deshalb auch nicht hin, wo sie ausgewechselt werden; nur so fühle er sich frei und einst imstande, jedem zu sagen, was er für wahr halte. Manche junge Leute dächten jetzt so. Der Vater bestand nicht länger auf seinem Ansinnen; aber er fühlte sich verletzt, wenn das nun der ganze Einfluß war, den er auf den eigenen Sohn haben sollte, er, der so uneigennützig es sich sauer werden ließ, dem Lande zu dienen. Er kam daher wieder auf den Gedanken zurück, der Sohn sei auf den Schulen ein Doktrinär geworden, in welchem vielleicht der Reaktionär nur schlummere. Ein schmerzliches Mißtrauen fing an sein Gemüt zu belästigen. Das wandte sich zwar wieder zum Bessern, als Arnold eines Tages sich erbat, einige Freunde im Haufe bewirten zu dürfen, da er etwas derart schuldig sei. Es handelte sich um acht junge Leute, von denen ein Teil unbemittelt, wo nicht arm, ein anderer Teil aber Söhne reicher Familien waren. Arnold wünschte zugleich, daß der Vater seine Gegenwart schenke, und dieser schlug mit dem raschen Gedanken ein, bei diesem Anlasse des Sohnes Umgang und Gesinnung gründlicher zu erfahren. Die Mutter machte dem Sohne gern die Freude, erklärte aber, man müsse einen Koch mit Aufwärter kommen lassen, die alte Magdalene sei außerstande, die Sache zu bewältigen, und sie selbst wisse nicht, was jetzt üblich sei und könne auch nicht mehr in der Küche stehen. Die Töchter dürfe man nicht vorspannen.

Arnold verwahrte sich gegen die Maßregel. Er wolle nicht Aufwand und Üppigkeit ins Haus bringen, das sei ihm nicht eingefallen! Seine Freunde seien alle verständige und fröhliche Gesellen, und wenn die alte Magdalena ein paar solide Stücke zubereite, was sie ja schon lange könne, und die Speisen etwas drollig daherbringe, so werde alles aufs beste ablaufen. Einen weiblichen Adjutanten in der Küche möge sie immerhin beiziehen.

Es gab hierüber einen kleinen Zank, bis er die Oberhand behielt, aber nur scheinbar. Als er am bestimmten Abend eine Stunde früher nach Hause kam, stand ein schneeweißer Koch am Herde und im Speisezimmer ein befrackter Aufwärter, der sich mit einer Menge von Tellern und Gläsern zu schaffen machte und ohne Zweifel die Servietten gefaltet hatte, welche auf dem bereits gedeckten Tisch in Gestalt von Kaninchen und Hühnern die Teller zierten. Frau Marie sagte, es wäre nicht anders gegangen; sie habe nicht mit einem mißlungenen Wesen die Familie erst recht als eine Emporkömmlingsware ins Gerede bringen können!

Die Gäste stellten sich pünktlich ein, fast alle auf einmal, so daß Vater Salander bequemlich als der letzte erscheinen konnte, ohne zu lange warten zu müssen. Sogleich fand er sich angenehm berührt durch das gute Aussehen und das anständig offene Benehmen der Gesellschaft. Bei Tisch vollends wunderte er sich insgeheim über den unbefangenen guten Ton, die Abwesenheit aller schlechten Sprechmanier verhockter Kreise mit ihren Trivialwitzen und Zweideutigkeiten. Um besser zu hören, sprach er selbst nicht viel und hütete sich besonders, von Politik anzufangen, in der Absicht, daß die Freunde Arnolds und mit ihnen er selbst um so rückhaltloser darauf verfallen sollten. Er sorgte auch genügend für Erneuerung der Getränke, welche die Zungen lösen. Die jungen Herren wurden nur fröhlicher, alles in geziemenden Grenzen, ohne einiger Vorsicht zu bedürfen. Die Unterhaltung belebte sich, und da die Teilnehmer ziemlich gleichmäßig gebildet, wohlunterrichtet und auch lebendigen Geistes waren, so tauchten politische Gegenstände nicht minder als andere hervor; allein nicht ein unfreisinniges Wort, nicht ein Wort, welches auf Mißachtung des Volkes hätte schließen lassen, war zu hören, kaum etwa ein ungezwungen derber Ausdruck über diesen oder jenen gemeinen Sykophanten, der eben in der Presse oder in den Räten spukte; dann hieß es höchstens: Was wollt ihr? Dem Kerl ist sein Weg vorgezeichnet, er muß ihn laufen und wird seinem Lohn nicht entgehen!

Indem Martin sich noch über den erfahrungsmäßigen Ton wunderte, welcher dieser Jugend schon geläufig schien, war der Gegenstand schon aus dem Gespräch verschwunden. Die haben, dachte er, nicht die Fähigkeit, auf einer Idee zu beharren; sie scheinen doch keine politische Ader zu besitzen! Aber ehe er den Verdacht besser ausspinnen konnte, bewegte sich die Unterhaltung auf weiten freien Bahnen; keiner tat sich als Lehrer oder Prophet hervor, und Phrasen wurden noch weniger laut; man sah nur, daß es männliche Jünglinge seien, die sich die Welt offen behielten und nicht in einen Tabaksbeutel stecken ließen. Martin hatte einige Mühe, neuen und neuesten Anregungen auf den Pfaden des allgemeinen Bildungszustandes zu folgen, denn er war in manchen Dingen ein wenig viel zurückgeblieben und mußte sich mehr als einmal Aufschluß erbitten, der ihm ohne Wohlweisheit und ganz ohne Aufheben erteilt wurde, als selbstverständlich, wie man einem sagt, was draußen für Wetter sei. Und durch alles ging ein Hauch unverdorbener Ehrlichkeit, die ihm das Herz erfrischte.

»Gottlob!« dachte er, »wir haben unser Geld nicht umsonst ausgegeben! Das sind doch auch Erziehungsfrüchte!«

Doch untersuchte er nicht, ob des Hauses oder des Staates.

Er teilte bald die heitere Laune der Tischgenossen; ritterlich dachte er, sein sichtliches Vergnügen damit zu bezahlen, daß er um zehn Uhr schon die kleine Tafelrunde Arnolds sich selbst überließ und sich als Alter zurückzog. Allein es gelang ihm erst um halb elf loszukommen und die Frauen in ihrem Asyl aufzusuchen, wo sie noch wach beisammen saßen.

»Kommst du endlich, du Kneipier?« sagte die Mutter, »das muß dir ja herrlich gefallen haben bei den jungen Leuten! Wie war es denn?«

»Ich habe mich, glaube ich beinah', in meinem Leben nicht so gut unterhalten, wie diesen Abend!« versicherte der Mann, »es sind ganz vortreffliche Menschen, helle Köpfe und nota bene gesittete Bursche, mit denen unser Arnold verkehrt, Gesellen, von denen man sagen kann, sie seien alle gut aufgehoben, wenn sie beieinander sind!« [...]

Ruhig fuhr nun das Schifflein Martin Salanders zwischen Gegenwart und Zukunft dahin, des Sturmes wie des Friedens gewärtig, aber stets mit guten Hoffnungen beladen. Manches Stück mußte er noch als gefälschte Ware über Bord werfen; allein der Sohn wußte unbemerkt die Lücken so wohl zu verstauen, daß kein Schwanken eintrat und das Fahrzeug widerstandsfähig blieb den bösen Klippen gegenüber, welche bald hier, bald dort am Horizont auftauchten. Auch das dunkle Raubschiffchen des Louis Wohlwend, das seit bald einem Menschenalter Martins Bahn kreuzte, strich noch wiederholt heran, konnte aber nicht mehr entern. Es war jetzt ziemlich sicher, daß er mit dem an Martin begangenen Raube seine Frau auf die bewußte Weise erwarb, damit das Gut bergend und zugleich ihr eigenes Erbe. Also hatte er keineswegs nötig, noch mehr zu raffen; allein er hielt den »alten Freund« einmal für sein Privateigentum, und der Neid der angeborenen Beschränktheit trieb ihn immer wieder, seinen Teil zu erhaschen und den Freund zu schädigen, während die einfältige Religionsstifterei ihm zur Vermummung dienen und zugleich die rohe Eitelkeit befriedigen sollte, der er zu allen Zeiten frönte. [...]

Eines Abends erschien Möni Wighart, der Getreue, und erzählte, er habe Wohlwend auf dem Bahnhofe gesehen, wie er mit Weibern, Kisten, Koffern und bösen Blicken erschienen und mit einem Blitzzuge abgefahren sei."

(Gottfried Keller: Martin Salander Kapitel 21)

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